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Einsegnungsunterricht 1912
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2. Stunde.
Freitag 25. Okt., nachmittag
Lied 304, V. 1–5.
Psalm 1.
Kollekte S. 163, Nr. 10. Psalm 119, 17– 32.
Lied 308.

 Zu dem Reichtum der Heilserkenntnis, welche die Reformation uns vermittelt hat, gehört auch ihre klare Lehre über die Gnadenmittel. Sie hat am kürzesten ihren Ausdruck gefunden im 5. Artikel der Augsb. Konfession Nachdem im 4. Artikel die Hauptlehre der Reformation, der „Artikel der stehenden und fallenden Kirche“, die Lehre von der Rechtfertigung dargelegt worden war, geht mit Absicht das Bekenntnis nicht gleich zu dem weiter, was sich sachlich daran anzuschließen hätte – die Lehre von der Heiligung, vom neuen Gehorsam oder von den Früchten des Glaubens –, sondern es wird der Artikel eingefügt, der in den dermaligen Ausgaben der Augsb. Konfession überschrieben ist „vom Predigtamt“, der aber in Wahrheit überschrieben sein müßte: „von den Gnadenmitteln“, wobei bemerkt sei, daß die uns jetzt geläufigen Überschriften erst später beigefügt wurden. In diesem Artikel heißt es: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament gegeben“ [oder wie es nach lateinischem Texte heißt: „Solchen Glauben zu erlangen, ist eingesetzt der Dienst das Evangelium zu lehren und die Sakramente zu verwalten], durch welche, als durch Mittel, Er den heiligen Geist gibt, der den Glauben wirkt wo und wann er will in denen, so das Evangelium hören.“ Hier ist deutlich ausgesprochen, daß heilsordnungsmäßig die Wirkung des heiligen Geistes an die äußeren oder leiblichen Mittel des Wortes und der Sakramente geknüpft sind. Hier ist jeglicher Schwärmerei des bloßen Gefühlslebens gewehrt. Merkwürdig, wie die beiden andern Kirchen, – obwohl sie sich sonst aufs schärfste entgegengesetzt sind, – nach dem Grundsatz, daß Extreme sich berühren – hierin vielmehr schwärmerischen Richtungen Raum geben.

 Die reformierte Kirche löst die Geisteswirkung von den äußern Gnadenmitteln Wort und Sakrament ab, nimmt ein Überströmen des Geistes von Person zu Person an; die römische Kirche übertreibt zwar, wie bekannt, die Lehre von den Sakramenten sehr stark, aber sie gibt auch wieder schwärmerischem Einfluß Raum, insofern Visionen, d. i. Gesichte je und eine je bedeutende Rolle im Leben der katholischen Kirche und ihrer Vertreter gespielt haben.

|  Uns ist es klar und deutlich, daß in die Heilsordnung der heilige Geist durch Wort und Sakrament wirken will.

 Wenn wir nun von den Gnaden- und Kraftquellen des Christen- und Diakonissenlebens reden wollen, so müssen hierbei offenbar die Gnadenmittel in vorderster Reihe stehen. Wenn wir unsere Betrachtung begonnen haben mit der hl. Taufe, so war das aus dem praktischen Gesichtspunkt heraus geschehen, daß für uns in der Christenheit Geborene mit der hl. Taufe die Gnadenwirkung des hl. Geistes beginnt, daß hier die Quelle sich öffnet, die unser ganzes Leben mit dem belebenden Strom göttlicher Geisteswirkungen erfüllt. Wenn wir rein sachlich hätten vorgehen wollen, wenn wir nicht diesen praktischen Weg hätten einschlagen wollen, so hätten wir ja allerdings zuerst von dem Gnadenmittel des Wortes reden können; denn der Bedeutung nach ist das Wort das erste Gnadenmittel. Ohne Wort würden wir vor allem von den Sakramenten überhaupt nichts wissen; denn im Wort der Schrift ist uns die Einsetzung der Sakramente mitgeteilt. Ohne Wort könnte man die Sakramente nicht verwalten; denn es muß bei der Verwaltung der Sakramente das Wort der Stiftung in Anwendung kommen. Wir können weiter sagen: Das Wort enthält an und für sich all die Gnade, all das Heil, das zur Seligkeit der Menschen, zur Erweckung und Förderung eines Lebens aus Gott notwendig ist. Und endlich noch: aus dem Wort allein kann der Glaube, nämlich der bewußte Glaube kommen, ohne welchen die Sakramente zwar giltig bleiben, aber einen Segen, einen Nutzen nicht zu bringen vermögen. Wir reden nun heute:

vom Wort und von der Schrift

als der hervorragendsten Quelle der Gnade und vom Hören des Wortes und dem Lesen der Schrift, welches dann die Quellen der Kraft sind, die durch Wort und Schrift in uns gewirkt werden können.

