RE:Fragmenta iuris Vaticana

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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nachklassische Rechtssammlung in der vatikanischen Bibliothek
Band VII,1 (1910) S. 7680
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Fragmenta iuris Vaticana, Bruchstücke einer sehr umfangreichen, von Angelo Mai (1821) in einem Palimpsest der vatikanischen Bibliothek entdeckten Rechtssammlung aus nachklassischer Zeit, deren Titel nicht erhalten ist.

I. Die Handschrift.

Der ursprüngliche Text der Hs., die unsere Rechtssammlung enthält, stammt nach den paläographischen Indizien aus dem 4. oder 5. Jhdt. Das darüber geschriebene Werk sind die 24 Gespräche des Ioannes Cassianus über das Mönchsleben (Collationes Aegypti anachoretarum), für welches außer unserer auch noch andere Hss. juristischen Inhaltes (Codex Theodosianus, die Lex Romana Burgundionum) verwendet wurden (über die Bedeutung dieser Tatsache s. u. VI). Der Schreiber des neueren Werkes hat die ursprüngliche Hs. in der Weise für seine Arbeit zugerichtet, daß er aus je zwei [77] zusammenhängenden Blättern derselben (Doppelblättern) drei Blätter zuschnitt; so enthält gegenwärtig jedes Blatt je 2/3 eines älteren Blattes oder je 1/3 von zwei älteren Folien. Die uns jetzt vorliegende Hs. zählt 33 Blätter, welche 28 (teils ganz, teils fragmentarisch erhaltenen) Folien der ursprünglichen entsprechen. Die auf einzelnen Blättern noch ersichtlichen Quaternionenzeichcn (das letzte ist XXVIII) würden allein schon zu der Annahme eines Umfanges von 228 Blättern führen; indes ist gewiß, daß mit der 28. Lage keineswegs der Schluß des Werkes erreicht war.

Die (ursprüngliche) Hs. enthält außer dem Texte der Rechtssammlung noch dazugehörige (vielleicht vom Schreiber der Hs. selbst schon verfaßte) Marginalrubriken (kurze, an den Band gesetzte Inhaltsangaben zu einzelnen Partien), ferner Interlinearglossen und Bemerkungen des Besitzers des Manuskripts.

