Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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[Gracchus, Ti., Volkstribun 133 v. Chr.
Band II A,2 (1923) S. 14091426
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54) Ti. Sempronius Gracchus, der Volkstribun von 621 = 133.

Quellen und Literatur. Die Kenntnis seiner Geschichte beruht auf einer gleichzeitigen Überlieferung, die von solcher Güte, Reichhaltigkeit und Zuverlässigkeit ist, wie sie für bedeutsame Ereignisse einer fernen Vergangenheit nur sein kann. Aber die von ihm ausgehende Bewegung zwang die Mitlebenden unwiderstehlich zur Parteinahme; deswegen waren schon die Aussagen der ersten Zeugen durch ihre Parteistellung, zum mindesten unbewußt, beeinflußt und nicht frei von Widersprüchen, zumal da die Gegebenheiten bei dem überstürzten Lauf der Dinge oft nicht deutlich zu beobachten waren. Die zusammenfassenden Darstellungen haben von Anfang an die Tatsachen unter bestimmten Gesichtspunkten betrachtet, ausgewählt, angeordnet und geschildert. Die nachhaltige Wirkung der gracchischen Bewegung machte es auch den folgenden Zeiten unmöglich, sich zu einer unbefangenen Darstellung zu erheben, und das gilt im Grunde auch für die Gegenwart und Zukunft. Die Quellenkritik kann die äußeren Tatsachen mit verhältnismäßiger Sicherheit ermitteln, kann aber den Wandel in ihrer Auffassung nicht überall genau verfolgen, denn bisweilen hat der eine [1410] Bearbeiter das Material gerade im entgegengesetzten Sinne gedeutet und ausgebeutet wie der, von dem er es entlehnte, und auch der Einzelne hat in seinen Anschauungen und Urteilen geschwankt. So richteten sich Ciceros Äußerungen über die Gracchen meistens nach Zeit und Gelegenheit, Zweck und Zuhörerschaft. Die notwendige Rekonstruktion der livianischen Darstellung hat ebenfalls mit der Möglichkeit einer nicht ganz einheitlichen Auffassung zu rechnen. Bei dem ältesten griechischen Gewährsmann, Poseidonios, der in Diodors Fragmenten zugrunde liegt und für Tiberius weniger als für Gaius in Betracht kommt, ist dagegen zu bedenken, daß für sein Urteil über innere römische Verhältnisse nicht seine eigene geistige Bedeutung den Maßstab abgibt, sondern seine Abhängigkeit von römischen Gewährsmännern, die Politiker von ausgesprochener Richtung waren. Die ausführlichen zusammenhängenden Berichte sind die Plutarchs im Leben der beiden Gracchen (Plutarchos Tiberius und Gaius Gracchus, herausgegeben von Ziegler, Heidelberg 1911, in Einleitung und Kommentar ohne viel Wert, sonst Vorläufer der kritischen Ausgabe bei Teubner 1915) und Appians im Anfang der Bürgerkriege (I 4. 26–72, auch herausgegeben mit Erläuterungen von v. Wilamowitz Griech. Lesebuch I 1, 116–123. II 1, 71–78); sie gehen auf weite Strecken hin nahe zusammen, weichen aber auch stark voneinander ab, schon in der Auswahl des Stoffes und der Vorlagen, die durch die Verschiedenheit der literarischen Gattung bedingt wird. Bei dem Charakter der Überlieferung ist hier Quellenkritik und Sachkritik nicht zu trennen, und ist häufig eine Vereinigung sogar von scheinbar widerstreitenden Nachrichten zu versuchen.

Die neuere Literatur über Tiberius und die Gracchen überhaupt ist unübersehbar. Eine der letzten ausländischen Spezialarbeiten, die italienische von Fraccaro (7–10), macht der deutschen Forschung den Vorwurf, die nichtdeutschen, so die englischen, zu vernachlässigen; ihr selbst sind wiederum die von der neuesten deutschen Behandlung (Stern 230, 4. 268, 3) herangezogenen russischen unbekannt geblieben, und diese deutsche kennt ihrerseits die italienischen nicht (weder Fraccaro noch Cardinali Studi Graccani, Rom 1912 [diese auch mir nicht zugänglich]). Unter diesen Umständen verzichte ich auf jeden Versuch, das mir dem Namen oder dem Inhalt nach Bekannte hier zusammenzustellen, und lasse auch gute populäre Behandlungen beiseite. Nur ehrenhalber sei aus älterer Zeit Nitzsch Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger, Berlin 1847, genannt. Die grundlegende neuere Arbeit ist die von Ed. Meyer Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen, Halle 1894, erweitert durch Berücksichtigung von Schwartz, Kornemann, Pöhlmann und andere Zusätze Kleine Schriften (1910) 381–439. Die eingehende und scharfsinnige Besprechung von Ed. Schwartz Gött. Gel. Anz. 1896, CLVIII 792-811 hat doch einen falschen Weg eingeschlagen, indem sie bei der Quellenkritik literarische Tendenzen und Gesichtspunkte höher bewertete als parteipolitische; [1411] hiergegen hat sich besonders Pöhlmann erfolgreich gewendet (S.-Ber. Akad. Münch. 1907, 443–493, wiederabgedruckt Aus Altertum und Gegenwart II [1911] 118–183), nachdem bereits Kornemann Klio Beiheft I 1903 (dazu Klio IX [1909] 378–382) Ergänzungen und Berichtigungen geboten hatte. Nicht überzeugend ist die Erlanger Dissertation von Riecken Die Quellen zur Gesch. des Ti. Gracchus, Leipz. 1911, dagegen eine gründliche und sorgfältige Nachprüfung und Zusammenfassung, ausgehend von den Berichten des Plutarch und Appian über Tiberius, Pranccaro Studi sull’ eta dei Gracchi I. Citta di Castello 1914. Die letzte mir bekannte Spezialuntersuchung ist E. v. Stern Herm. LVI [1921] 229–301.