 Was ist es Großes und Wichtiges überhaupt um das Wort. Die Sprache, hat man mit Recht gesagt, ist das Zepter der Menschheit, das Wahrzeichen der Herrschermacht, welche dem Menschen als Herrn der Schöpfung gegeben ist. Das Wort ist der Ausdruck davon, daß der Mensch denken und also auch selbständig wollen kann. In den Tieren finden sich mancherlei Anlagen, die mit den Geistesgaben der Menschen einige Ähnlichkeit besitzen, wie Gedächtnis und auch etwas von Verstand. Aber dem Tiere fehlt das Selbstbewußtsein, das Wissen von sich selbst und also die Möglichkeit, selbständigen, zielgemäßen Denkens. Die Tiere zeichnen sich z. B. durch ein erstaunliches Gedächtnis aus. vermag das kluge Pferd einen Weg zu finden, den es vor Jahren gemacht hat, so aber, daß es dabei deutlich an die sinnliche Erscheinung gebunden ist. Wenn es den Weg wiederkommt, klingt die Erinnerung gewissermaßen in ihm an, aber selbständig sich vorzustellen, welcher Weg sonst etwa| gemacht werden könnte, das ist beim Tier ausgeschlossen. Der Mensch kann denken und vermag die Ursachen der Dinge zu erforschen, er vermag zu verstehen und zu vernehmen, was die Dinge bedeuten, die in die sinnliche Erscheinung treten und von denen er eine sinnliche Wahrnehmung macht. Und im Zusammenhang damit vermag er Entschlüsse zu fassen, Pläne zu gestalten bis in die fernsten Zeiten. Hier zeigt sich das selbständige Denken und Wollen des Menschen, das ihn zur Herrschaft über die Erde, die Gott ihm zugewiesen hat, befähigt. Es ist mit Recht gesagt worden: Das Tier, auch wenn es die Sinneswerkzeuge dazu besitzt, kann nicht reden, weil es nichts zu reden weiß. Die menschliche Sprache aber ist der Ausdruck der Gedanken. Sie ist die Scheide, wie Luther sagt, in welcher das Schwert des Geistes steckt. So ist es um das Wort etwas Großes. Und was vermögen Worte zu wirken im Guten wie im Bösen. Im Guten hängt am Wort, an der Sprache alle Möglichkeit einer höheren Verständigung, einer Verständigung geistiger Art zwischen den Menschen. Alle Möglichkeit des Unterrichtens und Erziehens ruht darauf. Was haben Worte, die gesprochen, Reden, die gehalten worden sind, schon für Wirkung gehabt auf Tausende. Denken wir an die Zeit der Kreuzzüge, wo das Losungswort: „Gott will es“ Tausende mit fortriß. Denken wir an die Zeit der Reformation, wo das Wort von der Freiheit des Christenmenschen durchschlug und gewaltige Wirkung auf das Volk ausübte, oder an die Freiheitskriege, wo die Liedesworte und andere mächtige Reden gewirkt haben und einen hohen Aufschwung des deutschen Nationalgefühles hervorzurufen imstande waren. Aber freilich auch im Schlimmen hat das Wort nicht minder schon gewirkt. Denken wir an die Losungsworte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit,“ die übel verstanden jene furchtbare Bewegung hervorgerufen haben. Oder denken wir, wie heute noch in den Städten, das Bürgertum, auch wenn es sich noch zum Christentum hält, sofort gefangen ist, wenn das Wort Fortschritt in die Wagschale geworfen wird.
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 So Großes können Worte wirken, das Größte aber freilich kann das Wort wirken, von dem wir reden. Daß der Mensch reden kann, das ist der Erweis dafür, daß er Gottes Ebenbild ist; denn Gott, der ewig der Urquell alles Lebens und Seins ist, ist der Schöpfer der Geister, auch der Gedanken und Er hat Seine Gedanken auch im Wort kundgetan. Er hat durchs Wort die Welt geschaffen, wie wir wissen und der ewige Sohn ist selbst das Wort des Vaters, in dem der Vater gleichsam beständig sich selbst vernimmt und schaut. So ist in Gott selbst das Wort im höchsten Sinn gelegen und so hat Gott Seine Offenbarung an das menschliche Geschlecht ins Wort gekleidet. Zwar hat Gott im ganzen gesehen sich nicht offenbaren wollen auf dem Weg der Lehre sondern vielmehr durch Seine Heils- und Erlösungstaten, aber durchs Wort sind je und je diese Erlösungstaten Gottes gedeutet worden. Das Wort| ist immer das wichtigste Mittel bei allem Tun gewesen. So ist doch das Wort Gottes von Anfang an den Menschen gegeben, damit sie Gott erkennen und in Ihm und für Ihn leben sollen. So haben denn schon die Gläubigen des alten Testamentes das Wort gepriesen. Denken wir nur an den Psalm, aus dem wir eben zwei Abschnitte gemeinsam gebetet haben, den 119. Psalm, in welchem jeder Satz, jeder Vers ein Preis des göttlichen Wortes und seiner Kraft und Bedeutung ist. Das allerdings tritt im alten Testament noch nicht völlig klar heraus, daß die Wirkung des Geistes Gottes an das Wort geknüpft ist. Der Geist hat im alten Testament mehr noch im Einzelnen nur gewirkt und vielfach in unmittelbarer Weise einzelne Menschen in den Dienst göttlicher Absicht gestellt, aber nun ist diese Zusammengehörigkeit von Geist und Wort im neuen Testament recht klar und deutlich erschienen und zwar vor allem in der Person unseres Herrn Jesu Christi selber. In Ihm ist Geist und Wort im höchsten Sinn verbunden gewesen. Er ist selbst das Wort des himmlischen Vaters. Und auch als der Menschgeborene hat Er Sich mit dem göttlichen Geist erfüllen und ganz und gar von Ihm bestimmen lassen. Und so sagt Er von Sich Selbst, daß die Worte, die Er redet, Geist und Leben sind, Joh. 6, 63. Und so hat der Herr auch Geist und Wort miteinander in Verbindung gesetzt in Beziehung auf Seine Jünger. Johannis 15 wird es am deutlichsten gesagt: „Der heilige Geist, der vom Vater ausgehen wird, der wird zeugen von Mir und Ihr werdet auch zeugen, denn Ihr seid von Anfang bei Mir gewesen.