Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Die Einnahme von Riga

Sestriza Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution
von Oskar Grosberg
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Die Einnahme von Riga

Die den örtlichen Zeitungen vom Stabe der XII. Armee zugestellten, oder von ihm inspirierten Nachrichten über die Lage an der Rigaschen Front deuteten in immer bestimmterer Form an, daß die Deutschen an dieser Front größere Truppenmassen konzentrierten und sich allem Anschein nach zu einer umfangreichen Aktion rüsteten. Schließlich verdichteten sich diese Nachrichten und Meldungen zu einem Communiqué des Kommandierenden der XII. Armee, Generals Parski, in dem die Situation als bedrohlich geschildert wurde; man hatte schon vorher den Brückenkopf bei Üxküll, der bisher tapfer und mit fortlaufenden Verlusten gehalten worden war, aufgegeben, und nun war nach dem obenerwähnten Communiqué Parskis die Räumung Kemmerns erfolgt, die dadurch motiviert wurde, daß man die Frontlinie ausrichten wolle.

Die erwähnte Kundgebung führte dazu, daß die Residenzpresse Lärm zu schlagen begann, indem sie darauf hinwies, daß die Bedrohung Rigas seitens des Feindes gleichzeitig die Bedrohung der Residenz in sich schließe; an die Betrachtungen über die strategische Lage schlossen sich dann die üblichen Mahnungen an die revolutionäre Armee. Es war unverkennbar, daß in Petersburg starke Erregung herrschte. Trotzdem legte man allen diesen Nachrichten, Gerüchten und Auslassungen in Riga selbst keine sonderliche Bedeutung bei, denn man hielt die warnenden Stimmen für nichts anderes, als für eines der schon wiederholt vorgenommenen Manöver, [124] um die Verhältnisse in der immer tiefer in den Zustand absoluter Anarchie geratenen Armee zu sanieren, zudem war man mit den Wahlen in die Stadtverordnetenversammlung beschäftigt, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in hohem Maße fesselten, denn es sollte sich nun entscheiden, ob die Verwaltung Alt-Rigas restlos an das Proletariat, das jedes Maß für die Realitäten verloren hatte, geraten und damit als kulturelles Zentrum dem Untergange geweiht sein sollte, oder ob es der Ordnungspartei gelingen würde, sich wenigstens einen Bruchteil von Einfluß zu sichern. Die Wahlen ergaben, wie man weiß, ein nach Maßgabe der Verhältnisse günstiges Resultat, indem es der deutschen Partei, die bemerkenswert geschlossen an die Urnen ging, gelang, sich an 22 Sitze zu sichern, während die sozialistischen Gruppen, wie das nicht anders zu erwarten war, aus dem Kampfe mit der absoluten Majorität hervorgingen. Unter solchen Umständen ist es wohl verständlich, daß die kommunalen Interessen in den Vordergrund traten und man den Kriegsangelegenheiten zeitweilig nur beschränktes Interesse widmete.

Man hatte sich, wie gesagt, an die Warnungen und die Kriegsschreie nicht nur gewöhnt, sondern man war gegen sie allmählich völlig abgestumpft, denn einerseits wußte man, daß sie doch zu nichts führen würden, da der russischen Armee weder die Allokutionen des schaumschlagenden Schwätzers Kerenski, noch auch die Pronunziamentos des Petersburger Soldatenrates, sondern nur noch eine von einem eisernen Willen gelenkte eiserne und gnadenlose Faust helfen konnte, wenn ihr überhaupt noch zu helfen war.

Das Manöver mit der bedrohten Residenz war erheblich abgeschlissen und bei der Armee nichts weniger als zugkräftig. Hatte doch schon Gutschkow als Kriegsminister versucht, die aus dem Leim geratene Armee dadurch zusammenzuhalten, daß er den Teufel an die Tore der Residenz gemalt hatte. Seither spukte er noch immer in der Presse [125] herum und er gehörte bereits sozusagen zu ihrem eisernen Inventar, das man immer wieder hervorholte, wenn die revolutionäre Armee sich gar zu absurd zu gebärden begann.

Zu alledem kam dann noch, daß das vorher erwähnte Communiqué des Generals Parski vom Rigaschen Soldatenrate, dem „Iskosol“, nach wenigen Tagen in aller Form widerlegt wurde. Während der kommandierende General die Lage als sehr ernst geschildert hatte, erklärte der von jungen jüdischen Juristen geleitete „Iskosol“, daß die Lage zu keinerlei Befürchtungen Anlaß gebe. Wo die Wahrheit lag, war um so schwerer zu ergründen, als niemand wußte, wer die Armee kommandierte, General Parski, oder der „Iskosol“ in der Person seines ausführenden Komitees.

Unter diesen Umständen darf es nicht verwundern, daß man den Unkenrufen auch dann nicht recht glaubte, als es plötzlich hieß, daß verschiedene Militärinstitutionen den Befehl erhalten hätten, Riga zu verlassen, und diese in der Tat packten und abzogen, — wie es sich erwies, ins Blaue hinein, denn nach einigen Tagen erfuhr man, daß verschiedene dieser Institutionen weder in Wenden, noch in Walk oder Dorpat Unterkunft gefunden hatten, sondern gezwungen waren, in Waggons zu kampieren. Es hieß sogar, daß sie demnächst wieder zurückkehren würden. Man wußte eben, daß die russische Heeresverwaltung mit Evakuationen mitunter sehr rasch bei der Hand gewesen war, wie etwa gerade in Riga im Jahre 1915, als man die gesamte Industrie, die Glocken und die Denkmäler der Stadt evakuiert hatte, nur weil die Deutschen Olai erreicht hatten, ohne daß man ihr weiteres Vordringen hätte erwarten dürfen.

Das Leben in der Stadt ging daher trotz aller umlaufenden Gerüchte seinen gewohnten Gang, und wenn man den einen oder den anderen Stabsoffizier befragte, wie die Situation sich gestalte, dann erhielt man zuversichtliche Antworten, die im allgemeinen dahin gingen, daß es sich offenbar lediglich um eine groß angelegte Demonstration der [126] Deutschen, die jedoch im Süden vollauf beschäftigt seien und kaum größere Truppenmassen an die Rigasche Front werfen könnten, handle. Da keine Anzeichen dafür vorlagen, daß der Stab der XII. Armee besondere Maßnahmen zur Abwehr eines möglichen deutschen Angriffes getroffen hätte, so ist man wohl berechtigt anzunehmen, daß sowohl Parski, wie auch der Kommandierende der Nordfront Klembowski, die Situation nicht überschaut und die Gefahr erst dann erkannt hatten, als es schon zu spät und die entartete russische Soldateska bereits eine Beute panischen Schreckens geworden war. Diese Annahme wird dadurch befestigt, daß der Abzug der russischen Truppen aus Riga und von der nächstgelegenen Front zuletzt den Charakter einer ungeregelten Flucht annahm, daß in Riga und in der nächsten Umgebung große Vorräte von Nahrungsmitteln und Kriegsbedarf zurückblieben und nur zum Teil vernichtet werden konnten. Am Sonnabend, den 1. September, fühlte man sich trotz des beginnenden Bombardements der Stadt noch so sicher, daß in den Theatern Vorstellungen stattfanden.

Das Krachen der ersten deutschen Granaten hatte freilich das Oberkommando veranlaßt, die Reservetruppen und die Trains landeinwärts zu beordern, — sie waren am Sonnabend Abend in großer Eile abgezogen.

Die ersten deutschen Granaten waren in Schreienbusch und in der Moskauer Vorstadt gefallen und hatten nicht nur Sachschaden verursacht, sondern auch einige Menschenleben gekostet. Es dauerte nicht lange, da krepierten einige Granaten in der Petersburger Vorstadt; aus der Richtung, die die Geschosse nahmen, konnte man schließen, daß sie dem Dünaburger Bahnhof gegolten hatten und das Ziel entweder überflogen oder nicht erreicht hatten.

So nahe hatten wir den Krieg denn doch noch nicht gehabt. Das war etwas ganz anderes, als selbst das gewaltige Trommelfeuer, das Kuropatkin zu Anfang Juli 1916 an der Rigaschen Front hatte entwickeln lassen und [127] das im Laufe von 36 Stunden die alte Dünastadt in ihren Grundfesten hatte erzittern lassen. Nun erst bekamen wir in eindringlicher Weise einen Eindruck von den Schrecken des Krieges, sozusagen eine demonstratio ad oculos, denn bald waren einige Gebäude beschädigt und andere in Brand geschossen worden, so daß die Feuerwehr mehrfach ausrücken mußte.

