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Artikel „Billroth, Theodor“ von Georg Fischer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 548–555, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Billroth,_Theodor&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 21:58 Uhr UTC)
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Billroth: Theodor B. war gegen Ende des 19. Jahrhunderts der bedeutendste deutsche Chirurg. Er hat seinen äußeren Lebensgang selbst geschildert:

„Christian Albert Theodor B. wurde am 26. April 1829 in Bergen auf der Insel Rügen geboren, wo sein Vater evangelischer Pfarrer war. Die nicht sehr verbreitete Familie Billroth stammt aus Schweden. Die Mutter Billroth’s (geborene Nagel) war aus Berlin. Ihre Mutter aus Pommern (eine geborene v. Willich); ihre Mutter (die Urgroßmutter von B.) war eine Französin (geborene v. Beaulieu). B. war der älteste von fünf Knaben. Sein Vater starb bald nach der Geburt der jüngsten Knaben (Zwillinge). Die Erziehung der Kinder wurde allein von der vortrefflichen Mutter, welche als Wittwe in Greifswald lebte, geleitet; sie starb nach langem Leiden 1851 an Phthisis. B. überlebte seine vier Brüder, von welchen drei an Phthisis, einer an Tabes starb. B. genoß seine erste wissenschaftliche Ausbildung auf dem Gymnasium zu Greifswald, von welchem er im J. 1848 mit dem Zeugniß der Reife abging und sich als Student der medicinischen Facultät Greifswald immatriculiren ließ. Unter seinen Commilitonen auf dem Gymnasium befanden sich Max Schultze (später Professor der Anatomie in Bonn, †), Bernhard Schultze (später Professor der Geburtshülfe in Jena) und Hugo Ziemssen (später Professor der medicinischen Klinik in Erlangen und München). B. zeigte auf dem Gymnasium wenig Interesse für die Schulwissenschaften, wenig Talent für Sprachen, gar keines für Mathematik. Geschichte, zumal Litteraturgeschichte, und die alten Dichter vermochten allein ihn zu fesseln; doch leistete er auch darin wegen Mangel an Ausdauer nichts Besseres. Er war ein Gymnasialschüler unter Mittelmäßigkeit. Vor allem zog ihn eine große Liebe zur Musik von den Schularbeiten ab. Eltern und Großeltern beiderseits waren hervorragend musikalisch. [549] B. wurde nur durch das energische Widerstreben und die ernste Erziehung seiner vernünftigen Mutter abgehalten, sich ausschließlich der Musik zu widmen, wofür er ihr später ganz besonders dankbar war. Die Idee, sich dem medicinischen Studium zuzuwenden, wurde theils durch den Einfluß seine Onkels, des mit Recht in seinem Kreise hochgeschätzten Professors der Arzneimittellehre Philipp Seifert in Greifswald, und des seiner Familie nahe befreundeten Professors der Chirurgie Baum in ihm angeregt, theils dadurch, daß seine Privatlehrer, deren er zur Nachhülfe auf dem Gymnasium dringend bedurfte, zufällig immer Mediciner waren.