“ Nicht ein doppeltes,ein verschiedenes Zeugnis ist hier gemeint, sondern eines. Der Geist soll zeugen durch die Jünger und die Jünger sollen zeugen in der Kraft des empfangenen Geistes. Und so wird es vom Herrn noch einmal unmittelbar vor Seinem Scheiden von der Erde, Apostelgesch. 1, den Jüngern gesagt: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird und werdet meine Zeugen sein bis an das Ende der Erde.“ So hat der Herr selbst das Wort, das ursprünglich von Ihm ausgeht und inhaltlich von Ihm zeugt, auf das engste mit der Wirkung des Geistes verknüpft. Und darum ist nun das Wort, das durch den Geist Jesu Christi geredet ist, die eigentliche Quelle der Gnade für uns Christen geworden. Das Wort ist es, wie kurz schon gesagt wurde, daß den Glauben, den persönlichen Glauben in uns wirkt. Menschliches Wort kann menschliche Überzeugung wirken; eine überzeugende Rede und Darlegung kann andere dahin bestimmen, daß sie eine irrige Meinung aufgeben und die Wahrheit, die ihnen deutlich dargelegt wird innerlich annehmen und fortan für sie eintreten. Was hier auf dem Gebiet des natürlichen Lebens durchs Wort gewirkt werden kann, das wirkt das Wort des Evangeliums in Beziehung auf das geistliche Leben. Wenn es im Ebräerbrief heißt, daß der Glaube sei eine gewisse Zuversicht des, daß man hoffet und nicht zweifelt an dem, daß man nicht siehet, so heißt dies letztere „die innere Überführung von Dingen, die man nicht siehet.“ Da wird deutlich die| Glaubensgewißheit in Gleichheit gestellt mit der Überzeugung, die menschliches Wort bei vernünftigen Menschen zu wirken vermag.
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 Das Wort von dem wir reden, ist zunächst mündlich an die Menschen ergangen. Gott hat von Anfang an Männer erwählt und gesandt, um an den Menschen Seine Aufträge und Befehle vollbringen zu lassen. Diese Männer haben zuerst mehr durch ihr Beispiel nach außen hin gewirkt; so Henoch, der ein göttlich Leben führte und Noah; doch wissen wir von beiden, daß sie auch im Wort geredet und Zeugnis gegeben haben von Gott und von den kommenden Gerichten. Ich erwähne dabei, daß, wenn es 1. Mose 4 von Enos heißt: „man hat zu seiner Zeit begonnen zu predigen beim Namen des Herrn“, so ist das zu übersetzen „man begann anzurufen beim Namen des Herrn.“ Nicht als ob das Gebet erst damals zur Zeit des Sohnes des Seth aufgekommen wäre, sondern es ist damit das öffentliche gemeinsame Gebet gemeint, der Gottesdienst, der hauptsächlich in der Anrufung durch Gebet und begleitendes Opfer bestanden haben wird, wenn vielleicht auch irgendwelche, ob auch kurze Mitteilung eines Wortes oder Darbietung einer Lehre oder Ermahnung nicht ganz gefehlt haben mag. Der Mann, der im alten Testament von entscheidender Bedeutung ist, sodaß sein Name das alte Testament schlechthin bezeichnen kann, nämlich Moses ist nun der erste Prophet gewesen, der erste Mann, durch welchen Gott zu den Menschen geredet hat. Bis dahin trug die Offenbarung vorherrschend die Art der Gotteserscheinung, von jetzt an gewinnt sie den Charakter der Prophetie; darin ist Mose allein schon bedeutsam. Wir wissen, daß er auch der Erlöser, der Retter und Führer des Volkes Gottes gewesen ist, daß er die Stelle eines Mittlers eingenommen hat zwischen Gott und dem Volk, wie das Galater 3 bezeugt, aber nicht die geringste Bedeutung dieses Mannes ist die gewesen, daß er auch der Anfänger der schriftlichen Niederlegung des Wortes gewesen ist. „Mose hat von Mir geschrieben,“ sagt der Herr ganz klar und deutlich. Und wenn damit auch nicht gesagt sein will, daß er jedes Wort der nach ihm in der Bibel genannten 5 Bücher Mose des ebräischen Kanons geschrieben haben muß, so bleiben wir im Gehorsam gegen Christi Wort dabei: Mose hat geschrieben und er hat alles das geschrieben, was als von ihm geschrieben sich ausdrücklich gibt. Wer anders sollte sonst der Verfasser dieses großen Werkes des alttestamentlichen Kanons gewesen sein? Er ist der Anfänger der heiligen Schrift. Die Propheten der früheren Zeit, die nach ihm kamen, haben die Aufgabe mündlicher Predigt gehabt; denn ihnen war der Beruf geworden, Israel zurückzuführen zu seinem Gott und seinem Gesetz. Doch ist von Samuel mit Sicherheit anzunehmen, daß er bei der schriftlichen Verabfassung der Bücher der hlg. Schrift beteiligt gewesen sein wird. Und vollends die späteren Propheten hatten den Auftrag was sie mündlich dem Volke zu bezeugen hatten, auch schriftlich niederzulegen und je mehr der Blick in die Zukunft sich richtete, um so bedeutsamer wurde| die schriftliche Verabfassung der Weissagungsreden. Der zweite Teil des Jesaia, in welchem der Prophet seinen Standpunkt ferne im Exil nimmt, enthält gar nicht mündlich gehaltene, sondern nur schriftlich verfaßte Reden. Das Buch Daniel, – mag es von ihm selbst verfaßt sein oder später von einem anderen auf Grund danielischer Niederschriften – auch dies Buch ist nur schriftlich niedergelegt und für die fernen Zeiten bestimmt. Daneben entstand in Israel auch sonst eine heilige Literatur, d. h. Schriftwerke, die von vornherein als Schriften vermeint sind. Nehmen wir das Buch Hiob, dies großartige Lehrgedicht, das von vornherein nur als schriftlich verfaßt denkbar ist.