Trotzdem ließen die Leute sich vorläufig in ihren Geschäften nicht allzusehr stören; bei Erkundigungen im Stabe erhielt man noch immer den Bescheid, daß die Lage sich allerdings ernst gestalte, daß jedoch von einer ernstlichen Gefährdung weder der Front noch auch der Stadt die Rede sein könne. Immerhin beschleunigten nun zahlreiche militärische und sonstige Institutionen und Organisationen ihre Abreise, gleichzeitig begannen gegen Abend Telegraphen- und Telephonparks, Automobilrotten, militärtechnische Organisationen usw. zum Aufbruch zu rüsten. Der Bahnhof war von Zivilisten und Beamten überfüllt, die Züge besetzt bis zum äußersten.

Im Laufe der Nacht auf Sonntag rollten die Trains mit dumpfem Gepolter durch die Straßen. Man hörte den Gesang abziehender Truppen, die vom linken Dünaufer kamen und absonderlicherweise nicht nur mit Gesang, sondern zum Teil auch mit klingendem Spiel und den wehenden roten Fetzen abzogen, die die Revolution an Stelle der alten, ruhmbedeckten russischen Fahnen gesetzt hat.

Währenddessen dauerte das Bombardement fort. In der Stille der Nacht erschienen die Detonationen noch lauter als am Tage. Wie stets in solchen Fällen schwirrten bald die übertriebensten Gerüchte über die verursachten Beschädigungen, die sich in der Folge als relativ klein erwiesen, durch die Stadt und riefen eine verständliche überaus nervöse Stimmung hervor. Man fühlte, daß es nun ernst wurde, daß man unmittelbar vor einer Entscheidung stand. Vorläufig hatte man mit dem Bombardement zu rechnen, — wußte man doch nicht, wohin die Geschosse im nächsten [128] Augenblick die Richtung nehmen könnten, wie lange die Beschießung dauern und Wie intensiv sie sein würde. — Man mußte voraussetzen, daß die Stadt erst nach energischem Widerstande aufgegeben werden würde, — das war ja wiederholt und in der bestimmtesten Form proklamiert worden und schien um so wahrscheinlicher, als die Front mit Leuten, Geschossen und anderem Bedarf mehr als ausreichend ausgestattet war. Freilich konnte niemand mit Zuversicht sagen, wie weit die Widerstandsfähigkeit der entarteten Soldaten reichen würde, — doch wußte man, daß die Truppen zur Verteidigung ihrer Positionen bereit waren, während sie mehrfach erklärt hatten, daß sie für einen Angriff nicht mehr zu haben seien.

Am Sonntage, dem 2. September, brachten die lettischen Blätter, sowie das Organ des Soldatenrates der XII. Armee, „Rishski Front“ lakonische Nachrichten über die Vorgänge in der Stadt, sowie an der Front.

In einem vom Stabe inspirierten Artikel der „Rish. Utro“ hieß es, daß der Feind bei Üxküll nach energischer Beschießung mit Gasbomben und Trommelfeuer die russischen Truppen zurückgedrängt und mit nicht unbeträchtlichen Truppenmassen die Düna forciert habe. An der ganzen Front werde ein starker Druck ausgeübt, die feindliche Artillerie beschieße den Dünaburger Bahnhof, habe einige Gebäude zerstört, und es seien auch Menschenopfer zu beklagen. Im übrigen könne die Lage nicht als katastrophal bezeichnet werden.

Wenn aus dieser Epistel mit aller Deutlichkeit hervorging, daß die Lage zum mindesten außerordentlich ernst geworden war, so stießen die Leute vom „Rishski Front“ mächtig ins Horn, indem sie einen Aufruf an die „Kameraden der revolutionären XII. Armee“ richteten, in dem sie diese aufforderten, die Revolution und die gesamte russische Demokratie gegen die Eroberungsgelüste des deutschen Kaisers und „seiner Horden“ zu schützen. „Die russische Revolution ist in Gefahr,“ hieß es im üblichen bombastischen Stil weiter, [129] „das Vaterland ist bedroht. Aller Augen richten sich auf uns, wir werden unsere Pflicht tun und die Heimaterde Zoll um Zoll verteidigen.“

An anderer Stelle wurde mitgeteilt, daß am Nachmittage ein Extrablatt herausgegeben werden würde. Dieses erschien jedoch nicht, die Leute vom „Iskosol“ verzichteten auf weitere fulminante Expektorationen, sie hatten am Sonntagnachmittag bereits das Weite gesucht, während General Parski mit seinem Stabe gegen Mitternacht desselben Tages die Stadt verlassen haben soll.

Während der Nacht zogen die Truppen in unübersehbarem Strom durch die Stadt landeinwärts. Das Rasseln der Trainkarren hörte keinen Augenblick auf. Da jagte Feldartillerie durch die Straßen, daß die Funken stoben, hier wurden Horden vorwärts gepeitscht, rumpelten Feldküchen und vielfach mit wertlosem Gerümpel hochbeladene Karren dumpf dröhnend über das Pflaster. Die mit mächtigem Schalle platzenden deutschen Granaten setzten die Glanzlichter in dieses wirre und wüste Tonbild. Der letzte Satz der Symphonie der Rigaschen Front klang in grellen Dissonanzen aus.

Als der Morgen graute, begann das abziehende Fußvolk zu plündern. Man hatte sich zunächst an die ärmlichen Buden des Dünamarktes gemacht und diese zum Teil geleert, zum Teil verwüstet und in Brand gesteckt. Von hier aus breiteten sich dann die Wellen der Plünderung in konzentrischen Kreisen über die ganze Stadt und verliefen sich erst an der Peripherie. Auch die an den Rückzugsstraßen liegenden Güter und Siedelungen sind von der plündernden Soldateska schwer heimgesucht worden.

Über die Plünderungen sind nachher in der russischen Presse ungeheuerlich übertriebene Berichte veröffentlicht worden; den Vogel hat in dieser Beziehung das Moskauische Sensationsblatt „Rußkoje Slowo“ abgeschossen, indem es unter der Spitzmarke „Bartholomäusnacht“ in seiner Nummer [130] vom 11. September 1917 nachstehenden Bericht in die Welt setzte:

„In der Nacht auf den 3. September, als es klar geworden war, daß die Stadt in den nächsten Stunden verlassen werden mußte, wurde in Riga ein furchtbares Blutbad unter den Deutschen angerichtet. Um 10 Uhr abends begannen die Plünderungen durch Deserteure und Marodeure. Als 2 Uhr nachts die letzten Truppen über die Düna durch die Stadt zurückfluteten, verbreitete sich das Gerücht, daß die in der Stadt zurückgebliebenen Deutschen auf die durchziehenden Truppen zu schießen beabsichtigten. Vielleicht entsprach dieses Gerücht der Wirklichkeit. Wie dem auch sei, es bewirkte, daß in den eleganten deutschen Stadtteilen an der Elisabeth- und Schützenstraße der immer lauter werdende Ton klirrender Fensterscheiben, das Krachen ausgebrochener Türen, unmenschliche Schreie des Hasses, Einzelschüsse, sowie Salven zu hören waren. Die Plünderungen gingen schnell in ein Gemetzel der Bevölkerung auf nationaler Grundlage über. Die Hälfte der mordenden Menge bestand aus Letten, meist Zivilisten und Matrosen, die die Jahrhunderte alten Leiden nicht vergessen hatten, die ihnen von den Deutschen zugefügt waren. Der Kampf artete in eine Vernichtung aller Deutschen, deren man habhaft werden konnte, aus. Nach den Erzählungen von Flüchtlingen wurde ein großer Teil der Deutschen Rigas erschlagen; weder Frauen noch Kinder wurden geschont.“

Diese Nachricht des smarten, aber außerordentlich wenig zuverlässigen Moskauer Blattes gebe ich nach einer Mitteilung der „Täglichen Rundschau“ wieder, die die Vermutung ausspricht, der Artikel sei verfaßt worden, um die Letten und Esten in den noch nicht besetzten baltischen Gebieten gegen die deutsch-baltische Bevölkerung aufzuhetzen. Das dürfte kaum zutreffen, denn einerseits ist die „Rußkoje Slowo“ in baltischen Landen so gut wie unbekannt, andererseits aber ist es für den Kenner der Verhältnisse klar ersichtlich, [131] daß der auf der Flucht begriffene Vertreter der „Rußkoje Slowo“ vermutlich von lettischen Flüchtlingen insofern düpiert worden ist, als diese das für vollzogene Tatsache ausgaben, was nur unausgeführter Plan bleiben mußte. Der Vertreter der „Rußkoje Slowo“ hatte gewiß keinerlei Bestreben, die Wahrheit der ihm gewordenen Mitteilungen nachzuprüfen, denn es bot sich ihm nun endlich die langersehnte Gelegenheit zu einem Bombentelegramm, das er vom Stapel ließ, ohne zu bedenken, daß seine Tatarennachricht unzählige Balten im Innern des Reiches in Trauer versetzen mußte.

Wie wir weiter sehen werden, hatten sich die Dinge in Riga nicht einmal annähernd so tragisch entwickelt, wie die „Rußkoje Slowo“ sie ausmalt. Daß sie sich tatsächlich in dieser Weise hätten gestalten können, wenn die deutschen Truppen nicht rechtzeitig erschienen wären, unterliegt freilich kaum einem Zweifel.




