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aus: Der Vampir (Reymont)
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Zweites Kapitel

Ein scheußlicher Tag,“ rief Zenon und schüttelte sich vor Kälte.

„Ein schrecklicher, widerlicher, ekelhafter Tag,“ wiederholte mit neckischer Lustigkeit ein reizendes hellblondes Mädchen, als es mit ihm die gewaltige Säulenhalle von St. Paul verließ und die breiten, feuchten und glatten Stufen betrat.

„Ein dreimal ekelhafter Tag, es ist kalt, feucht und neblig, ich habe beinah schon vergessen, wie die Sonne scheint und wärmt.“

„Das ist Übertreibung und Exaltation, wie Tante Ellen zu sagen pflegt.“

„Also Sie haben in diesem Jahre schon einmal Sonne in London gesehn?“

„Aber es ist doch erst Februar.“

„Haben Sie denn überhaupt schon irgend einmal Sonne in England gesehn?“

„Oh Mr. Zeno, daß nur Tante Dolly nicht sagt: Hüte dich, Betsy, denn dieser Mensch betet die Sonne an, wie ein Parse, – er scheint ein Heide zu sein,“ drohte sie ihm lächelnd und ahmte die komische Stimme der Tante nach.

„Aber hat es denn seit November auch nur auf einen Augenblick Sonnenschein in London gegeben? Nichts [28] als Nebel, Regen, Sturm und Schmutz, und ich habe doch keine Gummihaut, – ich fühle manchmal, wie ich zu Gallert werde, mich in Nebel- und Wasserströme verwandle.“

„Aber in Ihrer Heimat gibt es doch auch nicht immer Sonne,“ flüsterte sie leise.

„Ja, Miß Betsy, sie ist fast täglich da, und jetzt an diesem Tage, heute, leuchtet sie bestimmt, ihre Strahlen funkeln zauberhaft schön und glitzern in den Schneemassen,“ sprach er, seine Stimme senkend, als schaue er in die Ferne plötzlicher blendender Erinnerungen.

„Die Sehnsucht,“ sagte sie ganz leise und merkwürdig traurig.

„Ja, die Sehnsucht, die wie ein Geier herunterschießt und mit scharfen Krallen die Seele schmerzhaft zerfleischt, die wie ein Schrei aus der Seele dringt, aus dem tiefsten Grunde längst vermoderter Tage, die uns wie ein Orkan dahinträgt … wie ein Orkan. Lange schon, ganze Jahre, ist sie nicht mehr zu mir gekommen; ich dachte, ich trüge nur tote Schatten in mir, wie jedes gestorbene Gestern sie wirft. Doch die heutige Andacht, die Kirche, die Gesänge haben den Staub vergangener Zeiten zu neuem Leben erweckt, haben ihn belebt.“

„Mr. Zen …“ flüsterte sie und ergriff zärtlich seine Hand.

„Was, Betsy, was?“

„Einmal wirst du mich dorthin bringen, wir werden zu diesen Schneemassen fahren, die in der Sonne glitzern, zu jenen Tagen der Sonne wollen wir fahren, zu jenem warmen Lichte.“

[29] „Des Glückes, Betsy, zu den ersehnten Tagen des Glückes,“ rief er leidenschaftlich, indes seine fieberig glänzenden Augen ihr helles Köpfchen umfingen, so daß sie sich voll glücklichen Erbebens, voll Freude über jenes glänzende ‚morgen‘ abwandte, daß ihre Lippen zitterten und das weiße Gesichtchen sich, weißen Rosenblättern ähnlich, strahlend erhellte, daß sie rosig und freudeduftend wie der Morgen wurde und wie ein heißersehnter Kuß verlockend.

Sie verstummten, denn sie merkten plötzlich nach dieser freudigen Erregung, daß die Granitstufen merkwürdig glatt und steil waren, daß wundersame Gesänge immer noch aus der Kathedrale drangen, daß rings um sie her eine Menge Leute mit strengen, rügenden Blicken waren. Sie begannen eilig die Treppen hinunterzugehen, dem Platze, den grauen traurigen Straßen entgegen, unter schwere, niederdrückende Wölbungen, in den Nebel hinein, der in zerrissenen, schmutzigen, graugelben Fetzen herunterhing, in diesen beweglichen, klebrigen, kalten, scheußlichen Nebel, aus dem schmutziger Regen troff.

Da es Sonntag war, waren die Straßen fast leer und ganz still, sie erschienen wie schwarze Tunnel, zugedeckt vom Nebel, der, wie Watte, die man von Wunden genommen, gleichsam von Eiter durchtränkt schien, und der in schwammigen Knäueln immer tiefer in die Straßen hinabfiel, die Häuser überschwemmte und mit seiner schmutzigen Flut die ganze Stadt ersäufte.

Die Geschäfte waren geschlossen, alle Türen verrammelt, die Bürgersteige fast leer, und die schwarzen Häuser standen traurig und wie in Todesstarre da, – [30] ein Gewirr von steinernem Elend, voll von beengendem Schweigen, völlig erblindet, denn alle Fenster waren verhüllt; nur hier und dort in den höheren Stockwerken, die ganz im Nebel verschwanden, flackerte ein verlorenes Licht. Die Augen irrten verzweifelt in dieser traurigen Nebelöde, denn sogar die Farben der unzähligen Schilder leuchteten nur matt, in ausgesogenen, toten Farben.

Die Luft war drückend schwer, von Feuchtigkeit durchtränkt, von einem Geruch nach Schmutz und aufgeweichtem Asphalt gefüllt; und von allen den im Nebel unsichtbaren Dächern, von allen Balkonen, von allen Schildern ergossen sich Ströme aufspritzenden Wassers, es tropfte von allen Seiten, die Traufen dröhnten dumpf und unaufhörlich, als bärgen sie unzählige Gießbäche.

„Welchen Weg wollen wir gehen?“ fragte er und spannte den Schirm auf.

„Am Strand, denn das ist der nächste.“

„So eilig haben Sie’s, nach Hause zu kommen?“

„Mir ist kalt, das ist der Grund.“

„Also werden wir heute nicht auf die Tanten warten?“

„Wir werden ihnen wenigstens einmal eine Überraschung bereiten, – sie werden uns suchen und nicht finden.“

„Ohne sehr bissige Kommentare wird es da nicht abgehen.“

„Ich werde sagen, es wär’ Ihre Schuld, ätsch …!“

„Es ist gut, ich werde mich wehren, und zwar tüchtig; das ist doch schon langweilig, so jeden Sonntag [31] wie von Amts wegen in die Kirche laufen zu müssen.“

„Ach, und wie langweilig, wie langweilig das ist! Nur erwähnen Sie nichts davon zu Hause, alle Tanten wären gegen Sie!“ rief sie fröhlich und schmiegte sich an seinen Arm.

„Würden Sie mich in Schutz nehmen, wie?“

„Nein, nein, denn auch ich bin schuldig, denn auch mich langweilt das …“

„Weswegen gehorchen Sie dann einem Zwange, der Ihnen so unangenehm ist?“

„Weil ich eine fürchterliche Angst vor den Tanten habe. So oft ich mich gegen sie auflehnen wollte, brauchte nur Tante Dolly hinter ihren Brillengläsern hervor mich anzuschauen und Tante Ellen zu sagen: Betsy! – und schon war’s vorbei mit mir … Ich kann kein Wort mehr sagen, nur weinen möchte ich, und es ist mir so peinlich, so peinlich …“

„Miß Betsy, Sie sind noch ein großes Kind.“

„Aber einmal werde ich doch auch erwachsen sein, nicht wahr?“ fragte sie süß. „In einem Jahr, da werde ich doch sicher erwachsen sein,“ fügte sie mit einem Lächeln hinzu und barg ihr Gesicht im Muff; sie war errötet: in einem Jahr sollte ihre Hochzeit sein.