Ostern 1849 folgte Professor Baum einem Rufe nach Göttingen, und B., der sich im ersten Semester in Greifswald nur mit Musik beschäftigt hatte, folgte ihm, um nun ernsthaft seine medicinischen Studien zu beginnen. Die Göttinger medicinische Facultät war aus hervorragenden Gelehrten zusammengesetzt: Wöhler (Chemie), Wilh. Weber (Physik), Konrad Martin Langenbeck (Anatomie), Rudolf Wagner (Physiologie); dessen Schüler: Frey, Bergmann, Leuckart; auch docirten Frerichs, Lotze (allgem. Pathologie und Psychologie), Fuchs (interne Klinik), Baum (chirurg. Klinik) und Ruete (Ophthalmologie). Diese Männer übten einen gewaltigen Einfluß auf die damals sehr zahlreichen Schüler der medicinischen Facultät der Georgia Augusta aus, es herrschte ein tüchtiger Geist unter den Studenten. B. warf sich unter Leitung dieser Männer mit Eifer und Energie auf das Studium der Naturwissenschaften und der Medicin. Zwei Männer entschieden schon hier über die Richtung seiner späteren Laufbahn und seines späteren Wirkens: Rudolf Wagner und Wilhelm Baum; bei ersterem lernte er die Vorgänge in der Natur sinnig betrachten, und zumal auch mit dem Mikroscop erfolgreich arbeiten; bei letzterem sah er stets die wissenschaftliche und praktische Richtung der Chirurgie im schönsten Verein, und wurde von dem vielseitigen und zugleich gründlichen Wissen Baum’s mächtig angezogen. Zugleich pflegte B. in Göttingen auch die Musik eifrig, und fand in dem Hause des dortigen Musikdirectors Arnold Wehner die liebevollste Aufnahme. Theils durch diese künstlerischen Beziehungen, theils durch gleichartige wissenschaftliche Bestrebungen entwickelte sich ein intimes Freundschaftsverhältniß zwischen B. und dem ebenfalls sehr musikalischen Georg Meißner (später Professor der Physiologie in Basel, Freiburg, Göttingen). Beide Freunde arbeiteten privatissime bei R. Wagner, und Beide wurden von ihrem Lehrer aufgefordert, ihn im Herbst 1851 auf einer wissenschaftlichen Reise nach Triest zu begleiten, um dort an einer damaligen histologischen Tagesfrage mitzuarbeiten, nämlich über die Enden und die Anfänge der Nerven, zu welchen der in Triest seitdem nicht vorkommende Zitterrochen willkommenes Material darbot. Auf dieser Reise besuchte Wagner mit seinen Schülern die Universitäten Gießen, Marburg, Heidelberg, Wien. B. lernte dabei die Professoren dieser Universitäten kennen und empfand die ersten mächtigen Eindrücke von den Alpen, Oberitalien und dem mittelländischen Meere.

Von Wien kehrte B. nach Berlin zurück, wo er sich im Herbst 1851 immatriculiren ließ. Durch den in diesem Jahre erlittenen Verlust seiner Mutter, die nur ein äußerst bescheidenes Vermögen hinterlassen hatte, gerieth B. in Gefahr, seine Studien aufgeben zu müssen; durch die Unterstützung seiner Großmutter ward es ihm indeß nicht nur möglich, dieselben zu Ende zu führen, sondern nach ihrer Vollendung auch noch eine wissenschaftliche Reise zu machen.

In Berlin wurde B. vorzüglich durch B. v. Langenbeck, Schönlein, Romberg und Traube gefesselt; letzterer führte ihn in das Gebiet der experimentellen Pathologie ein und gab ihm die Anregung zu seiner Inauguraldissertation: [550] „De natura et causa pulmonum affectionis, quae nervo utroque vago dissecto exoritur“. B. wurde am 30. September 1852 in Berlin promovirt. Im folgenden Winter absolvirte er seine Militärpflicht und sein Staatsexamen und besuchte zugleich eifrig die Privatklinik Albrecht v. Graefe’s, der, eben von seinen Reisen zurückgekehrt, vor einem ganz kleinen Kreise von Zuhörern seine glänzende Laufbahn unter allerlei Schwierigkeiten begann. v. Graefe erinnerte sich später in seiner liebenswürdigen Weise gern seiner ersten Schüler, und beide Männer waren in der Folge freundschaftlichst verbunden.