Am Morgen des 3. September verließen die wenigen letzten noch in der Stadt befindlichen Truppen fluchtartig ihre Quartiere, es blieben nur Nachzügler und Kosaken, die den Rückzug überwachen sollten, zurück. Als ich um ½8 Uhr das Haus verließ, um mich in die innere Stadt zu begeben, da geriet ich auf dem Totlebenboulevard mitten in den Wirbel der letzten aus den Trancheen kommenden Mannschaften, die mit ihrem Train in der Richtung zum Güterbahnhof zogen und verwildert und übermüdet dreinschauten. Man sah unter ihnen zahlreiche Verwundete und Marode.

Während ich mir Gedanken darüber machte, daß auch diese Truppen, wie das in der russischen Armee überhaupt Sitte ist, den unglaublichsten Plunder auf ihren Karren mitschleppten, — es ist ja fiskalisches Eigentum, und solches verbrennt bekanntlich weder im Feuer, noch ertrinkt es im Wasser — fiel mein Blick zufällig auf einen der müde [132] dahertrottenden, unglaublich schmutzigen und verräucherten „Borodatschi“, der allem Anscheine nach von dem Anblicke meiner Uhrkette magisch gefesselt wurde. Eine unheimliche Ahnung dämmerte in mir auf — ich beschleunigte meine Schritte, um aus der mir wirr entgegenströmenden Menschenflut zu gelangen und die freie Straßenseite zu gewinnen, aber das wollte mir nicht gelingen, die Menge drängte dicht gekeilt vorwärts. Ich faßte nun an einem der Alleebäume Posto und redete den nächsten vorübergehenden Soldaten, dessen gutmütige Neufundländeraugen Vertrauen einflößten, an, indem ich ihm eine Zigarre entgegenstreckte. Der Mann schaute die Zigarre mißtrauisch an, — eine Papiros wäre ihm gewiß willkommener gewesen, aber schließlich steckte er das Rauchkraut bis zur Hälfte in den Mund und setzte es in Brand. Während wir einige Worte über woher und wohin wechselten, wurde der Strom um uns dünner und ich konnte nun auf die andere Seite der Straße hinüber und mich seitwärts in die Büsche schlagen, d. h. den Weg durch die Anlagen wählen. Ich durfte erleichtert aufatmen, denn es schien mir wahrscheinlich, daß die Kerle mich ausgeraubt hätten, wenn ich noch länger in ihrer Mitte geblieben wäre.

Daß ich diesem Schicksale nicht entgangen wäre, davon konnte ich mich wenige Minuten später überzeugen. An der Ecke der Jakob- und Turmstraße hielten einige Kosaken; als ich wenige Schritte von ihnen entfernt war, sah ich die Leute sich beraten, dann waren sie plötzlich von ihren Pferden, ich sah ihre Säbel blitzen, hörte Glas splittern und im nächsten Augenblick waren sie in einem Laden für elektrisches Zubehör verschwunden, — sie hatten mit ihren Säbeln die Schaufenster zerschmettert und sich auf diese Weise Eingang in den Laden verschafft. Ein Mann, vielleicht ein Hausknecht oder ein Passant, der einige Worte an den bei den Pferden gebliebenen Mann richtete, stürzte von einem Säbelhieb getroffen schreiend zur Erde. Im [133] nächsten Augenblick kam eine Abteilung Kosaken mit zwei Offizieren an der Spitze die Straße heruntergeritten, — die Offiziere warfen einen gleichgültigen Blick auf die Verwüstung, während die Mannschaften sich verständnisinnig grinsend anschauten.

In der Sandstraße klirrten ringsum die Schaufenster unter den Hieben plündernder Soldaten; in der Hauptsache waren es Kosaken, die hier ein neues Blatt der umfangreichen Geschichte ihrer Räubereien beschrieben, doch fehlte es natürlich nicht an zahlreichen Vertretern anderer Waffengattungen. Die Soldaten bildeten den Kern, dem der Kometenschweif von Weibern, Bassermannschen Gestalten und halbwüchsigen Bengeln nachzog. Die Banditen hatten sich bald eine gewisse Technik der Zerstörung ausgearbeitet: die Soldaten zerschmetterten die Ladentüren und Schaufenster mit Säbeln, Kolbenschlägen oder mit den abgerissenen Holzläden. Dann drangen sie in den erbrochenen Laden, zerbrachen die Schränke und sonstigen Behältnisse und verteilten die Waren. Was nicht fortgebracht wurde, wurde zerfetzt, zerstampft und durcheinandergeworfen. Gewöhnlich war die „Arbeit“ in einem Laden in einer halben Stunde erledigt, dann zog man weiter zu neuen Taten.

Die ganze innere Stadt mit ihren reichen Läden schien von einer Horde heulender, sich wüst beschimpfender Teufel erfüllt. Die Straßen waren von Papierfetzen, Packkistchen, Futteralen aller Art, Glasscherben, Konservenbüchsen und leeren Flaschen angefüllt. Man hörte unablässig das Splittern der Rolläden, der Türen, der Scheiben, dann und wann einen Schuß, dazwischen betrunkenes Johlen oder den Schmerzensschrei eines Verwundeten.

Unsichtbare Hände schleuderten aus dem Inneren der Läden Schmucksachen, silberne Löffel, Juwelen, Pelzwerk, ganze Ballen Stoffe, Putz, Bücher, Kleider, Wollenwaren, Konservenbüchsen, Tabak, Näschereien und tausend andere Dinge.

[134] „Nehmt!“ brüllten die Kosaken, und immer wieder flogen die Waren auf die Straße, wo sie vom Volke gierig aufgerafft und nach Hause geschleppt wurden. Es entwickelten sich Bilder, wie Goya sie in seinen Desastros de la guerra geschildert hat. Da sah man einen Kosaken, der vor einem ausgeraubten Parfümerieladen Eau de Cologne oder Haarwasser trank und je nach den Umständen entweder enttäuscht ausspie oder aber zusammensackte und sinnlos betrunken weiter taumelte, bis er liegen blieb. Andere schleppten ganze Berge von Konservenbüchsen, dann erfaßte sie die Gier, sie warfen ihre Last fort, holten das Messer hervor, mit dem sie die eine und die andere Büchse öffneten und den Inhalt verschlangen.

Man sah Kosaken und andere Soldaten, die sich die Tasche voll Gold und Juwelen stopften, oder sich mit Zeugballen beluden, die sie aber fortwarfen, um sich an der Plünderung eines Tabaksladens zu beteiligen.

Man wurde zum Zeugen abstoßender und schaurig-burlesker Bilder. Da rast ein Soldat daher, der sich geschnitten und sein Gesicht mit Blut besudelt hat. Er hat sich einen Zylinderhut auf den Kopf gestülpt und schwenkt in der Hand ein Bündel Damenwäsche. Megären umwickeln sich den Leib mit Stoffen und drapieren sich mit Bettdecken und Tischtüchern. Kerle und Weiber keuchen unter der Last praller Säcke; — sie verschwinden und kehren mit leeren Säcken wieder. Sie feuern die Soldaten an, sie kreischen und heulen, sie raffen und greifen alles, was in den Bereich ihrer Hände gelangt. Während sie ihre Säcke vollstopfen, schlingen sie schmatzend geraubte Delikatessen und gießen wahllos Fruchtwässer, Parfümerien und alles, was in Flaschen aufbewahrt wird, in ihre Gurgeln.

Die Kerle interessieren sich in erster Linie für die Ladenkassen; man sieht geübte Praktiker, die die Schlösser im Handumdrehen sprengen. Sie rauben weniger, als daß sie zerstören. Sie arbeiten im Schweiße ihres Angesichts nicht [135] nur als Plünderer und Zerstörer, sondern als Vertreter einer gewissen Klasse, die ihren großen Tag feiert.

Da standen wir nun hilflos mitten drin in dem Ereignisse, das wir seit Monaten befürchtet hatten und das doch überraschend gekommen war. Daß die russischen Soldaten plünderten, darüber wunderte sich füglich niemand, man bedauerte nur, daß die Ereignisse um Riga sich so rasch abgewickelt hatten, daß man keine Zeit gehabt hatte, sich vorzusehen und sein Eigentum zu sichern. Von einer Armee, die von der Revolution bis zu einem Grade entartet war, daß man schließlich nicht mehr von Soldaten, sondern nur noch von einem zuchtlosen, bewaffneten Haufen sprechen konnte, konnte man schlechterdings nichts anderes erwarten, als die wilden Ausschreitungen, die sie sich überall dort hat zuschulden kommen[WS 1] lassen, wo sie sich hatte zurückziehen müssen.