„O ja, ja,“ rief er lustig und sah ihr in die Augen. „Ja, in einem Jahre wird Betsy erwachsen sein, in zehn Jahren sogar eine Dame, in zwanzig eine achtunggebietende Matrone, und in vierzig wird Miß Betsy wie Miß Dolly sein, alt, grau, gebückt, wird die Bibel lesen und wird die Jungen nicht mehr leiden [32] „können und das Lachen und die Feste hassen, – Miß Betsy wird langweilig sein und nach Kampher riechen!“

„Nein, nein, nie werde ich so sein, niemals,“ protestierte sie klagend, beinahe entsetzt über diese Möglichkeit, an die sie noch nie gedacht hatte.

Auch er wurde traurig; denn da er im Scherz ein so fernes Bild zeichnete, zuckte er plötzlich zusammen, wich wie in seine eigenen Tiefen zurück vor diesem merkwürdigen Spuk, der plötzlich vor seinen Augen vorbeihuschte.

Da kam Betsy ihm entgegen, Betsy, alt, gebeugt, elend, aller Anmut bar, die Ruine eines Menschen; sie ging wankend, stützte sich auf einen Stock und schaute ihn an, mit den eingefallenen Augen eines unergründlichen Schmerzes.

Er stockte entsetzt, doch ehe er imstande war, seine Gedanken zu sammeln, zerfloß die Erscheinung im Nebel, auf dem Trottoir war niemand zu sehen, und ganz nahe bei ihm, an seinem Arme hängend, ging Betsy, strahlend wie eine Blume, Betsy, der Frühlingsduft selbst, die fleischgewordene Jugend … Da lächelte er sie zärtlich an, als wäre er plötzlich aus einem schrecklichen Traum erwacht.

„Was suchen Sie?“ fragte sie, als er sich mißtrauisch umschaute; denn er wußte nicht, ob das, was er gesehen hatte, in ihm oder vor ihm erschienen war?

„Es schien mir, als ginge da ein Bekannter vor uns.“

„Ich konnte niemand sehen, vielleicht haben Sie zwei Paar Augen,“ sagte sie lustig zwinkernd und sah ihm dabei ins Gesicht.

[33] „Vielleicht,“ kam es gepreßt von seinen Lippen, und er erbleichte im plötzlichen Gefühl des Grauenhaften dieser Erscheinung. Ihn durchdrang der lähmende Schauer des Rätsels, doch er beherrschte sich bald und schnell, unmerklich versenkte er seine Falkenaugen in ihr Gesicht, in ihr Haar; er kroch in die Tiefe ihrer saphirblauen, von schwarzen Wimpern umrahmten Augen, umfing ihren schlanken, jungen Leib, lauerte auf ihre Bewegungen, als wolle er unwillkürlich ihre Identität, ihr wirkliches Dasein feststellen.

Er zuckte voll Abscheu zusammen; denn jenes Gespenst war geradezu häßlich und widerlich gewesen. Und trotz alledem konnte er die Vergleiche nicht einstellen, noch ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe und des Gequältseins unterdrücken, so daß er nicht einmal ihre Fragen hörte. Zum Glück versperrte ihnen an der Ecke der Fleetstreet unter einem beweglichen Dache von Schirmen eine Menge von Menschen den Weg, die sich um einen laut predigenden Mann versammelt hatten.

Sie kamen näher, bis an die hohe, transportable Rednertribüne, auf der unter einem Schirm ein hochgewachsener, roter und wohlbeleibter Mann stand und, während er unaufhörlich den aufgespannten Schirm von einer Hand in die andere nahm, mit heiserer, salbungsvoller Stimme eine Art Predigt herunterschrie, die mit Bibelgleichnissen und Zitaten dicht durchsetzt war … Zuweilen schrillte er einen leidenschaftlich drohenden Schrei hervor und blieb mit ausgebreiteten Armen gleichsam in der Luft [34] hängen … Dann trat ein Weib auf in schwarzem Kleide, mit einer großen grünen Feder auf dem Hut, bleich und hager, und schlug mit solcher Kraft einen ungeheuer großen Tamtam, daß die Menge zurückwich; vier Kinder in langen, weißen, durchnäßten und beschmutzten Kleidern, mit Flügeln an den Schultern, begannen mit piepsenden Stimmen eine Hymne zu singen und um die Tribüne herumzutanzen, wie um die Bundeslade.

Der Prediger war der Begründer einer neuen Sekte, der Sekte der „Furcht“.

Er sagte das nahe Weltende voraus, verlangte allgemeine Buße, Verteilung aller Erdengüter, Zerstörung der Städte, Einstellung jeglicher Arbeit, und daß man hinausziehe in die Wälder und Felder für diese Tage der letzten Läuterungen.

Er predigte wild, aber mit hinreißender Kraft, und beachtete die Zuhörer, die ihn verlachten, gar nicht. Jemand warf ihm eine brennende Zigarre ins Gesicht, ein anderer bespritzte ihn mit Wasser, und die übrigen begleiteten seine Zitate mit gemeinen Witzen und einem blöden, viehischen Lachen; doch am Ende überwältigte er sie durch die Stärke seiner Begeisterung, beherrschte er sie und nahm von ihren Seelen Besitz. Sie verstummten allmählich und fingen an aufzuwachen; ein Trunkenbold fiel vor der Tribüne auf die Kniee und wollte laut seine Sünden beichten, ein Weib wieder bedeckte mit seinem eigenen Mantel die vor Kälte ganz blauen Kinder, viele hörten schon aufmerksam zu; und als das schwarze Weib mit der grünen Feder auf einem Teller einzusammeln begann, [35] fielen eine Menge Pence, sie aber verteilte dafür Sentenzen aus der Apokalypse, die auf rotes Papier gedruckt waren, und die Adressen der Kirche, in der sich die Gläubigen zu gemeinsamen Betrachtungen zu versammeln pflegten.

Betsy warf einen ganzen Schilling hin, was der Redner trotz seines ekstatischen Zustandes blitzschnell bemerkte, denn er fing aus Leibeskräften zu rufen an:

„Eine Bekehrte, seht eine Sodomiterin, sie ist bekehrt!“

„Gehen wir jetzt, gehen wir,“ bat sie, unter den vielen Blicken errötend.

„Gehen wir, denn noch einen Schilling, und er erklärt Sie für heilig.“

Sie glitten aus der Menge und gingen schnell über das leere Trottoir dahin.

„An jener Ecke dort wird man auf die gleiche Weise erlöst,“ bemerkte er ironisch.

Es war wirklich so, auch dort, etwas tiefer in einer schwarzen, schmalen Gasse, die fast ganz in Nebel versunken war, ertönte die schreiende und doch salbungsvolle Stimme eines Straßenpredigers, auch dort hatten sich einige Vorübergehende angesammelt, auch dort wurde ein Tamtam geschlagen, sang man Lieder, verfluchte die Sünde, rief zur Buße auf, erlöste man, sammelte Geld ein und verteilte Auszüge aus der Heiligen Schrift, die auf hellgrüne Karten gedruckt waren und wie junge Blätter auf das schmutzige Trottoir flatterten.

„Es gibt zu viel von diesen Welterlösern!“

„Sie denken, daß das alles Gaukler und Betrüger sind?“

[36] „Ich weiß nicht. Ich weiß nur eins: daß ihre Herrschaft bloß so lange dauert, bis die Schenken geöffnet werden, denn später fehlt es an Zuhörern und Geld.“

„Ist es schon lange her, daß Sie meinen Bruder gesehen haben,“ fragte sie ihn ganz unerwartet.

„Vor drei Tagen war ich bei ihm auf einer Seance.“

„Er beschäftigt sich also immer noch mit Spiritismus!“ rief sie voll Empörung.

