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Artikel „Keiser, Reinhard“ von Friedrich Chrysander in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15 (1882), S. 540–551, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Keiser,_Reinhard&oldid=- (Version vom 6. Dezember 2024, 14:39 Uhr UTC)
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Keiser: Reinhard K., einer der bedeutendsten, einflußreichsten und fruchtbarsten deutschen Componisten, dessen Entwickelungsgang und Lebensumstände ebenso wenig allgemein bekannt sind wie seine Werke, ist geboren um 1673 an einem unbekannten Orte zwischen Weißenfels und Leipzig, † in Hamburg am 12. September 1739. Von seinen außerordentlich zahlreichen Werken sind die meisten verloren gegangen; die übrigen existiren meistens nur in dem Directionsexemplar der früheren Hamburgischen Oper. Was davon zu Keiser’s Zeit in [541] unvollkommener Gestalt gedruckt wurde, ist sehr unerheblich, denn der Musikdruck befand sich während seines ganzen Lebens im Zustande des tiefsten Verfalls, namentlich in Deutschland. K. war überhaupt eine vorzeitige Erscheinung. Für die Ausbildung der deutschen Kunst erschien er zur rechten Zeit, aber für sich selber oder sein eigenes Wohlergehen kam er zu früh, denn sein Vaterland that nicht das für ihn, was er für dasselbe gethan hatte; er fand hier nicht jenen Rückhalt und jene hochherzige Unterstützung, die seine ebenbürtigen Zeitgenossen Lully in Frankreich, Scarlatti in Italien und Purcell in England besaßen. Selbst seine Lebensnachrichten würden noch dürftiger und unzusammenhängender sein als sie wirklich sind, wenn er nicht in Joh. Mattheson, dem großen Musikschriftsteller, einen Freund und Anhänger gefunden hätte, der uns den Gang seines Lebens und die Eigenthümlichkeiten seiner Kunst beschrieben hat. Was Mattheson in seinen zahlreichen Schriften über K. mittheilt, wird daher für jede Biographie desselben den Faden bilden müssen, welcher die verschiedenen, noch jetzt erreichbaren Nachrichten verknüpft.

K. ist nach Mattheson „ums Jahr 1673“ geboren; der „eigentliche Ort“ seiner Geburt, sagt er, „liegt vermuthlich zwischen Leipzig und Weißenfels“. Sein Vater war ein guter Componist und fahrender Musikant, dessen Kirchenmusik sich in Mittel- und Norddeutschland weit verbreitete. Von ihm hat der Sohn unzweifelhaft die ersten Elemente der Musik erlernt. Früh kam derselbe auf die Thomasschule in Leipzig und besuchte darauf die dortige Universität. Man kann hieraus schließen, daß es nicht seine oder seines Vaters Absicht war, die Musik zum Lebensberuf zu wählen, sondern daß ihm seine reichen musikalischen Gaben nur behülflich sein sollten, auf kostenlose Weise durch eine gelehrte Schule zu kommen. Für seine musikalische Bildung war allerdings in der Thomasschule gut gesorgt, doch läßt sich sein Studiengang im Einzelnen nicht nachweisen; nicht einmal die Namen seiner Lehrer sind bekannt geworden. Wenn Mattheson sagt: K. habe das wenigste von dem, was er in der Musik wußte, „irgend einer Anweisung, sondern fast alles, was seine Feder hervorgebracht hat, der gütigsten Natur und nützlicher Betrachtung einiger besten welschen Notenwerke zu danken gehabt“ (Ehrenpforte S. 126) – so ist dieser Ausspruch charakteristisch für seine ganze Bildung. Im herkömmlichen Sinne wird er kaum irgend eines Menschen Schüler gewesen sein und noch weniger kann er einen Musterschüler vorgestellt haben. Das Ungebundene, Schrankenlose, was er von seinem Vater geerbt hatte, war völlig seiner eigenen Natur gemäß. Diesem Hange kam die Richtung der Zeit entgegen, in welcher die Empiriker über die Theoretiker zur Herrschaft gelangten. So war denn auch damals der musikalische Unterricht in Deutschland etwas in Verfall gerathen, alte Theorie und neue Praxis gingen nicht Hand in Hand. In diese ungelöste Disharmonie wuchs K. hinein und sie ist für einen bedeutenden Theil seiner Werke verhängnißvoll geworden. Mit dem Instinct einer genialen Natur wählte er aber das beste Bildungsmaterial, welches sich ihm auf empirischem Wege darbot, indem er nicht die französische, sondern vorzugsweise die italienische Oper zum Muster nahm. Die näheren Umstände, welche ihn veranlaßten seine Universitätsstudien aufzugeben und die Componistenlaufbahn zu betreten, sind ebenfalls in Dunkel gehüllt. Vermuthlich spielten hierbei, wie fast immer in damaliger Zeit, fürstliche Personen eine Rolle. Wir können dieses daraus schließen, daß K. am braunschweigischen Hofe seine ersten Opernversuche zur Aufführung brachte. 