Und wenn man gerecht sein will, so wird man alle Schuld nicht der Revolution, die so sonderbare Blasen geworfen hat, zuschieben können, sondern man wird zugeben müssen, daß die Manneszucht nicht erst dann über Bord geworfen worden ist, als die russischen Truppen den roten Fetzen der Revolution folgten, sondern als an ihrer Spitze noch die kaiserlichen Fahnen wehten. Wenn die kaiserliche Regierung Gesetz und Recht mit Füßen getreten und auf Schritt und Tritt das Recht fremden Eigentums gröblich verletzt hatte, so konnte man vom gemeinen Mann mit seinen überaus primitiven Eigentumsbegriffen kaum etwas anderes erwarten, als was er zuwege gebracht hat.

Das Vorgehen russischer Generale und Offiziere, die ohne weiteres reichsdeutsches Eigentum annektierten und es nicht nur in zeitweilige Benutzung nahmen, sondern es, wenn sie seiner nicht mehr bedurften, verkauften, die auch das Eigentum der eigenen Untertanen in tausend Fällen antasteten, ohne daß den Eignern Ersatz oder Entschädigung geleistet worden wäre, ist nicht geeignet gewesen, den Mannschaften Respekt vor fremdem Eigentum einzuflößen oder diesen Respekt, [136] wo er doch vorhanden war, zu festigen. Man muß sich nur vergegenwärtigen, was im Kriegsgebiete an privatem Eigentum mutwillig oder ohne zwingende Veranlassung, nur aus Nachlässigkeit und aus Zerstörungstrieb, beschädigt und vernichtet worden ist, ohne daß die vorgesetzten Behörden auch nur den Versuch gemacht hätten, dem barbarischen Treiben der Soldaten Einhalt zu gebieten. Wie sehen die kleinen Städte, die Güter, Siedelungen, wie sieht der Rigasche Strand aus, der in einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt worden ist, ohne daß in diesem Bezirk je ein feindliches Geschoß gefallen wäre! Wie sehen zahllose Häuser der Stadt aus, in denen Soldaten gelebt haben oder in denen militärische Institutionen sich befunden haben! Man könnte glauben, daß hier Hunnen gehaust hätten.

Im Vergleich zu diesen Schäden, die unter den Augen der vorgesetzten kaiserlichen und revolutionären Behörden sozusagen auf durchaus legaler Grundlage verursacht worden sind, kommen die Zerstörungen der Marodeure kaum in Betracht.

Alle diese Dinge mußten natürlich nicht nur zur Verwilderung der Mannschaften und zur Lockerung der Manneszucht beitragen, sondern sie bildeten auch die Keime, aus denen die Saat der Räuberei sich üppig entwickelte und so furchtbare Frucht trug. Diese Keime hat aber nicht etwa die russische Revolution in das Heer getragen, sondern sie bildeten sich bereits zur Zeit der zarischen Regierung auf dem Boden der Recht- und Gesetzlosigkeit, die die Herrschaft der Romanows von jeher gekennzeichnet hat und die dazu geführt hat, daß der Russe von keinerlei Eigentumsskrupel belastet ist.

Man darf nicht vergessen, daß bereits unter der zarischen Regierung Desertion, Diebstahl, Raub und Mord in der Armee immer weiter um sich gegriffen hatten. Freilich durfte damals über diese Dinge nicht geredet werden, — dafür sorgte zum Schaden der russischen Armee und der Bevölkerung die russische Kriegszensur. Die „große russische Revolution“ [137] löste die Manneszucht vollständig auf; sie verwandelte das Heer in eine Bande politisierender, schwatzender, nichtstuerischer Tagediebe, die sich die Zeit mit Kartenspiel, Saufgelagen, Bällen, Diebstahl, Raub, Mord und Vergewaltigungen vertrieben. Das „souveräne Volk“ ließ seinen Instinkten die Zügel schießen, denn wer konnte ihm wehren? Jedenfalls nicht die in elender Abhängigkeit von den Soldatenkomitees stehenden Kommandostellen oder diese Komitees, die die Soldaten nicht leiteten, sondern bemüht waren, ihnen in jeder Weise zu Willen zu sein.

Der räuberische Haufe wälzte sich in Hunderten von Trupps zur Vorstadt vorwärts, um dort sein grausiges Werk fortzusetzen. Man plündert einen Wäscheladen; die Soldaten schleudern die Kästen auf die Straße, dann wird ihnen das Geschäft langweilig, — sie stürmen einen Blumenladen, wo alles zertrümmert und zertreten wird; im Vorübergehen fliegt eine Handgranate in eine Privatwohnung; man zertrümmert die Schauläden einer Buchhandlung, die Raublust scheint dem bestialischen Zerstörungstrieb zu unterliegen. Das dünkt den treibenden Kräften der Räuberei unvorteilhaft, — sie weisen den Soldaten die Wege: „Da gibt es reiche Beute, Brüder! Hurra! Hurra!“ Man eilt weiter, man zerstört und raubt weiter.

In der Vorstadt macht man saubere Arbeit, — an den Hauptstraßen bleibt fast kein einziger Laden erhalten, sie bilden eine ununterbrochene Kette von Trümmerfeldern. Warum macht man gerade hier saubere Arbeit, während in der inneren Stadt, wo weit reichere Beute lockte, die weitaus meisten Läden verschont geblieben sind? Weil in der inneren Stadt die treibenden Kräfte fehlten, oder doch nur in geringer Anzahl vertreten waren. In der Vorstadt waren sie reichlich vorhanden, die Frauen in Tüchern, die unter der Last des Geraubten beinahe zusammenbrachen, die südländisch aussehenden halbwüchsigen Bengel in Gymnasiasten- und Studentenmützen, die Kerle vom Typus jener Tagediebe, [138] die zeitweilig als Wächter der öffentlichen Ordnung funktioniert hatten. Diese Bengel, die man früher auf Meetings und bei ähnlichen Gelegenheiten gesehen hatte, sowie die Kerle vom Milizionärtypus bildeten, wie ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe und wie das von vielen einwandfreien Zeugen erhärtet wird, die Führer der Soldaten, denen sie die Läden zeigten, aus denen reiche Beute zu erhoffen war. Die Soldaten folgten willig den Weisungen, und wenn sie nachlassen wollten, dann wurden sie von den Kerlen und den Weibern zu neuen Taten angefeuert.

Wenn der Abhub der zerfallenden, aus Rand und Band geratenen russischen Armee die Hand nach fremdem Eigentum ausstreckte, so ist das bis zu einem gewissen Grade begreiflich, denn es handelt sich um Leute, bei denen Rechts- und Eigentumsbegriffe nur andeutungsweise vorhanden sind und die durch das Leben im Felde stark verwildert waren. Mit einem weit schärferen Maße sind dagegen die Ausschreitungen des Teiles der Bevölkerung der Stadt, die sich an den Plünderungen als treibende Kraft beteiligten, zu messen. Es handelte sich hierbei nicht nur um jene Schicht, die man als „Pöbel“ bezeichnet, sondern auch um die Vertreter sozial höherstehender Klassen, um Arbeiter und kleine Handwerker, um Schüler von Mittel- und Hochschulen, die dem Wahnwitz der anarchistischen Lehren verfallen, nun ihr Mütchen an den verhaßten „Bourgeois“ kühlen durften.

Man darf wohl annehmen, daß die Soldaten am wenigsten mitgenommen haben, denn wohin sollten sie mit den geraubten Gegenständen? Freilich sah man hin und wieder Soldaten, insbesondere Kosaken, mit dem Raube schachern, aber die weitaus meisten sind weniger betriebsam gewesen und werden sich mit einigen Konservenbüchsen, einigen Flaschen Eau de Cologne, einem Wurstzipfel, einigen Paketen Zigarren usw. begnügt haben. Der Löwenanteil des Raubes ist unzweifelhaft in die Wohnungen des Proletariats gedrungen, [139] das auf diese Weise sein Mütchen an der besitzenden Klasse kühlen und sich gleichzeitig auf bequeme Weise bereichern konnte. Einiges hat freilich auch andere Wege genommen. Die Plünderer waren nicht immer imstande, die Waren, die aus den Läden geworfen wurden, fortzuschleppen, — vieles blieb liegen, und da geschah es denn, daß so manches von sehr gut gekleideten Frauen und Männern aufgelesen und fortgebracht wurde. Nehmen wir an, daß das unter der Suggestion des Augenblicks geschehen ist — man sah brauchbare oder gar kostbare Gegenstände herrenlos auf der Straße liegen und nahm sie an sich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, daß man eine Ungesetzlichkeit beging und — marodierte.

Da hatten wir also die Bestätigung der erschütternden Vorgänge in Kalusz und Tarnopol; nein, doch nicht in vollem Umfange, denn die furchtbaren Vergehungen gegen Frauen und Mädchen, die sich russische Soldaten in jenen Städten hatten zuschulden kommen lassen, sind hier, soweit mir bekannt geworden, nicht beobachtet worden. Während meiner Streifereien durch die Stadt ist mir nichts derartiges aufgefallen, währenddessen begaben sich gerade Hunderte von Frauen zu dieser Zeit auf den Markt und in die Läden, um einzukaufen, — sie hatten ja keine Ahnung davon gehabt, wie es auf den Straßen aussah.