 Im neuen Testament ist nun der Gang der Dinge ein ähnlicher gewesen. Das Evangelium von Christo ist zunächst mündlich verkündet worden durch die, welche der Herr als Seine Zeugen ausersehen hatte. Bald schon gab sich Gelegenheit, daß die heiligen Apostel in Ausübung ihres Apostelamts in treuer Obsorge für die Gemeinden, die sie begründet hatten unter den Heiden und die sie – zumal der große Apostel der Heiden – stets auf betendem Herzen trugen, schriftlich Weisung, Trost, auch Strafe und Zurechtweisung zukommen zu lassen. So sind die ältesten Bücher des neuen Testamentes, die Episteln oder wenigstens ein ansehnlicher Teil derselben entstanden. Später als die Zeugen dessen, das geschehen war in den großen Tagen der Fülle der Zeit, mehr und mehr dahingingen, ist das Evangelium auf Leitung und unter Antrieb des heiligen Geistes in Schrift verfaßt worden. Und wiederum das letzte Buch des neuen Testaments „das Buch der Weissagung“, „das Trostbuch der Kirche Gottes für die Zeiten des Endes“ ist nur als in Schrift verfaßt denkbar, weshalb wir dort wiederholt im Munde des Engels, durch welchen Jesus Seinem Knecht Johannes die Offenbarung gab, das Wort hören: „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß.“