Leben bis zum Tribunat. Tiberius ist als der älteste Sohn von Nr. 53 und Cornelia, der Tochter des Scipio Africanus, im J. 592 = 162 geboren (οὔπω τριάκοντα γεγονὼς ἀπέθανεν Plut. C. Gr. 1, 2; s. o. Bd. IV S. 1592). Ungefähr zwölfjährig, verlor er den Vater; seine Erziehung ist also nicht in dem Maße wie die des damals erst dreijährigen Gaius, ausschließlich von der Mutter geleitet worden; Bestimmtes haben schon die Alten davon nicht gewußt, sondern hier, wie öfter, das, was eigentlich nur für Gaius zutraf, auch für Tiberius angenommen; auch daß dieser sich als Redner an Ser. Sulpicius Galba gebildet habe, ist nur eine Vermutung Ciceros (Brut. 96; vgl. sonst 104. 211. Quintil. inst. or. I 1, 6. Tac. dial. 28. Plut. 1, 7f. u. a.). Fast noch ein Knabe, fünfzehn Jahre alt, begleitete Tiberius 607 = 147 den Consul Scipio Aemilianus, der durch Adoption sein Vetter war und kurz vorher seine Schwester geheiratet hatte (vgl. zur ungefähren Bestimmung der Zeit das Lebensalter beider Ehegatten), in den dritten punischen Krieg; beim Sturm auf das nördliche Viertel Karthagos, Megara, war er unter den Ersten auf der Mauer (Zeugnis des Kriegskameraden C. Fannius Plut. 4, 5f., vgl. comp. 3, 2. Über den Gewährsmann o. Bd. VI S. 1988, dazu Herm. LV 440f., über das Jahr Fraccaro 43, über die Topographie R. Oehler o. Bd. X S. 2194f.). Nicht lange nach seiner Rückkehr (umgekehrte Anordnung der frühesten Erlebnisse bei Plut. ungenau, wohl veranlaßt durch Verschiedenheit der Quellen) wurde er in das Augurencollegium aufgenommen, worauf er vom Vater her Anspruch hatte (Plut. 4, 1, der mit den Worten δι ἀρετὴν μᾶλλον ἢ διὰ τὴν εὐγένειαν die Tatsachen auf den Kopf stellt; vgl. 1, 2) und unmittelbar darauf etwa neunzehnjährig 611 = 143 mit einer Tochter des damaligen Consuls Ap. Claudius Pulcher verlobt und vermählt (Plut. 4, 2–4; vgl. Röm. Adelsparteien 268f.); der Ehe entsprossen drei Söhne (Val. Max. IX 7. 2. Nr. 55. 38. 39). Mit 25 Jahren, 617 = 137, trat Tiberius in die öffentliche Laufbahn ein und ging als Quaestor mit dem Consul C. Hostilius Mancinus in die Provinz Hispania Citerior. Einerseits wegen seiner amtlichen Stellung, anderseits infolge des hohen Ansehens, das er als Sohn seines Vaters gerade in diesem Lande von vornherein besaß, wurde er nächst dem Consul am schwersten getroffen durch den unglücklichen Ausgang des Feldzuges, die Kapitulation vor [1412] den Numantinern und deren Verwerfung in Rom (o. Bd. VIII S. 2509ff.). Sein Biograph (Plut. 5, 1ff., vgl. comp. 3, 2) berichtet darüber sehr ausführlich, aber ganz einseitig, indem er alles auf Tiberius allein bezieht und nur am Schluß (7, 4) erwähnt, daß mit dem Quaestor auch die übrigen Stabsoffiziere die Verantwortung des Oberkommandierenden Mancinus teilten, doch trotzdem sämtlich davon entlastet wurden (vgl. dazu noch Val. Ant. frg. 57 bei Gell. VI 9, 12), wie er auch mit den meisten übrigen Berichten die Tatsache verdunkelt, daß der Vertrag mit den Numantinern sowohl vom Senat wie vom Volke nicht anerkannt wurde (nur bei Eutrop. IV 17, 1. Martian. Capella V 456 p. 149, 19 Eyssenh.). Eine Anekdote über die dem Helden von den Feinden erwiesene Rücksicht und Achtung (Plut. 6, 1ff.) geht wohl auf dessen eigenen Rechenschaftsbericht zurück (nicht richtig eingeschätzt von Fraccaro 48f.; vgl. ähnliche Reden des Gaius [Plut. C. Gr. 2, 8ff.], des Cato u. a.); für seine Verhandlungen mit den Numantinern vgl. noch Claud. Quadrig. frg. 73 bei Priscian. VII p. 347 H., für seine Rechtfertigung in der Heimat Auct. de vir. ill. 59, 4. 64, 1. Quintilian. VII 4, 13. Martian. Capella a. O. Nachdem der Kapitulationsvertrag, für den neben Mancinus Tiberius in erster Linie haftete, von der Regierung kassiert war, sah der junge Mann entweder Leben und Freiheit oder Ehre und Ruf gefährdet; für einen Anfänger im politischen Leben war dies eine sehr schlimme Lage, die für seine ganze Zukunft entscheidend war (gegen Stern 242). Wohlwollende Beurteiler haben deshalb hier den Grund und die Entschuldigung für das gesehen, was sie als seinen Abfall von der Ordnung und der Gesellschaft, denen er von Hause aus angehörte, und als den Beginn des Umsturzes durchaus verurteilten, so Cicero (har. resp. 41. 43; Brut. 103) und Livius (bei Flor. II 2, 2. Oros. V 8, 3. Dio frg. 83, 2f.) und solche, die der verbreiteten öffentlichen Meinung Ausdruck geben (Vell. II 2, 2. Quintilian. a. O., auch Plut. 7, 5ff.); vielleicht ist dies der Standpunkt, den bereits Scipio Aemilianus gegenüber seinem jungen Schwager eingenommen hatte. Die Anhänger und Verteidiger des Tiberius hielten dem entgegen, daß er keineswegs durch persönliche, sondern nur durch rein sachliche Beweggründe geleitet worden sei; diese Tendenz hat die Erzählung seines Bruders Gaius, daß die auf der Reise nach Numantia in Etrurien empfangenen Eindrücke von den ländlichen Verhältnissen den Gedanken der Reform wachgerufen hätten (Plut. 8, 9). Darin liegt ein Beweis, daß das Jahr der Quaestur 617 = 137 für Tiberius der Wendepunkt seines politischen Strebens gewesen ist, obgleich er in den nächsten drei Jahren noch nicht hervortrat; aber für die Beurteilung macht es einen wesentlichen Unterschied, wenn jene Gedanken nicht nach, sondern schon vor den numantinischen Erfahrungen gefaßt waren. Livius hat dieser Ansicht Rechnung getragen und sie gleichberechtigt neben die andere gestellt (bei Flor. II 2, 3); es sind eben wirklich beide schon von den Zeitgenossen vertreten worden. Natürlich bestand auch bei den Gegnern kein Zweifel, daß der persönliche Anlaß der invidia [1413] foederis Numantini (Cic. a. O.) nicht das einzige Motiv für eine so folgenschwere Sinnesänderung eines Mitglieds der herrschenden Nobilität sein konnte. Die meisten gaben schuld daran den politischen Theorien, zu denen C. Blossius aus Cumae und Diophanes aus Mitylene den jungen Mann bekehrt hatten (οἱ πλεῖστοι bei Plut. 8, 6. Cic. Brut. 104; Lael. 37; daraus Val. Max. IV 7, 1; s. o. Bd. III S. 571. V S. 1048f.); die geflissentliche Hervorhebung des unrömischen und sogar antirömischen Wesens dieser weltfremden Philosophen und ihrer Lehren weist deutlich darauf hin, in welchen Kreisen eine derartige Auffassung wurzelte, und Cic. Lael. 37 führt mitten in sie hinein; die Anschauung selbst ist keineswegs unzutreffend, darf aber nicht als die fast allein richtige das Urteil bestimmen (vgl. Stern 265ff.). Ein Teil derselben Widersacher des Tiberius machte zugleich den Ehrgeiz der Mutter Cornelia für sein hohes Streben verantwortlich (ἔνιοι.....συνεπαιτιῶται Plut. 8, 7; vgl. C. Gr. 4, 4; o. Bd. IV S. 1593f. Ed. Meyer 389), ein anderer, vermutlich sehr kleiner Teil seine Eifersucht auf einen Altersgenossen und Nebenbuhler Sp. Postumius (Plut. 8, 8; vgl. die ähnliche Erzählung von M. Livius Drusus, Dio frg. 96, 1ff.). Die Ermutigung durch das Volk selbst, die Plut. 8, 10 schildert, hat gewiß nicht dem Tiberius die Anregung gegeben, sondern ist höchstens auf das erste Bekanntwerden seiner Absichten gefolgt. Viel wichtiger war seine anfängliche Verbindung mit einer starken Partei im Senate, die im Gegensatz zu der scipionischen stand und zu ihren Führern den Schwiegervater des Tiberius, den eben damals 618 = 136 zur Censur und zum Senatsprincipat beförderten Ap. Claudius und das Bruderpaar P. Mucius Scaevola und P. Crassus Mucianus zählte, von denen der letztere seine Tochter dem Gaius Gracchus zur Frau gab (Cic. rep. 131; vgl. de domo 91; de or. II 285; acad. II 13. Plut. 9, 1. Röm. Adelsparteien 257ff.). Für diese Männer wie für alle ernsthaften römischen Staatsmänner war die Hauptfrage, wie sich der Staat auf der erreichten Höhe der äußeren Macht behaupten könnte, und war die beinahe selbstverständliche Antwort, daß es geschehen müßte durch Erhaltung und Vermehrung der nationalen Wehrkraft – der nationalen, da das römische Volk bereits in der Erweiterung und Umbildung zur italischen Nation begriffen war; der beginnende Verfall der Wehrkraft hatte sich soeben in den lusitanischen und keltiberischen Kriegen erschreckend offenbart (vgl. dazu Ed. Meyer 419. Pöhlmann 173f. Schulten Numantia I 274ff.). Mit vollem Rechte bringt daher Appian (I 26ff. 35f. 43; vgl. auch Plut. 8, 4) als das erste treibende Motiv für die Reformpläne des Tiberius die Rücksicht auf die auswärtige Politik, auf die kriegerische Leistungsfähigkeit des Staates; das ist nicht ein künstlich in die Vergangenheit hineingetragener Gedanke der augustischen Zeit (so Ed. Schwartz 802f., danach v. Wilamowitz Griech. Leseb. II 1, 74), sondern er ist aus der unmittelbaren Not jener Tage geboren (vgl. besonders Pöhlmann 122ff. 176ff., auch Stern 239f. 242f. Nicht überzeugend ein neuer Angriff auf Appians Glaubwürdigkeit mit anderen Argumenten, aber [1414] ähnlichen Zielen wie Schwartz: H. Löw Untersuchungen zur Vorgeschichte der Gracchischen Bewegung, Gießener Diss. Darmstadt 1920). Diese Stärkung der Volkskraft und darüber hinaus eine Hebung und Gesundung des ganzen Staates (vgl. Pöhlmann 129. 137. 161. 169) hoffte Tiberius zu erreichen durch eine wirtschaftliche und soziale Verbesserung, durch eine neue Ackergesetzgebung. Dazu führte ihn besonders die Erkenntnis, daß mit dem Rückgang von Ackerbau und Kleinbauernstand und mit dem Überhandnehmen von Großgrundbesitz und Weidewirtschaft eine Vermehrung der Sklavenschaft auf Kosten der freien und heimischen Arbeiterklassen verknüpft sei; die daraus entspringenden Gefahren traten soeben in dem großen Sklavenkriege auf Sizilien zutage (Appian. 36; vgl. auch 29. 31. 32. 40. Plut. 8, 4. 9). Verschiedene Motive wirkten also bei Tiberius zusammen, und er selbst ließ je nach der Gelegenheit das eine oder das andere in seinen Reden stärker hervortreten; daß neben den allgemeinen theoretischen Erwägungen auch die augenblicklichen Bedürfnisse für ihn bestimmend waren, zeigt die Rücksicht auf die Warnungen, die er aus den spanischen und den sizilischen Niederlagen entnahm.