Nach Beendigung des Staatsexamens zu Ostern 1853 reiste B. nach Wien, wo er mit besonderem Eifer den Cursen von Hebra und Heschl, sowie der Klinik Oppolzer’s folgte. Von Wien begab sich B. zu einem mehrwöchentlichen Aufenthalt nach Paris und traf dort mit seinem Lehrer Baum und seinem Freunde G. Meißner (zufällig auch mit v. Pitha und Simon) zusammen. Im Herbst 1853 kehrte B. nach Berlin zurück, um sich als praktischer Arzt dort niederzulassen. Ein Zufall führte ihn (er hatte in zwei Monaten noch keinen einzigen Patienten) zu einem Freunde und Landsmann Dr. C. Fock, welcher kurz zuvor Assistent bei B. v. Langenbeck geworden war. Fock forderte B. auf, sich um eine soeben vacant gewordene Assistentenstelle an der Langenbeck’schen Klinik zu bewerben. B. hatte das Glück, diese Stelle zu bekommen und trat bald darauf in dieselbe ein; damit war sein höchster Wunsch erfüllt; es wurde ihm die Gelegenheit, sich speciell mit Chirurgie zu beschäftigen. Nicht nur das Bestreben, sich die Zufriedenheit seines Lehrers und Chefs zu erwerben, sondern zumal das Wissen und die Kunst seines großen Meisters spornten seine Begeisterung für die Chirurgie und den Ehrgeiz, bald selbständig etwas auf diesem Gebiete zu leisten, aufs höchste an. B. hatte das Glück, mit H. Meckel von Hemsbach, v. Bärensprung, v. Graefe und Wilms in nahe Verbindung zu treten, im Hause Langenbeck’s und Johannes Müller’s, mit dessen Sohn Max Müller er befreundet war, zu verkehren, und das Wohlwollen dieser Männer sich zu gewinnen. Sehr bald erkannte er, daß es vieler Jahre der Beobachtung und des Studiums selbst in einer so reichhaltigen Klinik wie die Berliner bedürfe, um auf dem Gebiet der praktischen Chirurgie selbständig zu werden, und so wandte er sich zunächst mit besonderem Eifer der pathologischen Histologie zu, welche zu jener Zeit eben in der Entwicklung war. Die Untersuchung der vielen von Langenbeck exstirpirten Geschwülste führte ihn vorerst auf dieses Gebiet, von da auf die allgemeine Histiogenese und Entwicklungsgeschichte und wieder zurück auf die Geschwulstlehre.

Im J. 1856 habilitirte sich B. als Privatdocent für Chirurgie und pathologische Anatomie und hielt im Sommersemester 1856 seine ersten Vorlesungen über pathologische Anatomie, praktische Curse über pathologische Histologie, dann später Vorlesungen über allgemeine und specielle Chirurgie, endlich chirurgische Operationscurse. Im Herbst 1856 machte er eine wissenschaftliche Reise nach Holland, England und Schottland. Verschiedene Bewerbungen um Spitalstellen mißglückten in den folgenden Jahren. 1858 erhielt B. einen Ruf als Professor der pathologischen Anatomie nach Greifswald. Doch so sehr er der pathologischen Anatomie und Histologie zugethan war, konnte er sich doch nicht entschließen, seine Carrière als Chirurg aufzugeben, zumal da seine Operationscurse einen außergewöhnlichen Erfolg hatten, und sein gütiger Lehrer Langenbeck ihn auch dann noch in seiner Assistentenstellung beließ, als er sich 1858 mit Christel Michaelis, Tochter des verstorbenen Hofmedicus Michaelis verheirathete; es wurde ihm ausnahmsweise die Erlaubniß ertheilt, außerhalb der Klinik zu wohnen.

Dem väterlichen Wohlwollen und dem Vertrauen, durch welches Langenbeck [551] B. auszeichnete, und welches er besonders auch dadurch kund gab, daß er ihn so außergewöhnlich lange an seiner Klinik behielt, verdankte B. 1859 einen Ruf als Professor der chirurgischen Klinik nach Zürich, wo er am 1. April 1860 gleich als Professor ordinarius sein neues Amt antrat. Hier kam B. in eine Facultät, welche durch ihre frische und wirkungsvolle Thätigkeit ausgezeichnet war; er arbeitete und lehrte hier 7½ Jahre zusammen mit Griesinger, Biermer, Moleschott, A. Fick, Frey, H. Meyer, Homer, Breslau, Rindfleisch-Eberth und empfing von diesen wie von anderen ausgezeichneten Männern der Universität und des Polytechnikums (Vischer, Lübke, Semper, Gottfried Keller, Osenbrüggen u. A.) mächtige Anregungen nach den verschiedensten wissenschaftlichen Richtungen. B. trat auch mit den hervorragenden Collegen der medicinischen Facultäten der anderen schweizerischen Universitäten (Lücke, Munk, Klebs, Schiff, Aeby, Door in Bern, His und Stein in Basel) bald in nähere Verbindung. In seinem Hause empfing er zumal auch die deutschen Gäste mit offenen Armen und wurde bald näher befreundet mit O. Weber (Heidelberg), R. Volkmann (Halle), Esmarch (Kiel), Simon (Darmstadt, Rostock) u. A.