 So besitzen wir denn das Wort Gottes als ein geschriebenes und wir sind dafür dem Geiste Jesu Christi und dem erhöhten Herrn der Kirche anbetenden Dank schuldig. Der Herr hat in jener Scheidestunde im hohenpriesterlichen Gebet aller derer gedacht, die durch der Apostel Wort an Ihn würden gläubig werden. Er hat auch unser nicht vergessen und er hat uns und den kommenden Geschlechtern zu gut Sein Wort in Schrift fassen lassen, damit es in Schrift fest und unbeweglich bleibe, daß wir ein Zeugnis Seiner Gnade hätten und ein wahres Licht und Recht, von dem die Losung ausgegeben werden kann: „Ja, nach dem Gesetz und Zeugnis“ oder vielmehr: „Zum Gesetz und Zeugnis“, wie Jesaias 8, 6 ausruft, gilt es sich zu sammeln, daran gilt es sich zu halten. Das Wort, das in der Schrift niedergelegt ist, wird als Wort Gottes von uns darum anerkannt, weil es von Gott eingegeben ist. Die göttliche Eingebung der heiligen Schrift hat sich dem menschlichen und christlichen Geistesleben entsprechend so vollzogen, wie schon unsere Väter sagten, daß der heilige Geist die Verfasser zum Schreiben antrieb, daß Er beim Schreiben die Sache selbst, die heilsame| Lehre, die heilige Geschichte dargeboten, sie dabei vor Irrtum bewahrt und in alle Wahrheit geleitet hat und daß Er ihnen die Fähigkeit und Kraft gab, den rechten Ausdruck für die dargebotenen Tatsachen des Heils zu finden. Der letztere Punkt ist der, den unsere Väter in einer zu scharfen Fassung der Sache, die „Verbalinspiration“, d. h. die wörtliche Eingebung der Schrift nannten. Insofern ist sie festzuhalten: Der Geist ist auch auf die Form und den Ausdruck der heiligen Schrift von Einfluß gewesen; denn Form und Sache lassen sich nicht trennen. Nur daß wir etwas mehr, wie unsere Väter es taten, die göttliche und menschliche Seite der Schrift zugleich beobachten und verstehen, ähnlich göttlich und menschlich zugleich wie überall das eine Große sich vollzieht in der Offenbarung: „Das Wort ward Fleisch.“ Das der unsichtbaren Welt Angehörende ist in die Sichtbarkeit der Welt eingetreten und uns dadurch nahe gekommen. Das ist es, was von der Offenbarung der Schrift zu sagen ist. Die Schrift ist demnach die Urkunde der Heilsoffenbarung. Wie großartig fügt sich Anfang und Ende der Schrift zusammen. Auf dem ersten Blatt der Bibel die Schöpfung der gegenwärtigen Erde und des gegenwärtigen Himmels, auf dem letzten die Neuschöpfung Himmels und der Erde und was dazwischen liegt, zeigt uns die große Geschichte, die gewaltigen Gottestaten, daß Gott das, was Er am Anfang gewollt und was die Sünde gestört hatte, doch einst herrlich hinausführen wird Ihm zum Preis: in einer Welt Gottes eine Menschheit Gottes, die Ihm dient. Von der Heilsoffenbarung Gottes in Seinen Heilswerken gibt uns die heilige Schrift völlige und reiche Kunde. Sie enthält darum alles, was notwendig ist für den Glauben und sie erweist auch die erneuernde, Glauben schaffende Kraft an den Seelen der Menschen. Darum steht „nicht zufällig“ auf der letzten Seite der Bibel die Aufforderung: „Wen da dürstet, der komme.“ Hier ist die Quelle der rechten Erkenntnis, hier ist die Quelle des seligmachenden Heiles, hier ist die Quelle alles göttlichen Trostes und zu dieser Gnadenquelle wollen wir fleißig und treulich herzutreten, wir wollen leben in der Schrift und im Worte um eine Kraftquelle in uns zu haben.
