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Artikel „Sulzer, Johann Kaspar“ von Albert Schumann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 147–150, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sulzer,_Johann_Kaspar&oldid=- (Version vom 28. Dezember 2024, 01:13 Uhr UTC)
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Band 37 (1894), S. 147–150 (Quelle).
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Sulzer: Johann Kaspar S., Arzt, geboren am 17. Juni 1716 zu Winterthur im Kanton Zürich, unter elf Geschwistern das neunte Kind des damaligen Chirurgen und späteren Stadtarztes Jakob S. (1675–1743) und der Johanna Buß von Aarau (1677–1736), studirte Medicin in Straßburg, wo er 1749 mit der Dissertation „Historia morborum quorundam Helvetiis endemiorum“ promovirte, und ließ sich dann als ausübender Arzt in seiner Vaterstadt nieder. Von dort 1748 durch Herzog Friedrich III. (s. A. D. B. VIII, 5 f.) als Leibarzt mit dem Titel eines Hofrathes nach Gotha berufen und nachmals zum Geheimen Hofrath ernannt, verblieb er unter diesem Fürsten und dessen Nachfolger Ernst II. (s. A. D. B. VI., 308 ff.) in der gleichen Stellung bis zu seinem Tode. „Aus seinem Geburtslande, der Schweiz, hatte er“, wie Reichard (s. u.) von ihm rühmt, „die angestammte Redlichkeit seiner Vorfahren in seine zweite Heimath mitgebracht“, und diese Eigenschaft und seine vorsichtige, der natürlichen Heilkraft möglichst vertrauende Verhandlungsweise gewannen ihm bald die Zuneigung des Hofes und der Stadt, sodaß sich seine Praxis ungewöhnlich ausdehnte und ihm ein bedeutendes Vermögen eintrug, von welchem er Bedürftigen gern und reichlich zu spenden pflegte. Um seine nähere und fernere Umgebung machte er sich jedoch vor allem dadurch verdient, [148] daß er, einer der ersten Aerzte in Deutschland, sich seit den sechziger Jahren angelegentlich um die Einführung der Blatternimpfung bemühte. Das allgemeine Vorurtheil gegen dieselbe vermochte ihn umsoweniger abzuschrecken, als er in dem entbrennenden Kampfe einflußreiche Verbündete fand: den altenburgischen Generalsuperintendenten Gotthilf Friedemann Löber (s. A. D. B. XIX, 45), der jene dringend empfahl und 1769 sogar eine nachher gedruckte öffentliche „Predigt über die Blatterinoculation“ hielt, und vornehmlich den Herzog Friedrich und seine Gemahlin Luise Dorothea (s. A. D. B. XIX, 625 ff.), welche ihm ihre beiden Söhne, den Erbprinzen Ernst Ludwig (s. A. D. B. VI, 308 ff.) und den Prinzen August (s. A. D. B. I, 681), zur Impfung anvertrauten. Unter dem Eindrucke solcher gewichtigen Empfehlungen befreundete man sich in den Herzogthümern Gotha und Altenburg nicht nur bald mit der neuen Erscheinung, sondern es fanden sich auch zahlreiche Fremde bei S. ein, um ihre Kinder von ihm impfen zu lassen. Wegen der ihm eigenen Biederkeit, ärztlichen Erfahrung und gesellschaftlichen Bildung würdigte ihn namentlich die Herzogin ihres Vertrauens und zog ihn auch in den geistreichen Kreis, der sich um sie und die Oberhofmeisterin Juliane Franziska v. Buchwald (s. A. D. B. III, 494) gesammelt hatte. Noch in ihrer letzten Krankheit behandelte er sie und rief, als sich ihr Zustand im September 1767 zu verschlimmern begann, seinen Breslauer Collegen B. L. Tralles zur Berathung herbei, ohne daß jedoch die Kunst der beiden Aerzte die Fürstin zu retten vermochte († 22. Oct. 1767). – Seit 1748 mit Johanna Luise Tavel (1730–1777) von Payerne in der Waadt vermählt, sah er sich nach sechs Jahren von vier blühenden Kindern umgeben, die alle die leibliche Anmuth der Mutter und die geistige Begabung des Vaters geerbt hatten. Die beiden Söhne, Friedrich Gabriel und Ludwig Friedrich (mit den Rufnamen „Louis“), schwärmten in ihrer Knabenzeit mit H. A. O. Reichard (s. A. D. B. XXVII, 625 ff.) für den „ehrlichen Robinson Crusoe und seinen Freitag“, ohne zu ahnen, daß der jüngere dereinst ähnliche Schicksale in der unwirthlichen Fremde erfahren werde. Der Robinson „begeisterte sie zu dem Entschlusse, ihre Vaterstadt heimlich zu verlassen und wüste Inseln aufzusuchen. Schon waren alle Anstalten zur Ausführung dieses abenteuerlichen Planes getroffen, einiges Geld, Waffen und Kleidungsstücke versteckt, – eben durch das Auffinden dieser Gegenstände kam jedoch das ganze Vorhaben ans Licht.