1691 wurde zu Braunschweig die italienische Oper „Il re pastore“ gegeben. Nach Bressand’s Uebersetzung componirte K. das Stück aufs Neue und brachte es unter dem Titel „Basilius“ 1692 oder 1693 mit großem Beifall zur Aufführung. Diese Oper halten wir für die erste, welche K. schrieb; mit derselben führte er sich auch 1694 in Hamburg ein. [542] Mattheson hält das Pastoral „Ismene“ für Keiser’s erstes Bühnenprodukt, ist seiner Sache aber nicht ganz gewiß; soweit meine Nachrichten gehen, wurde das Schäferspiel Ismene 1695 in dem herzoglichen Lustschlosse Salzthal (Saltzdalen, Saltzdalum) bei Braunschweig aufgeführt, den Hamburgern aber erst 1699 dargeboten. Schon diese Jugenderzeugnisse gaben von den musikalischen Eigenschaften Keiser’s ein treues und höchst anziehendes Bild, fanden auch überall die beifälligste Aufnahme. Von beiden Stücken ist die Musik spurlos verschwunden. Der Aufenthalt am braunschweigischen Hofe wird mehrere Jahre gedauert haben und war für K. höchst nützlich, denn er hatte dort einen Lehrmeister, wie er ihn für seine Bedürfnisse und sein Naturell an keinem Orte der Welt wieder finden konnte. Es war dies der Kapellmeister Sigismund Kusser (Cousser), ein überaus merkwürdiger Mann, bedeutend als Componist, in allen Musikweisen bewundert, die er in den verschiedensten Ländern an der Quelle erlernt hatte, ein musikalischer Feuergeist und der größte Dirigent, den der erfahrene Mattheson in seinem Leben gesehen hatte. Kusser war damals Kapellmeister und als solcher Director der Opern in Braunschweig-Wolfenbüttel. Ihm verdankte K. unendlich viel; an ihn schloß er sich musikalisch und wahrscheinlich auch persönlich aufs engste an. Von der musikalischen Verbindung dieser hervorragenden Männer haben wir noch jetzt ein Zeugniß in Keiser’s eigenhändiger Abschrift einer Kusser’schen Opernpartitur (Jason), welche sich glücklicherweise erhalten hat. Und ihre persönliche Verbindung mag man daraus ersehen, daß beide wahrscheinlich gleichzeitig Braunschweig verließen und sich nach Hamburg wandten. Kusser kam 1693 in Hamburg an, wo er nicht nur musikalischer Leiter der Opern, sondern auch Theaterpächter wurde, und von K. sagt Mattheson: „etwa 1694 kam er nach Hamburg.“ Verließen Beide nicht schon 1693 gemeinsam Braunschweig, so dürfen wir doch annehmen, daß K. bei Kusser’s Abreise versprochen hatte, bald nachkommen zu wollen. Im anderen Falle müßten wir erwarten, daß man ihn als Ersatz für Kusser in Braunschweig festgehalten hätte und hiervon hat sich nicht die geringste Spur gefunden, wie denn Keiser’s Name auffallenderweise nirgends in Braunschweiger Acten, Rechnungen und Textbüchern erwähnt wird. Der Sinn des damals erst Zwanzigjährigen war also wol von Anfang an auf Hamburg gerichtet, dessen Oper im Glanz der ersten Jugend strahlte. Ganz Deutschland sprach von der unerhörten Pracht, mit welcher eben damals (1692) die „Zerstörung Jerusalems“ in Hamburg auf die Bühne gebracht war – wie sollte also der junge K., der erste wirkliche Operncomponist, den Deutschland producirte, nicht bestrebt gewesen sein, so bald wie möglich an diesen Ort zu gelangen! Unter Kusser’s Direction führte er hier 1694 die Oper „Basilius“ „mit dem größesten Beifall“ auf, wie Mattheson versichert. Dieses Braunschweiger Product war übrigens das einzige, was K. während der etwa dreijährigen Theaterleitung Kusser’s in Hamburg auf die Bühne brachte. Das anfangs so gute und vielverheißende Einvernehmen muß also in dieser Stadt bald gestört sein. Hamburg war nicht der Ort, die besten und rechten Kräfte zu einem gemeinsamen Wirken dauernd zu vereinigen, wol aber sie gegen einander zu hetzen und dadurch ein großes Werk zu zerstören. Die Folgen des Zerwürfnisses zwischen Kusser und K. waren gleich nachtheilig für diese Männer wie für die deutsche hamburgische Oper. Zweierlei leistete Kusser in der kurzen Zeit für diese Bühne, wovon zunächst K. den größten Nutzen zog. Er führte die Singart der großen italienischen Oper in Hamburg ein „und mußten die ältesten Sänger Schüler werden“ (Mattheson). Nachdem dieser Grund gelegt war, konnte er wagen, die italienischen Meisterwerke, welche Agostino Steffani damals für das Theater in Hannover schrieb, zu deutschen Worten in Hamburg aufzuführen. Als Kusser gegen Ende des Jahres 1695 Hamburg verließ und sich nach England wandte, [543] fiel es K. gewiß nicht ein, in diesem Abgange einen persönlichen Verlust für sich zu erblicken, denn erst mit Kusser’s Scheiden trat er über alle Erwartung glänzend vor die Oeffentlichkeit. Es ist daher erklärlich, wenn er und seine Freunde diese Wandlung als einen Glücksfall ansahen; zehn Jahre später, als K. dasselbe erleben mußte, was Kusser jetzt widerfuhr, kam er freilich auf andere Gedanken. Rathsherr Gerhard Schott, der Eigenthümer des Theaters, nahm nun (Ende 1695 oder Anfang 1696) aufs neue die Leitung in die Hand und hiermit beginnt die innerlich bedeutendste und äußerlich glänzendste Zeit, welche die Hamburger Bühne jemals erlebte. Dieselbe ist mit Keiser’s Namen untrennlich verknüpft, ja ohne ihn überhaupt nicht denkbar. Eine ganze Reihe von Steffani’s Opern wurde jetzt gegeben; der Orlando desselben eröffnete Schott’s Direction. Darauf folgte ein Werk von K., das erste für Hamburg geschriebene: „Mahumeth II.