„Verzeihung, ich wußte nicht, daß er dies vor Ihnen verheimlicht …“

„Nein, nein, ich dachte nur, daß er es schon längst aufgegeben hätte, denn er erwähnte nichts davon, nein … Aber auch Sie beschäftigen sich damit?“ fragte sie ängstlich.

„Ach nein, ich war auf der Seance, aber ich beteiligte mich nicht unmittelbar daran, denn ich spielte, oder vielmehr, ich begann zu spielen und schlief am Harmonium ein; man weckte mich, als schon alles vorüber war.“

„Sie glauben doch nicht an diese Sachen, nicht wahr?“ fragte sie beinahe bittend.

„Vor allen Dingen weiß ich nichts, ich habe nichts gesehen, ich behaupte nichts und bestreite nichts, denn ich befasse mich nicht damit.“ – Er hatte sich in diesem Augenblick plötzlich der wunderbaren Doppelexistenz Daisys erinnert, doch er erwähnte kein Wort davon, um ihr nicht Angst zu machen …

„Yoe war schon über zwei Wochen nicht mehr zu Hause, und doch ist sein Urlaub bald zu Ende, und er muß wieder ins Regiment,“ klagte sie leise.

[37] „Soviel ich von ihm selbst weiß, geht er nicht mehr in den Dienst zurück.“

Betsy blieb erstaunt stehen.

„Er geht nicht zurück; du lieber Gott, das wird den Vater aber betrüben,“ seufzte sie.

Mr. Zenon begann mit Begeisterung den Entschluß des Freundes zu entschuldigen, er schilderte das Soldatenleben in den schwärzesten Farben, als sei es unwürdig eines solchen Ausnahmemenschen, wie Mr. Yoe einer war, doch Betsy nickte nur traurig mit dem Kopfe.

„Was wird der Vater dazu sagen? Jetzt wird das Leben in unserem Hause ganz unerträglich werden … Ich fühle es voraus, Vater wird sich für immer mit ihm entzweien … Er wird ihm nicht verzeihen … Die Tanten werden ihn enterben … Was wird er anfangen … Was werde ich jetzt anfangen?“

Sie konnte die Tränen nicht mehr halten.

„Aber Miß Betsy, zähle ich denn schon gar nicht mehr?“

„Manchmal fürchte ich sehr, daß auch Ihnen, Mr. Zen, unser Haus unerträglich werden könnte; die Tanten werden Sie langweilen, Sie werden sich mit Vater erzürnen, Sie werden mich nicht mehr ausstehen können; ach, was weiß ich, was geschehen wird! Genug, eines Abends werden Sie gehen, und ich werde Sie nie mehr sehen, nie mehr.“ Angst schluchzte in ihrer Stimme.

„Das sind unnötige Befürchtungen, denn wenn mir auch die Tanten langweilig werden sollten, wenn ich mich auch mit Ihrem Vater entzweien sollte, so werde [38] „ich zwar Euer Haus verlassen, aber zusammen mit dir, Betsy, zusammen mit dir, und für immer,“ sagte er stark.

„Zusammen und für immer,“ rief sie freudig, in flammender Begeisterung. – „O Mr. Zen!“

„Was, mein Kind, was?“ fragte er herzlich, da er sah, daß sie zögerte.

„Wie ich dich schrecklich … schrecklich … Nein, ich kann es jetzt nicht, ich kann nicht … Später werde ich’s sagen, am Abend …“

Sie wendete verschämt ihr Gesicht ab.

Er lächelte dankbar und fragte nicht mehr, denn er wußte, welches Wort auf ihren zitternden Lippen geschwebt und in den plötzlich erstrahlenden Augen geleuchtet hatte.

Sie gingen jetzt schweigend dahin, ganz erfüllt von dem Rhythmus dieser unausgesprochenen Worte, voll der leisen Melodie der Liebe und des tiefen Glaubens aneinander. Sie vergaßen ihr Gespräch von vorhin, sie fühlten weder Kälte, noch Regen, noch Nebel, noch auch die Traurigkeit dieses schrecklichen Tages, sie gingen dahin wie über plötzlich erblühte Wiesen, die ihre ganze Frühlingsblumenpracht entfaltet hätten. Sie gingen durch grüne, duftende, sangerfüllte Haine der Liebe, durchkosteten jene Augenblicke völligen Glückes, die voll von Zauberkraft und Entzücken sind.

Sie schwiegen, denn teuer und ersehnt war ihnen diese äußere Ruhe, sie verbargen sich darin vor sich selbst, wie in einem flammenden Dickicht, wie in einem Nebel schamhafter Scheu, um mit Blicken zu reden, mit Händedrücken, mit einem Seufzer, der [39] leidenschaftlicher war als Worte, mit einem Lächeln, das unzählige Küsse, Verheißungen und unendliches Verlangen barg, voll von jenem Toben des Blutes und voll von dem, was unfaßbar ist, heilig und berauschend, was gleichsam der Duft im Gebet versunkener Seelen ist.

Betsy umfing oft seinen Kopf mit einem küssenden Blicke, und wendete, auch wenn er sie nicht dabei ertappte, doch ihre Augen ab, als hätte man sie gescheucht, – ihre Augen, in denen süße Tränen der Rührung standen; er drückte leidenschaftlich ihren Arm und sog sich mit raublustigen Augen an ihren flammenden Lippen fest.

Zuweilen irrte irgend ein Ton, der nicht Wort und auch nicht Sprache war, zwischen ihnen mit schleichendem und doch so verständlichem Zittern hin und her, daß sie ihre Arme fester aneinander preßten, ihre Köpfe einander zusenkten, schwer atmeten und für einen Augenblick unbewußt stehen blieben, in der berauschenden Seligkeit des sich beieinander Fühlens.

„Lange schon sehnte ich mich nach einem solchen Augenblick, ich wartete auf ihn,“ sprach er laut.

„Und ich träumte jeden Tag von ihm,“ flüsterte sie so leise, daß er diese Worte eher mit den Augen von ihren Lippen haschte, als daß er sie hörte.

Sie betraten den Trafalgar-Square, als der Nebel, der bis dahin wie eine erstarrte Wolke unbeweglich in der Luft gehangen hatte, sich plötzlich wie ein vom Orkan gepeitschtes Meer zu wiegen anfing, aufzuschäumen und in Fetzen zu zerreißen. Er ergoß sich in Kaskaden, floß in Wellen dahin und fiel in grauem, undurchdringlichem [40] Staub so dicht herunter, daß in einigen Augenblicken der ganze Platz verhüllt war.

Die gewaltige Säule des Nelsondenkmals und die grimmen, ungeheuerlichen Granitlöwen schimmerten nur noch in blassen, verschwindenden Umrissen durch diesen grünlich-grauen Nebelvorhang.

Versunken waren darin die Straßen, die Häuser, verschwunden die Bäume; der ganze Platz war in dem schmutzigen Gischt ertrunken, eine moderige Feuchtigkeit bedeckte alles mit einer klebrigen, niederdrückenden Wolke.

Die schwarzen hohen Säulen des Portikus der Nationalgalerie, an denen sie vorbeischritten, zeichneten sich schwach ab, wie verfaulte Baumstämme, die in ein trübes, schlammiges Wasser versunken sind.

Man konnte nur zwei Schritte weit sehen, man hörte manchmal ganz nahe Schritte, doch der Mensch blieb unsichtbar oder huschte als kaum sichtbarer Schatten vorbei; dann wieder fuhr ein Wagen daher, der aussah wie ein Ungeheuer von Krabbe, die mitten durch eine unergründliche Tiefe schwömme, und verschwand, man konnte nicht sagen, wohin. Irgend ein gedämpfter Widerhall von Schritten, dumpfe Worte und ersterbende Töne, von denen man nicht wußte, von wo sie kämen und wohin sie flössen, irrten im Nebel und flatterten mit klanglosem, beunruhigendem Geräusch.

