Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Kaiserliche Verfügungen
Band IV,1 (1900) S. 1106 (IA)–1110
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Constitutiones principum ist die in den Rechtsbüchern gebräuchliche Bezeichnung der kaiserlichen Verfügungen. Im 1. Jhdt. scheint sie allerdings in diesem allgemeinen Sinne noch nicht üblich gewesen zu sein; die Lex de imperio Vespasiani (CIL VI 930. Bruns Fontes⁶ 192ff.) spricht (29) von acta gesta decreta imperata ab Imp. Caesare Vespasiano; das praetorische Edict führt regelmässig die edicta decreta principum an (Dig. II 14, 7, 7. III 1, 1, 8. IV 6, 1, 1. XLIII 8, 2 pr.), und Papinian bezeichnet noch im 2. Jhdt. die kaiserlichen Verordnungen im allgemeinen als decreta principum (Dig. I 1, 7). Doch ist zu dieser Zeit die regelmässige Bezeichnung schon constitutiones (διατάξεις). Plin. ad Trai. 65. Gai. I 5. Pomp. Dig. I 2, 2, 11. 12.. Ulp. Dig. I 4, 1, 1: haec sunt quae vulgo constitutiones appellamus. Von den vielen die Constitutionen betreffenden Fragen soll hier nur die nach ihrer verbindlichen Kraft erörtert werden; für alles Weitere wird auf die Artikel verwiesen, welche ihre einzelnen Erscheinungsformen darstellen; vgl. Edictum, Decretum, Epistulae, Rescriptum. Mandatum, Oratio, Adnotatio (Seeck Bd. I S. 382f.), Leges generales, Sanctio pragmatica.

Über das Recht, allgemein verbindliche Verfügungen zu erlassen, bestimmt die schon erwähnte Lex de imp. Vesp. (17ff.) folgendes: utique quaecumque ex usu rei publicae maiestate[que] divinarum huma[na]rum publicarum privatarumque rerum esse censebit, ei agere facere ius potestasque sit, ita uti divo Aug(usto), Tiberioque Iulio Caesari Aug(usto), Tiberioque Claudio Caesari Aug(usto) Germanico fuit. Bei der Auslegung dieser Stelle werden regelmässig die letzten Worte nicht genügend berücksichtigt; sie sagt nicht schlechthin, dass dem Kaiser das Gesetzgebungsrecht zustehen solle, sondern giebt ihm das Recht, Verfügungen zu erlassen (denn dass dies in dem agere facere enthalten ist, kann nicht bezweifelt werden), d. h. in dem Umfange und mit der Wirkung, wie es Augustus, Tiberius und Claudius gehabt haben. Nun wissen wir aber gerade von Augustus, dass er das ihm vom Senat und Volk angetragene Recht, eigenmächtig gesetzesgleiche Verfügungen zu erlassen, mehrfach zurückgewiesen hat (Mon. Anc. gr. 3, 11ff.); demgemäss können auch die Worte des Bestallungsgesetzes des Vespasian nicht jenen Sinn haben. Eine wirkliche Übertragung des Gesetzgebungsrechtes des Volkes auf den Kaiser findet nur auf dem besonderen Gebiete der sog. leges datae (Verleihung von Stadtordnungen; s. d. Art.) statt; sie sollen deshalb im folgenden ausser Betracht bleiben. Es fragt sich nun [1107]

1. wie weit den in dem Bestallungsgesetz genannten Kaisern überhaupt ein Verfügungsrecht zugestanden hat. In dieser darf als feststehend gelten – für die Einzelheiten wird auf die oben genannten Artikel verwiesen – dass schon unter Augustus anerkannt waren a) das ius edicendi; b) das Recht der Urteilsfällung (durch decreta) in Civil- und Strafsachen; c) das Recht, soweit die kaiserliche Verwaltung reichte, an Beamte und Privatpersonen die nötigen Anweisungen ergehen zu lassen, wobei zu bemerken ist, dass schon die Ausdehnung des Reiches und das Bestreben, die kaiserlichen Befehle und Entscheidungen unverrückbar festzustellen, hier mit Notwendigkeit zur Schriftform führten: in der That sind die kaiserlichen Befehle regelmässig in Briefform (als epistulae) ergangen, gleichviel ob ihnen eine Anfrage von Magistraten und Privaten vorausging (in dieser Hinsicht werden sie als rescripta [ἀντιγραφαί] bezeichnet) oder nicht. Das beste Beispiel bietet die Correspondenz des Plinius als kaiserlichen Commissars von Bithynien mit Traian; d) zu den Verwaltungsacten im weiteren Sinne gehörten auch die Instructionen, welche die Kaiser an die ihnen unterstellten oder doch von ihnen beauftragten oder beaufsichtigten Beamten erliessen (mandata, ἐντολαί, ἐπιταγαί);