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 Wie nehmen wir nun das Schriftwort in uns auf? Denken wir erst einmal an den Unterschied von Schrift und Wort. Die Schrift ist die Urkunde der Heilsoffenbarung, die in den einzelnen Schriften niedergelegt ist; das Wort ist das den Seelen angebotene göttliche Zeugnis und Heil. Wenn also Wort und Schrift nicht ganz dasselbe sind, so gehören sie doch aufs engste zusammen. Das Wort der Predigt, das Wort als Gnadenmittel muß der Schrift entnommen sein und wiederum das dargebotene Wort muß an der Schrift immer auf’s neue geprüft werden, ob es sich also hielte. Und so bietet sich uns das Wort dar zunächst als das gepredigte. Die Predigt heißt die Verkündigung des göttlichen Wortes und diese Verkündigung schließt in sich sowohl Auslegung als Anwendung, muß aber ein Zeugnis sein, ein Zeugnis nämlich von der selbsterlebten Kraft und Wirkung des Wortes Gottes. Es wäre gewiß von Interesse, die Geschichte| der Predigt im Verlauf der Entwicklung der christlichen Kirche aufzuzeigen, denn man wird daraus leicht erkennen, wie es in den verschiedenen Zeiten mit der Auffassung des Wortes Gottes bestellt war. Soviel uns aufbewahrt ist, trug in der ältesten Kirche die Predigt mehr die Form kurzer Rede, kurzen Zeugnisses; in der morgenländischen Kirche bildete sich eine Kunstpredigt heraus mit allen Mitteln der menschlichen Redekunst. Johannes Chrysostomus, der Goldmund, wie sein Zuname bedeutet, bezeichnet den Höhepunkt. Die abendländische Kirche hat die Predigt etwas mehr mit den Lektionen (Perikopen) verknüpft, aber freilich die Auslegung ist sehr vielfach eine allegorische gewesen und die Predigt in der Volkssprache tritt mehr zurück trotz der Mühe, die Karl der Große, der Schöpfer des Perikopen-Systems, sich nach dieser Richtung gegeben hat. In der Zeit gegen die Reformation hin hat – wie eine Vorbereitung auf das, was kommen sollte – die Predigt einen Aufschwung genommen. Es waren auf der einen Seite die Bettelorden, die es für ihre Aufgabe ansahen, dem Volk zu predigen, auf der andern Seite die Mystiker, die auf das innere Erleben und Erfahren der göttlichen Wahrheit ihr ganzes Augenmerk richteten und sich ebenfalls getrieben sahen, dem Volk in Predigten – soweit sie es vermochten – den Weg zum Leben in Gott zu zeigen. Erst durch die Reformation ist die Predigt wieder, oder überhaupt erst ganz und völlig in den Mittelpunkt des Gottesdienstes getreten. Sie hat den richtigen Inhalt gewonnen als das Zeugnis von der rechtfertigenden Gnade, als die Predigt von der Buße und dem Glauben und sie hat ihren Grund jetzt erst gesunden – nämlich auf dem Wort der Schrift. Seit den Tagen der Reformation hat die Predigt der Form nach all die Wandlungen mitgemacht, die das menschliche Geistesleben und die Geschmacksrichtung der Zeit aufwiesen, aber sie ist doch – soweit sie lutherische Predigt war – immer das Zeugnis von der Gnade Gottes in Christo geblieben.
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 Die Predigt kann, wie man gewöhnlich sagt, entweder eine analytische oder mehr synthetische Predigt sein. Unter analytischer versteht man die Predigtweise, daß man vom Text gleichsam rückwärtsgehend zeigt, welche Gedanken ausgesprochen sind und welche Anwendung gemacht werden kann um zuletzt eine Zusammenfassung zu geben, während die synthetische von einem Thema ausgeht und das nach allen Seiten ausführt und darlegt. Auch eine Verbindung der beiden Weisen ist möglich, daß man ein Thema sucht, das den Inhalt des dargebotenen Textes darstellt und dann in der Ausführung immer wieder auf den Text zurückgeht. Jedenfalls muß als Forderung an die evangelische Predigt, besonders in der Gegenwart festgehalten werden: sie muß biblisch, textgemäß sein. Die moderne Predigt, auch wenn sie auf dem Standpunkt gläubiger Anschauung steht, hat den Boden des Biblischen verlassen, sucht den Bedürfnissen der Zeit entgegenzukommen durch Hereinnahme aller möglichen interessanten Bezugnahmen auf das Leben der Gegenwart. Das wird aber gewiß nicht| der Weg sein, auf dem man an die Gewissen kommt. Das Wort der Wahrheit ist und bleibt es, das wie ein Hammer die Felsen zerschmeißt, die Herzen klein und damit empfänglich macht für die Wahrheit. Das Wort der Wahrheit vermag Herz und Gemüt auszurichten und zur freudigen Erfassung des Heils zu bringen.