Das Tribunat. Bei seinem jugendlichen Alter bot ihm die einzige Möglichkeit zur Verwirklichung seiner Absichten die Übernahme des Volkstribunats, weil die Initiative der Gesetzgebung zum guten Teile bei dessen Inhabern lag. Die Bewerbung erfolgte für dasselbe Jahr 621 = 133, für das einer der Führer der Reformpartei im Senate, P. Scaevola, zum Consul gewählt wurde, und zwar mit einem zweiten Plebeier als Kollegen, während Scipio Aemilianus, der Consul des Vorjahres und der erste Mann im Staate, durch den numantinischen Krieg von Rom ferngehalten wurde und daher den Widerstand seiner Partei nicht organisieren und leiten konnte. Demnach hat Tiberius beim Antritt des Tribunats noch im Bunde mit den Reformfreunden unter den Senatoren gestanden und sich erst allmählich von ihnen weiter entfernt. Vermutlich ist er schon auf Grund seines ganzen Programms gewählt worden; jedenfalls trat er gleich nach der Wahl und dem Amtsantritt damit hervor (δήμαρχος ἀποδειχθεὶς εὐθὺς …… ὥρμησε Plut. 8, 6) und legte seine Gründe in eingehender Rede dar (Appian. 35ff.): es geht darauf in letzter Linie die Geschichte der Agrarfrage zurück, die als Einleitung zu der seines eigenen Lösungsversuches bei Appian. 26ff. und Plut. 8. 1ff. vorliegt (bei Plut. kürzer, aber durch Erwähnung des Planes des Laelius 8, 5 vollständiger). Wie so viele Staatsmänner in ähnlichem Falle erklärte Tiberius, daß er keine Neuerungen einführen wollte, sondern nur ein gutes doch aus der Übung gekommenes älteres Gesetz zu neuer Geltung bringen, nämlich das Verbot, mehr als 500 Iugera des Ager publicus zu besitzen (angebliche Lex Licinia [s. d.]; so Vell. II 7, 3; vgl. sonst Appian. 33. Plut. 8, 2; Gültigkeit des Gesetzes ebenso wie seine Nichtbefolgung bezeugt für 587 = 167 Cato bei Gell. VI 3, 37; verschiedene Versuche zur Bestimmung seiner Zeit z. B. bei Gercke und Norden Einleitg. in d. Altertumswiss. III 203 von Beloch und 424ff. von [1415] K. J. Neumann). Mit der Durchführung dieses Gesetzes hoffte Tiberius genug Land zur Schaffung zahlreicher Bauernstellen zu gewinnen; um aber die Besitzer größerer aus Gemeindeland erwachsener Güter zu schonen, erweiterte er es dahin, daß für zwei Söhne je weitere 250 Iugera bewilligt wurden (Appian. 37. 46), also für eine Familie ein Höchstmaß von 1000 (Liv. ep. LVIII. Vir. ill. 64, 3), und fügte nachträglich hinzu, daß ihnen dieses Land zum freien Eigentum überlassen werden sollte (Appian. 46; vgl. Plut. 9, 2; dazu Pöhlmann 134f., 4). Der zweite Teil seines Antrags verlangte die Einsetzung einer neuen Behörde von drei auf ein Jahr zu wählenden Männern, die das über jenes Höchstmaß hinaus okkupierte Staatsland einziehen und von neuem aufteilen sollten (Appian. 37; vgl. Plut. Cic. leg. agr. II 10. 31; Sest. 103 [dazu Schol. Bob. 135, 7 Stangl]; off. II 80. Vell. II 2, 3. 6, 1. Val. Max. VII 2, 6 b. Oros. V 8, 3); i auch diesem Teil wurde ein Nachtrag angehängt, daß nämlich die neu zu verteilenden Grundstücke unveräußerlich sein sollten. (Appian. 121). Die Wirkung dieser Gesetzvorschlage war eine Spaltung der Bürgerschaft auf Grund ihrer wirtschaftlichen Lage, die alle anderen Gegensätze und Unterschiede vergessen ließ (s. z. B. Cic. rep. I 31). Die Hauptquellen bezeichnen meistens geradezu die Parteien als die Reichen und die Armen (ο"πλούσιοι – οἱ πένητες Appian. 38ff. 46f. 63; vgl. 51. 58. 60. 65. Plut. 9, 3f. 11, 1. 4. 12, 4. 6. 18, 3. 20, 2; auch verbunden πλούσιοι mit κτηματικοί, das allein gebraucht wird Appian. 48. Plut. 10, 9), seltener jene als die Mächtigen (οἱ δυνατοί Appian. 30. 50. Plut. 8, 5. 10, 2. 13, 2. 15, 1), die dem Volke widerstreben (vgl. besonders οἱ δυνατοί – οἱ πολλοί Plut. 20, 1. Vgl. von anderen Quellen z. B. Cic. Sest. 103: tenuiores – optimates, sowie locupletes; leg. agr. II 10. 81: plebs Romana; ebenso Sall. Iug. 31, 8. 42, 1; für die Zusammensetzung der Gegner Liv. ep. LVIII: senatus et equester ordo. Vell. II 3, 2. Flor. II 1, 7. 2, 4). Da die ganze von Tiberius aufgerollte Frage vor allem eine wirtschaftliche und soziale war, ging sie außer der römischen Bürgerschaft auch die italischen Bundesgenossen an, so daß die ganze Halbinsel in Aufregung geriet und sich in zwei Lager spaltete (vgl. Ed. Meyer 403ff. Pöhlmann 141f.); zu den entscheidenden Abstimmungen strömten die Massen aus den Kolonien und aus den bundesgenössischen Städten nach Rom (Appian. 41f. Diod. XXXIV 6, 1f.).