2. ob und wie weit durch diese Constitutionen allgemein verbindliches, in seiner Wirkung dem Gesetz gleich stehendes Recht geschaffen wurde. Diese Frage ist (zu a) für die Edicte (προγράμματα) insofern zu bejahen, als durch sie den Kaisern allerdings die Möglichkeit gegeben war, zum mindesten für ihre Regierungszeit allgemeine Vorschriften zu erlassen und wegen eines etwaigen Übergriffes auf das Gebiet der Gesetzgebung niemand den Kaiser zur Verantwortung ziehen konnte. Aber es ist darauf hinzuweisen, dass das Edict (s. d. Art.) seiner Entstehung und Verwertung nach in der republicanischen Zeit kein Gesetz war, sondern vielmehr als Amtsrecht im scharfen Gegensatz zum Volksrecht steht; diese Grenzen haben sich auch in der Kaiserzeit zunächst nicht verwischt. Und jedenfalls haben sich die Kaiser der ersten drei Jahrhunderte, was ihr Ius edicendi anlangt, im allgemeinen in engen Grenzen gehalten und eine Concurrenz mit dem Volksgesetz oder dem Senatus consultum, soweit dies an seine Stelle getreten war, nach Möglichkeit vermieden (vgl. Karlowa 648f.). Die kaiserliche Rechtsprechung ist (zu b) zunächst keine Rechtssatzung, sondern Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts gewesen (so mit Recht Mommsen St.-R. II³ 911ff.; Ztschr. d. Sav.-Stftg. XII 264f. Wlassak 151ff. Krüger 102. Kipp 36. 38. Sohm 103. Mitteis Reichsrecht und Volksrecht 120). Von den Epistulae (c) ist, da sie nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form gekennzeichnet sind, im allgemeinen wenig zu sagen. Die Kaiser hatten es natürlich in ihrer Macht, die ihnen vorliegende Verwaltungsangelegenheit vorübergehend oder für die Dauer zu regeln. Die Mandata (d) beziehen sich als Dienstanweisungen für einen bestimmten Beamten zunächst auf dessen Amtszeit und Amtsbezirk. Aber es versteht sich von selbst, dass man beispielsweise den nach einander folgenden Statthaltern einer Provinz keine wesentlich verschiedenen [1108] Instructionen erteilte, sondern die des Vorgängers mit den etwa nötig werdenden Abänderungen wiederholte und auch die der verschiedenen Provinzen, soweit es die Verhältnisse zuliessen, mit einander auszugleichen suchte; vgl. Dig. XXIX 1, 1 pr.: Postea divus Nerva plenissimam indulgentiam in milites contulit; eamque et Traianus secutus est, et exinde mandatis inseri coepit caput tale (folgt der Wortlaut). Die Bestimmungen der Mandate wurden zum grossen Teil tralaticisch, wie es die des praetorischen Edicts waren.

Aus alledem ergiebt sich, dass im 1. Jhdt. ein Recht der Kaiser, schlechthin Verfügungen mit gesetzesgleicher Kraft zu erlassen, noch nicht anerkannt und insbesondere auch nicht in der Lex de imp. Vespasiani ausgesprochen war. Anders gestalteten sich die Verhältnisse seit dem 2. Jhdt. Zwar haben – darin zeigt sich auch jetzt noch der fortwirkende republicanische Staatsgedanke – die Edicte und ebenso die Mandate keinen wesentlich verschiedenen Charakter angenommen[WS 1]. Was die Decrete anlangt, so kann man wahrnehmen, dass die Kaiser sich mit immer grösserer Freiheit gegenüber dem geltenden Recht bewegten und die Aufgabe der Rechtsauslegung in einem recht weiten Sinne verstanden. So bringt beispielsweise das bekannte decretum Divi Marci (Dig. IV 2, 13. XLVIII 7, 7) in der Form des Urteils einen entschieden neuen Rechtssatz zur Anwendung. Ihrer Wirkung nach bezogen sich die Decrete auch jetzt grundsätzlich nur auf den Process, in dem sie ergangen waren. Doch ist es erklärlich, dass man die kaiserliche Rechtsauslegung auch in andern Fällen, in denen die gleiche Frage auftauchte, als massgebend ansah. Schon in republicanischer Zeit werden die Praejudicien als Rechtsquelle genannt (Rhet. ad Her. II 14. 18. 19. 46. Cic. de or. I 180; Top. 28. 44; de part. or. 136; vgl. Quint. V 2, 1. Kallistr. Dig. I 3, 38), und es liegt in den politischen Zuständen begründet, dass man den Rechtssprüchen der Kaiser erst recht eine solche Kraft beilegte und ihre Rechtsauslegung immer mehr als eine authentische, d. h. eine in jedem Falle den Richter zwingende Norm ansah. Dem giebt Fronto (ep. I 6 p. 14 Naber) offenen Ausdruck: Tuis autem decretis, imperator, exempla in perpetuum valitura sanciuntur ...; tu ubi quid in singulas decernis, ibi universos exemplo tuo adstringis. Von der grössten Bedeutung aber werden jetzt die seit Hadrian nachweisbaren Processrescripte, durch welche die Kaiser in einem vor dem gewöhnlichen Gericht anhängigen Processe auf Anfrage einer Partei oder auch des Magistrates eine Entscheidung lediglich der Rechtsfrage (nicht in der Sache selbst) in einer für den Richter bindenden Weise aussprachen. Diese Rescripte wurden, so oft es dem Kaiser angebracht erschien, durch öffentlichen Aushang (proponere) zur allgemeinen Kenntnis und Nachachtung gebracht; damit galten sie als allgemein verbindlich und werden von den Juristen regelmässig als geltendes Recht behandelt.