Nachdem B. 1862 einen Ruf nach Rostock, dann 1864 nach Heidelberg ausgeschlagen hatte, folgte er im Herbst 1867 einer Berufung nach Wien, wo er am 20. August 1867 sein Amt antrat. Diese Berufung war in Wien unter mannichfachen Schwierigkeiten zu Stande gekommen, und B. hatte in den ersten Jahren seiner Thätigkeit manche Hindernisse zu überwinden. Nach dem Abgange Jüngken’s wurde B. von der medicinischen Facultät in Berlin primo loco für die Professur der chirurgischen Klinik in der Charité vorgeschlagen; später (1872) erhielt er einen Ruf an die neu gegründete deutsche Universität in Straßburg. Im J. 1870 war B. in den Lazaretten von Weißenburg und Mannheim thätig.

Nach dem Rücktritt Langenbeck’s erging noch einmal ein Ruf an ihn nach Berlin unter glänzendsten Bedingungen. Es war ihm jedoch sein Wirkungskreis in Wien, sowie auch das sociale und künstlerische Leben (er war mit Johannes Brahms und Eduard Hanslick besonders befreundet) in der schönen Kaiserstadt zu lieb geworden, als daß er sich hätte entschließen können, Wien zu verlassen. Wenn ihm die Liebe seiner Schüler und das Wohlwollen seiner Freunde bis an sein Ende treu bleiben, dann darf man wol sagen: er war ein glücklicher Mann!

Der Mensch ist ein Theil der gesammten Natur; seine Entwicklung erfolgt nicht sprungweise, sondern langsam aus Vergangenem und Gegenwärtigem. Die Wirkung des Einzelnen auf die Gesellschaft hängt von seinen Ahnen, sowie von den Verhältnissen ab, in welche er hineingeboren, und in welchen er aufgewachsen ist. Diese bilden den Charakter aus, und aus ihm entwickeln sich die Thaten des Mannes.

„Und was man ist, das blieb man Andern schuldig.“
  (Goethe’s Tasso.)

