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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

sich das herausstellen wird. Ein Verfasser ist nicht genannt. Die Nummer der Eleganten Welt müßte uns somit für die gedruckte Urquelle der Grimmschen Sage gelten.

Indessen die anscheinend so einfache Lage der Dinge nahm für mich ein anderes Aussehen an, als ich die Sage vom Rodenstein, vier Monate früher als in der Eleganten Welt, in Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern fand: in Nr. 42 vom 19. Februar 1811. Ebenfalls anonym und ohne Herkunftsbezeichnung. Übereinstimmend mit der Eleganten Welt und nur in kleinen Einzelheiten davon abweichend. Aber gerade aus einer einzigen Variante ließ sich erschließen, daß die Abendblätter den besseren und richtigeren Text lieferten. Die Abendblätter citieren ordnungsgemäß die „amtlichen“ Protokolle; die Elegante Welt dagegen die „sämtlichen“ Protokolle, was den Sinn verdirbt. Die „sämtlichen“ Protokolle bietet noch ein anderer Abdruck des Rodensteins, auf den ich in den Hamburger Gemeinnützigen Unterhaltungs-Blättern stieß, in Nr. 43 vom 17. Juli 1811: der also wahrscheinlich nach dem Druck der Eleganten Welt veranstaltet worden ist.

Der Text der Berliner Abendblätter entzieht also, durch seine frühere Erscheinung und bessere Gestalt, der Eleganten Welt die Quellbedeutung für die Sage. Aber nun entsteht die Frage: ist Kleist wohl der Verfasser? oder wenigstens, ist der Text bei Kleist der erste Druck der Sage? Es hat immer seine schweren Bedenken, eine verhältnismäßig kurze Darstellung, auf die bloße Sprache hin, einem Autor zuzusprechen oder abzusprechen. Kleist konnte den Stoff der Sage irgendwo selbst erhalten haben. Möglicherweise aber konnten auch seine Freunde und Mitarbeiter Arnim und Brentano, die den Odenwald durchstreift hatten, die Sage und die urkundlichen Belege dazu mitgebracht haben. Arnims und Brentanos anregende Teilnahme an Grimms Märchen und Sagen ist bekannt. Aber auch Kleist und seine Schriften, darunter die Abendblätter, stehen, wie ich an anderem Orte zeige, nicht außer Zusammenhang mit den nachfolgenden Märchen- und Sagensammlungen der Brüder, sind ja auch Übersetzungsproben nordischer Sagen von Wilhelm in Kleists Abendblätter hineingeraten. Arnim war eben der Mittelsmann. Wie sollte ich mich da entscheiden?

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)