Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Sestriza
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Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt das Charakterbild der russischen barmherzigen Schwester, vertraulich-zärtlich „Sestriza“, Schwesterchen, genannt, in der Geschichte. Vielleicht liegt in diesem zärtlich-vertraulichen Diminutivum die Lösung des Sestriza-Problems, das beinahe ebenso unergründlich ist, wie die an lichten Höhen und dunklen Tiefen so überaus reiche russische Volksseele.
Nicht als strenge, nur auf eiserne Pflichterfüllung bedachte Schwester wünscht der Russe sich seine Pflegerin in schweren Leidensstunden, sondern eben als liebreiches, mitempfindendes Schwesterlein, das nicht nur die Leiden des siechen Körpers lindert, sondern auch für seelisches Weh Verständnis und Mitempfindung hat und bereit ist, Trost und milde Worte zu spenden, Heiterkeit und Frohsinn zu verbreiten und unter Umständen der strengen Ordnung der Lazarette und den beaufsichtigenden gestrengen Herren Ärzten ein Schnippchen zu schlagen.
Es ist nicht unmöglich, daß die Sestriza hin und wieder ihre Pflichten nicht so erfüllt, wie es sich gehört, daß sie nachlässig ist, oder im Nebenzimmer plappert, während sie eigentlich die Verbände wechseln sollte, oder daß sie gar ein oder das andere Mal einfach ausbleibt und ihre Pflichten ohne vorherige Meldung einem gütigen Zufall in der Person des bärbeißigen Feldschers überläßt.
Solche Fälle sind nicht unmöglich, aber dafür bekommt Sestriza es fertig, Tage und Nächte am Lager eines Verwundeten [115] zu sitzen, der sie interessiert; es braucht durchaus kein Adonis zu sein, dem sie ihre Kräfte opfert, bis der Oberarzt sie mit Gewalt aus dem Lazarett entfernt, sondern es kann ein ganz gewöhnlicher pockennarbiger, stumpfnasiger und wild verbarteter Muschitschok sein, der ihr weiches Herz durch seine Hilflosigkeit, durch seine mit stammelnder Zunge vorgebrachten Erzählungen von seinem Weibe, das er natürlich prügelt, und von seinen Kinderchen, die natürlich aufwachsen wie die Blumen auf dem Felde, rührt. Sie bekommt es fertig um „ihren“ Kranken, wenn er trotz aller ärztlichen Kunst gestorben, Ströme von Tränen zu vergießen, für ihr letztes Geld einen Blumenstrauß zu kaufen und dem elenden Brettersarge mit den zerhackten und zerschossenen Überresten des armen Sidor oder Karp wersteweit bis zum Friedhof zu folgen und dort inbrünstig um das Seelenheil des Hingeschiedenen zu beten.
Es ist schwer, sich ein ganz zutreffendes Bild von der Sestriza zu machen, denn sie kann pflichttreu und aufopfernd wie ein Held und unglaublich nachlässig und zerfahren sein. Sie kann im wildesten Geschützfeuer ruhig ihrer Pflicht nachgehen und Beweise wahrhaften Heldenmutes liefern, um dann wenige Stunden später in Gesellschaft von Offizieren oder anderen jungen Leuten laut schwatzend und lachend mit wehenden Röcken und flatterndem Kopftuch durch die Straßen zu fegen, oder sich in Kaffeehäusern, Theatern und Konzertsälen in einer Weise zu benehmen, die den Zorn der Gerechten im Lande herausfordert.
Es läßt sich nicht leugnen, Sestriza ist trotz der frommen Tracht, die sie trägt, keine Heilige, aber ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt und sie wird noch viel lieben, solange ihr kleines, törichtes Herz schlagen wird.
Der Dualismus, der die russische Volksseele zerfrißt, ist auch der Sestriza eigen, und er findet seinen ganz prägnanten [116] äußerlichen Ausdruck in der Schwesterntracht, die ein Gemisch von nonnenhafter Einfachheit und herausforderndem Raffinement ist. Das letztere ist freilich nicht von der Verwaltung des Roten Kreuzes vorgesehen worden, sondern ist von der Sestriza geschaffen, und zwar nicht ohne Genialität, denn man wird zugeben müssen, daß es nicht leicht ist, ein Waschkleidchen und ein Kopftüchlein raffiniert auszugestalten. Dennoch hat Sestriza solches trotz Worth und Paquin fertig bekommen; freilich würde ihr schöpferischer Geist kläglich Fiasko erleiden, wenn sie in die besagten, mehr als schlicht gedachten Kleidungsstücke nicht ihr überaus reizvolles, puscheliges Persönchen stecken könnte, das schließlich auch im Aschenputtelgewande zur Geltung gelangen und seiner Inhaberin, wenn auch nicht einen Märchenprinzen, so doch einen weniger hochgestellten, aber unbedingt annehmbaren jungen Rittersmann zuführen würde.