 (Wien, im Juni 1880.)“

B. gehörte zu der Generation junger Aerzte, welche zuerst in der modernen deutschen Chirurgie herangebildet waren. Das Eigenthümliche seines Entwicklungsganges lag darin, daß er als Assistent B. Langenbeck’s sich nicht sogleich in die klinische Richtung der Chirurgie vertiefte, obschon das reiche Material der Klinik sehr dazu verlockte, sondern zunächst sich mit großem Eifer auf Histologie und pathologische Anatomie warf. Er wurde ein vollendeter Mikroscopiker und mit allen Untersuchungsmethoden aufs innigste vertraut. Dadurch gewann er einen großen Vorsprung vor seinen gleichalterigen Collegen, und man bot ihm als chirurgischen Assistenten sogar die Professur der pathologischen Anatomie [552] in Greifswald an; jedoch vergeblich. Hinzu kamen ein ausgesprochenes Lehrtalent, infolge dessen er mit seinen Vorlesungen und Operationscursen als Privatdocent in Berlin sehr beliebt wurde; außerdem ein Riesenfleiß. Als er mit 30 Jahren den Ruf als Professor der chirurgischen Klinik in Zürich annahm, hatte er bereits 40 Arbeiten veröffentlicht. Damit fiel die Gründung des Archivs für klinische Chirurgie von B. Langenbeck, redigirt von ihm und Gurlt, zusammen. Mit B. zog die moderne Chirurgie in Zürich ein, und aus dem halben Dutzend von Zuhörern, an welchem im ersten Semester seine Vorlesung über Chirurgie scheiterte, wurden bereits im nächsten Winter 20 Prakticanten. Von 7–8 Uhr war Operationscurs, von 8–9 Vorlesung über allgemeine Chirurgie, um 9 Hospitalvisite, von ½11 bis 12 Klinik, worauf fast regelmäßig bis 1 oder 2 operirt wurde. Bereits um 3 Uhr saß B. wieder am Mikroscop im Hospital, im Experimentirzimmer oder auf der Anatomie; dann begann die litterarische Arbeit. Außer mehreren rein histologischen Arbeiten wurden zunächst seine „Beobachtungsstudien über Wundfieber und accidentelle Wundkrankheiten“ (1861, 1864) von größester Bedeutung, indem dieselben, mit Einführung des Thermometers als Untersuchungsmittel in die Chirurgie, eine Umwälzung der Anschauungen über Ursachen und Wesen jener Krankheiten bewirkten. Zwischendurch erschien „Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie“ (1863) in Form von Vorlesungen; ein Werk, welches voll neuer Ideen überaus fesselnd und fließend geschrieben, epochemachend und in zehn fremde Sprachen übersetzt wurde. Dann vereinigte sich B. mit Pitha in Wien zur Herausgabe des großen, von verschiedenen Chirurgen bearbeiteten „Handbuch der allgemeinen und speciellen Chirurgie“, dessen erste Lieferungen 1863 erschienen, und welches dann in zweiter Auflage als „Deutsche Chirurgie“ unter der Redaction von B. und Lücke fortgeführt wurde. Berufungen nach Rostock und Heidelberg lehnte er in jener Zeit ab; letztere deshalb, weil die von ihm verlangte Reorganisation der praktisch-medicinischen Anstalten nicht bewilligt wurde. In seinen Mußestunden trieb er Musik, componirte Trios und Quartette, lernte Bratsche spielen und hatte allwöchentlich bei sich ein Streichquartett; auch schrieb er Musikreferate für die Neue Züricher Zeitung. Im J. 1866 starb ihm sein einziger Knabe, und eine Berufung nach Leipzig zerschlug sich. Die Zeit in Zürich, wo er hauptsächlich mit dem Professor der Kunstgeschichte Lübke und dem pathologischen Anatomen Rindfleisch befreundet wurde, blieb ihm die Idylle seines Lebens; allein er konnte seinen Wirkungskreis nicht vergrößern und sehnte sich schließlich fort.