Die Plünderungen wären gewiß weiter ausgedehnt worden, wenn sich das Bombardement nicht verstärkt und in das Donnern der Granaten sich nicht das Krachen der Sprengungen gemischt hätte. Das mag die Banditen zur Eile gemahnt haben. Der letzte Eindruck, den ich von den abziehenden Plünderern mit mir nahm, bestand darin, daß ein Kosak mit dem Säbel in der Faust mich auf der Elisabethstraße anhielt und Geld verlangte. Einige Rubel, die ich in der Westentasche für derartige Fälle bereitgehalten hatte, wechselten den Besitzer und der Kerl eilte weiter, ohne sich erst mit Danksagungen aufzuhalten. Gegen 3 Uhr nachmittags [140] schien die Plünderung der Läden auch in der Vorstadt beendet zu sein, die Flutwelle der Marodeure war abgeebbt.

Man hätte nun beruhigt aufatmen können, wenn man nicht gewußt hätte, daß der Pöbel eine weit umfangreichere Aktion, als die Plünderung der Läden, geplant hatte, — es gingen recht verbürgte Gerüchte um, daß mit Einbruch der Dunkelheit auch Privatwohnungen geplündert und mit den Deutschen abgerechnet werden sollte. Man durfte also so etwas wie eine Bartholomäusnacht erwarten. In der Tat machten sich bald die ersten Anzeichen für eine neue Aktion bemerkbar, — hin und wieder begannen bewaffnete Banden, bestehend aus lettisch sprechenden Soldaten und Zivilisten, aufzutauchen, die Passanten Barschaften und Wertgegenstände abnahmen, in Privatwohnungen eindrangen und unter Drohungen Geld verlangten, ohne sich übrigens an den erschreckten Einwohnern zu vergreifen. Eine solche Bande wurde an der Albertstraße energisch beschossen, als sie eine Haustür aufzubrechen versuchte, sie ergriff alsbald das Hasenpanier.

Diese Stunden gehörten mit zu den allerunangenehmsten des an Aufregungen überreichen Tages. Soundso viele Geschäftsleute hatten eben ihre Läden in Trümmerhaufen verwandelt gesehen und nun fühlten sie sich in ihren eigenen vier Wänden ernstlich an Gut und Blut bedroht. Das unablässige Krachen einschlagender Granaten, der Donner der Sprengungen und die an allen Ecken und Enden ausbrechenden Feuersbrünste taten ein übriges, um die Nerven auf das äußerste anzuspannen. Die Situation, die an die Widerstandskraft friedliebender Bürger die denkbar stärksten Anforderungen stellte, wurde dadurch keineswegs verschönt, daß zahlreiche lettische Dienstboten plötzlich ihre Sachen packten und auf und davon gingen, um, wie sie sagten, nicht in die Sklaverei der Deutschen zu fallen.

Es unterlag keinem Zweifel, man hatte noch schlimme [141] Dinge zu gewärtigen und beschloß daher, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Man verschloß vor allen Dingen die Haustüren und die Fensterläden und ergriff andere Maßnahmen zur Sicherung von Eigentum und Leben. In einigen Stadtteilen schritt man zur Bildung von Selbstschutz, doch war man insofern in Verlegenheit, als man nur über wenige Waffen verfügte, während die Räuberbanden bis an die Zähne bewaffnet waren.

Während man noch verhandelte und Rat zu schaffen suchte, hieß es plötzlich, die Deutschen seien da, und es vergingen keine zehn Minuten, da sah man in der Tat die ersten Kübelhelme in der Ferne auftauchen. Nun atmete man erleichtert auf, denn es war klar, daß man nun nichts mehr zu fürchten hatte.

Es hatte sich erwiesen, daß, während die Stadt von den Marodeuren heimgesucht wurde und der unter den maximalistischen Fahnen vereinigte gebildete und ungebildete Janhagel sich anschickte, die Nachlese zu halten, die Deutschen bereits in der Mitauer Vorstadt erschienen waren. Die ersten deutschen Trupps sind dort schon um neun Uhr morgens gesehen worden, von der Mitauer Vorstadt gelangten sie, Hasenholm als Deckung benutzend, auf Böten, ein paar Schleppdampfern und über die gesprengten Eisenbahnbrücken in die innere Stadt.

Zu irgend nennenswerten Straßenkämpfen ist es nicht gekommen, denn wenn sich auch in der Stadt noch einige tausend russische Soldaten aufhielten, so waren diese entweder mit Plündern beschäftigt, oder aber sie hielten sich versteckt und krochen erst später aus ihren Schlupfwinkeln hervor, in denen sie sich schon seit Wochen als Deserteure, die sich mit Diebstahl, Raub und noch schlimmeren Dingen befaßten, verborgen gehalten hatten.

Riga war sozusagen ohne Schwertstreich den Deutschen ausgeliefert worden, wenngleich man immer wieder versichert hatte, daß die Deutschen nur über die Leichen ihrer [142] Verteidiger die Stadt betreten würden. Das war natürlich nur eine der wohlfeilen Phrasen, mit denen die revolutionären Blätter die Bevölkerung zu erfreuen pflegten. Es erwies sich demnach wieder einmal, daß ein fein und großzügig angelegter Operationsplan dem Elan, wenn man einen solchen bei der revolutionären russischen Armee überhaupt noch voraussetzen durfte, überlegen war.

Während der „Iskosol“ der XII. Armee sein bombastisches Pronunziamento veröffentlichte und höhere Stabsoffiziere noch am Sonntagabend der festen Überzeugung, daß man Riga unbedingt werde halten können, Ausdruck gaben, hatten die Deutschen das rechte Dünaufer bei Üxküll vertrommelt und vergast; sie hatten dann am 1. September zwischen Borkowitz und Dünhof drei Pontonbrücken über die Düna geschlagen, starke Truppenabteilungen hinübergeworfen und waren bis zum Kleinen Jägel vorgestoßen, wo sie sich festsetzten, Wie der amtliche deutsche Bericht besagt, ließ das russische Oberkommando Regiment nach Regiment zum Gegenangriff vorgehen, doch erwiesen sich alle Bemühungen und Opfer als vergeblich, die Deutschen waren aus ihren Stellungen nicht nur nicht zu verdrängen, sondern sie erreichten bereits am 2. September den Großen Jägel und nahmen am 3. September die Petersburger Chaussee unter starkes Artilleriefeuer.

Während die Masse der aufgelösten XII. Armee in kopfloser Flucht nach Nordosten, in der Richtung nach Wenden, drängte, wehrte sich die russische Nachhut mit verzweifeltem Mute gegen den andrängenden Feind, der unter ihr furchtbare Verheerungen anrichtete. Am 3. September nahmen die Deutschen Riga und Dünamünde ein.

Wenn auch in der letzten Zeit vor der Einnahme Rigas von zuständiger Seite wiederholt auf einen möglichen Übergang der Deutschen bei Üxküll oder Friedrichstadt hingewiesen worden war, so ist Ort, Stunde und Wucht des deutschen Angriffes dem russischen Oberkommando doch völlig [143] unerwartet gekommen, andernfalls wäre den Deutschen nicht so überaus reiche Beute in die Hände gefallen. Sie fanden nicht nur in Riga volle Speicher vor, sondern hatten auch tagelang zu tun, um die Munitionskarren, Geschütze, Proviant und anderen Bedarf, der stellenweise die Ränder der Petersburger Chaussee berghoch bedeckte, zu sammeln und in Sicherheit zu bringen. Alles das deutet nicht nur auf den überraschenden deutschen Angriff und die Sorglosigkeit des russischen Oberkommandos, sondern auch auf die Unordnung des Abzuges und den panikartigen Charakter der Flucht der letzten Reste der XII. Armee, die ihren einstigen Ruhm revolutionären Hirngespinsten, die zu ihrer völligen Entartung führten, zum Opfer gebracht hatte.




Man darf nicht an einen feierlichen Einzug der Deutschen mit wehenden Fahnen, Musik, Ehrenjungfrauen und ähnlichem denken, die Feldgrauen waren einfach da und machten weder feierliche noch überraschte Mienen, sondern taten so, als ob es die einfachste Selbstverständlichkeit von der Welt gewesen wäre, daß sie plötzlich da waren.

Der feste Tritt der deutschen Nagelschuhe verscheuchte die Dämonen, die sich unserer alten Stadt hatten bemächtigen wollen, — sie verschwanden in ihren Schlupfwinkeln, aus denen sie später zum Teil wieder hervorkrochen, um sich gefangen zu geben, die weitaus meisten konnten sich aber ungestört daran machen, ihren Raub in Sicherheit zu bringen, hatten sie doch unter den bestehenden Verhältnissen kaum ernstliche Verfolgung zu befürchten.