“ (1696). Die Musik ist nicht erhalten, doch schon der elende Text (von Hinsch) zeigt, daß dieses Stück noch nicht ganz den Opern Steffani’s gewachsen war. Aber bald verband K. sich mit dem Dichter Chr. Postel und damit hatten sich die rechten Männer gefunden. „Diese beiden Verfasser verstunden sich sehr wohl und brachten viel Schönes zu wege“, sagt Mattheson. Ihr erstes Product war „Der geleibte Adonis“ (Venus und Adonis), 1697. Die Musik ist erhalten; sie offenbart vielfach die Nachahmung Steffani’s, aber doch schon eine völlige innere Reife und Selbständigkeit. Unmittelbar darauf ließen Beide das einactige Gelegenheitsstück „Irene“ zu Ehren des englischen Königs folgen. Ein noch größeres und bedeutenderes Singspiel erschien im nächsten Jahre zur Feier des Friedensschlusses: „Der bei dem allgemeinen Weltfrieden von dem großen Augustus [Kaiser Leopold] geschlossene Tempel des Janus“, 1698. Diese Festoper hatte den denkbar größten Erfolg. Sie bildet das zweite Werk, dessen Musik erhalten ist und wird bei der Bedeutung derselben immer eins der Hauptwerke sein, nach welchem die musikalische Charakteristik dieses Meisters entworfen werden muß. Auch ein Singballet producirten Beide noch zum kaiserlichen Geburtstag, am 15. November 1698. Ein drittes Werk dieser Art war die zur Vermählungsfeier des Herzogs Friedrich von Holstein bestimmte Oper „Der aus Hyperboreen nach Cymbrien überbrachte güldene Apfel“, 1698. Das Jahr 1699, in welchem der Organist Bronner vorübergehend die Direction übernommen hatte, brachte den Hamburgern die früher in Braunschweig geschriebene „beständige und getreue Ismene“; gegen Ende desselben, wo der kränkelnde aber immer noch erstaunlich thätige Schott wieder das Regiment führte, kam „die wunderbar errettete Iphigenia“ auf die Bühne, von welcher Postel’s Text ebenso gepriesen wurde, wie Keiser’s Musik. Die dritte Oper dieses Jahres, von denselben Verfassern, hieß „Die Verbindung des großen Hercules mit der schönen Hebe“, veranstaltet zu der damals in der ganzen Welt Aufsehen erregenden Vermählung des Kaisers Joseph mit der Braunschweiger Prinzessin Wilhelmine. Das Stück war „trefflich wohl gerathen“, wie Mattheson bezeugt. Der bereits erlangte Ruf Keiser’s ist am besten daraus zu ersehen, daß er bei dieser Gelegenheit auch für Braunschweig die Festoper schreiben mußte: „Die Wiederkehr der güldenen Zeit“, gedichtet von dem dortigen Hofpoeten Bressand; und dieses Werk kam unmittelbar nach „Herkules und Hebe“ ebenfalls noch 1699 in Hamburg zur Aufführung, so daß K. hier in einem einzigen Jahre vier neue Werke vorführte. Dadurch war er aber auch mit einem Schlage der Herrscher im Reiche der deutschen Oper geworden, dessen Töne die bisherige Musik vergessen machten und maßgebend wurden für alle jüngeren Kräfte, die sich in diesem Gebiete versuchten. „Wie der erfindungsvolle K. hervortrat, fiel das alte Wesen dadurch fast gänzlich weg und wollte niemand was anderes hören oder machen, als was dieser galante Componist gesetzt hatte“ (Mattheson). Das neue Jahrhundert begann ebenfalls [544] mit einer neuen Oper von K.: „Il triumfo del fato, oder das mächtige Geschick bei Lavinia und Dido“, deren Text Bressand nach einer italienischen Vorlage bearbeitete. Es war für die Direction eine Glücksoper, welche „vor anderen ausnehmend war und ein gantz Jahr neu hieß“ (Mattheson). Auch von diesem Stück ist glücklicherweise die Musik erhalten. Darauf ließ K. im J. 1700 noch folgen den „Gedemüthigten Endymion“, von Nothnagel gedichtet. Derselbe Poet schrieb für K. den Text zu dem „Ballet“, mit welchem die Hamburger Bühne 1701 die preußische Königskrönung pomphaft feierte. Das nächste Werk Keiser’s für dieses Jahr war die für zwei Abende bestimmte Doppeloper über die alten hamburgischen Seeräuber „Störtebecker und Jödge Michaels“, ein von obscuren Scribenten zusammengeschriebenes, rohes Product. Daß K. in dieser Hinsicht nicht wählerisch war und in seinem Geschmacke nicht höher stand als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, wird aus dem unten Angeführten noch deutlicher zu ersehen sein. „Die wunderschöne Psyche“, zum Geburtstag der preußischen Königin aufgeführt, von Postel gedichtet und von K. componirt, beschloß dieses Jahr. Das nächste Jahr brachte zu Anfang eine bereits 1696 für Braunschweig zu Bressand’s Text componirte und dort aufgeführte Doppeloper „Ulisses, oder Circe und Penelope“, und schloß mit einer anderen Doppeloper über „Orpheus“, welche als das letzte Product Bressand’s in Braunschweig 1699 zur Aufführung kam. Obwol also bereits einige Jahre alt und für Keiser’s Verbindung mit dem herzoglichen Hofe bezeichnend, führen wir die vier Opern doch erst in der Reihe der hamburgischen Aufführungen an, weil sie nur von dieser Stadt aus wahrhaft in die Oeffentlichkeit drangen. Die Musik des Ulisses ist in einer verkürzten Partitur auf unsere Zeit gekommen. Zwischen beiden großen Doppelopern brachte K. ein kleines neues Werk zum Geburtstage des Dänenkönigs heraus: „Sieg der fruchtbaren Pomona“, 1702. Es ist die fünfte Keiser’sche Oper, deren Musik sich erhalten hat und war das letzte Werk, welches der hochbegabte Singspieldichter Postel für die Bühne schrieb. Noch in demselben Jahre starb Schott, Postel folgte ihm 1705, Bressand war bereits 1699 verschieden. Die tüchtigsten und edelsten Gehülfen, welche K. besaß und überhaupt finden konnte, waren damit vom Schauplatze abgetreten. Sie wären ihm um so nöthiger gewesen, weil seine allgemeine Bildung ebenso mangelhaft, wie sein Geschmack ungeläutert und sein Charakter schwankend war. Diese Jahre des ersten Ruhmes 1697 bis 1702 waren die schönste Zeit, welche er erlebte. Niemals war sein Glück ungetrübter, niemals wurde sein Einfluß allgemeiner und williger anerkannt. Von nah und fern kamen fürstliche Personen hauptsächlich der Oper wegen nach Hamburg. Ein häufiger Besucher dieser Singspiele, der Herzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin, ernannte K. zu seinem