Sie gingen langsamer, um sich in dieser undurchdringlichen Wüstenei nicht zu verirren und an den Straßenkreuzungen nicht unter die Pferde zu geraten, aber sie waren beide merkwürdig traurig geworden.

[41] Der Nebel durchrieselte sie mit einem kalten Schauer und warf seine traurigen Schatten auf ihre Seelen; die Zaubergärten ihrer seligen Verzückung zerflossen plötzlich in diesem grauen, peinigenden Dunkel, ihre Augen wurden matter, und beider bemächtigte sich eine stille sehnsüchtige Traurigkeit.

Sie waren schon weit, weit voneinander, ihre Seelen stoben auseinander wie gescheuchte Vögel und flossen einsam in fremde, traumhafte Fernen, sie flogen auf Flügeln einer plötzlichen unerklärlichen Furcht, auf Flügeln der Sehnsucht.

„Wenn man doch einen Wagen bekommen könnte!“ flüsterte sie schüchtern.

„Am Waterlooplatz wird es welche geben; dort ist eine Haltestelle!“

„Aber Sie kommen doch am Abend zum Essen, nicht wahr?“ fragte sie zärtlich.

Er konnte nicht mehr antworten, denn er wich plötzlich mit einem Ruck zurück, – gerade vor ihnen tauchte, wie aus der Erde hervor, Miß Daisy mit einem hochgewachsenen Mann auf, so schnell, daß sie vorüber war, ehe er noch hatte grüßen können.

Er schaute sich ängstlich um, doch sah er nur noch ganz undeutliche Umrisse von ihr und hörte nur den dumpfen Widerhall ihrer Schritte.

„Sie kennen sie?“ fragte sie mit leiser, etwas bebender Stimme.

Er antwortete nicht gleich, er starrte auf eine eben angezündete Laterne, in den zuckenden Ring des rötlichen Lichts, das, wie von einem grünlichen Reif, von einem dichten beweglichen Kranze von Nebel umrahmt [42] war, so daß das Auge kaum einen Punkt von der Flamme sah.

„Ich kenne sie flüchtig,“ antwortete er dann mit Mühe, „ich habe einige Male mit ihr gesprochen, ich erinnere mich, wie sie aussieht; das ist alles, was ich von Miß Daisy weiß.“

„Ein merkwürdiger, erfundener Vorname.“

„Ich kenne ihren Namen nicht, so nennen sie alle unsere Bekannten.“

„Und der Mensch, der mit ihr ging?“

„Das ist der Mahatma Guru, ein Hindu.“

„Ein Hindu!“

„Ein echter, ein unsagbar interessanter Weiser, er ist nach Europa gekommen, um sich die Menschen hier und unsere Kultur etwas anzusehen.“

„Ich habe irgendwo ihr Gesicht gesehen …“

„Das ist beinahe unwahrscheinlich, denn sie ist kaum seit einigen Tagen in Europa.“

„Ja, ich erinnere mich ihrer gut, ich sah sie im Museum, – sie schaute Sie immerfort an; das hat meine Aufmerksamkeit erregt.“

„Sie schaute mich an?“ fragte er verblüfft.

„Ja, und zwar mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit; begegnen Sie ihr oft?“

„Wir wohnen doch in demselben Boarding-House.“

„Kennt Yoe sie auch?“

„Eigentlich habe ich sie gerade auf einer Seance bei ihm zum ersten Male etwas näher gesehen.“

„Sie war gewiß sein Medium, denn sie hat das Gesicht eines Gespenstes oder Vampirs.“

[43] Er antwortete nicht, denn der harte Ton ihrer Stimme hatte ihn unangenehm berührt.

„Sie hat ein merkwürdiges Gesicht, – es ist beinahe grauenerregend, und doch ist es schön,“ fuhr sie fort.

„Warum? Ich habe an ihr nichts Grauenerregendes bemerkt.“

„Ich möchte ihr nicht begegnen,“ sie schauderte ängstlich zusammen.

„Betsy!“ flüsterte er zärtlich.

Das Mädchen hob die erloschenen, erschrockenen Augen zu ihm auf, doch es schwieg und seufzte nur hin und wieder; er wußte nicht, was er sagen solle, da er eine peinigende Unruhe nicht verbergen konnte. Sie tat ihm leid, liebte er sie doch aufrichtig und tief. Vor einem Augenblick noch hatte er sich so glücklich und ruhig gefühlt, noch vor einem Augenblick hatte es ihm so wohlgetan, mit ihr zu gehen, mit ihr zu plaudern, sich mit ihr in Träumereien zu wiegen, ihr reizendes Gesichtchen anzuschauen; ihm war so selig zumute gewesen, ihre Liebe zu fühlen; und jetzt!

Jetzt hatte er Eile, von ihr loszukommen, sie machte ihn ungeduldig mit ihrem Schweigen, er hätte sich gern verabschiedet und wäre allein geblieben, aber er wagte es nicht. So wollte er sich denn in die frühere Stimmung zurückzwingen, doch es gelang ihm nicht.

Es befiel ihn eine völlige Willenlosigkeit, er erkaltete, er vergaß Betsy beinahe, und seine Gedanken jagten jener andern, jagten Daisy nach; er fand sie wieder, in dem verschlungenen schweren Nebelknäuel, er schleppte [44] sich ihr nach, sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, es zerrte ihn die unbezwingbare Gewalt der Angst. Doch endlich beherrschte er sich und begann schnell und viel zu reden, um die eigene Unruhe zu ersticken, er lachte unnatürlich auf, schaute ihr zudringlich in die Augen, suchte den abgerissenen Faden wieder anzuknüpfen, das erlöschende Feuer wieder zu entfachen; er flüchtete sich geradezu zu ihr mit der ganzen Kraft seiner geängstigten Seele, mit der ganzen Gewalt des plötzlich aufblitzenden Gefühls, bis ihr Gesicht wieder wolkenlos wurde und sie sich ebenso vertrauensvoll fühlte wie vorher und beinah ebenso glücklich, beinah ebenso.

Doch hielt er eifrig den ersten leeren Wagen an, dem sie begegneten, und Betsy stieg ein.

„Wir warten am Abend mit dem Essen auf Sie.“

„Ich komme; was sollte ich sonst mit diesen Stunden beginnen?“

„Mir sind Sie noch nötiger; denn womit sollte ich die ganze lange Woche ausfüllen?“

„Auch ich warte voll Sehnsucht auf sie, auch ich,“ rief er ehrlich.

„Zen!“

„Betsy!“

So tauschten sie Worte, Blicke und heiße, leidenschaftliche Händedrücke.

Bald war der Wagen im Nebel verschwunden, man hörte nur das dumpfe Getrappel des Pferdes und in gewissen Abständen das laute Rufen: Hep! Hep! Hep! …

Mr. Zenon eilte in der Richtung des Greenparks [45] fort und versank bald im Nebel; nur hier und dort ragte daraus in verschwindenden Umrissen ein einsamer Baum hervor, wie ein Gespenst, oder von Zeit zu Zeit erschien plötzlich, gleichsam aus der Erde gewachsen, ein Mensch und versank wieder im Nebel.

Ein unergründliches Schweigen und eine graue, undurchdringliche Öde hüllten ihn ein, Wassertropfen troffen aus dem Nebel und flüsterten in unsichtbaren Blättern und Zweigen mit einer quälenden Eintönigkeit, nur manchmal wurde über ihm eine gedämpfte Stimme laut, doch sie verstummte wieder in leisen Schwingungen und versank in lange Augenblicke völliger Stille und Leere. Er beschleunigte seine Schritte, denn es war ihm kalt, weil der Nebel ihn mit einem feuchten, scheußlichen Frösteln durchdrang; und außerdem war er neugierig, ob er heute beim Frühstück Daisy antreffen würde. Seit dem Tage jener Seance hatte er sie nicht mehr gesehen, – sie ließ sich bei Tische nicht blicken; man sagte, sie sei krank.