Bis dabin wurde der Kampf mit den üblichen Agitationsreden voller Leidenschaft geführt; Tiberius verfocht seine Sache mit so tiefer Überzeugung und hinreißender Begeisterung, daß an seinem Siege kaum zu zweifeln war (Appian. 48. Plut. 9, 4. 10, 1); in ihrer Verlegenheit verfielen daher die Gegner auf das oftmals angewendete Mittel, den einen Tribunen durch die Interzession eines andern lahm zu legen, und gewannen dafür den M. Octavius (Plut. 10, 1–3). Die Comitien, in denen das Schicksal des Gesetzes entschieden wurde, scheinen im Frühjahr stattgefunden zu haben. Tiberius eröffnete sie mit der ausführlichen Empfehlung seines Antrags; diese Rede galt wohl als eine seiner bedeutendsten [1416] und war, wenn auch nicht vollständig, so in einzelnen Teilen in ihrem Wortlaut und vollständig in ihrem Gedankengange überliefert; sie faßte noch einmal alle in den bisherigen Debatten vorgebrachten Gründe und Gegengründe zusammen, widerlegte siegreich alle Bedenken und mahnte eindringlich zur Annahme der Vorlage (Appian. 44–46. Plut. 9, 4–6; vgl. zu dem hier erhaltenen berühmten Redefragment Flor. II 1, 2. 2, 3). Doch als er die Verlesung befahl, setzte Octavius einen Einspruch dagegen und erzwang die Auflösung der Versammlung (Appian. 47f.). Der Streit nahm infolgedessen an Schärfe zu; Tiberius gab einerseits seinem Antrag durch Hinzufügung strenger Strafandrohungen gegen Verstöße den Charakter eines Kampfgesetzes (Plut. 10, 4) und brachte seinerseits durch Interzession gegen alle anderen Magistrate die ganze Regierungsmaschinerie zum Stillstand (Plut. 10, 5–8. Dio 83, 4–6); in Volksversammlungen wurde mit wachsender Erbitterung gehetzt (Plut. a. O. mit dem ersichtlichen Streben nach Abschwächung zugunsten des Tiberius; vgl. dagegen Dio); die Gegner trauten sich bereits das Schlimmste zu und gaben dies öffentlich zu erkennen, die Nobilität durch die Anlegung von Trauer und der Tribun durch die einer Schutzwaffe (Plut. 10, 9), und für die neue Abstimmung wurden von beiden Seiten Gewaltmaßregeln vorbereitet (Appian. 49; vgl. Plut. 11, 1f. Dio, vielleicht mit einiger Übertreibung: ὥσπερ ἐν πολέμῳ τινι …… στρατοπέδου δὲ οὐδὲν ἀπεῖχον). An dem zweiten Comitialtage, der nach einer längeren Pause auf den ersten folgte, kam es in der Tat zu solchen Ruhestörungen, daß sich einige angesehene Männer ins Mittel legten und Tiberius überredeten, die Entscheidung des Senates anzurufen (Appian. 50 allgemein: οἱ δυνατοί Plut. 11, 2f.: Μάλλιος καὶ Φούλβιος ἄνδρες ὑπατικοί, wahrscheinlich M.’ Manilius, Consul 605 = 149, und Ser. Fulvius Flaccus, Consul 619 = 135, o. Bd. VII S. 248, 42ff., auch 269, 1ff.). Aber bei der feindlichen Stimmung der Senatsmehrheit vermochte er in der Curie nichts zu erreichen und kehrte von dort eilig und gereizt zu den Comitien zurück, um anzukündigen, daß er das Volk auf den folgenden Tag noch einmal zur Abstimmung lade, und zwar zunächst über seinen Ackergesetzantrag, aber im Falle der Fortdauer der Interzession seines Kollegen über dessen Amtsentsetzung (Appian. 51. Plut. 11, 4); nach Plut. 11, 4–8 hat er diese seine Absicht bereits an demselben Tage eingehend begründet, was bei Appian. 51 f. nicht ganz deutlich ist. Der nächste Tag brachte die Entscheidung: Da Octavius bei seinem Einspruch beharrte, stellte Tiberius den Antrag, das Volk möge dem Volkstribunen das Amt, das er gegen das Interesse des Auftraggebers, eben des Volkes, verwalte, wieder abnehmen. Die ausführlichen Darstellungen der folgenden, sich nach Cic. nat. deor. I 100 auf dem Capitol abspielenden Vorgänge weichen bei Appian. 52–54 und Plut. 12, 1–4 in Einzelheiten mehrfach voneinander ab, haben aber das gemeinsam, daß sie den schweren inneren Kampf des Tiberius mit sich selbst und den äußern mit dem hartnäckigen Kollegen mit höchster Lebendigkeit schildern, aber dabei die verfassungsmäßigen [1417] Formen der Abstimmung nicht genügend beachten (vgl. Mommsen St.-R. III 413, 4. Schwartz 805). Die Tributkomitien stimmten geschlossen für den neuen Antrag des Tiberius, dem Octavius die tribunizische Amtsgewalt in aller Form abzuerkennen; dadurch wurde er sofort und ohne Widerspruch (vgl. Mommsen a. O. I 287, 1. II 298, 2) zum einfachen Privatmann (Appian. 54. Plut. 12, 5f. [über den Abgang des Octavius ganz verschieden]; C. Gr. 4, 2. Cic. Brut. 95; nat. deor. I 100. Liv. ep. LVIII. Flor. II 2, 5. Oros. V 8, 3. Ascon. Cornel. 64 K. S. Fest. 314. Zu Diod. XXXIV 7, 1 vgl. Ed. Meyer 394. Zusammenstellung mit anderen Magistraten, die einem Kollegen sein Amt abrogierten und sämtlich innerhalb des betreffenden Jahres starben, Obseq. 70 und Dio XLVI 49, 2). Diese Abrogation war etwas Unerhörtes (novum exemplum Vir. ill. 64, 5) und bezeichnet den Wendepunkt in der Geschichte des Tiberius (vgl. noch Vell. II 2, 3. Plut. comp. 5, 1); denn damit ist der Reformator zum Revolutionär geworden. Er hat das selbst am meisten gefühlt; dafür liefert den Beweis jenes erschütternde seelische Ringen vor dem letzten Schritt und der nachträgliche Versuch gründlicher Rechtfertigung, von dem Plut. 15, 1ff. (Anspielung auf einen Ausspruch Plut. 15, 3, später durch die Gegner 20, 6. Cic. Lael. 37) einen ausführlichen Auszug gibt. Die Gegner haben das Urteil der öffentlichen Meinung bestimmt, das Cicero Mil. 72 kurz und scharf formuliert: Collegae magistratum per seditionem abrogavit (vgl. die Zusammenstellung der seditiosi tribuni Cic. Cornel. II 5 bei Ascon. 71 K.-S. gravissimae seditionis auctor Val. Max. VII 2, 6; Gracchana seditio VI 2. 3. Flor. II 2 tit. Ampel. 26, 1; das berühmte Wort: Quis tulerit Gracchos de seditione querentes? Iuven. II 24); aber dieses Urteil besteht zu Recht; nur lagen die Widersprüche, in die sich Tiberius bei seiner Proklamation der schrankenlosen Volkssouveränität unrettbar verwickelte, letzten Endes begründet in dem Wesen des Volkstribunats, dieser ,im tiefsten Grunde revolutionären‘ Institution (Mommsen St.-R. II 309, vgl. Abriß des Staatsrechts 171. Beste Würdigung dieses ganzen springenden Punktes in der Entwicklung der Dinge bei Pöhlmann 143ff. 153f., über den Stern 248ff. 261 nicht viel hinausgekommen ist). An Stelle des abgesetzten Tribunen Octavius trat ein anderer, nicht unmittelbar darauf (so Appian. 54), sondern etwas später (Plut. 13. 2); der Name lautet bei Appian. 54. 60 Q. Mummius, bei Plut. 13, 2. 18, 1 Mucius, bei Oros. V 8. 3 Minucius, was aus Mucius entstellt sein wird. Sofort aber wurde das Ackergesetz angenommen (Appian. 54. Plut. 13, 1), und anscheinend noch in denselben Comitien wurde die darin vorgesehene Kommission bestellt; indem die Wahl auf Tiberius selbst, seinen Schwiegervater Ap. Claudius und seinen Bruder Gaius Nr. 47 fiel, der zudem erst zwanzig Jahre alt und von Rom abwesend in Spanien war, prägte sie der neuen Behörde den Stempel eines Familienregiments auf (Appian. 55. Plut. 13, 1. Liv. ep. LVIII. Vell. II 2, 3 Flor. II 2, 6; vgl. CIL I² p. 512. Immerhin ist ähnliche Zusammensetzung [1418] von Kommissionen auch früher vorgekommen, vgl. unter drei Mitgliedern zwei nahe Verwandte Liv. XXXII 2, 7. XXXIX 44, 10, dazu Röm. Adelsparteien 195; auch 146). Tiberius wurde nach seinem Siege von einem großen Gefolge nach Hause geleitet (Appian. 