Kapellmeister, was indeß ein bloßer Titel war. Die besten Mäcene, welche Hamburg in jener Zeit besaß, waren die Gesandten der großen Höfe. Unter ihnen machte sich damals besonders der kaiserliche Abgesandte im niedersächsischen Kreise, Graf v. Eckgh, bemerklich. Derselbe veranstaltete mit unerhörtem Luxus auf seine Kosten Concerte, von welchen Mattheson schreibt: „Erwehnte Concerte wurden alle Sonntage, den Winter über, 1700/1701, mit solcher Pracht und Herrlichkeit gehalten, daß ich, an Königl. Höfen dergleichen Ueberfluß bey Assembleen gesehen zu haben, mich nicht erinnere. Es wohnten den Versammlungen bisweilen 3 oder 4 Fürsten mit bey, welche, nach geendigter Musik, auf das kostbarste bewirthet, und mit Spielen belustiget wurden. … Die Conradinn, die Rischmüllerinn, die Schoberinn, und alles, was nur am geschicktesten [bei der Oper] zu finden war, konnte man daselbst sehen und hören. Wir hatten nebst reichlicher Bezahlung, einen Schenktisch, desgleichen an Tockaier und andern sehr raren Weinen, wenig zu finden sind, und ein jeder genoß, was ihn beliebte. K. führte sich dabey mehr als ein Cavallier denn als ein Musikus auf“ (Ehrenpforte S. 332). Der [545] gefeierte Componist war noch nicht 30 Jahre alt, als er diese Huldigungen erlebte. Was Wunder, daß er sich über die Weltverhältnisse täuschte und daß ihm Cavaliersmanieren zur anderen Natur wurden! Ohne auffallend verbrämte Kleider „mit zwei Dienern in Aurora-Liberey“ und ähnlichem Tand ging es von jetzt an nicht mehr. Wie launisch Glück und Gunst waren, sollte er nur zu bald erfahren. Durch Schott’s Ableben war das Theater in die Hände seiner Frau gerathen. Nach einem unglücklichen Versuch, selber die Bühne zu leiten, verpachtete sie dieselbe 1703 an K., welcher sich zu diesem Zwecke mit einem Gelehrten Namens Drüsike verband. Ihre theatralische Regierung wird wol niemand kürzer und treffender beschreiben können, als Mattheson es gethan hat: „Das währte vier Jahr. Um diese Zeit stellte sich seine gewisse Mutter bei ihrem wahren Sohn in Hamburg ein. Da ging es in floribus; doch nur im Anfange. Graupner [Cembalist] und Grünewald [Sänger] wußten sich das damalige Wohlleben gut zu nutz zu machen; das liebe Frauenzimmer hatte jedoch den grössesten Theil daran. Die Mutter verlor sich aber bald wieder. Das flüchtige Glück irrte gewaltig umher. Man konnte mit der Rechnung nicht fertig werden. Drüsike hörte auf zu bezahlen und verschwand aus unseren Augen“ (Ehrenpforte S. 128). Auch K. entzog sich mit Hülfe der Schnellpost seinen Gläubigern, aber nicht auf immer; etwa zwei Jahre lang (von Ende 1706 bis Anfang 1709) blieb er von Hamburg fern und hielt sich hauptsächlich in Weißenfels auf. Wenn Mattheson versichert, Keiser’s Leben sei reich an Sonderbarkeiten und abenteuerlichen Zufällen, die mehr in einen musikalischen Roman als in eine wohlanständige Lebensbeschreibung gehörten, so gilt dies von keiner Periode desselben in dem Maße, wie von den vier Jahren der Theaterpachtung, 1703–1706. Die Thorheiten, welche der große Componist damals beging, waren weder im äußeren Umfange noch in der Qualität zu überbieten. Und ein solcher Leichtsinn wurde entfaltet bei Uebernahme eines Werkes, welches bisher noch den Besten mißlungen war und welches in den damals schwierigen hamburgischen Verhältnissen nur durch die nüchternste Besonnenheit im Gange erhalten werden konnte. Diese Jahre sind nun um so wichtiger, weil sie auch in dem künstlerischen Leben Keiser’ wie überhaupt in der Entwickelung der deutschen Musik einen Abschluß und Wendepunkt bezeichnen. Als K. und Drüsike ihre Pachtung kaum angetreten hatten, kam der junge Händel nach Hamburg, nahm nicht Theil an dem wüsten Treiben, sondern hielt sich abseits und erschütterte als Neunzehnjähriger durch seinen ersten Opernversuch („Almira“, 1704–5) vorübergehend die Reputation des berühmten und bis dahin ausnahmslos bewunderten K. Noch vor Uebernahme der Pachtung, während Wittwe Schott 1703 das Theater leitete, schrieb K. die beiden von Hinsch gedichteten Opern „Claudius“ und „Die Geburt der Minerva“, von denen die erstere sich in der Musik erhalten hat. In dem Textbuche des „Claudius“ sind Arien mit italienischen Worten unter das Deutsche gemischt, was von jetzt an stehender Gebrauch wurde; K. hat also den traurigen Ruhm, diese Unsitte eingeführt zu haben. So lange Schott lebte, blieben die Textbücher rein; selbst bei den Uebersetzungen Steffani’scher Opern war alles deutsch. Seine eigene Direction eröffnete K. dann mit „Salomon“ und ließ im nächsten Jahre „Nebucadnezar“ folgen. Beide biblische Opern waren von Hunold-Menantes verfaßt; von dem seltsamen Nebucadnezar hat sich die Musik erhalten. Auch eine „Almira“ hatte er zu setzen angefangen, aber im Saus und Braus der Opernwirthschaft wurden die Compositionen ein Jahr lang von aufstrebenden Mitgliedern seines Theaters besorgt; das Textbuch zur „Almira“ überließ er dem jungen Händel. Nach dem völlig unerwarteten Erfolge der Oper desselben offenbarte K. weder die Freude des Künstlers über eine neue Kraft, die sich doch hauptsächlich an ihm gebildet hatte, [546] noch die Klugheit des Geschäftsmannes in der Benutzung derselben für sein Theater. Er bereute vielmehr, den „Almira“-Text aus der Hand gegeben zu haben