Diese wenigen Tage ruhigen Nachdenkens und der gewohnten Beschäftigung hatten bewirkt, daß er an jenes Doppelgesicht nur noch wie an eine Halluzination zurückdachte, – er konnte nicht einmal mehr die zerstreuten Einzelheiten sammeln. So stieß er denn die Erinnerung an diese Szene auf den tiefsten Grund des Bewußtseins hinunter, zu jenen Dingen, die man vergessen kann. Er unterließ alle Forschungen, hatte gewissermaßen schon alles vergessen und war froh, daß er das Grauen dieses dunkeln, ungelösten Rätsels los werde; dafür aber erstand in ihm ein hartnäckiges, beunruhigendes Verlangen, Daisy selbst [46] näher kennen zu lernen. Oft dachte er an sie, und noch öfter – denn schon beinahe unbewußt – suchte er nach einer Gelegenheit, sie zu sehen; doch sie blieb unsichtbar.

Er versuchte, von ihr zu reden, doch auch das gelang ihm nicht: er wußte nicht, mit wem er von ihr reden solle. Yoe war seit jener Seance nicht mehr bei Tische erschienen, und er konnte ihn nie in seiner Wohnung antreffen, und die andern schwiegen, oder, was merkwürdiger war, sie speisten ihn mit halben Worten ab, die nichts sagten … Er erkannte an ihren Gesichtern, daß sie irgendeine Scheu beengte, daß alle während des Gespräches unmerklich, verstohlen zu dem Mahatma hinschauten und bald ängstlich verstummten.

Diese unerwartete Übereinstimmung machte ihn stutzig, doch er konnte sie sich nicht erklären. So vergingen für ihn drei ganze Tage mit Fragen, auf die er keine Antwort erhielt, und irrem Grübeln, – bis es ihn schließlich ermüdete. Er hörte auf, zu fragen, er konnte jedoch nicht aufhören, nachzudenken. Aber im Schatten dieser Gedanken breitete sich langsam die Unruhe aus, wie die Vorahnung kommender, noch unklarer, ferner Dinge, – unbekannter Dinge, die aber schon im Werden waren, in den Tiefen des nahenden ‚morgen‘. Deswegen auch entfachte die unerwartete und so sonderbare Begegnung jene merkwürdige, quälende Sehnsucht.

Nein, das war keine Sehnsucht, die jener glich, welche er nach Betsy empfand, wenn er sie ein paar Tage nicht gesehn hatte, – nicht die Sehnsucht des [47] Liebenden nach der Geliebten; dies war etwas hundertmal Gewaltigeres, etwas mit Menschenwillen nicht zu bezwingendes, etwas, was an jene Schwerkraft der Asteroiden erinnerte, die in der Unendlichkeit den Sonnen nachirren, oder an die Strömung der Flüsse, die unaufhaltsam dem Ozean zustreben.

Noch hatte er nichts gesehen, und war doch schon diesem unsterblichen Gesetz untertan.

Er durcheilte schnell den Park, lief durch unsichtbare Straßen, über allerhand Plätze, die im Nebel verschwanden, und fand nur instinktmäßig den Weg durch diese immer dichter werdende Dunkelheit, denn jetzt flogen die Nebelwolken schon schwarzgelb vorüber und streiften die Erde, so daß er sich durch diesen dichten Flaum von Nebelgeweben hindurchreißen mußte … Er wohnte noch hinter dem Regentspark, in der langen und stillen Avenue Roat, die jedoch so in Nebel gehüllt war, daß es einer gewissen Mühe bedurfte, bis er sein Boarding-House fand.

Er kleidete sich schnell um und ging in den Speisesaal. Dort begab er sich leise an seinen Platz und ließ seine Augen ängstlich umherschweifen.

Miß Daisy war nicht da, ihr Stuhl war leer.

Das Zimmer war groß, länglich, mit dunkelm Holz bekleidet, und hatte gewaltige Balkenlagen, die wie vom Alter geschwärzt waren und in ihrer düsteren Schwere beengend wirkten, so daß es trotz des elektrischen Lichts, das der Kronleuchter ausstrahlte, dämmerig war und unsagbar düster. Auf einem langen Tisch in der Mitte glänzte und funkelte ein silberner Aufsatz, und über das leichenweiße Tischtuch waren eine Anzahl Köpfe [48] gebeugt, die auf dem dunkeln Hintergrunde der Wände kaum sichtbar waren.

In der Ecke des Zimmers am Eingang tagte ein gewaltiger Kamin bis an die Balken hinauf; aus einem Haufen verkohlter Scheite schlug ab und zu eine blutigrote Flamme auf und versprühte glühende Funken auf den Teppich.

Gegenüber vom Eingang nahm ein großes Glasgemälde die ganze Wand ein. Auf der dunkeln, düsterroten Fläche zeichneten sich blaßgewordene Umrisse von Gestalten ab, Augen, die wie in Schatten versunken schienen … Durch die schmale Tür an der Seite schaute der blasse, kranke Tag herein, und man sah eine breite glasbedeckte Galerie voll schlanker Palmen und grüner, vom Nebel verhüllter Blumenstöcke, zwischen denen ein Springbrunnen leise plätschernd seine Wassergarben in die Höhe sandte.

Sie aßen in tiefem Schweigen; die Diener bewegten sich ganz ohne Geräusch, niemand schlug mit dem Messer an den Teller an, und wenn irgendein lauteres Wort fiel, erhoben sich sofort alle Augen und blickten ängstlich nach dem Glasgemälde hin, wo einsam der Mahatma Guru saß. Das Schweigen wurde noch tiefer, nur der Springbrunnen flüsterte eintönig, und manchmal drang ein kurzes, ärgerliches Knurren aus der Orangerie herüber.

Zenon aß, ohne hinzuschauen, was man ihm reichte, und beinah ohne zu wissen, was die neben ihm sitzende Wirtin hin und wieder zu ihm sagte; er nickte nur immer bejahend und beobachtete dabei unbewußt die leisen Bewegungen der Katzen, die sich auf [49] ihren Knieen balgten, und horchte mit dem Zittern der Ungeduld auf jedes kleinste Geräusch, das vom Flur her kam.

Der leere Stuhl von Miß Daisy stand ihm gerade gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches; über die Lehne hing ein rötlicher indischer Schal, der von den phantastischen schwarzen Linien irgendeiner unkenntlichen Zeichnung durchschnitten war; oft schaute er auf ihn, aber öfter noch ließ er seine Augen im Zimmer umherschweifen, als wolle er jedes Gesicht einzeln aus dem Schweigen und der Dämmerung herausschälen, – ohne jemand zu bemerken.

„Guten Tag, ich war vor einem Augenblick bei dir,“ sagte Mr. Yoe über den Tisch hinweg.

„Ich bin etwas zu spät gekommen wegen des Nebels …“

„Hast du Betsy gesehen. Was machen die Tanten?“

„Ich habe Betsy gesehen, doch gelang es mir heute, den Tanten nicht zu begegnen.“

„Warst du bei uns zu Hause?“

„Nein, ich gehe erst am Abend hin; man erwartet dich daheim mit großer Ungeduld, – Betsy ist voller Befürchtungen.“

„Ich werde heute mit dir hingehen, wenn ich mich auch nicht gerade nach neuem Streit sehne.“

„Wie du willst.“

Sie verstummten, denn aus der Orangerie drang ein kurzes klägliches Gewinsel und ein Kettenklirren, die Katzen machten drohend einen Buckel, so daß Mrs. Tracy sie ängstlich an sich schmiegte.

„Bagh!“ ertönte die befehlende Stimme des Mahatma.

