RE:Codex Gregorianus
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Zusammenstellung kaiserlicher Erlasse nach sachlichen Gesichtspunkten | |||
Band IV,1 (1900) S. 161–164 | |||
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Codex Gregorianus. Im 2. und 3. Jhdt. n. Chr. war eine ungeheure Menge allgemeinverbindlicher kaiserlicher Constitutionen, namentlich Rescripte, ergangen. Viele derselben waren zwar in die Schriften des Juristen eingeflochten, unendlich viel mehr aber waren in den Archiven begraben und hier natürlich nicht sachlich, sondern zeitlich nach ihrem Erlass geordnet. Zum grossen Teil waren sie auch durch spätere Verfügungen oder sonstige Rechtsquellen überholt, so dass sie keine Geltung mehr beanspruchen konnten (Modest. Dig. I 4, 4). Das Bedürfnis nach einer Sammlung, Sichtung und Ordnung des genannten Materials war immer unabweisbarer für die gerichtliche Praxis geworden. Diesen Zuständen suchte am Ende des 3. Jhdts. eine Privatarbeit, der C. G., abzuhelfen, indem sie die für ihre Zeit wichtigsten kaiserlichen Erlasse nach sachlichen Gesichtspunkten zusammenstellte. Das umfangreiche Werk ist uns nicht im Urtexte erhalten, wir kennen aber eine grosse Menge der darin aufgenommenen Constitutionen aus den späteren Sammlungen und Codificationen, nämlich den Fragmenta Vaticana, der Collatio, der Consultatio, der Lex Romana Wisigothorum und ihren Anhängen, der Lex Romana Burgundionum, den Sinai-Scholien zu Ulpian und namentlich aus dem Codex Iustinianus (vgl. die betreffenden Artikel); auch sonst begegnen verstreut noch einzelne Stücke.
Für die Abfassungszeit kommen folgende Punkte in Betracht: 1) Diocletian und Maximian werden (Coll. 1, 10) als domini nostri bezeichnet; also ist die Sammlung unter ihrer Regierung (285–305) entstanden. 2) Kaiser Iustinian bestimmte (Const. Haec pr. und Summa 1), dass die Compilatoren [162] seines Codex ihr Material für die frühere Zeit aus den Codices Gregorianus, Hermogenianus und Theodosianus entnehmen sollten. Da nun der letztere erst mit dem J. 312 anhebt, so ist klar, dass alle älteren Constitutionen aus dem C. G. oder Hermogenianus stammen. Die älteste derselben (Cod. Iust. VI 23, 1 ohne Datum) rührt von Hadrian her, die jüngste (ebd. IV 42, 5) ist vom 22. December 305. Es bleibt die Frage übrig, wie dies Material auf den C. G. und Hermogenianus zu verteilen ist (vgl. dazu Art. Codex Hermogenianus). 3) Die sicher datierbaren Constitutionen ausserhalb des Codex Iustinianus (der seine Quellen im einzelnen nicht angiebt) reichen vom 1. Juli 196 (Cons. 1, 6) bis zum 1. Mai 295 (Coll. 6, 4). Von den aus dem Codex Hermogenianus stammenden Constitutionen gehört die früheste dem J. 291, eine grosse Anzahl (22) den J. 293–296 an, die übrigen sind jünger und kommen hier nicht in Betracht. Die beiden Codices treffen also hauptsächlich für die drei Jahre 293–295 zusammen; für die frühere Zeit hat der Codex Hermogenianus wohl einzelne Constitutionen geliefert, die grosse Masse der Gesetze aus dieser Zeit jedoch und zwar jedenfalls die vordiocletianischen, stammen aus dem C. G. Wenn man nun in Betracht zieht, dass aus dem J. 295 nur noch eine Constitution des C. G. bekannt ist (Coll. 6, 4), so ist wahrscheinlich, dass das Werk in diesem Jahre seinen Abschluss fand. Allerdings wird in der Coll. 15, 3 unter der Überschrift Gregorianus libro VII sub titulo de maleficis et Manichaeis ein Gesetz angeführt, das die Inscriptio führt: Impp. Diocletianus et Maximianus AA. [et Constantius] et Maximianus [CC] Iuliano proconsuli Africae und dessen Subscriptio lautet Dat(a) prid. K. April. Alexandriae (ohne Jahr und Tag). Diocletian ist unseres Wissens zweimal in Alexandrien gewesen, im J. 297 nach der Eroberung der Stadt und sodann im J. 302. Von diesen beiden Jahren hat das letztere die grössere Wahrscheinlichkeit für sich (Mommsen z. d. St.). Indessen wird man doch, da für ein Werk wie der C. G. die neuesten Constitutionen gerade die wichtigsten waren, aus der Erwähnung eines solchen vereinzelten späteren Gesetzes nur den Schluss ziehen können, dass es sich um einen, vielleicht gar nicht vom Verfasser selbst herrührenden Nachtrag handelt.