Da gelangte nach dem Tode von Schuh an ihn die Berufung nach Wien. Das Professorencollegium hatte sich dahin geeinigt, „jenen Professor der Chirurgie zu wählen, von welchem die größeste Förderung der Wissenschaft zu erwarten steht, der nicht nur in der praktischen Chirurgie, sondern auch in physiologischen und pathologisch-anatomischen Forschungen einen großen Ruf genießt, der als Lehrer, Operateur und Schriftsteller durch besondere Genialität sich schon ausgezeichnet hat, der noch in voller Manneskraft steht und erwarten läßt, die modernste Richtung der Chirurgie in ihren Beziehungen zur Physiologie und pathologischen Anatomie glänzend zu vertreten und geeignet ist, eine chirurgische Schule zu gründen“. Am 11. October 1867 hielt B. damals 38 Jahre alt, seine erste Vorlesung in Wien: „Einleitung in die allgemeine Chirurgie“. Der Anfang war schwer: B. war ein Preuße, ein Protestant und im ersten Semester unglücklich bei Operationen; auch mußte er, um 300 junge Leute unterrichten zu können, mehr Betten haben, welche andere Chirurgen des Allgemeinen Krankenhauses nur widerwillig abgaben. Allein die Jugend hielt zu ihm; stand er doch selbst mehr im Alter der Docenten, während [553] alle Professoren in der Facultät alt waren. Die Musik führte ihm zwei Freunde für das ganze Leben zu: Johannes Brahms und Eduard Hanslick. Kaum warm geworden in Wien, schlug die Berliner Facultät ihn für die Professur an der Charité vor, welche jedoch vom Minister ohne weiteres gestrichen wurde (1869). In demselben Jahre erschien sein „Bericht über die chirurgische Klinik in Zürich von 1860 bis 1867“, und im nächsten Jahre ein solcher über die in Wien. In diesen trockenen Zahlen liegt Billroth’s größestes Verdienst: er war der erste Chirurg, welcher die volle Wahrheit sagte und zum ersten Male alle Mißerfolge ungeschminkt veröffentlichte! Welch ein Mannesmuth gehörte dazu! Jetzt war der drückende Alp von dem Gewissen der Chirurgen hinweggenommen; ein Hospitalbericht nach seinem Muster jagte in Deutschland den anderen; allein es war von nun an kein Verdienst mehr, ehrlich zu sein. Daß Billroth’s hochgehaltene Fahne der absoluten Wahrheit für den Aufschwung der Wissenschaft und den sittlichen Ernst der Chirurgen von unberechenbaren Folgen gewesen ist, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Während des deutsch-französischen Krieges war er als Delegirter des österreichisch-patriotischen Hülfsvereins von Wien in den Kriegslazarethen von Weißenburg und Mannheim thätig, von wo er „chirurgische Briefe“ veröffentlichte. Dann lehnte er einen Ruf nach Straßburg ab. Inzwischen war Lister’s[WS 1] große Entdeckung der antiseptischen Wundbehandlung bekannt geworden, und Billroth’s Theorie über das Wundfieber von Stricker aufs heftigste angegriffen. Da er in Lister’s Wundbehandlung eine auf sicherer naturwissenschaftlicher Basis fußende Theorie vermißte, stürzte er sich in Untersuchungen über Fäulniß und Vibrionen, wobei er Monate lang 16 bis 18 Stunden des Tages hindurch arbeitete und oft noch spät Nachts am Mikroscope saß, sodaß er, wie er mir schrieb, fürchtete, „sein maltraitirtes Gehirn mache einmal Strike“. Dieses titanenhafte Werk über „Coccobacteria septica“ (1874), welches von seinem genialen Forschergeist Zeugniß ablegt, hatte ihm nur Enttäuschungen eingebracht, sodaß er sich nicht dazu verstehen konnte, Lister’s Wundbehandlung blindlings anzunehmen, während andere deutsche Chirurgen dieselbe frischweg adoptirten und die ersten Früchte davon trugen. Jenes Werk war kaum vollendet, als B. eine neue Arbeit „Ueber das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation“ begann und 1876 vollendete. Keiner der damaligen Chirurgen wäre wol im Stande gewesen, Arbeiten wie diese beiden zu Stande zu bringen. Letztere, voll herber Wahrheiten über österreichische Verhältnisse, erregte durch die Freiheit der Sprache großes Mißfallen; B. wurde im Abgeordnetenhause als unpatriotisch angegriffen, und politische Blätter, welche einzelne Anmerkungen aus dem Zusammenhang herausrissen, verschrieen ihn als Antisemiten. Als er seinen „Generalbericht über eine 16jährige Thätigkeit in Zürich und Wien“ herausgab (1879), ein Werk, welches statistisch seines Gleichen nicht hatte und nach seiner Ansicht das Beste war, was er gemacht hatte, wurde ihm vorgeworfen, daß er der antiseptischen Wundbehandlung feindlich gegenüberstehe und veraltete Anschauungen verträte. Insofern richtig, als die Arbeit zum größesten Theil der vorantiseptischen Zeit angehörte und die neuen Principien nicht genügend zur Geltung gebracht wurden. Allein B. war ein Feind des Uebertreibens; daß er jedoch die großen praktischen Fortschritte der Antiseptik anerkannte, bewies er schon vom nächsten Jahre an durch seine Erweiterungen der operativen Chirurgie. Jene Arbeit sollte, abgesehen von einer Ueberarbeitung seiner Krankheiten der Brustdrüse, unwiderruflich die letzte sein: er glaubte mit seiner wissenschaftlichen Production zu Ende zu sein, da er den Detailarbeiten nicht mehr gerecht werden könne. Infolge dessen überließ er die Herausgabe einer neuen Auflage seiner „Allgemeinen Chirurgie“ einem seiner [554] Schüler. Er wandte sich nun humanitären Aufgaben zu und begründete zunächst den Rudolphiner Verein zur Erbauung eines Krankenhauses behufs Ausbildung von Pflegerinnen. Dieses sein Lieblingswerk, welches auf freiwillige Beiträge gegründet war, und zu dessen Bestem er die „Krankenpflege im Hause und Hospitale“ schrieb (1881), brachte er unter vielen Sorgen fast zur Vollendung. Noch einmal lehnte er nach dem Rücktritt von B. v. Langenbeck eine Berufung nach Berlin ab (1882). Er baute sich in St. Gilgen am St. Wolfgangsee bei Ischl eine Villa, wo er mit Gattin und drei Töchtern in den Sommerferien wohnte. Wie hier an der Eisenbahn durch die „Haltestelle Billroth“, wurde in Australien im Nickel-Bay-District bei Melbourne durch Bezeichnung einer Berghöhe als „Billrothshöhe“ sein Name geographisch verewigt (Ferd. Müller 1881). Während der übrigen Ferien reiste er viel in Italien. Eine schwere Lungenentzündung warf ihn aufs Krankenlager, wobei ganz Wien für sein Leben bangte (1887). Kaum genesen, faßte er neben seiner Berufsarbeit fast gleichzeitig zwei andere, große Unternehmungen ins Auge: den Bau des Hauses für die k. k. Gesellschaft der Aerzte, welches er als Präsident einweihte, und den Neubau seiner Klinik, aus welchem nichts geworden ist. Die friedliche Ruhe des Alters fand B. nicht; ohne Ruh und Rast war ihm jede Grenze unerträglich. Allein die Körperkräfte nahmen allmählich ab, als zu seinem Fettherzen eine chronische Myocarditis hinzutrat. Körperlich gebrochen, aber geistig in voller Frische nahm er, bereits Ehrenmitglied resp. Mitglied von 70 wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinen, die großartige akademische Feier zu seiner 25jährigen Thätigkeit an der Wiener Hochschule am 11. October 1892 entgegen. B. starb am 6. Februar 1894 in Abbazia, im 65. Lebensjahre. Von seinem Leichenbegängniß schrieb Brahms an einen Freund: „ich wünschte, Sie könnten sehen, was es heißt, hier geliebt zu sein“. Die Stadt Wien widmete ihm ein Ehrengrab, und in einer Fluth von Nachrufen aus allen Ländern (s. Gurlt in Virchow’s Archiv Bd. 139, S. 555) hallte der Schmerz und die Trauer um den Dahingeschiedenen wieder.