“ Als junge Männer traten sie dann mit Reichard u. A. als Mitspielende auf der von F. W. Gotter begründeten Liebhaberbühne auf, welche, am 27. Januar 1773 eröffnet, „die Wiege des gesammten Theatergeschmackes in Gotha“ geworden ist und „dem Director Abel Seyler und dem späteren Hoftheater“ die Wege gebahnt hat. Goethe sandte für sie seinen neugedichteten „Götz von Berlichingen“ mit den bekannten Versen: „Schicke dir hier den alten Götzen“, und Gotter bezeichnete in seiner Antwort den älteren S., den „Buben, der rüstig ist, von Schweizerblut“, als zur Uebernahme der Titelrolle besonders geeignet. Was dessen Laufbahn betrifft, so hatte er, am 13. October 1749 in Gotha getauft, wie sein Vater Medicin studirt, bereits 1768 in Göttingen den Doctorgrad erlangt und sich dann in seiner Vaterstadt dem ärztlichen Berufe gewidmet. Gleich seinem Vater wurde auch er nachmals Leibarzt, seit 1784 mit dem Titel eines Hofrathes, und lebte später als Brunnenarzt und Geheimer Hofrath in Ronneburg. Voll regen wissenschaftlichen Strebens, pflegte er neben der Heilkunde vornehmlich die Naturgeschichte und bethätigte sich als Schriftsteller durch eine Reihe medicinischer Abhandlungen in Zeitschriften, durch sachwissenschaftliche Besprechungen in Fr. Nicolai’s „Allgemeiner deutscher Bibliothek“ (19.–86. Bd., 1773–87) und durch einen umfänglichen „Versuch der Naturgeschichte des Hamsters“ (1774, 212 S., mit Kupfern), sammelte auch [149] eifrig Mineralien und trat hierdurch in nähere Beziehungen zu Goethe, der ihn in seinen „Tag- und Jahresheften“ „Einen treuen Naturforscher und emsigen Mineralogen“ nennt und mit ihm – so 1807 in Karlsbad – freundschaftlich verkehrte. Ein Geschenk Sulzer’s, einen merkwürdigen böhmischen Gneis, „dessen faserige Textur durch deutliche fleischfarbene Feldspatkrystalle hervorgebracht wird,“ hielt Goethe für wichtig genug, um ihn in seinem Aufsatze „An Herrn v. Leonhard“ eingehend zu beschreiben. Ebenso schätzte ihn die Herzogin Dorothea von Kurland (s. A. D. B. V, 357 f.). Er war deren Leibarzt und ein willkommener Gast in ihrem Ruhesitze Löbichau (Sachsen-Altenburg), bewegte sich also in dem auserwählten Kreise, welchem Jean Paul, die beiden Anselm Feuerbach[WS 1], der Criminalist und der Archäolog, der Superintendent Jonathan Schuderoff in Ronneburg u. a. hervorragende Männer zeitweise angehörten. In dem hohen Alter, das er erreichte – er starb am 14. December 1830 in Ronneburg – bekundete sich, wie bei Vater und Bruder, die körperliche Rüstigkeit seines Geschlechtes. – Der jüngere Sohn, „Louis“, am 4. October 1751 in Gotha getauft, hatte sich dem Kaufmannsstande gewidmet. Nachdem er sich in holländischen und englischen Häusern als tüchtiger Arbeiter bewährt hatte, begab er sich auf eigene Rechnung nach Nordamerika, erlitt aber dort infolge des ausbrechenden Freiheitskrieges bedeutende Verluste. Er trat nun als Leibgardist in die Dienste des spanischen Gouverneurs von New-Orleans und kehrte dann mit dessen Unterstützung nach Europa zurück, um ein mit Waaren befrachtetes Schiff nach der neuen Welt zu geleiten. Unterwegs verlor er dasselbe an einen nordamerikanischen Kreuzer, während er selbst nach einem kleinen Küstenhafen geführt wurde. Durch List und Kühnheit entzog er sich der Gefangenschaft, rettete sich nach Jamaika und reiste von da wieder heim, um mittels seines erhobenen väterlichen Erbes neue Waaren zu kaufen und damit nach Westindien zu fahren; doch erlitt er wegen verspäteter Ankunft und der Ueberfüllung