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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

Die „plattdeutschen Stücke in diesem Abdrucke“ sind aber die oben schon besprochenen Reimereien Otto Runges in der Beschreibung seiner „Fußreise in Seeland“ und außerdem noch unsere beiden Märchen. Daniel Runge selber ist Zeuge dafür, daß die Stücke ursprünglich in einer anderen Mundart, der pommerschen natürlich, abgefaßt worden waren.

Aber ist sonst Treue gegen die Überlieferung beobachtet worden? Bei dem Machandelboom: ja. Ganz vereinzelt ist einmal ein kleines Wörtchen zugesetzt oder (wie in dem Liede des verwandelten Vogels) ein „un“ fortgelassen worden, offenbar in der Absicht, damit die Verse des Liedes je dreimal gleichmäßig beginnen möchten. Also

ursprünglich bei Grimms:
min Moder de mi slacht’t,

min Vader de mi att,
min Swester de Marleeniken,
söcht alle mine Beeniken
un bindt se in een siden Dook,
legts unner den Machandelboom etc.

bei Daniel Runge:
Mein Mutter der mich schlacht’,

Mein Vater der mich aß
Mein Schwester der Marlenichen
Sucht’ alle meine Benichen,
Bind’t sie in ein seiden Tuch,
Legt’s unter den Machandelbaum etc.

Im allgemeinen ist der anfängliche Bestand des Märchens durchaus bewahrt.

Anders steht es mit dem Fischer und siner Fru. Hier hat Daniel Runge so gründlich in die Textgestalt eingegriffen, daß fast ein neuer Text entstanden ist. Die Verschiedenheit macht sich in dem Maße geltend, daß es nicht einmal möglich wäre, die Varianten neben dem ursprünglichen Texte zu notieren. Man müßte die Texte nebeneinander ausdrucken lassen. Die Beschreibung der Situationen ist voller gemacht worden, die Motive sind weiter ausgesponnen. Der Einschub der neuen Sätze zieht die Veränderung der alten nach sich. Durchweg hat eine Verschlechterung des ursprünglichen Märchenvortrages stattgefunden. Die Annahme etwa, daß Daniel Runge auf dem Originalmanuskript oder auf einem wiedergefundenen Koncepte seines Bruders fuße, ist nach dem Befunde gänzlich ausgeschlossen.

Und vor diesen Texten beugte sich trotzdem Wilhelm Grimm. Zwar zeigt das Grimmsche Exemplar der Hinterlassenen Schriften Runges gerade zum Fischer einzelne Bleistiftnotizen von der Hand Wilhelms. Aber seine Bedenken waren doch, ich meine

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)