Sestriza wäre eben nicht eine rechte Tochter der Altmutter Eva, wenn sie nicht noch ein Übriges täte, wenn sie das züchtige Kopftüchlein nicht in ein beträchtliches Bettlaken verwandelte, es in malerischen Falten um das rosige Frätzchen schlänge und die Zipfel des allen Verordnungen zum Trotz aus kostbarem Stoff bestehenden Über-Tüchleins so recht sieghaft durch die Lüfte wehen ließe. Was nun das Waschkleidchen anlangt, so kommt hier nichts auf den einfachen Stoff, sondern alles auf den Schnitt an, der das, was ein guter Himmel an rundlicher Pracht der Sestriza mitgegeben hat, so recht zur Geltung kommen läßt. Aber das wesentliche Requisit sind doch die durchbrochenen, spinnwebfeinen Strümpfe und die eleganten Stöckelschuhe, auf denen die Sestriza nicht nur über den Asphalt der städtischen Trottoire dahinwippt, sondern die sie auch allem gesunden Menschenverstande zum Trotz im Felde und in den Hospitälern trägt.
In dieser lasterhaft-züchtigen Tracht steckt nun das besagte [117] Weibsbildlein, rundlich und rosig, mit Pausbäckchen, Karpfenmäulchen, Stumpfnäschen und blanken Spatzenaugen oder verträumten Guckerln, und man muß schon ein ganz verhärtetes Herz haben, wenn man dem wippenden und trippelnden Weibchen nicht mit Wohlgefallen nachschaut, wobei man, so ist nun einmal das Männerherz, am allerwenigsten an die heilige Mission dieser süßen Mädel denkt.
Ich wundere mich, Gott verzeih mir die Sünde, daß sich noch immer kein unternehmender Manager gefunden hat, der den Sestrizen-Typus für das Varieté ausnutzt. Das gäbe so etwas, wie die verflossenen Sisters Barrison. Vielleicht wäre die Nummer noch sündhafter … Doch ich will nicht lästern. Waren sie doch alle bei Kriegsbeginn ausgezogen voll heiligen Eifers und schöner Menschlichkeit, getrieben von jenem flammenden Impuls, der leider nur kurze Zeit vorhält, wie ein feiner Duft, von dem schließlich nur ein Bodensatz von Patchouli nachbleibt. Dem Impulse folgten Tausende und Abertausende von Frauen; man jubelte ihnen zu und feierte sie in der landesüblichen exaltierten Weise. Es wäre interessant, wenn statistisch nachgewiesen werden könnte, wie viele von den Sestrizen des Kriegsbeginnes bis zum Schlusse durchgehalten haben, doch muß man annehmen, daß eine derartige Statistik nie geliefert werden wird, denn einerseits ersticken die russischen Militärärzte ohnehin in Statistik, andererseits aber hätte sie allenfalls einen sittengeschichtlichen Wert, der den Fiskus wohl kühl lassen dürfte. Immerhin kann man nach Mitteilungen aus gut unterrichteten Quellen annehmen, daß der Bestand der Sestrizi sich während des Krieges ganz wesentlich verschoben hat, — während die einen gingen, kamen die anderen, kamen die gründlich durchgebildeten Schwestern von Beruf, kamen auch die sogen. Kriegsschwestern, die vielleicht einigen guten Willen, aber sehr wenig positive Kenntnisse mitbrachten.
[118] Ganz zuerst verschwanden von der Bildfläche die hocharistokratischen Sestrizi, die bei Beginn des Krieges aus eigenen Mitteln ganze Sanitätszüge formierten und mit ihnen in die weite Welt und in die Freiheit hinauszogen. Was sich in diesen Sanitätszügen mit der mondänen Schwesternschaft und den jungen, zumeist bildhübschen Ärzten alles zugetragen hat, das hat die Petersburger chronique scandaleuse sorgfältig registriert, es hätte daher keinen Zweck, sich in diese allzu menschlichen Dokumente zu vertiefen. Tatsache ist, daß diese Züge, die mit außerordentlichem Komfort, guten Weinen, viel Konfitüren, Blumen und Musikinstrumenten ausgestattet waren, über kurz oder lang in andere Hände übergingen, nachdem die den Zügen attachierten Berufsschwestern, die die ganze Arbeitslast zu tragen gehabt, das Weite gesucht hatten. Die mondänen Schwestern hatten die Verwundeten mit Konfekt gestopft, sie mit Blumen versehen und ihnen futuristische Dichtungen vorgelesen, — soweit sie nicht von ihrer Toilette, Picknicks mit dem Ärztepersonal, musikalischen Unterhaltungen und ähnlichen Dingen in Anspruch genommen waren.