des Marktes große Einbuße und scheiterte zudem mit seinem Schiffe an der Küste von Kuba. Abermals half ihm sein freundlicher Gönner, der inzwischen von New-Orleans nach dieser Insel versetzte Gouverneur, ohne daß ihm jedoch das Glück bei seinen ferneren kaufmännischen Unternehmungen hold war. Als jener zum Vicekönig von Mexiko ernannt wurde, folgte er ihm dahin, errichtete in seinem Auftrage einen Kurs von Postschiffen im mexikanischen Golf, sah sich aber drei Vierteljahre später durch den Tod seines Gönners aller Früchte seiner angestrengten Thätigkeit beraubt. Er kehrte nun zum dritten Male nach Europa zurück, erwarb in Böhmen einen bedeutenden Landbesitz, verkaufte ihn nach längerer Zeit wieder und ging zuletzt als Bevollmächtigter des Elberfelder Handelsvereines nach Mexiko, wo er am 22. December 1832 im 82. Lebensjahre starb. – Die ältere Tochter, Anna Friederike Luise, am 19. März 1753 in Gotha getauft, schön, lebhaft und begabt, hatte sich nach dem Willen der Eltern und ohne Neigung mit dem bekannten Uebersetzer des Hippokrates[WS 2], dem herzoglichem Leibarzt und Hofrath Joh. Friedrich Karl Grimm (s. A. D. B. IX, 689), vermählt und betrat als junge Frau mit ihren Brüdern die oben erwähnte Bühne als erste Liebhaberin in Rollen damals beliebter Stücke, wie Goldoni’s[WS 3] „Der wohlthätige Murrkopf“, Cumberland’s[WS 4] „Der Westindier“ und Ayrenhoff’s „Der Postzug“, veranlaßte aber auch durch ein zartes, an sich unschuldiges Abenteuer mit dem sie verehrenden Reichard das plötzliche Aufhören des Liebhabertheaters. „Die reizbare Eifersucht des Gatten flammte fürchterlich auf; die ungerecht mißhandelte Frau erkrankte“ und starb bereits vier Jahre später, am 27. December 1777. Reichard hat ihr während ihres Lebens und nach ihrem Hinscheiden in vielgesungenen Liedern gehuldigt (Göttinger Musenalmanach 1776–78), von denen der „Grabgesang“ (Gefilde des Todes, Gefilde [150] der Ruh’ u. s. w.) nicht weniger als vier Mal in Musik gesetzt wurde. – Zwei Jahre vor dem Tode dieser Tochter und wol nach demjenigen seines 1697 geborenen ältesten Bruders Jakob sah Johann Kaspar S. die schweizerische Heimath zum letzten Male wieder. Er wohnte damals, im Sommer 1775, einer Sitzung der Züricher „Physikalischen“ oder „Naturforschenden Gesellschaft“ bei, in welcher der Pfarrhelfer J. K. Lavater „Vermischte physiognomische Beobachtungen, Fragen und Grundsätze“ vortrug und der Maler J. K. Füßli als Probe eines von ihm beabsichtigten Werkes eine Aufzählung der schweizerischen Insekten gab (noch im gleichen Jahre als „Verzeichniß der ihm bekannten schweizerischen Insekten“ gedruckt). Unter den anwesenden Gästen befanden sich außer S. und einigen Anderen auch Goethe und die beiden Grafen Stolberg[WS 5]. Von dieser Reise brachte er vermuthlich die von seinem Bruder Jakob hinterlassene reichhaltige Münzsammlung (4358 Stück) mit nach Gotha. Er bot sie zum Verkaufe aus und ließ zu diesem Zwecke 1777 einen ausführlichen Katalog derselben drucken: „Numophylacium Sulzerianum numos antiquos Graecos et Romanos aureos argenteos aereos sistens olim Jacobi Sulzeri Vitodurani Helvetii cura studio sumtu adornatum“ etc. (2 Bll., 444 S.). Lange wollte sich kein Käufer finden, bis sie endlich Herzog Ernst II. am 22. März 1793, um diesen Schatz nicht zerstreuen zu lassen, um 300 Ldr. für das herzogliche Cabinet auf dem Friedenstein erwarb. Sie wurde auf fürstlichen Befehl als Ganzes aufbewahrt, jedoch ihre besser erhaltenen Stücke gegen weniger gute jenes Cabinets umgetauscht. Sechs Jahre darauf, am 10. April 1799, schied S., fast 83jährig, aus dem Leben. Seine beiden Söhne und die damals noch lebende, 1754 geborene jüngere Tochter Ernestine Auguste Sophie, die Gattin eines Hofrathes Jenichen, stifteten ihm durch die Hand des Bildhauers Friedrich Wilhelm Döll (s. A. D. B. V, 313) ein würdiges Denkmal auf dem jetzt zweitältesten Friedhofe Gotha’s.

