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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

jedoch gewahren wir, daß sie daneben einer anderen Quelle folgten, die sie als „mündliche“ bezeichneten. Aber wie haben sie verstanden, den reinen Sagengehalt aus beiden Quellen herauszuheben und, befreit von jeder fremden Zuthat, wieder zu neuer Sageneinheit zu verbinden. Grimms wollten mit ihren Märchen und Sagen auf die lebendige Gegenwart einwirken. Eine Beziehung auf die Zeitverhältnisse, aber eine rationalistische und sagengegnerische, war freilich schon im Nürnberger Korrespondenten gegeben; namentlich den Schlußsatz, daß der letzte Auszug Rodensteins 1792 geschehen, der Rückzug aber noch nicht erfolgt sei, legte sich ein echter Rheinbundsgeist 1811 natürlich in dem Sinne aus, daß die Ära der Napoleonischen Kriege und Siege noch andauern werde. Ein Kleist dagegen in Berlin, als er den Schlußsatz mit abdruckte, meinte sicherlich, daß für Preußen die Kämpfe, die die Folgen der französischen Revolution erdrücken würden, nach dem Ratschlusse höherer Gewalten in naher Zukunft stünden. Daß der Schlußsatz im Zeitsinne eine Bedeutung hatte, zeigt das Verfahren der weichmütigen Zeitschrift für die elegante Welt, die ihn einfach strich und fortließ. Er kam daher auch den Brüdern Grimm nicht vor die Augen. Trotzdem ließen sie, die ihrer Vorlage alles Sagenfeindliche, Antiromantische wieder abstreiften, ihre Sage in das Vaterländische auslaufen. „Ehe (schlossen sie, 1816) Napoleon im Frühjahr 1815 landete, war bestimmt die Sage, der Rodensteiner sei wieder in die Kriegsburg ausgezogen.“

Die von den Brüdern ferner angezogenen Nummern des Gothaischen Reichsanzeigers 1806 haben keinen unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der Sage ausgeübt. Der Reichsanzeiger hielt eine ständige Rubrik für litterarische Anfragen, Antworten und Auskünfte offen, deren Vermittelung die Redaktion besorgte. Die Brüder Grimm haben sich dieses Vorteils, den der Reichsanzeiger bot, des öfteren bedient, in viel größerem Maße, als die beiden Sammlungen ihrer Kleineren Schriften es bezeugen. Die Verbindung mit dem Reichsanzeiger gestaltete sich dadurch so bequem für sie, daß sie durch ihre Tante Zimmer, die in Gotha lebte, jederzeit den litterarischen Zugang zum Regierungsrate Geisler (dessen Frau Benedicte Nauberts Tochter war), zu Friedrich Jacobs und zu Zacharias

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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/32&oldid=- (Version vom 1.8.2018)