Billroth’s schriftstellerische Thätigkeit umfaßt 162 Arbeiten; in den bisherigen Zusammenstellungen fehlen seine in Zürich herausgegebenen 12 stereoscopischen Photographien von chirurgischen Kranken (Enke 1867) und die nach seinem Tode von Hanslick herausgegebene Schrift „Wer ist musikalisch?“ Seine Forschungen sind von jeher auf breiter, naturwissenschaftlicher Basis angelegt und haben fast alle Gebiete der Chirurgie mit Fortschritten bereichert; nie galt ihm die Operation als die Seele der Chirurgie. Dabei durchzog ihn ein tief historischer Sinn, welcher, überkommen von seinem Lehrer Baum, ihn vor Ueberhebung schützte. Seine vornehme Natur ließ ihn jederzeit den eigenen Irrthum rückhaltlos eingestehen, und mit rührender Bescheidenheit beurtheilte er stets seine eigenen Leistungen. – Als Lehrer war er frei von jeder Schulmeisterei. Mit viel Temperament schilderte er das Krankheitsbild, unterstützt durch Vorzeigen von Präparaten und Abbildungen. Dann sprang er wol von dem speciellen Fall ab, um bei einem Knochenbruch die Callusbildung, bei einer Verletzung die Wundinfectionskrankheiten zu schildern. Dieses Abweichen von der Schablone machte seine Vorträge überaus reizvoll, indem er statt des geisttödtenden Nachschreibens stets zum eigenen Nachdenken anregte. Er verstand es aus dem Kreise seiner Schüler, welche ihm aus aller Herren Länder zuströmten, die Talente zu entdecken, und zur Selbständigkeit zu entwickeln. Dabei gewährte er ihnen volle Freiheit der Forschung und erkannte in seiner meist schriftlich abgegebenen Kritik dieser Arbeiten in erster Linie immer das Tüchtige darin an. Schüler heranzubilden gelang nach seiner Ansicht nicht durch Uebertragung von Erfahrungen und Wissen, sondern weit mehr durch unbewußte Contagion; dazu müsse man [555] aber selbst noch frisch sein und selbst noch viel arbeiten. Es ist B. wie keinem deutschen Chirurgen, außer seinem Lehrer B. v. Langenbeck, gelungen, eine Schule zu gründen. Aus dieser sind eine große Reihe klinischer Professoren der Chirurgie (in Deutschland Czerny, Mikulicz, v. Eiselsberg; in Oesterreich Gussenbauer, Wölfler, v. Hacker; in Belgien v. Winiwarter; in Holland Salzer, Narath) und viele Hospitalchirurgen hervorgegangen. – Die operative Chirurgie hat er erweitert, wie keiner neben ihm. Er wurde der Schöpfer der Darmchirurgie und eröffnete der Gynäkologie die operative Richtung; seiner Hand gelang die erste Exstirpation eines Kehlkopfs (31. December 1873) und die erste Resection des Magens (29. Januar 1881). Unerreicht war er in der Technik und zumal der chirurgischen Plastik, wie denn überhaupt seine Operationen den Eindruck einer vollendet künstlerischen Leistung machten. Sein Ruf war über die ganze Welt verbreitet und führte ihn nach Alessandrien, Athen, Lissabon, Mailand, Paris, Petersburg.

