„Aber Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen, denn ich hatte durchaus keine Angst.“
„Auch der kürzeste Augenblick der Angst ist nicht angenehm.“
„Leider hatte ich nicht einmal solch einen Augenblick. Ich bin geradezu benachteiligt: ich verstehe nicht einmal bei anderen das Gefühl der Furcht, denn ich habe es nie gekannt.“
„Niemals?“ fragte sie, ein wenig lebhafter werdend.
„Natürlich denke ich an die Furcht vor irgendeiner materiellen Gefahr, – so etwas empfinde ich nie.“
„Und die andere?“ Ihr Mund zuckte, und sie zeigte dabei eine Schnur von blendend weißen Zähnen, ihre Brust hob und senkte sich in unterdrückter Erregung.
„Und die andere kenne ich nicht, also weiß ich bisher nichts von ihrer Existenz.“
„Sie muß da sein … sie existiert bestimmt, – es gibt eine Furcht, von der nicht einmal Träume einen Begriff geben, auch wenn sie noch so quälend sind.“
„Ich nehme an, daß im trüben Schlamm der Seele, in kranken Hirnen derartige grauenerregende und schreckliche Erscheinungen ihren Anfang nehmen.“
„Nicht nur dort ist ihre Quelle, – sie können nämlich auch dicht neben uns lauernd warten, in einer Welt, die lebt, aber weit hinter der Ausstrahlung unseres körperlichen Sehens besteht, – in dem Felde des zweiten Gesichts.“
Ihre Stimme wurde leiser und erzitterte in ängstlichem Geflüster, sie ließ ihren Kopf auf die Zeitung sinken, doch ihre Augen irrten wie erloschen im Zimmer umher. Sie konnten den ungezwungenen Ton nicht
Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/060&oldid=- (Version vom 1.8.2018)