[50] Ihm antwortete ein langgezogenes, klägliches, gedämpftes Brüllen, und in der Tür der Orangerie erschien in nebligen Umrissen ein schwarzer Panther, der sich ohne jedes Geräusch fortbewegte; die grünlichen Augen und die weißen Zähne schimmerten durch den Maulkorb hindurch, er erhob stolz den Kopf, doch als Gurus Augen ihn trafen, fiel er auf den Bauch und kroch zu ihm heran, ohne die glühenden Augen zu erheben, während er seine Flanken mit dem langen Schweife schlug; Guru hatte ihm ein Wort zugeflüstert, denn der Panther erhob sich träge und dehnte sich behaglich unter der streichelnden Hand, gähnte und begann leise schleichend, ohne das geringste Geräusch, um den Tisch herumzugleiten wie ein kriechender schwarzer Schatten.

Er suchte nach einer Witterung und schnüffelte an vielen Stellen; und als er sich bei dem Schal von Miß Daisy befand, bellte er freudig auf, sprang auf einen Stuhl und schaute, mit den Pfoten auf den Tischrand gestützt, in die Gesichter der Sitzenden, die ein wenig erblaßt und verängstet waren, trotzdem man seine Sanftmut kannte; doch dies dauerte kaum einen Augenblick, denn Bagh ließ langsam den Kopf sinken und bohrte seine schrecklichen Augen in Zenon. Dieser rührte sich nicht vom Platze, er konnte es nicht, er fühlte sich wie gelähmt, sein Kopf zitterte ein wenig, doch er wendete seine Augen nicht ab von diesen brennenden, glühenden Karfunkeln, die wie von einem smaragdgrünen Nebel verdeckt schienen und, kleiner werdend, immer stärker glänzten und sich in ihn hineinfraßen wie scharfe, zerreißende Zähne.

[51] „Bagh!“ Der Panther zuckte bei dieser Stimme zusammen, krümmte seinen schwarzen Rücken und lehnte sich mit den vorderen Pranken so gewaltig auf den Tisch, daß alle seine Muskeln zitierten, wie stark angespannte, kaum noch zu haltende Sprungfedern, auch der Tisch zitterte unter diesem Druck, und die Gläser klirrten.

„Bagh!“ rief der Mahatma streng.

Der Panther schoß mit einem gewaltigen Satz ihm zu Füßen.

Alle atmeten auf, denn in diesem Todesschweigen hatte man erwartet, daß etwas Entsetzliches geschehen müßte; sie schauten nun alle mit großer Erleichterung den Panther an, der mit der größten Gemütsruhe gewaltige Brotstücke aus Gurus Hand fraß.

„Er kann einmal gefährlich werden,“ bemerkte jemand.

„Bagh wird niemand ein Unrecht tun, – er ist sanftmütiger als die Katzen der Mrs. Tracy und klüger als viele, viele Menschen,“ belehrte der Mahatma mild.

„Ich hatte das merkwürdige Gefühl, er wolle sich auf mich stürzen,“ sagte Zenon.

„Er ist nicht gerade sehr gefährlich, – er trägt doch einen Maulkorb, und seine Krallen sind abgefeilt.“

„Ja, aber durch die Gewalt des Sprunges selbst könnte er töten, übrigens habe ich schon genug von seinem Blick allein, – er ist grausig.“ Zenon schüttelte sich nervös.

„Und warum hätte er sich gerade Sie ausgesucht?“

„Vielleicht, weil ich gegenüber dem Stuhl seiner [52] „Herrin sitze, weil ich am nächsten war, – man kann es doch schwerlich anders deuten.“

„Und doch muß dahinter etwas anderes stecken, es muß,“ behauptete hartnäckig ein grauer Herr mit gelbem, runzligem Gesicht, der neben der Wirtin saß.

Zenon lachte laut auf, – so kindlich, ja geradezu amüsant erschien ihm diese Vermutung.

„Ich behaupte dennoch, daß dahinter etwas steckt,“ rief der Alte hartnäckig.

„Sicher, irgendein Geheimnis des Daseins, irgendein transzendentales Rätsel,“ warf Zenon boshaft und unwillig hin.

„Alles ist ein Geheimnis und alles ein Rätsel,“ verkündete der andere streng.

„Hat Miß Daisy schon früher gefrühstückt?“ fragte Yoe.

„Nein, sie war gar nicht da, sie ist in ihrem Zimmer,“ flüsterte Mrs. Tracy, während sie die immer noch ängstlichen und vor Schreck halb toten Katzen an ihre breite Brust schmiegte.

„Sie ist am Ende krank,“ fragte er weiter, da er ein lebhafteres Aufblitzen in Zenons Augen bemerkte.

„Nein, es fehlt ihr nichts, sie ist nur mit Briefen beschäftigt, sie hat heute einen ganzen Stoß Briefe aus Kalkutta erhalten.“

„Waren viele Leute bei Mr. Guru?“

„Eine ganze Prozession. Er empfing aber niemand; er ließ nur durch den Diener erklären, daß er nach Europa gekommen wäre, um zu schauen und zu fragen, – man solle also auf seine Fragen warten,“ erzählte Mrs. Tracy mit gedämpfter Stimme.

[53] „Ja, sie sollen warten, bis ich frage,“ bestätigte Guru ganz unerwartet.

„Die Antwort klingt stolz und eingebildet,“ bemerkte Zenon unwillig.

„Wer weiß, der wirft seine Worte nicht vergebens und dem ersten besten hin.“

„Niemand hat noch gewagt, zu behaupten, daß er weiß, – niemand,“ rief Zenon heftig, durch das begütigende Lächeln des Mahatma gereizt, und erhob sich von seinem Stuhl; seinem Beispiele folgten alle, – man ging schweigend in den benachbarten Reading-Room hinüber.

„Mein Herr, ich habe über den Panther nachgedacht und komme zu dem Schlusse, daß …“ sagte der Alte.

„Aber liebster, bester Herr, wenn ich auch immer Ihre tiefgründigen Schlüsse bewundere und sie gern anhöre, so geht mich gerade dieser gar nichts an, gar nichts!“ entgegnete Zenon, nur mit Mühe seine Ungeduld unterdrückend, so daß der gelbe Herr ganz verdutzt aussah und sich eilig in die andere Ecke des Zimmers entfernte.

Doch Zenon war so merkwürdig gereizt, daß ihm sogar ein Streit angenehm gewesen wäre, er schaute also den Mahatma geradezu herausfordernd an, da dieser, nachdem er den Panther in den Käfig gesperrt, als letzter das Zimmer betrat und sich an den runden Tisch in der Mitte setzte, auf dem bereits der Tee aufgetragen war.

Doch der Mahatma schaute niemand an, er war ganz mit Teetrinken beschäftigt; ein Teil der Gesellschaft setzte sich neben ihn, die übrigen zerstreuten sich in [54] dem großen Zimmer, das mit außerordentlicher Sorgfalt eingerichtet war; überall standen kleine Tische zum Schreiben, Fauteuils, Schaukelstühle, auch hatte man lauschige Winkel eingerichtet, die durch Wandschirme abgetrennt waren. Es war hell und still, ein dicker Teppich dämpfte die Schritte, die mit schweren Vorhängen verhängten Fenster ließen das Geräusch der Stadt nicht herein, so daß nur hin und wieder ein leises Klirren der Leuchter, die auf dem Kamin standen, daran erinnerte, daß irgendwo in der Nähe eine Straße war und Wagen vorbeifuhren; die grünlichen Wände, die von in Aquarellfarben gemalten Blumensträußen erhellt waren, wirkten sonderbar beruhigend.

Zenon setzte sich mit Yoe an den Kamin und schaute mit irren Augen ins Feuer, horchte jedoch immer aufmerksamer zu.

„Ich würde lieber den Tee in deiner Wohnung trinken,“ sagte Yoe.