und überbot nun auf unglaubliche Weise die alte Thorheit durch eine neue, indem er Händel’s Musik bei Seite schob, den etwas geänderten Text selber componirte und seine „Almira“ zu Ende des Jahres 1706 wirklich zur Aufführung brachte. Es war das letzte Werk, welches während seiner Theaterleitung gegeben wurde; würdiger konnte in der That dieser beinahe vierjährige Fasching nicht enden. Als das Schiff im Sinken war, raffte K. sich auf und schrieb in schneller Folge gleichzeitig mit „Almira“ eine ganze Reihe bedeutender Werke, die Opern „Octavia“, „Lucretia“, „Die gekrönte Treue“, „Kaiser Justinus“, „Masagniello furioso“ und „Die listige Rache des Sueno“, meistens von Barthold Feind gedichtet – also mit „Almira“ sieben vollständige Opern in kaum zwei Jahren, 1705–1706. Von diesen Werken sind zwei (Octavia und Masagniello) vollständig erhalten, auch wurden ausgewählte Stücke aus „Almira“ und „Octavia“ von K. 1706 in Hamburg zum Druck gebracht. Rein äußerlich betrachtet, muß schon die Production einer solchen Masse in einer solchen Frist Erstaunen erregen. Dasselbe erhöht sich aber noch bedeutend, wenn man aus den erhaltenen Musikstücken ersieht, daß hier nicht Erzeugnisse handwerksmäßiger Schnellschreiberei vorliegen, sondern daß Alles aus der Fülle wahrhaft unerschöpflicher Gedanken gestaltet und durchgehends mit compositorischer Weisheit geordnet ist. Der geniale Mann hielt mit seiner außerordentlichen Anstrengung denn auch das sinkende Theaterschiff noch etwa zwölf Monate lang über Wasser. Das war aber auch Alles. Eine ausreichende Hülfe kam von keiner Seite; K. erfuhr jetzt, wo die Taschen leer waren, zum ersten Mal in seinem Leben, was es heißt unpopulär sein. In dieser Lage fiel er aus einer Tactlosigkeit in die andere. In dem Textbuch der Oper „La fedeltà coronata, oder die gekrönte Treue“ (1706) setzte er der Vorrede des Poeten (Feind) folgendes hinzu: „Avertissement. So weit erstrecket sich der Inhalt, so der Herr Autor zum Vorberichte gesetzet: wobei ich dieses hinzu zu fügen, daß mein Wunsch dahin ziele, dieser Opera mit so lustigem Humeur zuzusehen, als mein Gemüth bisher Verdruß bei meinem Zustande empfunden. Da nun dieses meine drei und dreißigste Composition der Schauspiele, so möchten vielleicht die Inventiones zu vielen 100 Arien einem Connosseur einiges Nachsinnen erwecken. Jedoch kann ich nicht in Abrede sein, daß zu deren Verfertigung mich nichts als die Liebe zu diesem Theatro, fürnehmlich aber die Höflichkeit eines vornehmen Hauses [Graf von Dernath] encouragirt. Und da die meisten widrige Raisonnements von denen gefället werden, welche etwann ihre Passiones verleitet, oder sich flattiren, daß sie unter die Zahl der Musik-Kenner gehören, wenn sie etwann ein Menuet auf der Hautbois oder Violine spielen, so kann ich gegentheils versichern, daß ich niemals auf dergleichen Jugements reflectirt, noch um den mauvais gout du Parterre mich bekümmert. Diejenige, so im Uebrigen aus Neugier zu wissen verlangen, ob ich von Inventionen ausgeschöpft, mögen alsdann davon urtheilen, wenn ein genereuser Gönner der Musique gegen mich nur eine Marque von solcher Gunst blicken lassen möchte, die den Geist des Lullii [Lully] animiret.“ … Um es den anmaßlichen Musikkennern des Parterre, die ihn früher so oft erfreuten und jetzt so sehr ärgerten, noch gründlicher zu geben, trug er sich mit dem Plan, von „dieser edlen und heute so hochgestiegenen Wissenschaft in einem besondern Tractat die Carakteres vernünftiger und unpassionirter Urtheile, so woll von den Opern, als andern Cantaten“ demnächst gedruckt bekannt zu machen, wie Feind im Vorwort zur Octavia ankündigt – ein Plan, der natürlich niemals ausgeführt wurde. Das Verlangen Keiser’s, für seine künstlerische Thätigkeit einen Halt zu besitzen, wie Lully ihn an Louis XIV. hatte, ist sehr erklärlich und [547] durchaus berechtigt. Sein jetziger Mäcen, der in Holstein begüterte Graf v. Dernath, konnte nicht genügen. Die oft in Hamburg anwesenden Fürsten reichten lediglich einzelne Geschenke für einzelne Huldigungen. Den vorübergehend hier residirenden Gesandten der großen Höfe kam es ausschließlich auf die Entfaltung eines genußreichen Prunkes an. Sollten junge leichtlebige Künstler zur Verschwendung angeleitet und über ihre Stellung zur Gesellschaft getäuscht werden, so war Hamburg allerdings eine treffliche Schule. Aber um ein großes nationales Werk auszubauen und in schweren Krisen zu erhalten, dazu fehlte eine Ortsautorität, welche persönlichen Ausschreitungen Halt gebot und verschiedenartige Kräfte derselben Sache dienstbar machte. Jetzt lag das Wohl und Wehe der Bühne ausschließlich in den Händen der Künstler und Litteraten, und dadurch ging alles in Zuchtlosigkeit unter. Wir haben auf diese Periode etwas ausführlicher eingehen müssen, denn es handelte sich hier, wie schon bemerkt, nicht blos um Keiser’s Leben, sondern um das Schicksal der deutschen Oper überhaupt. Die Partie der letzteren war jetzt auf nahezu 80 Jahre verloren. In Weißenfels hatte K. viele Muße, über seine bisherige Lebensführung nachzudenken und er benutzte sie auch auf eine recht verständige Weise. Weil die Hamburger Oper seine Abwesenheit ebenso schmerzlich empfand wie er, kam bald eine Vereinigung zu Stande. Anfangs 1709 war K. wieder da; durch drei neue Opern, welche er sofort hintereinander aufführte („La forza dell’ amore, oder die von Paris entführte Helena“; „Die blutdürstige Rache, oder Heliates und Olympia“; „Desiderius“) bewies er Allen deutlich, daß seine Kraft ungebrochen war. Im nächsten Jahre (1710) ließ er sogar vier neue Opern („Arsinoë“; „Die Leipziger Messe“; „Aurora“; „Julius Cäsar“) und bis 1717 dann noch 17 andere („Crösus“ 1711; „Carolus V.