56), wie er auch sonst mit einem solchen (vgl. Plut. 14,4) von angeblich 3000 bis 4000 Menschen aufzutreten pflegte (Sempr. Asell. frg. 6 bei Gell. II 13, 4, womit zu verbinden die Zahlangabe Plut. 20,2. Ed. Meyer 427, 2); aber nach der Abstimmung kehrten die vom Lande hereingeströmten Bauern und Ackerbürger wieder heim, so daß er seinen festen Rückhalt verlor (Appian. 57). Die nächsten Monate vergingen unter beständigen Reibungen. Der Senat mußte die Entscheidung des Volkes anerkennen, aber übte Vergeltung zunächst in kleinlicher Weise, indem er auf Antrag des P. Scipio Nasica Serapio, der in Abwesenheit des Aemilianus das Haupt der Scipionenpartei war (o. Bd. IV S. 1501ff. Suppl. III S. 261, 288.). der Kommission nur lächerlich geringe Entschädigungen bewilligte (Plut. 13, 3; vgl. Oros. V 8, 4. Mommsen St.-R. I 294. 302, 1. II 631). Doch schon jetzt wurden Drohungen gegen Tiberius laut, man werde ihn nach Ablauf seines Amtsjahrs unverzüglich zur Rechenschaft ziehen wegen Verletzung des sacrosancten Tribunenrechts und wegen der Beunruhigung ganz Italiens (Appian. 57; vgl. zu dem letzteren Punkte Cic. rep. I 31. III 41); insbesondere waren mehrere der plebeischen Consulare die Wortführer: Q. Metellus Macedonicus, sonst als politischer Gegner des Scipio Aemilianus eher den Freunden des Tiberius nahestehend (Cic. rep. I 31), griff ihn in einer Senatsrede (aufgenommen in die Annalen des Fannius Cic. Brut. 81, woraus nicht überzeugende Schlüsse bei Kornemann 21. 31) heftig an und verglich ihn zu seinen Ungunsten mit seinem Vater (Plut. 14, 4. Vgl. die scharfe Gegenüberstellung von Vater und Sohn Cic. fin. IV 65; außerdem har. resp. 41; prov. cons. 18: de or. I 38: off. II 43. Val. Max. VI 3, 1 d. App. 71. Plut. 17, 5; comp. 1, 4f.; Ag. 2, 7). Q. Pompeius, seinerseits wieder Gegner des Metellus, beschuldigte ihn nach dem Eintreffen der pergamenischen Gesandtschaft offen im Senate des Strebens nach der Königsherrschaft, denn er habe sich von jener ein Diadem und ein Purpurgewand übergeben lassen (Plut. 14, 3: vgl. dazu Fraccaro 136–141), und er stellte ihm nach Rücktritt vom Tribunat eine gerichtliche Anklage in Aussicht (Oros. V 8, 4). T. Annius Luscus forderte ihn im Senat auf das schärfste heraus und brachte ihn durch seine Schlagfertigkeit sogar vor der Volksversammlung, vor die ihn Tiberius zog, in Verlegenheit und zum Verstummen (Plut. 14, 5–9. Liv. ep. LVIII. Fest. 314; vgl. Ed. Meyer 423). Die gewaltige Erregung der an ihm festhaltenden Volksmassen kam zum Ausbruch gelegentlich des Leichenbegängnisses eines seiner Freunde, der unter verdächtigen Umständen gestorben war (Plut. 13. 4f., der daran mit Unrecht die Schaustellung der Besorgnis des Tiberius um sein eigenes Leben knüpft, die vielmehr in seine letzten Tage gehört, s. u.). Inzwischen begann die Kommission ihre Arbeit der Einziehung und Neuverteilung [1419] von Grundstücken, stieß aber dabei auf so große Schwierigkeiten, daß verschiedene Ergänzungsgesetze erlassen werden mußten. Das wichtigste davon übertrug ihr in allen den Fällen, wo das staatliche Eigentumsrecht bestritten wurde, die richterliche Untersuchung und Entscheidung (Liv. ep. LVIII; vgl. Mommsen St.-R. II 634). Ein zweites Gesetz legte die Hand auf die dem römischen Staate eben damals (vgl. über den Zeitpunkt Ed. Meyer 422, 2) überraschend zugefallene Attalische Erbschaft, um den neubeliehenen Grundbesitzern die Mittel zur Einrichtung der Wirtschaft zu gewähren; es verfügte die Bereitstellung der aus der Erbschaft zu lösenden Gelder für diesen Zweck, und gleichzeitig wurde eine entsprechende Regelung der künftigen Verwaltung des pergamenischen Reiches in Aussicht genommen (Plut. 14, 1f. Liv. ep. LVIII. Oros. V 8, 4. Vir. ill. 64, 5). Das waren Eingriffe in die Gebiete, die der Senat als seine eigensten und ausschließlichsten ansah, in die Regelung des Staatshaushalts und der Reichsverwaltung; damit begann der Tribun, das in die Tat umzusetzen, was er öffentlich aussprach: Interempto senatu omnia per plebem agi debere (Val. Max. III 2, 17). Die Antwort waren jene leidenschaftlichen Angriffe führender Männer im Senat, wobei seine persönlichen Beziehungen der Verleumdung reichen Stoff boten und die Anklagen sich bereits zu dem Vorwurf des Strebens nach der Alleinherrschaft verdichteten (vgl. dafür Scipio Aemilianus bei Vell. II 4, 4: Si is occupandae rei publicae animum habuisset o. Bd. IV S. 1457, 1ff., s. auch u.). Gegen die wachsende Gefahr erblickten die dem Tiberius nahestehenden Kreise den besten Schutz in einer Kontinuation des Tribunats; sie galt freilich als verfassungswidrig und bot daher erst recht die Handhabe zu jener Beschuldigung auf Umsturz der Verfassung (Cic. Cat. IV 4; vgl. Schol. Clunac. z. d. St. 270 Stangl. Liv. ep. LVIII. Flor. II 2, 6. Oros. V 9, 1. Vir. ill. 64, 6. Plut. comp. 5, 3; vgl. Stern 259), zumal da angeblich auch die Kandidatur seiner beiden Amtsgenossen in der Ackeranweisungskommission aufgestellt werden sollte, die seines Bruders ebenfalls fürs Tribunat und die seines Schwiegervaters für das zweite Consulat (Dio frg. 83, 8); aber Änderungen der Verfassung zugunsten von Wahlbewerbern waren nicht undenkbar, wie eben noch die Wahl des Scipio Aemilianus zum zweiten Consulat gezeigt hatte (o. Bd. IV S. 1453, 43ff.). Doch zur Zeit der Tribunenwahlen, im Sommer, wurde die Masse des Landvolkes, die dem Tiberius anhänglich war und bei der Abstimmung über das Ackergesetz den Ausschlag gegeben hatte, durch die Feldarbeit ferngehalten; deswegen suchte er die Stimmberechtigten unter der hauptstädtischen Bevölkerung für seine Kandidatur zu gewinnen und trat zu diesem Zwecke mit weiteren Gesetzentwürfen hervor (Appian. 58f. Plut. 16, 1). Sie betrafen die Verkürzung der militärischen Dienstzeit (Plut. Dio frg. 83, 7), die Provokation (Plut.), die Zusammensetzung der Geschworenengerichte (Plut. Dio; vgl. Lex iudiciaria Ti. Gracchi Macrob. Sat. III 14, 6. Plin. n. h. XXXIII 34. Ampel. 26, 1. Mommsen St.-R. III 530, 1. Stern 266, 2), wozu [1420] Vell. 11 2, 3 mit offenbarer Übertreibung fügt: Pollicitus toti Italiae civitatem (vgl. 3, 2). Es handelte sich wohl um ein allgemeines Programm für das erstrebte zweite Tribunat, wie es gewöhnlich bei der Bewerbung aufgestellt wurde, nicht um bestimmt formulierte Anträge, die noch während des laufenden Amtsjahrs eingebracht wurden; daß sie später von Gaius aufgenommen wurden, beweist ebensowenig gegen die Glaubwürdigkeit, wie ihr Fehlen in dem verkürzten Bericht Appians; Fraccaros Kritik (156ff.) geht hier zu weit. Im Rahmen eines solchen allgemeinen Programms kann auch den Bundesgenossen, die durch die bisherige Tätigkeit des Reformators, die Ackereinziehungen, vielfach beunruhigt und benachteiligt wurden, eine Besserung ihrer ganzen Lage versprochen worden sein. Die Wahlcomitien mußten nun die Entscheidung über die Zukunft des Tiberius bringen.

