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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

Ähnliches versucht worden ist. Unsere neueste Kenntnis der Nibelungen und der Edda ist nicht viel älter als das erste Hervortreten der Märchen der Brüder Grimm. Hier liegt noch alles, was man ahnen darf, wissenschaftlich im Dunkel. Die Methode wird erst zu suchen sein. Den uralten Dichtungen gegenüber verfügen wir über ein verhältnismäßig enges Überlieferungsmaterial: die modernen Märchengebilde der Brüder Grimm sind aus dem Zusammenstrom persönlicher, mündlicher, publizistischer, litterarischer, wissenschaftlicher Wirkungen individuell hervorgegangen, und wieviel davon unwiederbringlich für uns verloren sei, so ist doch noch eine ungeheure Stoffmasse da, die herangezogen werden muß.

Es hat sich im Laufe der Zeit allmählich mancherlei bei mir angefunden, was zur Aufhellung der Entstehungs- und Wandelungsgeschichte der Grimmschen Sammlungen dienen könnte. Ich lege ausgewählte Stücke aus den Märchen und Sagen vor.


1. „Machandelboom“ und „Fischer un sine Fru“.

Zu den besten Stücken der Grimmschen Märchensammlung sind immer, seit ihrem Hervortreten, die beiden plattdeutschen Märchen „Vom Machandelboom“ und „Der Fischer un sine Fru“ gezählt worden. Der Maler Otto Runge hat sie aufgeschrieben. Runge stammte aus Wolgast in Pommern, lebte aber damals, als die beiden Märchen aus seiner Hand ausgingen, nicht in seiner Heimat, sondern in Hamburg. Er hatte unter den Romantikern als Künstler und Farbentheoretiker die Stellung inne, die Novalis als Poet einnahm. Goethe erkannte, trotz seiner antiromantischen Neigungen, achtungsvoll das Streben Runges in seiner Farbenlehre an. Die Romantiker vergötterten ihn und erwarteten von ihm das Heil der neuen Kunst. Seine wundervollen Gebilde der vier Tageszeiten haben auf alle ihm gesinnungsverwandten Künstler und Kunstwerke tief gewirkt. Er starb, wie Novalis in jungen Jahren, 1810 schon an der Auszehrung und hinterließ seinen Freunden die schmerzliche Sehnsucht nach Vollendung des Werkes, das in ihm vor der Zeit abgebrochen schien.

Runge hat auch, wenngleich mehr rezeptiv, an der zeitgenössischen Litteratur in weitem Umkreise teilgenommen. Seine

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)