Engverschlungen mit seiner Wissenschaft war bei ihm die Kunst. Von Jugend auf durchglühte ihn die Leidenschaft zur Musik; Musik war die Welt, in welcher er sich ganz glücklich fühlte. Er wurde ein enthusiastischer Verehrer der Compositionen von Brahms, von denen manche zuerst in Billroth’s gastlichem Hause aufgeführt wurden, und von Hanslick’s litterarischen Arbeiten.

Und B. als Mensch! Rein und edel blieb er immer sich selber getreu. Offen und wahr gab er stets seinen ganzen Menschen hin, ohne Rücksicht auf sociale Stellung. Im Kampf um Recht und Wahrheit blieb sein willensstarker Charakter unbeugsam, und mit scharnierlosem Rücken wahrte er sich die Unabhängigkeit. Flott und lebensfroh, dabei weltgewandt und freigebig nach allen Seiten, genoß er das Leben in vollen Zügen; Theater und Concerte waren ihm Bedürfniß. Was in seinen Gesichtskreis kam, packte er mit fascinirender Gewalt und eroberte alle Herzen im Sturm; denn der Grundton seiner Seele waren menschliches Empfinden und herzliche Innigkeit. Dafür trugen Alt und Jung ihn zeitlebens auf Händen. Um Billroth’s schöne, ideale Gestalt schlingt sich ein Zauberbann, welcher, wie die enthusiastische Aufnahme seiner von mir herausgegebenen „Briefe“ gezeigt hat, diesen geradezu einzigen Menschen unvergeßlich macht!


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joseph Lister (1827–1912), Professor in Glasgow, Edinburgh und London.