Das Ende. Über die Katastrophe gehen die Hauptquellen besonders weit auseinander und geben nicht einmal den äußern Hergang übereinstimmend an. Der erste Grund dafür war die tatsächliche Unmöglichkeit, selbst für die Teilnehmer und Augenzeugen, die aufregenden und hastenden Vorgänge von allen Seiten und in voller Klarheit zu erkennen; der zweite Grund war, daß unter dem sich unmittelbar einstellenden Gefühl der Verantwortlichkeit für die folgenschweren Ereignisse ein jeder mit Voreingenommenheit seine Beobachtungen wiedergab und die Schuld der Gegenpartei aufzubürden suchte. Da die Anwendung von Gewalt von Seiten der Gegner nicht zu leugnen war, haben sie von vornherein behauptet, daß ihr Vorgehen nicht allein gesetzmäßig gewesen sei, sondern auch eine erlaubte Notwehr. Sie haben damit das Urteil weiter Kreise bestimmt, z. B. das Ciceros, der zudem persönlich in ähnlicher Lage war und mit ihrer Verteidigung seine eigene Sache führte. Der erste Tag der Tribunenwahlen verging mit formalen Streitigkeiten, die Appian. 60–62 ausführlich und zuverlässig berichtet, Plut. 16, 2 abweichend mit tendenziösen Entstellungen: Den Vorsitz führte ein Tribun Rubrius, und die beiden ersten Tribusstimmen fielen auf Tiberius; da wurde von der Gegenpartei Einspruch gegen die Zulässigkeit von dessen Wahl erhoben und die Wahlhandlung von dem Vorsitzenden unterbrochen. Der an Stelle des Octavius getretene Parteigänger des Tiberius, Mucius (bei Appian. Mummius) forderte von Rubrius, daß er ihm die Leitung überlasse; Rubrius war auch dazu bereit, aber nun erklärten die übrigen Tribunen, das gehe nicht an, sondern nach dem Rücktritt des durchs Los bestimmten Vorsitzenden müsse eine neue Losung unter ihnen allen stattfinden (vgl. Mommsen St.-R. I 42, 3. II 278). Unter heftigem Streit wurde schließlich die Versammlung aufgelöst und auf den folgenden Tag verschoben, nach Appian. von Tiberius, der demnach der eigentliche Leiter war, während er bei Plut. hier ganz hinter seinen Freunden verschwindet. Er hatte die Gefährlichkeit seiner Lage erkennen müssen und suchte zunächst durch Klagen und durch Vorführung seines ältesten Sohnes das Mitleid des Volkes zu erregen (Appian. 62. Dio [1421] frg. 83, 8. Sempronius Asellio frg. 7 bei Gell. II 13, 5. Nachahmung durch Cic. Cat. IV 23? Wieder abweichend hat Plutarch diesen Zug in anderm Zusammenhange [13, 6] vorweggenommen, verrät aber seine Bekanntschaft damit an dieser Stelle durch 16, 3: καὶ πρῶτον μὲν κτλ.). Er wurde von einer großen Menschenmenge nach Hause begleitet (Appian. 63. Plut. 16, 3). Aber während der nächsten Nacht traf er bereits einige Vorbereitungen für gewaltsame Maßregeln (Appian. 64; vgl. Plut.). Als er sich am nächsten Morgen zu den Comitien begeben wollte, wurden ihm in seiner Wohnung und auf dem Wege mehrere ungünstige Vorzeichen zuteil. Sie sind als gleichgültig für die ernsthafte Geschichtsdarstellung von Appian ganz übergangen worden, desto ausführlicher berichtet von Plut. 17, 1-6 und mit kleinen Varianten von der aus Livius geflossenen römischen Tradition (Val. Max. I 4, 2 [nur erhalten in den Auszügen des Paris und Nepotianusj. Obseq. 27. Vir. ill. 64, 6); diese Berichte sind wertvoll für die Kritik der Quellen, denn sie sind einerseits so beschaffen, daß sie nur aus der unmittelbaren Umgebung des Tiberius stammen können, und sind anderseits so beflissen, seine Nichtachtung der göttlichen Warnungen – im Gegensatz zu der Strenggläubigkeit seines Vaters Nr. 53 und zu seiner eigenen Pflicht als Augur? – zu betonen, daß sie durch eine ihm abgeneigte Mittelquelle hindurchgegangen sein müssen (vgl. besonders die Rolle des Blossius bei Plut., s. o.). Die Volksversammlung war wie üblich (vgl. die bei der Absetzung des Octavius Cic. nat. deor. I 100 und Mommsen St.-R. III 381) auf die Area des Capitolinischen Tempels berufen; gleichzeitig fand eine Senatssitzung im Tempel der Fides statt, der dem Capitolinischen schräg gegenüber oben am südwestlichen Rande der Area lag (vgl. Hülsen Festschr. f. Kiepert [1898] 211–213; o. Bd. III S. 1535f. IV S. 1502f. VI S. 2282. Kornemann Klio IX 382f. Fraccaro 183ff.). Beide Versammlungen waren einander dicht benachbart, und die Vorgänge in der einen wurden sofort in der andern bekannt und wirkten auf diese ein; dabei erfuhr der Senat leichter, was in den Comitien unter freiem Himmel vorging, als das Volk, was in dem geschlossenen Räume verhandelt wurde. Den Vorsitz im Senat hatte der Consul P. Mucius Scaevola, der zu den Reformfreun-den gehörte; Wortführer der andern Partei war P. Scipio Nasica Serapio der Pontifex Maximus (o. Bd. IV S. 1501ff. Suppl. III S. 261, 35ff.). Appian 67f. berichtet den Zusammentritt des Senats, die Beschlußfassung und den Aufbruch der Senatoren gemäß dem Aufruf Nasicas. Plutarch berichtet von der Senatssitzung erst in Form einer Mitteilung, die Fulvius Flaccus (o. Bd. VII S. 241, 57ff.) dem Tiberius überbrachte (18, 2f.), und dann in der ebenfalls mit Nasicas Aufruf endenden Erzählung (19, 3–5). Wären diese zwei Stücke in umgekehrter Reihenfolge gegeben, so würde jedermann in dem zweiten – Aufforderung Nasicas an den Consul, Weigerung des Consuls, Aufruf Nasicas – den Inhalt der Meldung des Fulvius erkennen: ὅτι …… οἱ πλούσιοι τὸν ὕπατον μὴ πείθοντες αὗτο διανοοῦνται καθ’ αὑτοὺς ἀποκτιννύναι τὸν Τιβέριον Vielleicht [1422] ist diese Möglichkeit auch bei der vorliegenden Überlieferung erwägenswert. Ein dritter Bericht über die Senatssitzung ist der des Val. Max. III 2, 17, der mit dem Appians wohl vereinbar ist; er bietet die Frage des Consuls an den Senat, den Beschluß des Senats – das hier zum ersten Male vorkommende sog. Senatusconsultum ultimum (vgl. Plaumann Klio XIII 359–362) –, die Weigerung Scaevolas, ihm eine praktische Folge zu geben, und den Aufruf Nasicas. Auch Caes. bell. civ. I 7, 5. Val. Max. IV 7, 1 (hostis iudicatus) und VII 2, 6 b (senatus …… morte multavit) setzen einen solchen Senatsbeschluß voraus, und Scaevolas nachträgliche Billigung der Tat Nasicas (Cic. de domo 91; Planc. 88) spricht ebenfalls dafür. Für die Volksversammlung hatten nach Appian. 64 die Anhänger des Tiberius den Abstimmungsplatz und besonders dessen Mitte besetzt (vgl. Plut. 17, 6); sie begrüßten ihn bei seinem Erscheinen mit ermutigendem Beifallsgeschrei (Plut. 17, 7) und umringten ihn wie eine Leibwache (Appian. 65. Plut. 17, 7; vgl. 19, 3). Plutarchs Bericht fährt nach diesen Angaben über Tiberius fort, daß wiederum Mucius die Wahlhandlung einleitete, aber nichts ausrichten konnte infolge des allgemeinen Lärmens, Drängens und Stoßens, da die ringsum stehenden Leute schon mit den von außen anstürmenden Gegnern handgemein wurden. Da am vorhergehenden Tage gegen den Vorsitz des Mucius heftiger Widerstand von seinen Amtsgenossen geleistet worden war, muß dieser Widerstand vorher beseitigt worden sein; folglich liegt vor dem von Plutarch Erzählten das von Appian. 