Der Einzug der Deutschen verscheuchte aber nicht nur die Banden der Plünderer in Zivil und Uniform, sondern er nahm auch den schweren Druck von uns, unter dem wir seit Jahr und Tag gelitten hatten.

[144] Riga war mit einem Schlage wieder eine deutsche Stadt geworden; die zum Verbrechen gestempelte oder doch nur geduldete deutsche Rede konnte wieder frei erschallen, und sie erklang nun sogar aus dem Munde von Leuten, die noch vor einer halben Stunde den Deutschen Rache und Tod geschworen hatten.

Eine merkwürdige Gelenkigkeit entwickelten urplötzlich unsere wackeren Hausknechte, von denen die weitaus meisten die Streikhosen angezogen hatten, um auf dem Umwege einer auskömmlich geforderten Lohnerhöhung und entsprechenden Arbeitsverminderung ihre Menschenrechte zu wahren. Diese Herren, von denen nicht wenige sich am Pogrom aktiv oder als Wegweiser beteiligt hatten, griffen plötzlich wieder zu Besen und Schaufel und fegten die reichlichen Spuren der abgezogenen glorreichen revolutionären Armee sowie der zerstörenden Tätigkeit der vereinigten Marodeure vom Zivil und Militär fein säuberlich zusammen, worauf sie sich ein Pfeifchen ansteckten und mit den einquartierten deutschen Soldaten ein kleines Schwätzchen in den biderbsten Herzenstönen einer durch nichts zu erschütternden Freundschaft inszenierten. Freilich taten sie das eine wie das andere, d.h. das Straßenfegen wie auch das Schwatzen, soweit sie nicht durch andere Pflichten in Anspruch genommen worden waren. Die vornehmste Pflicht des Augenblicks bestand aber in der Einheimsung von Vorräten, die man aus den fiskalischen Packhäusern bezog.

Schon am Vormittage hatten die Sprengungen begonnen und währten bis etwa 6 Uhr, wo so ziemlich alles, was in Brand gesteckt und gesprengt werden konnte, vernichtet war. Den ganzen Tag hindurch lagerten über der Stadt schwere Rauchwolken und man sah ringsum die Flammen hoch auflodern. Die Vorratshäuser, die die russische Armee nicht hatte leeren können, brannten wie riesige Fanale. Von Zeit zu Zeit ertönten gewaltige Detonationen, die die Gebäude erschütterten und die Fensterscheiben in den benachbarten [145] Häusern herabrieseln ließen. Man sah die Packhäuser des Dünaburger Bahnhofs, des Güterbahnhofs, sowie die Holzbrücke in hellen Flammen stehen; dann flammte die Pohlesche Fabrik auf; es brannte im Bezirk des Bahnhofes Riga—Ufer, Weidendamm und jenseits der Düna. Das ganze Villenviertel im Kaiserwalde schien in Flammen zu stehen, und schließlich sah man die Stadt von einem Ringe von Feuerherden und gewaltigen Rauchwolken umgeben, aus denen in kurzen Zwischenräumen die Flammengarben der Explosionen hervorschossen.

Es war ein schauerlich schönes Bild, würdig des Pinsels eines Wereschtschagin, diese vielfarbigen Rauchmassen, die in ununterbrochener Folge wie aus einem Riesenkrater himmelan quirlten und wohl auf viele Werst sichtbar gewesen sein müssen. An manchen Stellen, wo Fette, Petroleum, Benzin usw. eingelagert waren, entwickelte sich eine Höllenglut, in der schwere eiserne Träger schmolzen und das Mauerwerk zerbröckelte. Die häufigen Explosionen schleuderten Konstruktionsteile, Mauerwerk und einen Sprühregen von Funken in die Luft.

Es war ein Glück, daß es beinahe windstill war, sonst hätte die Feuersbrunst unbedingt unabsehbare Umfänge annehmen müssen. An Löschen war um so weniger zu denken, als die Feuerwehrkommandos gleichfalls von der maximalistischen Propaganda infiziert gewesen waren und die Zahl der Mannschaft hatte vermindert werden müssen. Dank dem stillen Wetter beschränkten sich die Brände mit ganz geringen Ausnahmen auf die Lagerhäuser, ohne daß sie weiter um sich gegriffen hätten. Ein ganz leiser Luftzug trieb von Zeit zu Zeit den Rauch nach Nord ab, so daß man in der Stadt frei atmen konnte, während man unter dem Winde im Gestank brennenden Fettes, Zeuges, Leders und tausend anderer Waren zu ersticken vermeinte.

Als ich gegen 10 Uhr abends auf dem Turme des Hauses Kablitz, einem der höchsten Punkte der Stadt, stand, da [146] bot sich ein Anblick von unvergeßlicher Großartigkeit: soweit das Auge reichte, sah man die Stadt von einem brodelnden Feuermeer umkränzt; nach Westen und Nordwesten konnte man drei Feuerringe unterscheiden, am übrigen Horizont sah man nur in großer Ferne hellen Feuerschein oder drohende Rauchwolken aufsteigen, der ausgedehnteste Feuerherd schien in der Richtung des zweiten Weidendammes zu verlaufen, sehr stark brannte es auch an der Petersburger Chaussee; von dorther hörte man auch noch immer dumpfe, schwere Detonationen erschallen. Zum Teil waren das noch Sprengungen, zum Teil aber die Detonationen der Granaten, die aus Dünamünde aus schwerkalibrigen Geschützen auf die Petersburger Chaussee gefeuert wurden und unter der fliehenden Menschenmenge furchtbare Verheerungen angerichtet haben sollen.

Erst jetzt, nach Eintritt der Dunkelheit, zeigte sich der Brand der Lagerhäuser, wenn man sich so ausdrücken darf, in seiner ganzen elementaren Schönheit. Er spielte in allen Nuancen vom dunklen Karmin bis zu einem stechenden Goldgelb. Hier züngelten die Flammen noch hoch auf und spiegelten sich in den dunklen Wassern der Düna, die mitunter aufglühten wie flüssiges Erz, dort verglommen qualmend, oder hell brennend die letzten Überreste wie ein riesiges Kohlenfeuer. Von dem hellen Hintergrund der Brandstätten hoben sich die Silhouetten der dunklen Häusermassen scharf umrissen ab.

Es war, wie gesagt, ein unvergeßliches Bild, das die Kriegsfurie mit gewaltigem Pinselstriche in Flammenzügen hingeworfen hatte.




Bevor die Lagerhäuser am Güterbahnhof in Brand gesteckt und gesprengt wurden, durfte die Bevölkerung sich von den aufgespeicherten Vorräten nehmen, was sie mochte. Das ließ sie sich natürlich nicht zweimal sagen. Es war verwunderlich, [147] wie schnell die erfreuliche Mär in der Stadt sich verbreitete und welche Völkerwanderung zum Güterbahnhofe sich alsbald entwickelte. Mit Säcken, Beuteln und Körben, Behältnissen jeder Art, strömten die Leutchen von allen Zeiten herbei, doch wie staunten sie, als sie gewahr wurden, daß die ärmlichen Transportmittel, die sie mitgebracht hatten, die Menge der guten Sachen, die zu ihrer Verfügung gestellt wurden, nicht zu fassen vermochten! Durfte man doch hineingreifen in die reichen Vorräte, und wo man sie packte, da waren sie interessant. Da gab es Mehl ohne Ende, Grützen, Dörrgemüse, Zucker, Petroleum, Butter, Biskuits, Obst, Fette aller Art, Öle, Schokolade, Tabak, Hartbrot, Konserven, Leder, Eisenwaren, Sattelzeug und tausend andere Dinge, die berghoch aufgestapelt lagen und nun vernichtet werden sollten, wenn man sich ihrer nicht annahm.

Man wußte nicht, wonach man zuerst greifen sollte, denn alle die guten und kostbaren Dinge konnte man in diesen knappen Zeiten nur zu gut gebrauchen, und wenn man sie nicht selbst gebrauchen konnte, so konnte man sie mit Vorteil verkaufen, denn was hat heutzutage nicht Wert, woran kann man nicht verdienen? Man griff also frisch zu. Man belud sich mit Mehl, oder Zucker, oder Konserven, brachte sie draußen in Sicherheit und holte alsbald neuen Vorrat. Es geschah freilich, daß irgendein Desperado die zusammengehamsterten Vorräte abgeholt hatte, während der Eigner in den Speichern weilte, aber dem half man bald ab, indem man sich organisierte, d. h. einige Personen holten die Waren, während andere sie bewachten.