Über die Persönlichkeit des Verfassers ist nichts bekannt. Jedenfalls hat er nicht Gregorianus (so Zimmern 162f. Huschke 280ff. Karlowa 941), sondern Gregorius geheissen (Mommsen Ztschr. d. Sav.-Stiftg. X 347f.). Sein Material hat er wenigstens in der Hauptsache aus den Archiven geschöpft, denn nur hier waren ihm die Constitutionen in dem Masse, wie er sie benützt hat, zugänglich (Näheres s. bei Krüger 280).
Man hat aus der Thatsache, dass die weitaus meisten, wenn nicht alle Constitutionen des C. G. aus der Zeit des Diocletian im Orient ergangen sind, geschlossen, dass die Sammlung auch dort entstanden sei (Mommsen Abh. Akad. Berl. 1859, 397f. 1860, 419. Huschke 307. Krüger 282f. Kipp Krit. Viertelj.-Schr. XXXII 29; anders Karlowa 943). Es wird richtig sein, dass sie dort ihren Abschluss erreichte und veröffentlicht wurde; indessen muss doch in Betracht gezogen werden, [163] dass der Verfasser für die älteren Constitutionen, welche in ihrer Gesamtheit die diocletianischen übersteigen, doch auf die römischen Archive angewiesen war. Er muss also in Rom Vorstudien gemacht haben oder von anderen unbekannten Mitarbeitern haben machen lassen.
Der C. Gr. war in Buchform auf Pergament veröffentlicht (Krüger Ztschr. d. Sav.-Stiftg. VIII 81f.; vgl. Mommsen ebd. X 349f.). Er zerfiel in mindestens 19 Bücher (Coll. 3, 4 Gregorianus libro XVIIII sub titulo de accusationibus; da aber das 14. Buch das Strafrecht behandelte und diese Materie in den Rechtsbüchern sonst immer im Zusammenhang mit dem Strafprocess behandelt wird, auch im übrigen Citate aus späteren Büchern als dem 14. fehlen, so ist fraglich, ob die Zahl XVIIII richtig überliefert ist). Die einzelnen Bücher zerfallen in Titel mit sachlichen Rubriken. Massgebend war in Buch I bis XIII im allgemeinen die Ordnung des Edicts, doch waren die gregorianischen Titel ungleich mannigfaltiger als in diesem Vorbilde (Krüger 281); das 14. Buch enthielt, wie gesagt, das Strafrecht. Innerhalb der Titel waren die einzelnen Constitutionen (wie man aus dem Cod. Iust. erkennen kann) in zeitlicher Reihenfolge mit Inscriptio (Kaiser und Adressat) und Subscriptio (Ort und Zeit des Erlasses), soweit diese festzustellen waren, sonst sine die et consule aufgeführt.