65f. Berichtete, der erneute Einspruch der Tribunen und der mit ihnen verbündeten πλούσιοι und ihre gewaltsame Vertreibung; die Tribunen verschwanden aus der Mitte der Versammlung; infolgedessen wurde der Iupitertempel verschlossen, wohin sie etwa flüchten wollten, und wurden wilde Vermutungen laut, Tiberius habe sie alle – wie vorher den Octavius – abgesetzt oder er wolle sich ohne Abstimmung als wiedergewählt erklären. Von diesem Bericht bringt Plut. 19, 1 den einen Zug, wie sich die Umgebung des Tiberius zum Kampfe gürtete und bewaffnete, an späterer Stelle in anderm Zusammenhange; sonst setzt er da ein, wo Appian sich von der Volksversammlung zur Senatssitzung wendet; er bringt in ausführlicher Schilderung die Botschaft des aus dem Senat kommenden Fulvius (18, 2f.) und ihre Wirkung: Tiberius teilte das, was er erfuhr, seiner Umgebung mit, und diese rüstete sich zu seiner Verteidigung (19, 1); die weiter entfernt stehenden Leute wollten wissen, was es gäbe, und Tiberius, der mit der Stimme nicht bis zu ihnen durchdringen konnte, wies mit der Hand nach dem Kopf zum Zeichen, daß es um seinen Kopf gehe; doch die Gegner deuteten diese Geste dahin, er fordere bereits das Diadem (Plut. 19, 1–3. Flor. II 2, 7. Vir. ill. 64, 6f.), und dieses Gerücht, dem die Beschuldigung des Q. Pompeius im Senate vorgearbeitet hatte (Plut. 14, 3, s. o.) gab jetzt den Ausschlag. Appian erwähnt die verhängnisvolle Handbewegung nicht ausdrücklich, meint sie aber offenbar mit dem verabredeten Zeichen zur Anwendung von Gewalt [1423] (64f., vgl. auch Vell. II 3, 2: concientem. Oros. V 9, 1: cum … seditiones …. accenderet. Ampel. 19, 3). Bis dahin sind die Ereignisse in beiden Versammlungen parallel und getrennt voneinander verlaufen; der Versuch, auch die Berichte darüber zu sondern, zeigt die Vorzüge des Appianischen vor dem Plutarchischen: Er ist sachlich und klar und weist verhältnismäßig wenige Lücken und Fehler auf (vgl. z. B. Hülsen 212, 2); Plutarch hat dagegen Wesentliches ganz verschwiegen und Unwesentliches breit ausgeführt; die scheinbare Genauigkeit, mit der er die zwei räumlich getrennten Handlungen Zug um Zug verfolgt und miteinander verknüpft, beruht nicht auf vollständiger Kenntnis, sondern auf eigener Vermutung und bewirkt die Entlastung seines Helden. Deswegen werden dessen Rüstungen weniger erwähnt als bei Appian, dagegen die der feindlichen Partei um so mehr (besonders 18, 3 E. im Anschluß an die Meldung des Fulvius; vgl. Vell. II 3, 2. Flor. II, 2, 6; auch Ausdrücke wie optimates Liv. ep. LVIII. nobilitas Flor. Oros. V 9, 1). In Wahrheit hatten sich beide Parteien auf eine gewaltsame Entscheidung vorbereitet; aber Tiberius hatte nur die Fäuste seiner Anhänger zur Verfügung, die Gegner außerdem die Autorität des Senats, und darum mußte er den Kürzeren ziehen. Als der Consul auf die Kunde von jenem Zeichen des Tiberius seinerseits das Zeichen zum Vorgehen gegen ihn nicht gab, riß Nasica die Führung an sich. Was nun folgt, ist schon o. Bd. IV S. 1503 erzählt; denn von hier an stimmen, wie seitdem namentlich noch Kornemann (3–6; vgl. Klio IX 382) ausgeführt hat, die Berichte über die allgemein wahrnehmbaren und wahrgenommenen Tatsachen ziemlich überein; Abweichungen sind teilweise durch die mangelhafte Kenntnis der späteren Darsteller von der Örtlichkeit verschuldet, während die Übereinstimmungen sich sogar bis auf den Ausdruck erstrecken, so bei den Worten, mit denen Nasica die Senatoren aufrief (Appian. 68. Plut. 19. 5 Cic. Tusc. IV 51. Vell. II 3, 1. Val. Max. III 2, 17. Vir. ill. 64,7), bei der Veränderung der Kleidung, die er und die Seinen vornahmen (Appian. Plut. Vell. Val. Max., vgl Auct. ad Her. IV 68), bei den Stuhlbeinen und sonstigen Waffen, mit denen sie sich ausrüsteten (Appian. 69. Plut. 19. 8. 10. C. Gracchus bei Plut. C. Gr. 3, 6. Auct. ad Her. a. O. Diod. XXXIV 7, 2. Liv. ep. LVIII. Vell. II 3, 2. Val. Max. I 4, 2. Oros. V 9, 2). Unter Führung des Oberpontifex brachen die Senatoren und ihre Anhänger von der Höhe überraschend in die Versammlung ein und trieben den großen Haufen mit Schlägen in Eile den Hügel hinunter (Appian. 69 [wo κατ’ ἀξίωσιν ἀνδρὶ ἀρίστῳ eine Anspielung auf Nasica als Enkel des anerkannten vir optimus enthält, ebenso wie die bittere Umkehrung im Munde des Gaius Charis. GL I 240, 16: Pessimi fratrem meum Optimum interfecerunt; vgl. Vell. II 3, 1. o. Bd. IV S. 1494, 50ff.]. Plut. 19, 6–8. Auct. ad Her. Cic. Caec. 87. Oros). Die Leibwache des Tiberius wurde überwältigt (Plut. 19, 8f.) und dabei fanden zwei- bis dreihundert Menschen ihren Tod (200 Oros. V 9, 3. ὑπερ τριακοσίους Plut. 19, 10. πολλοί Appian. 4. 70). Tiberius verlor im Fliehen die [1424] Toga, stürzte über bereits am Boden liegende Genossen, wurde durch einen Schlag über den Schädel von einem seiner Amtsgenossen, P. Satureius, völlig niedergeworfen und durch einen zweiten von einem L. Rufus (o. Bd. IA S. 1213, 5ff.) geführten getötet (ausführlich Plut. 19, 9f. und Oros. V 9, 2; außerdem Appian. 4. 70. Liv. ep. LVIII. Vell. II 3, 2. Val. Max. I 4, 2. Flor. II 2, 7. Ampel. 26, 1), und zwar nicht oben beim Iupitertempel, wie die effektvollere Schilderung lautet (Auct. ad Her. App. Vir. ill. 64, 7), sondern eben auf der Flucht weiter unterhalb auf dem Clivus Capitolinus (Vell. vgl. Oros.). Die Auslieferung seines Leichnams wurde verweigert; er wurde mit denen der übrigen Erschlagenen in den Tiber geworfen (Appian. 70. Plut. 20. 3f. C. Gracchus bei Plut. C. Gr. 3. 6 vgl. 14, 2. 15, 4. Liv. ep. LVIII. Vell. II 6, 7. Val. Max. I 4, 2. IV 7, 1. Vgl. VI 3, 1 d. Sen. cons. ad Marc. 16. 3. Oros. V 9, 3. Vir. ill. 64, 8; im einzelnen kleine Verschiedenheiten). Die überlebenden Anhänger des Tiberius wurden grausam verfolgt (Plut. 20, 4–7; C. Gr. 4, 2. Cic. Lael. 37. Sall. Iug. 31, 7. 42, 4. Vell. II 7, 4. Val. Max. IV 7, 1. VI 3, 1 d); aber sein Ackergesetz blieb in Geltung (Appian. 73. Plut. 21, 1. Val. Max. VII 2, 6) und sein Andenken in Ehren. Groß war die Trauer des Volkes um ihn (Cic. Rab. perd. 14; de or. II 170. Plut. 21, 4f.; C. Gr. 18, 3. Sehr charakteristisch die Äußerungen beim Auct. ad Her. IV 31. 68. Ausdruck menschlicher Teilnahme vielleicht bei Lucilius; vgl. Cichorius Unters. zu Lucil. 145–149) und gab sich kund in den Demonstrationen gegen den Mörder Scipio Nasica (o. Bd. IV S. 1503f.) und gegen den aus Spanien heimgekehrten Scipio Aemilianus, als er den Mord mit Vorbehalt billigte (ebd. S. 1457. Vgl. auch Ed. Meyer 426, 2). Ein Rächer erstand dem Toten in seinem Bruder Gaius (s. d.). Noch nach dreißig Jahren fand ein Betrüger, der sich für seinen Sohn ausgab, ungeheuren Zulauf (o. Bd. VI S. 322f.).