 Die Predigt muß nur fleißig gehört werden. Das braucht den Schwestern unseres Hauses nicht ans Herz gelegt zu werden, aber dies, daß es ein Hören sein muß, das zugleich zur Tat wird, ein Hören und Tun des göttlichen Wortes, daß man das Wort, das dargeboten wird, auch wirklich hält. So will es der Herr haben: „Lehret sie halten, was Ich euch geboten habe.“ Man muß das Wort an sich wirken lassen Buße und Glauben an die Gnade und den Antrieb zur Heiligung, so daß das Wort wirklich in unseren Herzen Wurzel faßt.

 Es kann das Darbieten des Wortes auf dem Weg mündlicher Verkündigung auch die Gestalt der Bibelauslegung haben, sogen. Bibelstunden, wo man das Wort Vers für Vers durchspricht, um das Verständnis desselben zu eröffnen, wo man beim Bibelwort selber bleibt, um die Schriftkenntnis zu befördern, während die eigentliche Predigt mehr die Heilserkenntnis im Auge hat. Bibelbesprechungen werden in der Gegenwart mit Recht vielfach empfohlen, um auf dem Weg der Fragestellung und der Besprechung leichter in Sinn und Meinung des Schriftworts einzudringen.

 Wir gehen vom Hören des Worts über zum Lesen des Buches, das uns eine Quelle der Gnade im höchsten Maße ist und bleibt.