II. Der Rechtsstoff der Fragmenta Vaticana.

A. Das Quellenmaterial. Die F. V. sind eine nach Materien angeordnete Zusammenstellung von Exzerpten aus klassischen Juristenschriften und römischen Kaisererlässen des 3. und 4. nachchristlichen Jhdts. 1. Die Juristenschriften. Jedes Exzerpt enthält (ebenso wie in den Digesten Iustinians) eine Inskription, bestehend aus dem Namen des Autors, dem Titel und Buch des Werkes, dem die Stelle entnommen ist; eine Wiederholung dieser Angabe unterbleibt jedoch, wenn das folgende Zitat demselben Schriftsteller angehört (statt dessen oft das Wort item). Aufgenommen sind Auszüge aus Papinian, Ulpian und Paulus, aus den großen Kommentarwerken (ad Sabinum und ad edictum) und Responsensammlungen (Quaestiones) derselben, bei Behandlung von Materien, die in diesen Hauptwerken nicht erörtert sind, auch Exzerpte aus Monographien (wie Ulpians lib. de officio proconsulis, de officio praetoris tutelaris, und des Juristen Paulus sententiae, manualia, breve edictum u. a.). Für einige Fragmente, welche einer Monographie über die Interdikte oder dem das Interdiktenverfahren behandelnden Abschnitt eines größeren Werkes entlehnt sind, ist der ungenannte Autor nicht mit Gewißheit festzustellen. Die Behauptung, daß sie aus des Juristen Venuleius Saturninus sechs Büchern de interdictis stammen, trifft sicher nicht das Richtige; einer solchen Annahme widerspricht zunächst schon die verschiedene Anordnung des Stoffes bei diesem Autor und in der in den vatikanischen Fragmenten benutzten Schrift. Die in der letzteren im zweiten und dritten Buche vorgetragenen Lehren (§§ 91–93) werden bei Venuleius im ersten Buche erledigt. Dazu kommt noch die Zitierung des Pedius (§ 93), der sonst nur von Ulpian und Paulus erwähnt wird. Gegen die Autorschaft Ulpians wird der Widerspruch von § 90 mit Dig. XLIII 3, 1, 8 ins Treffen geführt; in der letzteren Stelle wird gegen den Legatar, der sich des ihm letztwillig zur Nutznießung überlassenen Grundstückes ohne Einweisung des Erben bemächtigt hat, das interdictum quod legatorum als zulässig erklärt, während das Exzerpt in den F. V. hier nur das interdictum utile angewendet wissen will. Indes ist es nicht ausgeschlossen, daß in den Iustinianischen Digesten das Wort utile von Tribonian [78] gestrichen wurde. Die größte Wahrscheinlichkeit kommt der Annahme zu, welche Paulus als den Verfasser der fraglichen Schrift betrachtet. Die (geringe) Differenz in der Bezeichnung der Bücher (der nach Vat. frg. § 91 im zweiten Buche de interdictis behandelte Stoff ist nach den Digesten im dritten Buche der Paulinischen Schrift dargestellt gewesen) mag auf einem Schreiberversehen, wie es auch sonst unzähligemal vorkommt, beruhen. 2. Die in den F. V. aufgenommenen Kaisererlässe sind meist auf Anfrage von Magistraten oder Privatpersonen erlassene Prozeßreskripte und nur zum geringen Teil leges edictales (§§ 35. 37. 248. 249); sie gehören der Zeit von Severus und Caracalla (§§ 267. 295 aus den J. 205 und 210) bis auf die Regierung von Valens und Gratian (§ 37 aus den J. 369/372) an. Die meisten sind Konstitutionen Diocletians; auch von Maximian sind, was für die Feststellung des Entstehungsortes von Bedeutung ist (s. u. III.), mehrere Reskripte aufgenommen (§§ 41. 271. 282. 313. 315). In den Inskriptionen ist der Name der Kaiser, über welche die Strafe der damnatio memoriae verfügt wurde, getilgt. Die Titulatur divus findet sich in Erlässen von Diocletian und Constantius (§§ 270. 275. 297. 312. 338; vgl. dazu aber §§ 22–24. 41). Constantinus wird in wenigen Konstitutionen als Augustus (§§ 33–36) oder als dominus (§ 273) bezeichnet, welch letzteres Prädikat sonst nur dem Probus (§ 288) beigelegt wird. Der Verfasser unserer Rechtssammlung hat nach der gewöhnlichen Annahme das Konstitutionenmaterial zum Teil aus dem Codex Gregorianus und Codex Hermogenianus geschöpft, daneben aber auch Originalreskripte oder andere Sammlungen benutzt. Die Verwendung der beiden ersteren hat aber keine weitere Gewähr für sich als später in der Hs. eingetragene Verweisungen auf diese Konstitutionensammlungen. Der Codex Theodosianus ist, wie die ungekürzte Wiedergabe mehrerer im Theodosischen Rechtsbuche abgeänderter Kaisererlässe zeigt (§§ 35. 37. 249), dem Verfasser unserer Rechtssammlung noch nicht bekannt.

B. Art der Bearbeitung des Quellenmaterials. Die F. V. sind das älteste uns bekannte römische Rechtsbuch, welches Kaisererlässe und Juristenrecht in einer Darstellung verbindet, ohne die beiden Quellengattungen äußerlich zu sondern. Es ist bisher nicht gelungen, das Prinzip aufzufinden, nach welchem die Exzerpte aus den Klassikern und die Kaisererlässe (und die letzteren untereinander) angeordnet sind. Die Auszüge werden in der Hauptsache in der ursprünglichen Fassung, ohne jede Bearbeitung wiedergegeben. Bei einzelnen Fragmenten sind die Schlußsätze weggelassen, bei solchen größeren Umfanges auch Streichungen im Kontexte vorgenommen worden. Die aufeinanderfolgenden Exzerpte (aus demselben Autor) fügen sich nicht immer zu einem einheitlichen Ganzen zusammen.

C. Einteilung des Stoffes. Es läßt sich lediglich eine Einteilung des Werkes in Titel (nicht in Bücher) feststellen. Erhalten sind uns folgende (vor dem Texte oder auf dem oberen Seitenrand angebrachte) Titelrubriken: ex empto et vendito, de usufructu, de re uxoria ac dotibus, de excusatione, quando donator intellegatur revocasse [79] donationem, de donationibus ad legem Cinciam, de cognitoribus et procuratoribus. Weder die Titel noch die einzelnen Fragmente innerhalb der Titel sind mit fortlaufenden Nummern versehen. Die erhaltenen Bruchstücke reichen, ungeachtet der auf einzelnen Folien angebrachten Quaternionenzeichen, nicht zur positiven Bestimmung des vom Verfasser bei der Anordnung des Stoffes eingehaltenen Systems aus. Es läßt sich nur negativ feststellen, daß das Ediktsystem der Darstellung jedenfalls nicht zugrunde liegt (vgl. die Stellung der Lehre vom ususfructus in unserem Rechtsbuche, welche bei einer Stoffanordnung nach dem Ediktsystem erst hinter Kauf-Dotalrecht und Exkusation von der Vormundschaft zu behandeln wäre).