Zu dieser Kategorie gehörten auch die unzähligen Töchter und Gattinnen von höheren Offizieren und Administrationsbeamten, die die Schwesterntracht anlegten, um ihren Angehörigen ins Feld folgen zu können und sich von der Provinzpresse wegen ihres Heroismus gebührend feiern ließen, wobei gewöhnlich der örtliche Polizeimeister den Ton angab und etwaigen begriffsstutzigen Redakteuren die Flötentöne beibrachte. Diese Damen begaben sich dann und wann in Begleitung junger und eleganter Beamten zu besonderen Aufträgen oder der väterlichen und eheherrlichen Adjutanten an die Front, wo sie in sicherer Deckung dem einen oder dem anderen Vaterlandsverteidiger einen Verband anlegten und dafür nach erfolgtem Rapport des diplomatisch begabten und auf sein Fortkommen bedachten Oberarztes mit der Georgsmedaille ausgezeichnet wurden, [119] die nun fortan am schwarz-orange Bändchen auf den exzellenzlichen Busen baumelte und den Gegenstand des aufrichtigen Neides der Damen bildete, die noch nicht zu der kriegsmäßigen Bijouterie gelangt waren.
Man sah diese Damen hoch zu Roß, oft im Männersitz, durch die Straßen sprengen, in Komitees den Vorsitz führen und in Hospitälern eine heillose Verwirrung anrichten. Ihre Taten sind der Nachwelt von gefälligen Zeitungsschreibern erhalten worden. Sie hätten ihr Unwesen wohl bis zum Schlusse des Krieges getrieben und es schließlich zu allen vier Klassen der Georgsmedaille gebracht, wenn die Revolution sie nicht weggefegt hätte.
Wenn diese Sestrizi den Kriegsschauplatz mit ganz besonderen Absichten aufgesucht hatten und nach Befriedigung ihrer Sehnsucht sich wieder auf das Petersburger Parkett zurückbegaben, so hielten Tausende anderer Frauen aus den guten Kreisen bei weitem länger stand, doch schließlich kam die Zeit, wo auch viele von diesen den ihnen lieb gewordenen Wirkungskreis aufgeben mußten.
Der Krieg bringt stets eine gewisse Lockerung der Sitten mit sich, und je länger er dauert, um so weiter und tiefer frißt diese Lockerung, bis sie schließlich, wo der Boden hierzu gegeben, in Zuchtlosigkeit und unverhüllte Bestialität ausartet. Unter solchen Umständen ist es verständlich, daß die Stellung junger Frauen in einer Armee sich ungemein schwierig gestaltet, und daß es seitens dieser Frauen großen Taktes und einer enormen moralischen Widerstandsfähigkeit bedarf, um den auf sie einstürmenden verhüllten und unverhüllten Werbungen aus dem Wege zu gehen und sich den entsittlichenden Einflüssen des Lagerlebens zu entziehen.
Das haben nun sehr viele Sestrizi nicht vermocht; sie sind den Lockungen, die an sie in den verschiedensten Gestalten herantraten, erlegen. Bei vielen von ihnen bedurfte es wohl auch keiner besonderen Verführungskünste, waren sie doch zum Heere gegangen, um dort ein freies und einkömmliches [120] Leben zu führen. Ihre Erwartungen und Wünsche gingen nur zu bald in Erfüllung. Wer Abenteuer schlechtweg suchte, dem war in der Riesenanhäufung von Millionen jugendstarker und leichtlebiger Männer gar bald geholfen. Geld spielte ja keine Rolle, — man gab es mit vollen Händen aus, denn die einen wußten ja nicht, ob sie sich morgen des Lebens noch erfreuen würden, es hieß daher: carpe diem, während die anderen so enorm viel verdienten, daß einige Tausender, die man für eine vergnügte Episode hingab, durchaus nicht weiter in Betracht kamen, sie gehörten sozusagen zu den unvermeidlichen Spesen des Lagerlebens.
Hier sahen nun die Stubenmädel, Modistinnen und alle die berufslosen, lebenshungrigen jungen Weiber, die aus den großen Städten hinausgezogen waren in den Krieg, ihren Weizen blühen und genierten sich nicht: sie griffen mit beiden Händen zu und nahmen alles mit, was der überreich gedeckte Tisch bieten mochte.