 Die Schrift kann auf die mannigfachste Weise gelesen werden, zunächst im Dienst der Schriftkenntnis selbst und hiezu ist ein fortlaufendes Lesen der biblischen Bücher erforderlich, wie es nicht minder erforderlich ist, daß ein evangelischer Christ die ganze Bibel doch wenigstens einmal gelesen haben muß und wenn ihm die Zeit verstattet ist, wohl wiederholt den Vorsatz faßt, die ganze Schrift von Anfang bis Ende durchzulesen zum Zweck der Schriftkenntnis. Im Dienst der Heilserkenntnis wird es mehr auf das Vergleichen der verschiedenen Stellen und Schriftaussagen ankommen. Wenn man z. B. über irgend einen Punkt der Heilserkenntnis ins klare kommen will, wie etwa über die Bedeutung des alttestamentlichen Gesetzes oder des Volkes Israels oder über die Lehre von der Heiligung, so wird es sich darum handeln, daß man die Stellen aufsucht, in welchen diese Punkte irgend zur Aussage kommen. Es kann die Schrift ferner gelesen werden im Sinne der betrachtenden Anwendung auf sich selber, das führt auf die Meditation, d. h. das ernstliche Nachdenken über ein Schriftwort und das Bestreben, dasselbe strafend, ermahnend, aufrichtend auf sich selber anzuwenden. In diesem Sinn ist bekanntlich die stille halbe Stunde, als eine ursprüngliche Einrichtung des hiesigen Hauses, von Löhe gemeint. Es kann die Schrift gelesen werden im Sinn der Heiligung der Tagesarbeit und darin liegt die Bedeutung der Tagessprüche oder Losungen, die so gemeint sind, daß man sie den Tag über im Herzen bewegen soll mitten in den täglichen| Geschäften. Es kann die Schrift gelesen werden im Dienst des verordneten Kampfes, des Kampfes wider die Sünde, zum Halt in innerer Not und hier wird es sich darum handeln, die einzelnen Stellen zu suchen und die wohl einzuprägen, die man braucht. Hiefür wird das Unterstreichen einzelner Stellen oder das Zusammenstellen von Trostworten rätlich sein, wie wir von dem seligen D. Thomasius, dem eine Schwester unseres Hauses die letzten Liebesdienste erwiesen hat, wissen, daß er sich längst schon für die Todesstunde die Stellen zusammengestellt hatte, durch die er sich aufrichten wollte im letzten Kampf und Strauß. Und hier ist auch das Auswendiglernen dieser entscheidenden Stellen so notwendig, ja unentbehrlich, um für die Zeit ernsten schweren Kämpfens und Ringens eine Kraftquelle zu besitzen, woraus die Seele sich nehmen kann was sie braucht.

 Ein weiterer Gebrauch der Schrift ist der im Dienst anderer, daß man aus der Schrift sich diejenigen Worte sucht und merkt, die man im Beruf an Kranken und Sonstigen, des Trostes Bedürftigen verwenden kann. Wer regelmäßig Kranke besucht und ihnen aus der Schrift vorliest, tut gut, sich einen Plan zu machen oder aufzuschreiben und wohl zu merken, was schon dargeboten wurde. Auch das bedarf der Erwähnung nicht, daß es gilt, täglich in der Schrift zu lesen, allein und gemeinsam mit andern ein kurzes Wort oder eine längeren Abschnitt. Auch das Lesen von Schrifterklärungen dürfen wir noch anfügen, die für das Schriftverständnis unentbehrlich sind. Es ist zu nennen Dächsels Bibelwerk, Rupprechts Volksbibel, die neue Stuttgarter Jubiläumsbibel, auch die Schlatterschen Auslegungen für das neue Testament können empfohlen werden. Hiezu kommt das Lesen von Predigten und sonstigen Erbauungsbüchern.

 Es sind das nur kurze Andeutungen, die ich damit geben wollte. Zu dieser Quelle der Gnade wollen wir uns fleißig halten und die Kraftquelle uns nicht entgehen lassen, die das Halten des Wortes und das Lesen der Schrift uns werden kann.

 Es ist mit Recht gesagt worden, daß die deutsche Sprache vielfach durch die Sprache der Bibel beeinflußt worden ist. Rudolf von Raumer hat ein Buch geschrieben über den Einfluß des Christentums auf die hochdeutsche Sprache. Wir wissen, daß Luthers Übersetzung für die Gestaltung der jetzigen Schriftsprache entscheidend geworden ist. Auch der Theologe Zahn hat ein Büchlein verfaßt, um zu zeigen wie die Redeweise unseres Volkes von der Schrift her beeinflußt worden ist und heute noch unbewußt unter ihrem Einfluß steht.

 Aber freilich, wir sollen nicht nur die Sprache Kanaans, die Sprache der Schrift reden, sondern es soll unser Denken und Reden von der Schrift, vom Wort aus beeinflußt sein. Das Wort ist die wichtigste Quelle der Kraft und des Heils und des Trostes. Das Wort ist es, das unsere Augen erleuchtet, daß wir den Weg sehen, der zum Himmel führt. Das Wort ist es, das uns| Heil darbietet, das den Glauben in uns wirkt, das Wort ist es, das Kraft im Kampf der Heiligung gibt, Trost darreicht für trübe Zeiten, Trost und Halt im letzten Stündlein ist. So wollen wir das Wort nicht gebrauchen wie eine Arznei, sondern als tägliche Nahrung der Seele.
Dein Wort sei meine Speise
Bis ich gen Himmel reise.





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