RE:Fluch
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
---|---|---|---|
| |||
Gebet, um das Strafgericht der Götter auf einen Menschen zu rufen | |||
Band VI,2 (1909) S. 2771–2773 | |||
Fluch in der Wikipedia | |||
Fluch in Wikidata | |||
Bildergalerie im Original | |||
Register VI,2 | Alle Register | ||
|
Fluch. I. Bei den Griechen. Ein Gebet, durch welches das Strafgericht, der Götter auf einen Menschen herabgerufen werden soll, war dem Empfinden der Griechen nicht fremd, da die Religion ihnen die stärkste Hilfsmacht für den Rechtsschutz war. So spielt der F. schon in den ältesten Göttermythen und in der Heldensage eine wichtige Rolle.
Immer trifft er Götter oder Menschen, die sich in arger Weise gegen die bestehende Weltordnung vergangen haben, so den Zeus, als er den Kronos stürzte (Aisch. Prom. 914), so den Phoinix, der seines Vaters Ehebett entweihte (Hom. Il. IX 453), so den Meleager, den Laios, die Söhne des Oidipus u. a. m. (Lasaulx 164). Er stellt also eine Art Selbsthilfe dar, wie sie im ältesten griechischen Blutrecht auch sonst üblich war.
Es ist ganz natürlich, daß eine solche private Anwendung des F.s auch bei minder schweren Verbrechen als Blutschuld weit in die historische Zeit hinein als bequemes Mittel der Selbsthilfe sich erhalten hat, besonders in Staaten, deren Rechtsinstitutionen noch nicht so entwickelt waren, daß sie jedem durch ein Vergehen Geschädigten den nötigen Rechtsschutz verbürgten. Dies gilt von dem Recht von Knidos, wo eine Reihe von Personen, die durch Verleumdung, Vorenthaltung eines Depositums, Körperverletzung oder andere Straftaten geschädigt sind, den oder die Täter durch eine im Tempel angebrachte F.-Tafel der Demeter weihen und so zu ihrem Recht zu gelangen suchen (vgl. zuletzt E. Ziebarth Neue attische Fluchtafeln, Nachr. der Gött. Gesellsch. d. Wiss. 1899, 124). Dieselbe Art der Rechtshilfe findet sich noch an einigen anderen Orten. Zu den bei Ziebarth a. a. O. 125f. gegebenen Beispielen tritt noch hinzu die sehr merkwürdige späte Grabinschrift von Mopsuestia, Le Bas Asie min. 1499. Sie verbindet in einzigartiger Weise den üblichen Gräber-F., der sich gegen eine Verletzung oder Entweihung des Grabes richtet, mit einem Rechtshandel aus dem Leben des Verstorbenen. Musaios hat in einem Alter von 20 Jahren seinem Bruder Tryphon den Verkauf aller seiner Ländereien anvertraut (πιστεύσας αὐτῷ τὴν πρᾶσιν τῶν γεωργίων πάντων εἰκοσαετίας), hat dann niemals von ihm Rechenschaft gefordert und ist von ihm in jeder Weise betrogen worden. Da [2772] er völlig verarmte und seine Sache nicht selbst vor Gericht bringen konnte (καὶ μὴ δυνάμενος ἄγειν πρὸς αὐτὸν τὸ πρᾶγμα), ist er im Elend früh gestorben, und ruft nun im Tode den Zorn der Götter auf den Tryphon und seine Kinder herab, niemals soll es ihnen vergönnt sein, den Göttern Opfer zu bringen (καὶ τὰ ἱερὰ μὴ ἐξὸν αὐτῷ ποιῆσαι κατὰ μηδένα τρόπον). Dann erst folgt der F. zum Schutze des Grabes und seiner Anlagen.
Aber auch in Staaten mit hochentwickeltem Recht war der auf einer F.-Tafel ausgesprochene F. besonders beliebt in allen den Fällen, wo die vor Gericht unterlegene Partei kein weiteres Rechtsmittel besaß, um ihrem Unwillen über einen Urteilsspruch Ausdruck zu geben. Zu diesen juristischen F.-Täfelchen vgl. Ziebarth a. a. O. 122. Audollent Defixionum tabellae (1904) p. XC und besonders A. Wilhelm Österr. Jahresh. 1904, 116f., der das Verdienst hat, nachgewiesen zu haben, daß die Anwendung solcher F.-Tafeln nicht nur in den unteren Schichten üblich war, sondern auch in den allerbesten Kreisen der attischen Gesellschaft.
Daß aber die private Anwendung des F. mehr bedeutete, als eine abergläubische Spielerei, das bezeugen diejenigen griechischen Staaten, die den F. als Mittel zur Herbeiführung des Rechtsschutzes durch die Götter in das praktisch geltende Recht förmlich aufgenommen haben.