III. Entstehungsort.

Für die Abfassung des Werkes im Okzident sprechen der Ursprung der Hs. (die, bevor sie in die vatikanische Bibliothek kam, dem Kloster Bobbio gehörte), die Aufnahme zahlreicher Kaisererlässe, welche sich auf die Verhältnisse in den westlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs (Rom, Italien, Spanien, Gallien) beziehen bezw. im Orient keine Geltung erlangt haben, und endlich die auffallende Tatsache, daß die in griechischer Sprache verfaßte Monographie Modestins de excusationibus nicht benützt ist.

IV. Entstehungszeit.

Die Redaktion des Werkes in seiner gegenwärtigen Gestalt fällt in die Zeit von 369/372 (Datum des jüngsten in den F. V. aufgenommenen Reskriptes) und 438 (Publikation des Codex Theodosianus). Zweifelhaft ist, ob das Werk vor oder nach dem Zitiergesetz vom J. 426, welches das von Constantin bereits (321) erlassene Verbot der notae Ulpians zu Papinian wiederholt, verfaßt ist. Der Umstand, daß in § 66 ein solches verbotswidriges Zitat aufgenommen ist, weist nach der Annahme einzelner Gelehrten auf frühere Entstehung hin, während andere in der verhältnismäßig geringen Berücksichtigung der notae eine Einwirkung des Zitiergesetzes erkennen wollen. Mommsen Abh. Akad. Berl. 1859, 404f. hat, ausgehend von der Kaiserbezeichnung in den aufgenommenen Reskripten (s. o. II B), die Entstehung des Werkes in die Zeit Constantins verlegt; der Erlaß vom J. 369/372 ist nach seiner Lehre erst bei der zweiten Ausgabe der Schrift hinzugefügt worden. Diese Hypothese wird gegenwärtig unter Hinweis auf die kritiklose Benutzung der Quellen in unserer Sammlung, die Nachlässigkeit und Inkonsequenz des Verfassers und das unter Constantin bereits erlassene Verbot der notae Ulpians zu Papinian allgemein abgelehnt. Indes sind meines Erachtens alle Gegenargumente nicht imstande, die Mommsensche Lehre (zu der ich mich insofern, als sie verschiedene Phasen der Entstehung unseres Rechtsbuches unterscheidet, bekenne), zu erschüttern. Jede Darstellung der Abfassungsgeschichte unserer Sammlung, die bei dem Stande unserer Quellen nur hypothetischen Charakter haben kann, wird von ihr auszugehen haben.

V. Zweck, Verwendung und Bedeutung der Sammlung.

Es ist zweifelhaft, ob das Werk, das hauptsächlich eine Zusammenstellung des ius (die leges edictales sind sehr selten) bietet, eine Privat- oder offizielle Rechtssammlung ist. Die [80] Vermutung, daß es sich hier um eine zunächst im öffentlichen Auftrage unternommene, dann aber nach verweigerter Sanktion als Privatarbeit publizierte Sammlung handle, ist ebenso haltlos wie die Identifizierung des Werkes mit den Vorarbeiten für die von Theodosius II. im Cod. Theod. I 1, 5 angekündigte zweite Sammlung. Die Zusammenstellung der F. V., die, wie die Scholien und Interlinearglossen zeigen, schon in alter Zeit Beachtung von seiten der juristisch interessierten Kreise gefunden hat, dürfte zunächst für praktische Zwecke unternommen worden sein. Aus ihrer Vereinigung mit Bruchstücken des Theodosischen Rechtsbuches und der Lex Romana Burgundionum kann man den Schluß ziehen, daß sie den vom Verfasser ins Auge gefaßten Zweck ungeachtet der Justinianischen Kodifikation (und des geringen Maßes von Geschicklichkeit bei Anordnung des Rechtsstoffes in unserer Sammlung) noch im 6. Jhdt. in der westlichen Reichshälfte, ihrer mutmaßlichen Heimat, erfüllt hat. Die spätere Verwendung für Unterrichtszwecke ergibt sich aus der Beschaffenheit der oben erwähnten Scholien. Für die rechtshistorische Forschung ist die Sammlung, da sie die Exzerpte aus den Klassikern und Konstitutionen ohne eigene Zusätze wiedergibt, von großem Werte.

VI. Ausgaben und Literatur.

Ed. princeps von Mai 1823; weitere Ausgaben von Buchholtz mit Comm. 1828. Mommsen Abh. Akad. Berl. 1859 und Handausgabe 1861 (danach in Coll. libr. iur. antei. II wiederholt). Huschke Jurispr. antei.5 706f. Girard Textes de droit rom.3 482. Vgl. Krüger Gesch. d. Quellen und Lit. des röm. R. 298ff. Karlowa Röm. Rechtsgesch. I 970ff. Teuffel-Schwabe Gesch. der röm. Lit. 1020.

Nachträge und Berichtigungen

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Band R (1980) S. 113
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