„Warten wir noch einen Augenblick, vielleicht kommt sie noch,“ entgegnete Zenon und drehte sich um, denn der Diener sagte leise etwas zu dem Mahatma, welcher dazu nickte.

Mrs. Tracy ging im Zimmer umher und schänkte hie und da Tee in die Tassen, ihre drei weißen Katzen folgten ihr überall hin.

Die Gespräche schleppten sich träge hin und wurden jeden Augenblick abgebrochen; niemand hatte Lust, zu reden, eine einschläfernde Müdigkeit hatte sich aller bemächtigt. Eine hochgewachsene, hagere Dame setzte sich an das Harmonium, das in der Ecke stand, doch [55] nach einigen Takten ging sie gelangweilt wieder fort.

Plötzlich neigte sich Zenon zu Yoe und flüsterte spottend:

„Was soll das bedeuten. Sogar der Mahatma läßt heute seine Lehren nicht hören und verdammt uns und unsere Kultur nicht?“

„O Gott, ich gäbe mein Leben dafür, ich unterzöge mich der grausamsten Seelenqual, wenn dieser Mensch sich irren würde, wenn seine Worte nicht Wahrheit wären, – eine so vergiftende und bittere Wahrheit wie das Leben,“ flüsterte Yoe schmerzhaft.

„So verteidigst du dein Erbe, Europäer?“

„Ich würde Europa wie ein Panther zerfleischen, könnte ich nur aus den leblosen Eingeweiden seine ersterbende Seele herausreißen und ihm ein neues, heiliges und wahres Menschenleben geben.“

„Und das sagt der, der noch vor kurzer Zeit Tod und Haß säete …?“

„So oft ich Tod gegeben habe, so oft ist meine Seele verflucht gestorben, – drum sei das Werk des Krieges hundertmal verflucht.“

„Ich kenne diesen Ton, ich kenne ihn; er fließt durch Völker und Ewigkeiten dahin, wie ein klagender Vogel, der in den Abgründen der Verstecktheit irrt, von niemand bemerkt, den Sterblichen entbehrlich, und wie entbehrlich!“ sagte Zenon plötzlich mit aufsteigender Bitterkeit.

„Nein, nein, es hörte ihn Zoroaster, es fühlten ihn die Propheten, aber erst in der Seele der Hindus hat er sein unsterbliches Nest gebaut, und dort, in [56] den Dschungeln, lebt er bis heute und herrscht barmherzig.“

„Geh also hin, predige Buße für das ‚gestern‘ und verkünde die Auferstehung eines neuen ‚morgen‘,“ sagte Zenon halb ironisch, halb klagend.

„Ich weiß es, daß jemand erstehen und der Welt das erlösende Wort bringen sollte, ehe sie ganz im Verderben untergeht.“

„Ich sehe, dich hat das heilige Fieber des Mahatma angesteckt.“

„Scherze nicht, denn seine Klugheit war mir ein Spiegel, in dem ich zum erstenmal mich selbst in meiner ganzen ureigentlichen Nacktheit gesehen habe, mich selbst und uns alle, uns, die Herren der Welt, uns, die auserwählten und einzigen, uns dummes, vor Eitelkeit verblödetes Vieh, uns nichtswürdige Herde leichengewordener Seelen, uns Sklaven des Bösen, uns Anbeter der Übermacht und des Goldes,“ flüsterte Yoe deutlich, schnell; die glühenden, schrecklichen Worte fielen wie Blitze herab, töteten und rissen die Seele bis tief in die Tiefen des Entsetzens hinunter.

Zenon wich ein wenig zurück, von Yoes Blick getroffen, der voll schmerzerstarrter Tränen, unheimlichen Leuchtens und einer solchen Kraft des Schmerzes war, daß man fühlte, wie alles menschliche Elend in diese weiche Seele gedrungen war und mit allen Zungen um Erbarmen flehte, daß die ganze Welt sich in dieser schwachen Brust berge, dort wachse und brause wie der Orkan der Alliebe und das ewig hungrige Verlangen nach dem Guten.

Zenon wandte sich jedoch ab und stand auf.

[57] Miß Daisy betrat das Zimmer, begrüßte, sich leicht verneigend, alle und setzte sich nahe zu dem Mahatma, während sie sich im Zimmer umschaute.

Zenon fiel beinahe in den Stuhl zurück und konnte die Augen nicht mehr von ihr losreißen. Die Worte Yoes klangen ihm wie ferne, unerkennbare Klänge, plötzlich war es ihm, als wäre er von einem Blitz geblendet, so daß seine Augen nichts mehr sahen als das Licht ihres blassen, wunderschönen Gesichts, das von wirren Haarsträhnen umflossen war wie von golden schimmerndem Erz, nichts als ihre Augen, die wie gewaltige Kugeln aus lebendigem Saphir erschienen, die in den Bogen der Augenbrauen hingen, welche wie schwarze Schneiden die ganze weiße, erhabene Stirn durchschnitten.

„Zen!“ flüsterte ihm Yoe ins Ohr, der über seine plötzliche Unbeweglichkeit stutzig wurde.

Er antwortete nicht, er ging automatisch an den Tisch heran, rückte einen Stuhl näher, schenkte sich Tee ein und versenkte seine Augen wieder in sie. Sie ließ einen kalten Blick über ihn gleiten, während sie mit Mrs. Tracy sprach, die neben ihr stand.

Er horchte aufmerksam zu, konnte jedoch nichts verstehen; er war wie in einem autohypnotischen Traum, er wußte nicht, was mit ihm geschah, er war anwesend und doch ganz versunken in den Nebel einer plötzlichen Erinnerungslosigkeit.

Doch niemand bemerkte seinen Zustand, denn er verhielt sich normal, unterhielt sich und erzählte, ohne etwas davon zu wissen, scheinbar durch den gewohnten Automatismus der Organe.

[58] Er setzte sich näher zu Daisy, so daß er von Veilchenduft umflutet wurde; und jedes Geräusch ihrer Bewegungen ließ ihn merkwürdig erzittern.

Das Gespräch fing an sich zu beleben, und langsam wich die Langeweile; der trockene gelbe Herr war in einem heftigen Disput mit Yoe, mehrere Damen hatten ihre Plätze an der Wand verlassen und sich um den Kamin gesetzt, einige Männer umringten Yoe und hörten dem Disput zu; sogar das Gesicht des Mahatma war erhellt, es schien wie aus altem Elfenbein gemeißelt zu sein, er glättete seinen weißen Bart und nahm immer öfter Anteil an dem Gespräch, nur Mrs. Tracy spazierte mit den Katzen umher wie zuvor, und Daisy durchblätterte schweigend irgendeine Zeitung.

„Ich sah Sie auf dem Trafalgare-Square,“ sagte ganz unerwartet Zenon, doch es war, als spräche nicht er, – so fremd klang seine Stimme; er bewegte die Lippen, doch sein Gesicht drückte nichts aus, und sein Blick war leer und gleichfalls fern von seinen Worten.

„Ich ging dort vorbei, aber in einem solchen Nebel war es schwer, irgendein Gesicht zu unterscheiden,“ entgegnete Daisy, ohne ihren Kopf zu heben.

„Daß Sie sich aber nicht verirrt haben! London ist im Nebel wie ein Abgrund, leicht können sich darin auch Leute verlieren, die das kennen,“ sagte er still, beinahe leise; doch wieder war nicht er selbst es, – es waren nur die Gedanken, die in ihm entstanden waren nach der Begegnung mit ihr, und die jetzt aus irgendeinem vergessenen Dunkel hervorkrochen.