Diese abenteuernden Sestrizi, die man bei einigem guten Willen und entsprechender Auswahl der Kandidatinnen wohl von der Armee hätte fernhalten können, haben sich insofern als ungemein schädlich erwiesen, als sie den Ruf der Schwesternschaft bald völlig untergruben und die anständigen Schwestern zwangen, ihren Beruf zum Schaden des Heeres aufzugeben. Die Führung der Schwestern gestaltete sich allmählich in der Weise, daß fortan verschiedene Vorschriften über Kleidung, Besuch von Lokalen usw. erlassen werden mußten, ohne daß jedoch auf diese Art Wandel geschaffen werden konnte, denn gerade die Schwestern, die die meisten Anlässe zu berechtigten Klagen lieferten, erfreuten sich mächtigen Schutzes, der oft so stark war, daß die Ärzte sich alle Launen und Übergriffe der Weiblein gefallen lassen mußten, wenn sie nicht ihre Stellungen riskieren wollten.
Unter diesen Umständen war es gewiß nicht verwunderlich, [121] daß der Schwesternberuf schließlich einen ganz spezifischen Beigeschmack erlangte, und daß nun fast alle anständigen Elemente, die noch durchgehalten hatten, dem Heere den Rücken wandten und sich entweder hinter die Front versetzen ließen, oder aber die Schwesterntracht ablegten.
Man wird sich natürlich hüten müssen, allen Sestrizi mit einer verallgemeinernden Verurteilung bitteres Unrecht zuzufügen, — wer hätte hierzu den Mut? — aber es kann nicht verschwiegen werden, daß neben der Schuld der Oberleitung des Sanitätswesens, die in den Händen des sehr unfähigen Prinzen von Oldenburg lag, ein gewisses Schuldmaß auch auf die Sestrizi selbst insofern entfällt, als sie es nicht verstanden haben, das Eindringen unliebsamer Elemente in ihre Mitte hintanzuhalten, oder sich gegen die Verseuchung der Schwesternschaft mit abenteuernden Personen zu wehren.
Die Quittung über die große Sündenrechnung der Sestriza lieferte die Revolution, die den Bestand der Schwesternschaft vollends lichtete, weil die Soldaten sich ausgesprochen feindselig zu den Schwestern stellten und ihnen das Leben schlechterdings unmöglich machten. Der gemeine Mann rächte sich nun für so manche Kränkung und Mißachtung, die ihm seitens der Schwestern widerfahren; er hielt ihr Pflichtverletzungen vor und sprach offen und zynisch über ihre intimen Angelegenheiten; er verweigerte ihr jede Dienstleistung, indem er darauf hinwies, daß auch sie unzählige Male den Dienst vernachlässigt habe, und daß sie vor allen Dingen nicht das Fräulein zu spielen und sich als Weib von Männern bedienen lassen dürfe, sondern selbst fest Hand anzulegen habe.
In den Hospitälern geschah also dasselbe, was im ganzen heiligen Rußland allenthalben vor sich ging, — das zu souveräner Macht gelangte Volk kehrte mit eisernem Besen allen Unrat aus, den ein verrottetes Regiment an allen Ecken und Enden aufgehäuft hatte. Daß bei diesem gewaltigen [122] Kehraus, der sich in der Folge leider ins Fratzenhafte verzerrte, auch so manches vollwertige Weizenkorn unter die Spreu geriet, ließ sich nicht vermeiden.
Die Verhältnisse spitzten sich schließlich derart zu, daß eine weitere Flucht der Sestrizi von der Front stattfand, denn das Benehmen der Soldaten und des niederen Sanitätspersonals nahm nachgerade Formen an, die selbst den aus dem Volke stammenden Schwestern, die die Worte nicht auf die Goldwage zu legen pflegten, das fernere Verbleiben unmöglich machten. Es blieben nur noch die Märtyrerinnen ihres Berufs, die alle Äußerungen der demokratischen Stimmung, die in breiter Welle über das Land flutete, geduldig und selbstlos über sich ergehen ließen. Diese Frauen, die sich durch das pöbelhafte Gebaren einer aus Rand und Band geratenen Soldateska nicht beirren ließen und unentwegt ihrer Pflicht nachgingen, dürfen wohl zu den besten ihres Volkes und Geschlechts gezählt werden. Sie haben das vielfach befleckte Kleid der barmherzigen Schwester wieder zu hohen Ehren gebracht.