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der Predigt im Verlauf der Entwicklung der christlichen Kirche aufzuzeigen, denn man wird daraus leicht erkennen, wie es in den verschiedenen Zeiten mit der Auffassung des Wortes Gottes bestellt war. Soviel uns aufbewahrt ist, trug in der ältesten Kirche die Predigt mehr die Form kurzer Rede, kurzen Zeugnisses; in der morgenländischen Kirche bildete sich eine Kunstpredigt heraus mit allen Mitteln der menschlichen Redekunst. Johannes Chrysostomus, der Goldmund, wie sein Zuname bedeutet, bezeichnet den Höhepunkt. Die abendländische Kirche hat die Predigt etwas mehr mit den Lektionen (Perikopen) verknüpft, aber freilich die Auslegung ist sehr vielfach eine allegorische gewesen und die Predigt in der Volkssprache tritt mehr zurück trotz der Mühe, die Karl der Große, der Schöpfer des Perikopen-Systems, sich nach dieser Richtung gegeben hat. In der Zeit gegen die Reformation hin hat – wie eine Vorbereitung auf das, was kommen sollte – die Predigt einen Aufschwung genommen. Es waren auf der einen Seite die Bettelorden, die es für ihre Aufgabe ansahen, dem Volk zu predigen, auf der andern Seite die Mystiker, die auf das innere Erleben und Erfahren der göttlichen Wahrheit ihr ganzes Augenmerk richteten und sich ebenfalls getrieben sahen, dem Volk in Predigten – soweit sie es vermochten – den Weg zum Leben in Gott zu zeigen. Erst durch die Reformation ist die Predigt wieder, oder überhaupt erst ganz und völlig in den Mittelpunkt des Gottesdienstes getreten. Sie hat den richtigen Inhalt gewonnen als das Zeugnis von der rechtfertigenden Gnade, als die Predigt von der Buße und dem Glauben und sie hat ihren Grund jetzt erst gesunden – nämlich auf dem Wort der Schrift. Seit den Tagen der Reformation hat die Predigt der Form nach all die Wandlungen mitgemacht, die das menschliche Geistesleben und die Geschmacksrichtung der Zeit aufwiesen, aber sie ist doch – soweit sie lutherische Predigt war – immer das Zeugnis von der Gnade Gottes in Christo geblieben.

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 Die Predigt kann, wie man gewöhnlich sagt, entweder eine analytische oder mehr synthetische Predigt sein. Unter analytischer versteht man die Predigtweise, daß man vom Text gleichsam rückwärtsgehend zeigt, welche Gedanken ausgesprochen sind und welche Anwendung gemacht werden kann um zuletzt eine Zusammenfassung zu geben, während die synthetische von einem Thema ausgeht und das nach allen Seiten ausführt und darlegt. Auch eine Verbindung der beiden Weisen ist möglich, daß man ein Thema sucht, das den Inhalt des dargebotenen Textes darstellt und dann in der Ausführung immer wieder auf den Text zurückgeht. Jedenfalls muß als Forderung an die evangelische Predigt, besonders in der Gegenwart festgehalten werden: sie muß biblisch, textgemäß sein. Die moderne Predigt, auch wenn sie auf dem Standpunkt gläubiger Anschauung steht, hat den Boden des Biblischen verlassen, sucht den Bedürfnissen der Zeit entgegenzukommen durch Hereinnahme aller möglichen interessanten Bezugnahmen auf das Leben der Gegenwart. Das wird aber gewiß nicht