Zur Beurteilung. Tiberius ist aus der herrschenden Gesellschaft hervorgegangen, aber er hat den Kampf gegen sie eröffnet und ist an die Spitze ihrer Feinde getreten. Welche Gefühle das in jener hervorrief, zeigen die Warnungen, die seine eigene Mutter dem Bruder zurief (Cornelia frg. 2 bei Nepos; über die Echtheit Ed. Meyer 386ff. Stern 273f.): Ecquando desinet familia nostra insanire? … Ecquando perpudescet miscenda atque perturbanda re publica? Dieselben Ausdrücke kehren in den abfälligen Urteilen über Tiberius wieder, die von der Nobilität beeinflußt sind; dem insanire entspricht furor (Cic. Lael. 37. Liv. ep. LVIII. Vell. II 6, 1), ferocitas (Cic. Vatin. 23), temeritas (Cic Lael. 37); sein Wirken richtet sich auf die Zerstörung des bestehenden Staates, heißt darum (summa imis) miscere (Vell. II 2, 3), perturbare (Cic. rep. VI 11; acad. pr. II 15; daher: turbulentissimus tribunatus Brut. 103. Gracchi turbatores plebis Tac. ann. III 27) vexare (Lael. 37). dissipare (de or. I 38), convellere (har. resp. 41. Val. Max. VI 3, 1 d), labefactare (im Vergleich zu Catilina freilich mediocriter Cat. I 3), und die Gegenüberstellung von Vater und Sohn Tiberius soll ergeben, daß von ihnen alter stabilire [1425] rem publicam studuerit. alter evertere (fin. IV 65). Von diesem Standpunkt aus erscheint er als ein entarteter (prov. cons. 18) und abtrünniger (har. resp. 41. 43. Vell. II 2, 2 s. o.) Sprößling seines Geschlechtes, der den Umsturz herbeigeführt (vgl. o. über seditio) und nach der Beherrschung des Staates gestrebt, ja sie sogar während kurzer Zeit ausgeübt hat (rep. II 49; Lael. 41; Brut. 212. Sall. Iug. 31, 7. Diod. XXXIV 33, 6. 7. Val. Max. III 2, 17. Flor. II 2, 7). Die entgegengesetzte Auffassung vertritt ein demokratischer Redner zwei Jahrzehnte später, dessen Worte freilich erst fast ein Jahrhundert später diese Form erhalten haben, aber doch historisch treu sind: Quem regnum parare aiebant … sed sane fuerit regni paratio plebi sua restituere (Sall. Iug. 31, 7f.; vgl. das aus Sallusts eigenem Sinne Gesagte 42, 1: Ti. et C. Gracchus vindicare plebem in libertatem et paucorum scelera patefacere coepere). Demokratische Urteile der nächsten Generation, die auch in der Form echt sind, hat der Auct. ad Her. erhalten, bei dem das Wirken des Tiberius rem publicam administrare und sein Ende ein unwürdiges heißt (VI 31 vgl. Pöhlmann 170) und er dem tobenden Mörder als stillergebener Dulder gegenübergestellt wird (IV 68), also schon mit den Zügen des sanften Jünglings der Plutarchischen Schilderung (2, 2. 3. 5 πρᾷος und verwandte Ausdrücke). Zwei Menschenalter später hatte sich Cicero mit Tiberius als dem Urheber noch durchaus lebendiger und wirksamer Ideen auseinanderzusetzen. Innerlich war er ihr Gegner und wurde dadurch in seinem Urteil über ihn bestimmt (s. o.); aber in öffentlichen Äußerungen mußte er der Volksstimmung Rechnung tragen. So erklärte er 691 = 63 bei der Vorlegung seines eigenen politischen Programms (leg. agr. II 10): Non sunt autem ego is consul, qui, ut plerique, nefas esse arbitrer Gracchos laudare, quorum consiliis, sapientia, legibus multas esse video rei publicae partes constitutas. Das ist das gerade Gegenteil der Behauptung, Tiberius habe den Staat zugrunde gerichtet, und auf diesen Ton sind auch andere Erwähnungen in den Reden gestimmt, die seine Begabung und Beredsamkeit, seine Liebe zum Volke, wie seine Beliebtheit beim Volke preisen und anerkennen (leg. agr. II 10. 31. 81: har. resp. 41. 43; Sest. 105; Mil. 14). Als nach hundertjährigem Kampfe die von Tiberius befehdete Partei erlegen war, wurden die lobenden Stimmen immer lauter. In der Aufzählung der großen Männer Roms durfte Gracchi genus nicht mit Stillschweigen übergangen werden (Verg. Aen VI 842), und auch wer ihre Überzeugungen nicht teilte, mußte ihre Bedeutung einräumen (Sen. cons. ad Marc. 16. 3: vgl. ad Helv. 16, 6, zum Ausdruck auch Plut. comp. 1, 2). Einen gewissen Ausgleich zwischen den widersprechenden Urteilen der republikanischen Zeit fand man jetzt etwa darin, daß man die ausgezeichneten menschlichen Eigenschaften, die vorzüglichen Anlagen, die treffliche Bildung, die edle Gesinnung, das hohe Streben rühmte, wenn man auch die Handlungen und Ziele nicht billigte. So fand sich die öffentliche Meinung der Kaiserzeit mit ihm ab, wie sie zum Ausdruck kommt in den Charakteristiken bei Vell. [1426] II 2, 2 (wo natura et industria anklingt an Cic. de or. I 38: natura–doctrina). 7, 1. Diod. XXXIV 5. 6, 1. Appian. 35. 71. Dio frg. 83, 1 und vor allem bei Plutarch, der in der Zusammenstellung der Biographienpaare Agis und Kleomenes–Tiberius und Gaius Gracchus am Anfang (Ag. 2, 7f.) und am Schluß (comp. 1, 1ff.) und besonders beim Beginn der zweiten Hälfte in der Vergleichung der zwei Brüder (1, 7 – 3, 3) das Bild des Tiberius, das er sich in seinem Innern gestaltet hatte, liebevoll ausmalte. Gewiß ist darin manches übertrieben, verzeichnet, entstellt; ob aber neuere Retouchierungen und Restaurierungen das Porträt immer verbessert haben, ist die Frage. Zu bedenken bleibt, daß der jüngere Bruder Gaius viel länger die öffentliche Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich zog als Tiberius, also nach seinem Charakter und Leben besser bekannt war; da beide häufig zusammengefaßt wurden, hat die Beurteilung des Jüngeren auf die des Älteren nicht selten zurückgewirkt. So hat auch von der Beredsamkeit des Tiberius die Nachwelt weit spärlichere Proben und unvollkommenere Kenntnis gehabt als von der des Gaius (vgl. darüber Auct. ad Her. IV 7. 46. Cic. de or. I 38; Brut. 96. 103f. 296. 333. Vell. II 9, 1. Quintilian. II 5, 21. 16, 5. Tac. dial. 40. Plin. ep. I 20, 4 und die Charakteristiken wie προεῖχε … λόγου δεινότητει Diod. XXXIV 5. εἰπεῖν τε δυνατώτατος Appian. 35 und Plut. 2, 3).