Ganze Familien wanderten in corpore zum Bahnhof, und wer nahe wohnte, der durfte das Schicksal preisen, denn er konnte das Eingeholte zu Hause bergen und immer wieder neue Beute holen. Doppelt glücklich aber war der, der einen Gaul nebst Wagen sein eigen nennen durfte; solche Leute beluden ihr Gefährt bis zu Turmes Höhe und dann eilten sie davon, wie auf Doktor Fausts Zaubermantel, [148] um so schnell wie möglich zurückkehren zu können, denn so viel man auch von den Vorräten nehmen mochte, sie schienen sich doch nicht zu vermindern.

Und man räumte doch wirklich gründlich unter ihnen auf. Nicht nur arme Menschen holten sich, was ihr Herz begehrte, sondern man sah auch hunderte von mehr als wohlsituierten Bürgern, die schwer beladen nach Hause eilten. Man sah würdige Familienväter unter der Last von schweren Mehlsäcken keuchen, sorgende Hausmütter Blechbüchsen mit kostbaren Ölen vor sich herrollen, zarte Haustöchter Sattelzeug, oder gar ein Bündel Hufeisen schleppen, — mögen diese den Mädchen Glück gebracht haben! Man befand sich in einer Zauberhöhle, die sich ohne Aladins Lampe aufgetan hatte und keine Dämonen wehrten den guten Leuten, im Gegenteil, die Soldaten und Offiziere, die die Sprengung zu beaufsichtigen hatten, mahnten, nur ja recht viel fortzubringen und das recht rasch zu besorgen, da sie bald ans Werk schreiten müßten.

Man arbeitete mit fieberhaftem Eifer und bedauerte aus tiefstem Herzensgrunde, daß man nicht als Vierhänder geboren war. Ein solcher erschien zur allgemeinen Verwunderung und zum Entsetzen der Weiblein aus dem Volke im hohen Sparrenwerke eines der Packhäuser und schaute grinsend und zähnefletschend auf das geschäftige Treiben im Raume herab. Woher der große Affe, der dort oben sein Wesen trieb, gekommen, das wußte kein Mensch, man kümmerte sich auch nicht weiter um ihn, denn man hatte Wichtigeres zu tun. Selbst die Weiblein, die beim Erscheinen des garstigen Tieres laut aufgekreischt hatten, der Gottseibeiuns sei erschienen, beruhigten sich wieder und füllten nur emsig ihre Säckchen. Das hätten sie wohl auch getan, wenn Beelzebub in Person unter das Volk getreten wäre, man hätte sich um ihn ebensowenig gekümmert, wie um das Krachen der Granaten und die Sprengungen in den benachbarten Speichern oder um das Heulen der Flammen rings [149] um den Bahnhof. Aber schließlich mußte man doch, wenn auch mit schwerem Herzen, verzichten, — die Soldaten wollten nicht mehr warten, sie Übergossen die noch erhaltenen Vorräte mit Petroleum und setzten sie in Brand. Bald donnerten die ersten Sprengungen durch den Speicher, und nun flüchteten auch die letzten Tapferen, die noch immer ihre Säcke gefüllt hatten. Sie mußten trauernd zuschauen, wie Waren im Werte von vielen Millionen in Flammen aufgingen. Freilich durften sie sich mit dem Bewußtsein trösten, daß sie sich mit Vorräten für einige Wochen, vielfach sogar für einige Monate hatten versorgen dürfen.

Der nachdenkliche Beobachter konnte hier, in den Lagerhäusern, mit Genugtuung konstatieren, daß der Menschheit, wenn sie sich ohne alle Konvenienzen gibt, Standes- und Klassenunterschiede fremd sind. Wie friedlich arbeitete und keuchte hier alles nebeneinander und durcheinander. Wie gern half der düstere Maximalist dem sanften Ordnungsparteiler das Päcklein aufachseln, wie rührend einheitlich wirkten Federhüte neben den weißen Tüchlein, der Schmierstiefel oder die Pastel neben dem englischen Chevreaustiefel! Ich überlasse das weitere Ausspinnen dieser Gedankengänge meinen Lesern …

Leider mußte dieses Idyll mit dem starken heroischen Einschlag von Kanonendonner und Explosionen ein Ende nehmen. Der Vorhang fiel über dem Zipfelchen unverfälschten Menschentums, das sich hier geoffenbart hatte …




Die Deutschen waren also da und waren zur rechten Zeit gekommen, denn wehe uns, wenn die Stadt über Nacht oder gar noch für einige Tage in der Gewalt der Marodeure und des plündernden Pöbels geblieben wäre! Freilich organisierten deutsche Kreise Selbstschutz, aber wie wirksam dieser hätte sein können, bleibt dahingestellt, denn man [150] darf nicht vergessen, daß die zarische Regierung uns alle Waffen bis auf Jagdflinten abgenommen hatte, während die Plünderer mit Schieß- und Hiebwaffen, sowie mit Handgranaten und anderen Mordwerkzeugen überreichlich versehen waren und nicht nur die Absicht hatten zu plündern, sondern auch ihr Mütchen an allen Deutschen zu kühlen. Man darf also wohl mit allem Recht annehmen, daß wir eine Schreckensnacht zu durchleben gehabt hätten, wenn eben die Deutschen nicht schneller als man das hätte erhoffen dürfen, die Stadt besetzt hätten.

Um so größer war natürlich die Freude und um so herzlicher wurden Männer begrüßt, die uns von dem Pöbel, der sich in den letzten Tagen souverän gefühlt hatte, sowie von dem plündernden Abhub der russischen Armee befreit hatten. Man überschüttete die müden Sieger mit Blumen, Einladungen und Fragen, namentlich mit den letzteren. Man verlangte nicht nur von den Offizieren, sondern auch von jedem Gemeinen möglichst ausführlichen Bericht über die strategische und politische Lage; sie sollten Aufklärung über die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und Kurland geben und womöglich Nachrichten über Verwandte und Bekannte hüben und drüben bringen.

Die Bestürmten mußten zuschauen, wie sie sich aus der Affäre halfen; im allgemeinen hielten sie dem Schnellfeuer der Fragen tapfer stand und ließen sich selbst durch die, sagen wir, naivsten Fragen nicht aus ihrer liebenswürdigen und reservierten Haltung bringen, wenngleich dazu eine Geduld und Nachsicht gehörte, die das Normalmaß weit überstieg.

Die Deutschen hatten sich fabelhaft schnell in der Stadt orientiert; sie bewegten sich bereits nach wenigen Stunden mit einer Sicherheit in der ihnen fremden Stadt, als ob sie in ihr immer zu Hause gewesen wären. Bis spät in die Nacht hinein sah man allenthalben plaudernde Gruppen; das Wetter war mild, am Himmel leuchtete der Mond und für [151] weitere Beleuchtung sorgte der noch immer rote Glast der Feuersbrünste, der die Wände und Dächer der Gebäude mit einem magischen Schimmer übergoß.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß an diesem Abend so manche gute Flasche geleert und so manche Festzigarre in Brand gesteckt wurde, und zwar nicht nur in deutschen Kreisen, sondern auch von Russen und Letten, die den Einzug der Deutschen, wenn vielleicht auch mit gemischten Gefühlen, so doch als die erwünschte Befreiung von der bedrohlich sich gestaltenden Zwingherrschaft des Pöbels begrüßten und nun nicht mehr um Leben und Habe zu bangen brauchten.

Man genoß nach all den Aufregungen und Erregungen des Tages den stillen Frieden des Abends, in den in der Ferne verhallend das Grollen des Kampfes hineinklang. Gegen Mitternacht veränderte sich freilich die Szenerie, der Wind, der bisher leise gegen Nord geblasen hatte, schlug plötzlich um und versteifte; es zogen Gewitterwolken auf, und bald begann es tüchtig zu regnen, — auch in dieser Beziehung bewährte sich die glänzende Organisation der deutschen Armee, — der Regen besorgte das Ablöschen der unzähligen Brandstätten, das unter anderen Umständen sehr viel Arbeit erfordert hätte.

Am nächsten Tage, Dienstag, den 4. September, strahlte die Sonne wieder heiter über der Stadt. Von allen den Schrecken des vorhergegangenen Tages war nichts mehr nachgeblieben als einige dünne Rauchwölkchen, die sich hier und da noch aufkräuselten und ein leichter Brandgeruch, der zeitweilig über die Stadt wehte; der Donner der krepierenden Granaten war verhallt, desgleichen die gewaltigen Schläge der Sprengungen. Man empfand nach dem Höllenlärm der letzten Tage und nach der ungeheuren Nervenanspannung die Stille doppelt wohlig. Man begrüßte die Abwesenheit der „Towarischtschi“, ihrer roten Fetzen, sowie [152] ihres Gegröhls und Gedudels, das zu einer wahren Stadtplage geworden war. Man sah sie weder an den Waggons der Tram hängen, noch vor den Haustüren und in den Anlagen lungern, oder in den öffentlichen Gärten dem Kartenspiel frönen und poussieren, — sie waren von der Bildfläche verschwunden, gleichwie Iskosol, Iskorad, Maximalisten und Minimalisten, Internationalisten und andere Organisationen, die gehofft hatten, das Blaue vom Himmel herunterholen zu können, verschwunden waren. Verschwunden waren zum größten Teil auch die absonderlichen Hüter der öffentlichen Ordnung, die berühmten Milizionäre, diese närrische Grimasse einer Ordnungsmannschaft. Was war nicht alles in dieser einen Nacht verschwunden, und was war nicht wieder in seine Rechte eingesetzt worden! Wir durchlebten zauberhafte Wandlungen, eine ganz ungeahnte Umwertung der Werte, eine völlige Verschiebung der politischen, militärischen und sozialen Verhältnisse. Waren wir doch nun von dem gewaltigen russischen Hinterlande, mit dem wir seit Jahrhunderten durch tausend und aber tausend Fäden verbunden gewesen, mit einem Schlage abgeschnitten und in die Lage eines auf seine eigenen kümmerlichen Hilfsquellen angewiesenen isolierten Staates versetzt worden.