“, „Diana“ und „Heraclitus“ 1712; „Inganno fedele“ und „Die gekrönte Tugend“ 1714; „Der Triumph des Friedens“, „Fredegunda“, „Cato“ und „Artemisia“ 1715; „Das römische April-Fest“, „Das triumphirende Haus Oesterreich“ und „Achilles“ 1716; „Julia“, Tomyris“, „Trajanus“ und „Jobates und Bellerophon“ 1717) folgen. Mit diesem Jahre endete eine 1707 begonnene Pachtung von Saurbrey und damit die längste, ruhigste und geschäftlich einträglichste Periode, welche das Hamburger Theater erlebte. Während derselben hatte K. also nicht weniger als 24 Opern producirt. Von „Desiderius“, „Arsinoe“, „Crösus“, „Fredegunda“, „Tomyris“ und „Trajan“ ist die vollständige Musik auf uns gekommen und von „L’inganno fedele“ liegen „Auserlesene Sätze“ im Druck vor (Hamburg 1714). Der Druck wurde gleichzeitig mit der Aufführung veranstaltet, weil die Abschreiber dem Verlangen nach Arien nicht genügen konnten und in einer Bemerkung zu dieser Ausgabe wird mitgetheilt, der Autor sei gesonnen „von allen seinen Werken“ eine solche Auswahl zum Druck zu bringen, was leider nicht geschehen ist. Mit dieser erstaunlichen Menge von Bühnenwerken ist aber Keiser’s musikalische Thätigkeit in jenen Jahren bei weitem noch nicht erschöpft. Zunächst versuchte er sich in Cantaten. Schon 1698 hatte er in Hamburg eine „Gemüthsergötzung“ von 7 Cantaten drucken lassen. Jetzt setzte er das Werk als „Musikalische Landlust“ in vier „moralischen“ Cantaten fort (Hamb. 1714) und erregte dadurch Entzücken in jedem musikalischen Winkel Deutschlands. Im Jahre vorher (1713) ließ er daselbst eine Sammlung von Cantaten, Duetten und Arien als „Divertimenti Serenissimi“ drucken. Eine „Kaiserliche Friedenspost“ (gedruckt Hamb. 1715 und Kaiser Karl VI. gewidmet) enthält Musik zur Friedensfeier, berührt sich also insofern mit Händel’s Utrechter Te Deum. Eine „Serenata“ auf eine vornehme Hochzeit entstand 1716 und mehreres der Art wurde geschrieben. Die bedeutendste und folgenreichste Composition Keiser’s aus dieser Zeit ist aber die Musik zu dem von Brockes gedichteten Passionsoratorium „Der für die Sünde der Welt [548] gemarterte und sterbende Jesus.“ Das Gedicht, in der neuen italienischen Weise frei entworfen, machte das größte Aufsehen und veranlaßte die ersten Tonkünstler (Keiser, Telemann, Händel, Mattheson, Bach), dasselbe ganz oder theilweise in Musik zu setzen. Den Anfang machte K., seine Musik kam in der stillen Woche 1712 in Hamburg zur Aufführung und 1714 erschienen Sätze daraus als „Auserlesene Soliloquia“ im Druck. In dem Vorwort zu dieser Ausgabe spendet er dem Dichter hohes Lob: „Was auch immer ein Musikus für glückliche Gedanken haben mag, so vermögen ihn doch schöne, auserlesene, klingende und reine Verse, wie diese hier sind, gantz unvermerkt zu animiren, daß er sich gleichsam selber übersteigt und etwas ungemeines hervorbringt.“ Das Werk ist auch voll schöner Erfindungen, doch als etwas „Ungemeines“ konnte es auf die Dauer nicht angesehen werden, weil die größeren Händel und Bach ihm hier allzunah auf die Fersen traten. In Brockes’ Art dichtete darauf Joh. Ulrich König, der in dieser Zeit viele Operntexte für K. schrieb, ebenfalls ein Passionsoratorium über den „verurtheilten und gekreuzigten Jesus“, welches K. unmittelbar darauf componirte, aufführte und als „Seelige Erlösungs-Gedanken“ 1715 drucken ließ. Diese Ausgaben (Hamburg bei Schiller) veranstaltete der Componist auf seine Kosten. Keiser’s Lebensumstände hatten sich seit seiner Rückkehr von Weißenfels bedeutend gebessert und nahmen durch eine glückliche Heirath dauernd eine solide Gestalt an. Um 1710 heirathete er die Tochter des hamburgischen Rathsmusikanten Oldenburg „von gutem, angesehenen Patriciergeschlechte“ (Mattheson), die als bedeutende Sängerin besonders in der dortigen Kirchenmusik sich hervorthat und namentlich die Compositionen ihres Mannes unübertrefflich vortrug. Das einzige Kind dieser Ehe, eine Tochter, erbte die Gaben der Eltern, da sie „nicht nur eine sehr geschickte Sängerin, sondern in allen Stücken ein recht artiges, witziges Frauenzimmer“ war, wie Mattheson versichert. Als Kammersängerin am Hofe zu Kopenhagen war sie später des Vaters Trost und Stütze. Das Ende von Saurbrey’s Direction 1717 bezeichnet auch das Ende von Keiser’s Thätigkeit für die hamburgische Oper in dem bisherigen Sinne und Umfange. Durch persönliche Zerwürfnisse mit Schott’s Erben wird die plötzliche Stockung in Keiser’s Thätigkeit nicht genügend erklärt; die Wandlung der allgemeinen musikalischen Verhältnisse war der eigentliche Grund. Die Oper war inzwischen, besonders durch Scarlatti und Händel, zu größeren Formen fortgeschritten, denen gegenüber sich die in bescheideneren Grenzen gehaltenen Gesänge von K. nicht mehr recht behaupten konnten; und jenen Fortschritt mitzumachen, dazu war der geniale Mann