Ueber Joh. Kaspar Sulzer: Schlichtegroll’s Nekrolog auf d. J. 1799, 10. Jhrg., 2. Bd. (1805), S. 270–274. – Vgl. auch: H. J. Leu, Helvet. Lexikon, XVI. Thl. (1762), S. 745; H. J. Holzhalb[WS 6], Supplement zu demselben, V. Thl. (1791), S. 691. – A. Klebe[WS 7], Gotha und die umliegende Gegend, Gotha 1796, S. 205. – Friedr. Schlichtegroll, Historia Numothecae Gothanae, Gotha 1799, S. 68 f. – Chrph. Sachse, Onomasticon literarium, Pars VIII, Utrecht 1803, S. 414. – A. Beck, Ernst II., Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg, Gotha 1854, S. 220 f. – Goethe-Jahrbuch, hrsg. von L. Geiger[WS 8], 1. Bd. (1880), S. 371 f. – Ueber Friedr. Gabriel S.: Nekrolog, 8. Jahrg., 1830, 2. Thl. (1832), S. 992. – A. C. P. Callisen, Medicin. Schriftsteller-Lex., 19. Bd. (1834), S. 19 f. u. 32. Bd. (1844), S. 480. – A. Beck a. a. O., S. 147. – Vgl. auch: Goethe’s Werke, Ausg. letzter Hand, 32. Bd. (1830), S. 18 u. 49. – Die Gartenlaube, Jahrg. 1859, Nr. 22, S. 331b. – Mor. Geyer[WS 9], Der Musenhof zu Löbichau, Altenburg 1882, S. 44 f. – Ueber Louis S.: H. A. O. Reichard’s Selbstbiographie, überarb. u. hrsg. von H. Uhde, Stuttg. 1877, S. 15–18. – Ueber Luise Grimm, geb. S.: Reichard a. a. O., S. 100 bis 103. (Außerdem gefl. Mittheilungen der Herren: Bibliothekare Charles Biedermann[WS 10] in Winterthur und Dr. H. Georges[WS 11], Dr. Emil Jacobs[WS 12] und Stadtkirchner E. Böttner in Gotha.)


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe ADB: Feuerbach, Paul Johann Anselm von und dessen Sohn Feuerbach, Joseph Anselm.
  2. Hippokrates von Kos (460 v. Chr.–370 v. Chr.), griechischer Arzt.
  3. Siehe Wikipedia: Carlo Goldoni (1707–1793), italienischer Komödiendichter und Librettist.
  4. Siehe Wikipedia: Richard Cumberland (1732–1811), englischer Dramatiker und Verwaltungsbeamter.
  5. Die beiden Brüder Stolberg-Stolberg, Christian Graf zu und Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu.
  6. Hans Jakob Holzhalb (1770–1807), Apotheker.
  7. Klebe, Friedrich Albert (1779–1843), Arzt und Professor der Geographie.
  8. Deutsch-jüdischer Literatur- und Kulturhistoriker; Siehe Wikipedia: Ludwig Geiger (1848–1919).
  9. Hermann Karl Moritz Geyer (1854–1926), Philologe, Gymnasiallehrer in Altenburg, ab 1903 Schuldirektor in Eisenberg.
  10. Charles Biedermann (1856–1901), Bibliothekar.
  11. Heinrich Georges (1852–1921), Bibliothekar und Philologe.
  12. Emil Jacobs (1868–1940), Bibliothekar.