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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

Schulzeit unter dem Dichter Kosegarten in Wolgast, sein Aufenthalt in Dresden und Verkehr daselbst mit Tieck, seine Freundschaft mit Perthes in Hamburg bildeten für ihn litterarische Centren, die alle neuen Erscheinungen an sich zogen. Die eigenen, mehr zufälligen Aufzeichnungen zeigen die Gabe Runges, das Geistige im Menschen mit dem Leben der ihn umgebenden Natur in Rapport zu setzen, das eine als bedingt durch das andere hinzustellen. Die naturphilosophische Weltanschauung eines Steffens, der sein innigster Freund war, tritt uns in Runge wieder entgegen. Sie ist das entscheidende, tiefsinnige Merkmal der bildenden Kunst, die er übte.

Unter diesem Zeichen stehen auch die Märchen „Vom Machandelboom“ und „Vom Fischer un siner Fru“. Sie sind beide in der reinsten Kunstabsicht gedichtet worden. Kein Gedanke daran, daß Runge sie blos nach dem unbeweglichen Wortlaut mündlicher Erzählung aufgezeichnet habe. Man fasse den Aufbau beider in das Auge. In dem einen Märchen nimmt der Wachholderbaum wie ein still Mitlebender an den Geschicken der Menschen teil, die den Bauernhof bewohnen; in dem anderen erscheint das Meer wie ein Bundesgenosse des Fischers beim Widerstande gegen den unbezähmbaren Frevelsinn seiner Frau. Wie ist im Machandelboom die durch die Monate aufblühende Erfüllung des einen Wunsches, den die schöne junge Frau in ihrem Herzen hegt, in die allmähliche Entfaltung der Natur um sie herum zart, genau und liebevoll hineingezeichnet; wie spiegelt die immer wachsende Bewegung der Wogen, der Luft, des wolkenbedeckten Himmels, so oft sich der Fischer wider Willen mit den Wünschen seiner Frau dem Ufer naht, die den sittlichen Menschen ergreifende Empörung ab. Dies alles ist so plan- und kunstvoll angelegt wie die Umrisse zu den tiefsten Gebilden, die Runge als Maler geschaffen hat. Seine Kompositionen, die künstlerischen wie die litterarischen, zeichnet die größte Einfachheit der Linie bei Unergründlichkeit des Gedankeninhalts aus. Beiderlei Gebilde seiner Phantasie sind eines Wertes, einer Herkunft und Kunstausübung.

In Runges Kunstauffassung mischt sich ein katholisierendes Moment. Man sieht das seinen Werken an, und es verbirgt sich nicht im „Fischer“. Runge stammte aus niederdeutscher Gegend,

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)