Am Nachmittage gab es Platzmusik. Man hörte nach langer Zeit wieder die vertrauten deutschen Weisen, man sah wieder farbige Mützen, man sprach wieder deutsch, ohne daß man befürchten mußte, von einem Rowdy brutalisiert zu werden. Das Leben gelangte unglaublich rasch wieder in das alte Geleise. Es hatte sich nur ein blitzschneller Dekorationswechsel vollzogen, es hatte sich lediglich eine Episode der gewaltigen Welttragödie, die in ehernem Rhythmus weitergeht, abgespielt.

Ein Dekorationswechsel! Statt der saloppen, dekolletierten Towarischtschi flanierten nun stramme deutsche Soldaten über die Boulevards, sie hatten nach Soldatenbrauch Anschluß gesucht und ihn auch ohne weiteres gefunden. Statt dem erträumten [153] sozialistischen Freiheitsdusel funktionierte eine straffe Rechtsordnung; statt „Latwija“ hieß es nun deutsches Okkupationsgebiet.

Eine ganz ungeahnte Verwandlung vollzog sich in wenigen Stunden; der Proletenkoller, der die große Masse der Bevölkerung erfaßt hatte und uns das Leben vergällte, war mit einem Schlage wenigstens äußerlich weggewischt. Daß die Herren Arbeiter, die sich als die eigentlichen Herren der Betriebe gefühlt und sich auch als solche gebärdet hatten, sowie die edle Weiblichkeit, die für acht Stunden Arbeit vier Rubel einzustecken gewohnt war, den Wandel der Dinge mit tiefem innerlichem Grollen begrüßten, erscheint ebenso verständlich, wie die Bestürzung jener extremen Parteien, die gehofft hatten, den Bourgeois ein für allemal den Garaus zu machen und das zu verwirklichen, was ihnen in den Jahren 1905 und 1906 nicht gelungen war. Alle diese Maulhelden, deren Wahnwitz nur von ihrer unermeßlichen Unverschämtheit überboten wurde, verschwanden von der Bildfläche, jedoch nicht vom Erdboden. Sie sind zum Teil geflohen, zum Teil aber setzen sie ihre Wühlarbeit in aller Stille fort. An Gläubigen dürfte es ihnen nicht fehlen, denn das Evangelium, das sie verkünden, war nicht nur vielverheißend gewesen, sondern es hatte seinen Anhängern im Laufe einiger Monate goldene Früchte getragen. Die in fratzenhafte Pöbelherrschaft ausgeartete und in brutalstem Egoismus versandete, in ihrem Kern überwältigend großartige russische Freiheitsbewegung hatte für Riga ein Ende gefunden.

Der Pendel, der weit nach links hinausgeschwungen hatte, kehrte in seine normale Lage zurück; das Uhrwerk, das durch sieben Jahrhunderte funktioniert hatte, bekam wieder ruhigeren Gang; der Alp, der seit Monaten auf Riga gelastet hatte, war geschwunden, man durfte die Rückkehr des gesunden Menschenverstandes dankbaren Herzens begrüßen.

[154] Das Leben trat rasch in seine vielgestaltigen Rechte, es rollte weiter und kümmerte sich nicht viel um diejenigen, die unter die Räder geraten waren. Man brachte die zertrümmerten, noch von Schutt und Unrat angefüllten Läden schnellstens in Ordnung. Die einen waren ungeschädigt aus dem Taifun entfesselter Bestialität hervorgegangen, während die anderen alles verloren hatten und nun die traurigen Trümmer ihrer Habe zusammenkehren mußten. Der Handel ging weiter, — aus den Ruinen blühte neues Leben, lockte neuer Gewinn. Die Eroberer durften sich mit allem versorgen, wonach ihr Sinn stand, und sie durften nebenbei vor Staunen erstarren, als sie hörten, welche Preise man ihnen abverlangte. Man inszenierte eine Orgie der Preissteigerung für sämtliche Waren, die alles, was wir in dieser Beziehung erlebt hatten, und was hatten wir nicht erlebt! weit hinter sich ließ. Die trotz dieser wucherischen Preistreiberei enorm gesteigerte Nachfrage brachte es mit sich, daß in wenigen Tagen ganze Warenkategorien aus dem Verkehr verschwanden.




Zu der Zeit, als diese kleine Skizze niedergeschrieben wurde, waren die Schädigungen, die die Einnahme der Stadt mit sich gebracht hat, noch nicht amtlich festgestellt worden, immerhin darf man sagen, daß der schwere Tag für Riga ungemein günstig verlaufen war. Die Zerstörungen, die die deutschen Granaten angerichtet hatten, waren relativ gering; unter Umständen hätte das Bombardement noch ganz andere Umfänge annehmen können und wohl auch müssen. Auch die Sprengungen, unter denen vorzugsweise fiskalische Gebäude und Anlagen gelitten hatten, fielen nicht allzu schwer ins Gewicht; wenn die abziehenden russischen Truppen zielbewußter vorgegangen wären, oder die zu den geplanten Sprengungen erforderliche Zeit zur Verfügung gehabt [155] hätten, dann würde sich Riga wohl in einem wesentlich anderen Zustande dargestellt haben, als gegenwärtig.

Freilich sind Millionenwerte vernichtet worden, und es wird vieler Jahre und bedeutender Geldopfer bedürfen, um die Spuren der Sprengungen und Brandlegungen endgültig zu verwischen, aber, wir wiederholen es, es hätte viel, viel schlimmer werden können. Dasselbe muß auch von den Plünderungen gesagt werden, denen man seit Monaten mit Besorgnis entgegengesehen hatte und die nun so überraschend, ebenso überraschend wie die Aufgabe der Stadt, gekommen waren. Auch die Marodeure haben Millionenwerte entweder geraubt oder sinnlos vernichtet. Der Schaden wäre aber gewiß weit größer gewesen, wenn die Sturmflut nicht so rasch verebbt wäre. Was uns drohte, ist im Vorgehenden angedeutet worden.

Nehmen wir nun alles in allem, so darf Riga sich beglückwünschen, so wohlfeil davongekommen zu sein. Der Himmel hat die Stadt gnädiglich vor den Greueln der Zerstörung, der unsäglichen Not und dem furchtbaren Elend bewahrt, die die Belagerung und Eroberung Rigas durch Scheremetew mit sich gebracht hatte.

Die schwersten Schädigungen hatte Riga im Vorsommer 1915 zu erleiden gehabt, als die gesamte, gewaltige Industrie, die großen Handelsfirmen, Schulen und Regierungsinstitutionen, Banken und Vorräte aller Art evakuiert wurden, und der Puls des Geschäftslebens beinahe vollständig aussetzte.

Auf viele hundert Millionen dürften auch die Schädigungen einzuschätzen sein, die von der russischen Armee sowohl in der Stadt selbst, als auch namentlich in den Strandorten und sonstigen Sommerfrischen, insbesondere aber in den städtischen Forsten verursacht worden sind. In dieser Beziehung hatte die russische Armee sich im Laufe von 200 Jahren nicht im geringsten verändert. Wenn man die in den Urkunden der Stadt Riga aus den Jahren nach der Eroberung [156] durch Scheremetew enthaltenen unzähligen Klagen über die von Soldaten begangenen Übergriffe liest, dann ist man geradezu erstaunt, wie sehr sich die Verhältnisse von damals mit den heutigen decken. Unter den Nachwirkungen dieser Schädigungen, die Riga aus einem blühenden, reichen Gemeinwesen in eine tote, mit Schulden überlastete Stadt verwandelten, wird Riga noch durch Generationen zu leiden haben. Die tiefen Wunden, die der Weltkrieg geschlagen und die bei fast allen von uns bis ans Lebensmark gegangen sind, werden auch dann noch nicht verharscht sein, wenn unser Name schon längst Schall und Rauch geworden sein wird und unsere Urenkel die Pflugfurche durch die alte Heimaterde ziehen werden.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: komman