in keiner Weise ausgerüstet, weder durch vorarbeitende Dichter noch durch ausführende Sänger, noch durch die ihm eigenthümliche Kunst des Tonsatzes. Obwol sichtlich bemüht, sich den neuen Compositionsarten anzuschließen, blieb er doch wesentlich auf der Stufe stehen, die er bis dahin erreicht hatte. Von seinem 45. Lebensjahre an hat K. nichts wirklich Neues mehr geschrieben; seine immerhin noch zahlreichen Compositionen waren im glücklichsten Falle dem Früheren ebenbürtig, dabei durchgehends weniger selbständig und weit mehr von dem immer tiefer sinkenden Geschmacke der Menge abhängig. Seit 1718 hatte K. nicht mehr seinen beständigen Wohnsitz in Hamburg, doch lassen sich hiervon nicht überall genaue Nachweise geben. Um 1722 war er in Kopenhagen bei einem Grafen v. Wedel und erhielt dort den Titel eines königlich dänischen Kapellmeisters, weil er für den Hof verschiedene Compositionen geschrieben und unter Anderem die Oper „Ulisses“ am Geburtstage des Königs aufgeführt hatte. Kopenhagen wurde gleichsam seine zweite Heimath. In Hamburg finden wir K. erst 1724 wieder, wo er zu dem Gelegenheitsstück „Das frohlockende Großbrittannien“ die Musik setzte. 1725 ließ er dann die Opern „Bretislaus“, den „Hamburger Jahrmarkt“ und die „Hamburger Schlacht-Zeit“ folgen. Im Textbuch [549] zu dem letzten Stück wird gesagt, daß es die 107. Oper von seiner Composition sei. Dieses 107. Produkt war aber in Sprache und Handlung so pöbelhaft und anzüglich, daß vor der zweiten Aufführung ein Verbot erfolgte und Gerichtsdiener die angeschlagenen Zettel abrissen, was indeß K. nicht hinderte für die dortige Bühne lustig weiter zu componiren. Im nächsten Jahre (1726) lieferte er derselben sogar vier neue Stücke: „Geburtsfest des Prinzen von Wallis“; „Mistevojus“; „Jodelet“; „Der stumme Prinz Atis“, und flickte mit seinen und Lully’s Gesängen das Intermezzo „Barbacola“ zusammen. Ein „Lucius verus“ folgte 1728. Darauf trat eine lange Pause ein, die sich zum Theil daraus erklärt, daß K. in diesem Jahre (zu Weihnachten 1728) zum Cantor an der Domkirche ernannt wurde. Nur noch einmal nahm seit der Zeit die immer mehr zerrüttete Oper seine Hülfe in Anspruch: 1733 schrieb er die verbindenden Recitative zu „Parthenope“, während die ganze eigentliche Musik von Händel war und ließ darauf (Anfangs 1734) die Oper „Circe“ folgen, bei welcher außer den Recitativen auch noch die Chöre und die komischen Gesänge von ihm herrührten. Die Partitur der Circe ist erhalten. Wenn man solche Werke zur Hand nimmt, so sind weitere Beweise für den tiefen Verfall dieses einstmals blühenden Theaters überflüssig. Aber nicht minder ist aus denselben das Absinken Keiser’s von seiner früheren Höhe zu erkennen. Als er 1705 Händel’s Jugendopern durch neue Compositionen zeitweilig verdrängte, ahnte er gewiß nicht, daß man ihn in den letzten Jahren seines Lebens nur noch dazu gebrauchen würde, Lieder für den Hamburger Hanswurst und Füllrecitative zu den allbewunderten Opern Händel’s zu schreiben. Das Cantorat am Dom, das einzige Amt, welches K. in seinem Leben bekleidete, trug jährlich kaum 100 Mark ein. Als Cantor ließ er „viele ausbündige Oratorien im Dom erschallen“ (Mattheson), wenigstens in den ersten Jahren. Die Kirchenmusik ging aber hier, wie auch an anderen Orten Deutschlands, bergab, und 1737, noch bei Keiser’s Lebzeiten, wurde sie im Hamburger Dom (der Michaeliskirche) gänzlich eingestellt. Zur selben Zeit (Anfangs 1738) verendete auch die hamburgische deutsche Oper nach langem Siechthum, hatte also mit der gleichgearteten künstlichen Kirchenmusik hier dasselbe Schicksal. Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen schied auch diejenige Persönlichkeit, welche fast 40 Jahre lang der größte Glanz und Ruhm beider gewesen war, zur selben Zeit aus der Welt. Um 1736 verlor K. seine Frau durch den Tod, „und seit der Zeit hat er Ursache gefunden, sich gantz eingezogen zu halten, ist auch hieselbst 1739 den 12. Septemb. seines Alters 66, in aller Stille gestorben und bald darauf begraben worden“ (Ehrenpforte S. 132). Eine seiner letzten und größten geistlichen Compositionen, von welcher die Musik vorliegt, ist das Oratorium „David“. Es wurde durch den Musikdirector Joh. Kayser „auf aller vornehmen Connoisseurs und Liebhaber Verlangen“ zu Ehren des Componisten aufgeführt, als dieser wieder in Hamburg eintraf, was also vermuthlich um 1724 geschah bei seiner Rückkehr von Kopenhagen. Johann Kayser schreibt im Vorwort zu dieser Aufführung: „Der Herr Capell-Meister Keiser hat der musikalischen Welt, unter den grösten Virtuosen, wohl die meisten Proben und Meisterstücke einer solchen unsterblichen Ruhms-wehrten Music hinterlassen, davon der hiesige Schau-Platz, und der gantze Hammonische Kreyß für mich sprechen mag.“ Aehnlich urtheilten über ihn auch die berufensten Zeitgenossen, die ihn genau gekannt und vielfach nach ihm sich gebildet hatten. Für Mattheson war K. noch um 1740 „der grösseste Operncomponist der Welt“, den er in einem begeisterten poetischen Nachruf einen „Weisen“ und einen „Kaiser des Gesanges“ nannte. Mit ihm in Harmonie sang der wahrhaft bedeutende Componist Telemann:

[550] „Da Keiser’s Jugend noch in erster Gluth gebrennet,
Wie reich, wie neu, wie schön, wie gantz hat er gedacht!