Huschke (294ff.) hat die Vermutung ausgesprochen, der C. G. sei auf Anregung des Kaisers Diocletian (namentlich damit die Rechtseinheit gegenüber der Reichsteilung gewahrt bleibe) abgefasst; auch sei ihm von vornherein durch den Kaiser ein solches Ansehen beigelegt, dass Constitutionen aus der von der Sammlung umspannten Zeit mit selbständiger Geltung nicht mehr citiert werden durften, die von ihr aufgenommenen aber die Geltung beglaubigter Abschriften der Originale hatten (S. 298). Die Sammlung sei also zwar kein formell kaiserliches, aber doch ein vom Kaiser angeregtes und in gewisser Weise auch bestätigtes Unternehmen nach Art der iulianischen Edictsredaction gewesen (S. 299). Beweisen lässt sich diese Ansicht nicht. Aber auch wenn man ihr nicht beipflichten will (was bei unserer Kenntnis der Überlieferung jedenfalls das sichere ist) und dabei stehen bleibt, dass es sich um eine blosse, dem Bedürfnis der Praxis entsprungene Privatarbeit handelt, so steht doch andrerseits fest, dass der C. G. sich thatsächlich schon im 4. Jhdt. das Ansehen eines Gesetzbuches in der von Huschke angegebenen Weise errungen hat. Jedenfalls hat die Verordnung des Arcadius und Honorius (Cod. Theod. I 2, 11 vom J. 398), welcher alle kaiserlichen Rescripte, bereits ergangene wie zukünftige, auf den Fall, für den sie erlassen waren, beschränkte, die im C. G. gesammelten nicht betroffen. Denn der Codex Theodosianus (I 1, 5; vgl. die westgothische Interpretatio zu I 4, 3) setzt im J. 438 seine Geltung in der Praxis voraus. Diese hat bis zum 16. April 529 fortgedauert und erst durch den Codex Iustinianus ihr Ende gefunden (Const. Summa 1. 3. 5; vgl. den Art. Codex Iustinianus).
Dass der C. G. auch in den Rechtsschulen Berücksichtigung fand, zeigen die Sinai-Scholien (3. 9. 10). Auch Theodoros (unter Iustinian) hat [164] ihn noch bei der Interpretation des Codex Iustinianus (II 4, 18. 43. Basil. z. d. St. I p. 704. 726 Heimbach) herangezogen.
Ausgaben: G. Haenel im Corpus iuris Romani anteiustiniani consilio professorum Bonnensium (sog. Bonner Corp. iuris) II 3ff. (1837); sie enthält das Material aus den damals bekannten voriustinianischen Rechtsquellen nach Büchern und Titeln geordnet. In der Vorrede p. Vf. findet sich eine Übersicht über die älteren Ausgaben. Die neueste Ausgabe ist die von P. Krüger in der von ihm, Mommsen und Studemund besorgten Collectio librorum iuris anteiustiniani III 221ff.; der Herausgeber hat, weil die Ordnung der Reste des C. G. nicht ohne eine gewisse Willkür möglich ist, auf eine solche verzichtet und zunächst (p. 224ff.) nur den in der Lex Romana Wisigothorum enthaltenen Auszug gegeben und sodann (p. 236ff.) eine Übersicht sämtlicher ausserhalb des Codex Iustinianus erhaltenen Fragmente in der mutmasslichen Ordnung des C. G. hinzugefügt, bei welcher aber nur diejenigen Stellen ihrem Wortlaute nach angeführt werden, welche nicht schon in anderen Teilen der Collectio (Collatio, Consultatio u. s. w.) zum Abdruck gekommen sind. So sehr Krügers Ausgabe der von Haenel in kritischer Hinsicht überlegen ist, so ist doch zu bedauern, dass man sich das Material erst durch Nachschlagen zusammensuchen muss.
Neuere Litteratur: Zimmern Gesch. d. R. Priv.-R. I 157ff. Puchta Inst.10 I § 135. Heimbach Leipz. Repertorium IX 11ff. 55ff. (1815, 1). Rudorff R. R.-G. I 274ff. Teuffel R. Litt.-Gesch. § 393. Huschke Ztschr. f. R.-G. V. VI 279ff. Karlowa R. R.-G. I 941ff. 951f. Krüger Quell. u. Litt. d. R. R. 278ff. Landucci Stor. d. dir. R. I² 248ff. Kipp Quellenkunde 53ff.