Wenn man diese Entwicklung überblickt, so wird es erklärlich, dass man allmählich dazu gelangte, allen Constitutionen schlechthin gesetzesgleiche Kraft beizulegen. Diese Auffassung ist bei den Juristen des 2. Jhdts. ganz allgemein [1109] anerkannt; vgl. Gai. I 5: Constitutio principis est quod Imperator decreto vel edicto vel epistula constituit. nec unquam dubitatum est, quin id legis vicem optineat, cum ipse imperator per legem imperium accipiat. Pomp. Dig. I 2, 2, 11: Constituto principe datum est ei ius, ut quod constituisset ratum esset. Ulpian. Dig. 14, 1: Quod principi placuit legis habet vigorem: utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne suum imperium et potestatem conferat. Quodcumque igitur imperator per epistulam et subscriptionem statuit vel cognoscens decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto praecepit, legem esse constat; vgl. auch Inst. I 2, 6. Const. Deo 7. Cod. Iust. I 14, 12, 1. Dass man dabei das Recht des Kaisers, gesetzesgleiche Verfügungen zu erlassen, als von jeher vorhanden hinstellte, kann nicht Wunder nehmen. Interessant aber ist die Art und Weise, wie die Juristen diese ihre Auffassung staatsrechtlich begründeten: nämlich durch das oben erwähnte Bestallungsgesetz (vgl. auch Cod. Iust. VI 23, 3). Es muss dahingestellt bleiben, ob die Juristen sich dabei auf den oben mitgeteilten Passus stützten; dann wäre ihre Auslegung im Sinne des Augustus und Vespasian fraglos eine unrichtige gewesen – aber die Zeiten hatten sich eben geändert, was namentlich auch in der lex ,regia‘ zum Ausdruck kommt (wenn diese schon von Ulpian herrührt; vgl. Mommsen II³ 876, 2). Möglich ist aber auch, dass die Juristen sich auf andere, uns verlorene, allgemeine Wendungen des Bestallungsgesetzes stützten, oder dass dieses zu ihrer Zeit einen anderen Wortlaut hatte. Jedenfalls aber ist es verkehrt, wenn Gaius uns sagt, die Gesetzeskraft der kaiserlichen Constitutionen sei niemals in Zweifel gezogen worden; der Ausgangspunkt ist, was die Mandate, Decrete und Rescripte anlangt, entschieden der entgegengesetzte gewesen; und dass diese Ansicht überhaupt keine so allgemein anerkannte war, zeigt uns auch ein Gesetz Iustinians (Cod. Iust. I 14, 12, 2), in dem es heisst: Cum igitur et hoc in veteribus legibus (d. h. Juristenschriften) invenimus dubitatum, si imperialis sensus legem interpretatus est, an oporteat huiusmodi regiam interpretationem obtinere, eorum quidem vanam scrupulositatem tam risimus quam corrigendam esse censuimus.

Seit Diocletian steht das allgemeine Gesetzgebungsrecht der Kaiser unbedingt fest. Zwar haben sich die Kaiser auch jetzt noch der verschiedenen oben erwähnten Formen bedient (über deren Verbindlichkeit s. die einzelnen Artikel). Aber es ist bezeichnend, dass jetzt ein Unterschied zwischen Edict und Gesetz nicht mehr gemacht wird, dass mit andern Worten die Gesetze nichts sind als kaiserliche Willensentschliessungen und geradezu als leges bezeichnet werden.

Über Sammlungen kaiserlicher Constitutionen im Altertum s. d. Art. Papirius Iustus; Fragmenta Vaticana; Collatio legum Mosaicarum et Romanarum; Consultatio veteris cuiusdam iuris consulti; Codex Gregorianus, Hermogenianus, Theodosianus, Iustinianus; vgl. auch Lex Romana Wisigothorum. Burgundionum, Edictum Theoderici. Aus neuerer Zeit ist zu nennen G. Haenel Corpus legum (1859) Index p. 3ff. [1110]

Neuere Litteratur: Zimmern Gesch. d. R. Priv.-R. I 140ff. Puchta Inst. I10 § 109ff. 130ff. Rudorff R. R.-G. I 130ff. 204ff. Mommsen R. St.-R. II³ 905ff. Wlassak Krit. Studien z. Theorie d. Rechtsquellen (1884) bes. 106. Karlowa R. R.-G. I 646ff. 934ff. Krüger Quell. u. Litt. d. R. R. 92ff. 264ff. Sohm Inst.⁷ 103ff. Leonhard Inst. 99f. Landucci Stor. d. dir. R. 238ff. Kipp Quellenkunde 32ff.

[Jörs. ]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: angenommmen