Wie hat er den Gesang zum vollen Schmuck gebracht,
Den dazumahl die Welt noch ungestalt gekennet!
Zu diesem zog ihn bloß ein angebohrner Trieb,
Durch den er, ohne Zwang der Schulgesetze, schrieb,
Durch den wir mehr von ihm, als hundert Werke, lesen.
Wir ehren Dein Verdienst, Du Züchtling der Natur,
Der, suchtest Du gleich nicht der Kunst verdeckte Spur,
Dennoch der größte Geist zu seiner Zeit gewesen.“

Und Hasse, der als Tenorist in Keiser’s Opern seine Laufbahn begann, dann aber Scarlatti’s Schüler wurde, stellte ihn an Reichthum der Erfindung noch über diesen Al. Scarlatti, indem er gegen Burney sogar behauptete, „daß K. der größte Tonkünstler von der Welt gewesen sei, daß er mehr noch als der ältere Scarlatti geschrieben habe, und daß seine Melodieen, obgleich über 50 Jahre alt, immer noch lieblich klängen, und füglich, ohne von Kennern bemerkt zu werden, unter moderne gemischt werden könnten.“ Ein Mann, der solche Lobsprüche veranlassen konnte, muß eine mehr als vorübergehende Bedeutung besitzen und etwas dauerndes geschaffen haben. Aber an K. ist Alles merkwürdig, und so auch dies, daß es trotz der unleugbaren Genialität, von welcher alle seine Werke erfüllt sind, schwer hält, die Welt für seine Kunst wieder zu erwärmen und seine wahre Bedeutung zur Anschauung zu bringen. Verglichen mit der hohen contrapunktischen Kunst, die von einem Schütz vor ihm und von Händel und Bach unmittelbar nach ihm erreicht wurde, müssen Keiser’s mehrstimmige Sätze, namentlich die kirchlichen und oratorischen, ziemlich gehaltlos erscheinen, denn im Fugensatze war er kein Meister. Ein geborner Melodist, war es ihm ein leichtes, den Sängern dankbare Stücke zu Hunderten zu liefern, die sich auch heute noch als solche bewähren; dennoch trifft man in seinen Werken zahllose Figuren an, die sich gesanglich nicht fügen wollen, namentlich sind die Chöre meistens zu hoch geschrieben, wodurch sie schreiend klingen. In diesen Dingen wurde auch seine Kunst nicht mit den Jahren reifer und edler, sondern schwächer. Seine wahrhaft bedeutenden Leistungen lagen in der Zeit, „da seine Jugend noch in erster Gluth gebrennet“. Mattheson schreibt aus genauester Kenntniß: „Weil sein wahres Gemüths-Abzeichen oder Charakter aus lauter Liebe und Zärtlichkeit, nebst deren Zubehör, als Eifersucht, und so ferner, zusammengefüget war; so hat er auch, vom Anfange biß ans Ende seiner Wallfahrt, diese Leidenschafften, zu denen sich Wollust und gutes Leben gern gesellen, auf das natürlichste, und weit glücklicher, als andre, in solchem Maß auszudrücken gewußt, daß ich sehr zweifle, ob ihn jemand darin zu seiner Zeit, ja auch noch bis diese Stunde, übertroffen habe, oder übertreffe.“ (Ehrenpf. S. 126) Vor allen Dingen ist zu beachten, daß K. ein geborener Bühnencomponist war. Auf das Theater weist alles hin, was er producirte; die dramatische Scene wußte er musikalisch so lebendig und so anziehend zu gestalten, wie vor ihm kein deutscher Componist. Nicht nur in der Melodienfülle, sondern auch in dieser Stellung zu der Bühne gemahnt er uns an Mozart. Es würde aber ein großer Irrthum sein, wenn man Keiser’s Compositionen ausschließlich als flotte, aber kunstlose Erzeugnisse eines Naturgenies ansehen wollte. „Der Kunst verdeckte Spur“ ging er allerdings nicht auf dem breiten contrapunktischen Wege nach, aber Mattheson erinnert mit Recht daran, daß obwohl bei K., als einem Setzer von Geburt, die Natur alles ohne Mühe schien erzeugt zu haben, es doch ohne Weisheit nicht solche Werke geben könne, sondern Erkenntniß und Verstand dabei mitgewirkt habe. Ein vollendeter Kunstverstand, der zu sichern Grundsätzen ausgebildet war, offenbart sich auch bei K. in zwei Punkten. Dieselben betreffen das Verhältniß seiner Gesänge zu den Worten und zu der Begleitung. Seine Deklamation und die sinnvolle [551] Behandlung der Redetheile ist in ihren Grenzen vollkommen; hierin hat ihn kein späterer deutscher Komponist überboten. Er wurde dadurch unwillkürlich der Lehrmeister für alle Zeitgenossen, namentlich auch durch die Schriften seines Schülers Mattheson, der diesen Punkt auf’s deutlichste klar gemacht hat. Dagegen ist das große Verdienst, welches K. sich erwarb durch kunstvolle Verflechtung der Begleitstimmen mit den Gesangmelodieen, niemals recht erkannt und liegt auch der Natur der Sache nach ziemlich versteckt, obwol es gerade dasjenige ist, was er hauptsächlich in die Wagschale zu werfen hat, wenn der Musiker gewogen wird. Gesang und Begleitung, also Vocales und Instrumentales, sind in Keiser’s Sologesängen inniger durchdrungen, als in denen irgend eines Komponisten, der um 1700 blühte, und weil wir heute leicht einsehen können, daß der musikalische Fortschritt hauptsächlich nur auf einem solchen Wege zu erreichen war und erreicht wurde, so ist damit auch die bahnbrechende Bedeutung dieses bisher verkannten Meisters verständlich geworden. Keiser gehört daher in dieser Kunst zu den wahrhaft historischen Persönlichkeiten.