Unter den Schutz der ἀρά der Götter werden zuerst alle die Dinge gestellt, welche den Göttern gehören, ihnen geweiht sind, wie der Boden, auf dem sich ihre Tempel erheben und die Tiere, die ihnen zum Opfer dienen. Den Beispielen hierfür aus Tralleis, Elis, Itanos, Smyrna, Ephesos bei Ziebarth Der Fluch im griech. Recht, Hermes XXX 1895, 58 ist hinzuzufügen das Πελασγικόν zu Athen, ὃ καὶ ἐπάρατόν τε ἧν μὴ οἰκεῖν (Thuc. II 17). Vielleicht stand auch die ἱερὰ ὀργάς von Eleusis unter dem Schutze eines F.s (vgl. Dem. XIII 32 οἶον ἃ πρὸς τοὺς καταράτους Μεγαρέας ἐψηφίσασθ' ἀποτεμνομένους τὴν ὀργάδα. Guiraud Propriété fonc. en Grèce 379).
Ferner trifft der Schutz der ἀρά die sittliche Welt, die auf den heiligen Boden gegründet ist, und zwar zunächst die gesamte Kultusverfassung und die Gesetze, die zu ihrer Aufrechterhaltung dienen. Darum trifft jeden, der sich gegen die Religion vergeht, als natürliche Strafe der F. Zu den Beispielen der Sanktion von leges sacrae durch die ἀρά bei Ziebarth a. a. O. 59 treten hinzu die Urkunden über den Verkauf des Priestertums des Poseidon Helikonios zu Priene, Inschr. v. Priene 201–203, in denen dreimal die Sanktionsformel wiederkehrt: ἐὰν δέ τις παρὰ ταῦτa προθείη καί τι τῶν δεδογμένων λύοι, ἐξώλης εἴη καὶ τὰ ἐκείνου πάντα.
Zu den allgemeinen Geboten der Religion gehören aber auch die Pflichten gegen die Menschen, z. B. jedem bedürftigen Menschen Teilnahme an Wasser und Feuer zu gewähren, dem Verirrten den Weg zu zeigen u. a. m. Auch diese Gebote sind durch die ἀρά der Buzygen (s. d.) geschützt, ebenso wie die gesamte Staatsordnung unter den Schutz der Religion gestellt ist, und nach Platon Leg. IX 871 B die F.-Formel zu einem Gesetz dazugehört (ὡς ἡ τοῦ νόμου ἀρὰ τὴν φήμην προτρέπεται). [2773] Eine solche πολιτικὴ ἀρά stand nachweislich am Schlusse der Gesetze des Charondas und diente auch in Athen, Chios, Eresos, Teos zur Sanktionierung der gesamten Gesetzgebung.
Nirgends aber war sie bedeutungsvoller als in Delphi, wo alle die Pflichten gegen den Apollon und sein Eigentum unter den Schutz einer furchtbaren ἀρά gestellt waren (Aischin. III 110–111), deren Grundformel, wie sie zur Zeit des Demosthenes galt, der Amphiktyone zur Römerzeit in seinem Eide noch immer zur Anwendung brachte (Bull. hell. XXVII 1903, 107 B. 14 [καὶ εὐορκοῦντι μὲν μοὶ εἴh πολλὰ καὶ ἀγαθὰ] ἐφιορκοῦντι δὲ [Θέμις] καὶ Ἀπόλλων Πύθιος καὶ Λατὼ καὶ Ἄρτεμις καὶ Ἑστία καὶ πῦρ ἀθάνατον καὶ θεοὶ πά[ντες καὶ πᾶσαὶ κακίστω ὀλέθρωι τὴν] σωτηρίαν μοὶ [ἀφέλωσι]ν, μήτε τέκνων μήτε σπορῶν μήτε καρπ[ῶν] μήτε οὐσίας κατόνασθαι ἐάσωσιν ἐμέ [τε αὐτὸν καὶ τὸ γένος ἐμὸν, καὶ με] ἐκ τῶν ὐπαρ[χόντω]ν ἰδίων ζῶντα ἐκβάλωσι εἰ ἐφιορκήσω.
Wie aber jedes Rechtsmittel im Laufe der Zeit etwas von seiner ursprünglichen Wirkung einbüßt, so hörte auch die ἀρά auf, eine außerordentliche Maßregel zu sein, und stand schließlich am Schlusse jedes einzelnen Aktes der verfassungsmäßigen Gesetzgebung. Beispiele aus Athen, Sparta, Elis, Chios, Teos, Mylasa, Pordoselena, Ephesos gibt Ziebarth a. a. O. 63ff. Natürlich blieb die Aussprechung des F.s immer ein Vorrecht des Staates, doch haben staatlich anerkannte Korporationen, wie die Εἰκαδεῖς in Attika und die Klytiden zu Chios, mit anderen staatlichen Institutionen auch die ἀρά in ihre Verfassung herübergenommen.
Literatur: E. v. Lasaulx Der Fluch bei den Griechen und Römern, Stud. d. klass. Altertums 159ff. L. Schmidt Die Ethik der alten Griechen I 85ff. Ziebarth in den angeführten Schriften. G. Glotz La solidarité de la famille en Grèce (1904) 569f.
II. Bei den Römern s. Exsecratio (Suppl.).