[59] „Ich hatte einen guten Führer,“ entgegnete sie nach einer Weile, während sie langsam den Kopf hob und ihm mit einem so pfeilartigen, durchdringenden Blick gerade in die Augen sah, daß er zusammenfuhr, wie unter einem Schlage; dieses Aufblitzen hatte die Dunkelheit in ihm zerrissen und seine erstarrte Seele mit belebendem Lichte erfüllt, so daß er plötzlich in sich erstand, ganz erfüllt von lebendigen: Fühlen und Gedanken, und unbewußt den gegenwärtigen Augenblick mit jenem, den er am Kamin durchlebt hatte, verwob; doch das, was später lag, rollte wie ein Donner in unbekannte Tiefen, zerfiel in toten Staub des Vergessens, – er wußte nicht einmal, daß es existiert hatte.

Er fühlte sich merkwürdig ruhig, neubelebt und Herr seiner selbst. So hörte er eine Weile dem lauten Gespräch zu, schaute den Mahatma an, der eben aufgestanden war und sich Yoe näherte, und sprach mit gedämpfter Stimme zu Daisy:

„Wissen Sie, der Panther hätte sich beinah auf mich gestürzt.“

„Das ist kaum zu glauben, denn er ist sanftmütig wie ein Kind, – es mag sein, daß er mich gesucht hat, und so konnte es scheinen, daß er sich auf Sie stürzen wollte.“

„Er setzte sich auf Ihren Schal und blickte mich so drohend an, als wollte er zum Sprung ansetzen; er hätte sich bestimmt auf mich geworfen, hätte Guru ihm nicht befehlend zugerufen.“

„Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung für diesen Augenblick des Entsetzens.“

[60] „Aber Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen, denn ich hatte durchaus keine Angst.“

„Auch der kürzeste Augenblick der Angst ist nicht angenehm.“

„Leider hatte ich nicht einmal solch einen Augenblick. Ich bin geradezu benachteiligt: ich verstehe nicht einmal bei anderen das Gefühl der Furcht, denn ich habe es nie gekannt.“

„Niemals?“ fragte sie, ein wenig lebhafter werdend.

„Natürlich denke ich an die Furcht vor irgendeiner materiellen Gefahr, – so etwas empfinde ich nie.“

„Und die andere?“ Ihr Mund zuckte, und sie zeigte dabei eine Schnur von blendend weißen Zähnen, ihre Brust hob und senkte sich in unterdrückter Erregung.

„Und die andere kenne ich nicht, also weiß ich bisher nichts von ihrer Existenz.“

„Sie muß da sein … sie existiert bestimmt, – es gibt eine Furcht, von der nicht einmal Träume einen Begriff geben, auch wenn sie noch so quälend sind.“

„Ich nehme an, daß im trüben Schlamm der Seele, in kranken Hirnen derartige grauenerregende und schreckliche Erscheinungen ihren Anfang nehmen.“

„Nicht nur dort ist ihre Quelle, – sie können nämlich auch dicht neben uns lauernd warten, in einer Welt, die lebt, aber weit hinter der Ausstrahlung unseres körperlichen Sehens besteht, – in dem Felde des zweiten Gesichts.“

Ihre Stimme wurde leiser und erzitterte in ängstlichem Geflüster, sie ließ ihren Kopf auf die Zeitung sinken, doch ihre Augen irrten wie erloschen im Zimmer umher. Sie konnten den ungezwungenen Ton nicht [61] wiederfinden. Vergebens bemühte er sich darum, er berührte verschiedene Fragen und Gegenstände, versuchte sogar, sie durch Ironie aus dieser schweigenden Erstarrung herauszureißen; sie antwortete nur ungern und oft sogar ungeduldig, wobei sie ihn nicht mehr anschaute, ja, ihn beinahe nicht einmal mehr sah, so daß er unangenehm berührt, ja fast beleidigt, aufstand, ohne eine Wort zu sagen.

Er durchmaß das Zimmer, aber so ungeschickt, daß er beinahe die Katzen getreten hätte; er bat Mrs. Tracy ziemlich kühl um Entschuldigung, setzte sich gereizt an das Harmonium und ließ seine Finger willenlos über die Klaviatur gleiten, während er über das merkwürdige Verhalten Daisys nachdachte.

In der Tiefe am Kamin stand der Mahatma mit Yoe in einer Gruppe mehrerer Männer; sie sprachen laut und lebhaft, doch Zenon hörte nur den letzten Satz des Hindu:

„Es gibt nur ein Gesetz, das die Welt beherrscht, das Gesetz des unsterblichen Geistes, alles andere ist Schein, ist Trug oder eingebildeter, gelehrter Unsinn!“

Er hörte nicht mehr zu, denn unbewußt ertönte unter seinen Fingern jene Melodie, deren er sich nicht hatte erinnern können, als er die Seance verließ, und die er vergebens drei lange Tage hindurch hatte aus sich herausreißen wollen. Sie kam ihm jetzt von selbst und floß in ein Ganzes zusammen; sie war erstaunlich in ihrer Einfachheit und ihrem merkwürdigen, noch nie gehörten Rhythmus, sie war ihm völlig fremd in ihrer Form und in ihrem musikalischen Inhalt. Er spielte [62] sie aufmerksam, lernte sie auswendig, wiederholte sie immer wieder, wobei er sich an ihrer grausigen Schönheit berauschte.

Der Künstler war in ihm erwacht, mit solcher Gewalt, daß er seine Umgebung nicht mehr hörte, hingerissen von der Gewalt dieses wilden, feurigen und sehnsuchtsschwangeren Liedes; doch je tiefer er sich in diese Klänge hineinhörte, um so stärker wuchs in ihm die Erinnerung, blaß und wie fern, irgendwo gehörte Worte wurden in ihm lebendig, irgendeine Stimme, die diese Worte gesungen, irgendein Landschaftsbild tauchte vor ihm auf.

Er hatte dies alles unter der Hirnschale, beinahe auf den Lippen, und konnte sich doch nicht erinnern.

„Ein gewaltiger Hymnus, wie wenn Engel sich empörten. Woher kennen Sie ihn?“ hörte er hinter sich die leise Stimme Daisys.

„Ich selbst weiß es nicht genau; und ist er Ihnen bekannt?“

„Ja, ich erinnere mich seiner von irgendwoher.“

„Dann werden Sie mir helfen, denn irgendwelche Worte irren in meinem Gedächtnis umher, irgendein Gesang, den ich irgendwo gehört habe, und dessen ich mich nicht mehr erinnern kann … Und es scheint vor nicht langer Zeit gewesen zu sein … Manchmal scheint es mir, daß es dort war, auf jener Seance bei Mr. Yoe, erinnern Sie sich?“ fragte er auf Umwegen, was direkt zu fragen er sich vorher nicht getraut hatte.

„Ich besuche die Seancen bei Mr. Yoe nicht.“ Ihre Stimme klang hart.

[63] „Wie? Aber ich habe Sie dort doch gesehen, wir alle haben Sie gesehen …“

„Es kann sein, aber ich war nicht dort.“ Ihre Augen blitzten zornig auf.

„Ich lüge auch nicht,“ flüsterte er heftig und stolz.

„Ich glaube es … Aber …“ Sie schaute zu dem Mahatma hin, verstummte und ging fort.

Er spielte nicht weiter, er war von ihren Worten erschüttert. Er verstand den Grund nicht, weswegen sie es bestritt, er hatte sie doch dort gesehn, alle hatten sie gesehn, und sie bestritt es …

Er sagte zu Yoe, daß er ihn in der Wohnung erwarte, und ging hinaus, mit einer steifen Verbeugung vor Daisy; sie grüßte nicht wieder und tat, als bemerke sie ihn nicht, sie saß da, mit zusammengezogenen Brauen, ganz in den indischen Schal gehüllt, düster und rätselhaft, er wendete sich an der Tür und fing einen Blick ihrer Augen auf, die ihm folgten, dieser Augen, voll von einem feuchten Schimmer, voll von Nachdenklichkeit und einer quälenden, stummen und demütigen Bitte.