Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Löhe als Prediger

« Zweites Kapitel Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
Löhe als Liturg »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Löhe als Prediger.
 Daß Löhe zu den größten und vollendetsten Predigern seiner Zeit gehört, ist anerkannt. Seine Rede hatte eine gewaltige, die Gemüter bezwingende Macht. Das Geheimnis dieser Anziehungskraft lag wol zunächst in Löhe’s natürlicher rednerischen Begabung. Was Cicero de oratore I, c. 25 als die dona naturae anführt, ohne welche Niemand zu den Rednern zählen könne: „linguae solutio, vocis sonus, latera, vires, conformatio quaedam et figura totius oris et corporis – dazu animi atque ingenii celeres quidam motus, qui et ad excogitandum acuti et ad explicandum ornandumque sint uberes etc. – alle diese natürlichen Eigenschaften eines großen Redners vereinigten sich bei Löhe in seltenem Maße. Wenn er dennoch den Namen eines Redners oder gar eines Kanzelredners fast mit Entrüstung von sich ablehnte, so geschah das nicht blos aus Bescheidenheit, sondern aus der tiefen Ueberzeugung| heraus, daß der Prediger etwas Anderes sei als ein Redner, nämlich ein Bote Gottes, ein Zeuge himmlischer Wahrheit, und daß die Predigt nicht blos ein Reden, sondern ein Handeln mit der Gemeinde sei.

 Sicherlich war es auch nicht allein die Naturbegabung, die ihn zu seiner großen Wirksamkeit als Prediger befähigte. Es war vielmehr die Plerophorie des Glaubens, aus welcher heraus sein Zeugnis quoll, es war die Tiefe und der Reichtum der Schriftauslegung und Schriftanwendung, die bei allem Schwung der Gedanken doch immer praktische Haltung und endlich auch die oft elastische Schönheit der Form seiner Rede, was seinen Predigten ihre ungemeine Anziehungskraft und ihre durchschlagende Wirkung verlieh.

 Man fühlte es Löhe’s Predigten ab, daß er von der Wahrheit des göttlichen Wortes selbst innig durchdrungen war. Darum war er auch im Stande, die göttliche Wahrheit überzeugend darzustellen. Daß die Bibel das Wort Gottes sei, davon waren auch diejenigen seiner Gemeindeglieder überzeugt, deren Leben ganz und gar der Bibel nicht gemäß war.

 Vor Allem war Löhe ein biblischer Prediger. Nicht geistreiche Gedanken über den Text wollte er geben, sondern einfach die göttlichen Gedanken aus dem Text ans Licht stellen. Wenn andere Prediger häufig sich begnügen, des Textes Oberfläche zu schürfen, grub er als ein kundiger Bergmann in die Tiefe, um aus den Schachten der heiligen Schrift das Gold der göttlichen Wahrheit zu Tage zu fördern. Dabei war seine Auslegung so einfach und einleuchtend, daß er nicht menschliche Zuthat zu dem Text gegeben, sondern nur die Decken von den Augen und das Hüllen von dem Text weggethan zu haben schien, wodurch andere gehindert wurden zu sehen was er sah. Der exegetische Gehalt war es, der seinen Predigten vor Allem| Wert verlieh. Nicht als ob er ein Mann der wissenschaftlichen Exegese gewesen wäre – das war er nicht und maßte sich auch nicht an es zu sein, wol aber war er ein Meister jener keryktischen Exegese, von welcher Rudolf Stier mit Recht sagt, daß in ihr erst der Text mit seinem vollen Inhalt und dem Reichtum seiner Beziehungen zum Rechte komme. Es ist natürlich nicht möglich, dies an gegenwärtigem Ort mit Beispielen zu belegen. Wir müssen auf die im Druck erschienenen Predigten Löhe’s, namentlich auf seine Epistelpredigten, verweisen. Aber an einigen Einzelheiten möchten wir doch zeigen, wie gewissenhaft Löhe es mit der obersten Forderung, welche man an die Predigt stellt, der Forderung der Textgemäßheit, nahm. Bekanntlich erlaubte er sich zu diesem Zweck hie und da auch eine Correctur der lutherischen Übersetzung. Doch that er dies nicht aus Lust an Silbenstecherei, sondern nur dann, wenn die Ersetzung des freieren Ausdrucks durch einen knapper an den Wortlaut des Originals sich anschließenden der Erleichterung des Verständnisses diente oder sonst auch einen praktisch verwertbaren Vorteil bot. So z. B. übersetzte er ἀνεπίληπτος 1. Tim. 3, 2 mit „unantastbar“, weil dies deutsche Wort genau den Sinn des griechischen wiedergibt; das Wort νεόφυτος ebenda mit „Neubekehrter“, weil „Neuling“ härter klingt als der griechische Ausdruck. In einer Predigt über Phil. 4, 7 übersetzte er die Worte ἡ ὑπερέχουσα πάντα νοῦν „der Friede Gottes, der alle Vernunft überragt“, denn in dem griechischen Text liege gleichsam die Bemühung der Vernunft ausgedrückt, die sich höher und höher schwinge, den Frieden Gottes zu erfassen, der sich aber ihrer Bemühung ihn zu erreichen immer wieder entziehe, weil er weder begriffen noch gefühlt, sondern nur geglaubt werden könne. In derselben Predigt machte er darauf aufmerksam, daß das Verbum φρουρήσει nicht Optativ, sondern Futurum sei. In dieser viel| bestimmter lautenden Fassung („Der Friede Gottes wird bewahren etc.“) fand er die Gewißheit dieses Gottesfriedens, seine Unabhängigkeit von subjectiven Empfindungen und Gefühlsstörungen angedeutet. – Einen praktisch noch wichtigeren Gebrauch wußte er in einer Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis von der hier unumgänglich nötigen Correctur der lutherischen Uebersetzung von Luc. 19, 42 zu machen, wo übrigens schon die Vulgata das Richtige hat: „O daß doch auch du erkennetest, und zwar an diesem deinem Tage, was zu deinem Frieden dient“. Hier behauptete er, im Gegensatz zu dem Irrtum des Terminismus, daß die Gnadenzeit so lange währe als die Lebenszeit, daß aber innerhalb der Gnadenfrist sich besondere Heimsuchungstage hervorhöben (wie der Tag des Einzugs Jesu in Jerusalem ein solch auserwählter Gnadentag für Jerusalem gewesen sei), durch deren Versäumnis man sich, je öfter man sie ungenützt verstreichen lasse, die Annahme des Heils immer mehr erschwere, daher es gelte, die gegenwärtige Gnadenzeit, das „Heute“ zu benutzen etc.
.
 Wenn es so einerseits der Reichtum seiner Schriftauslegung war, worauf der Hauptwert seiner Predigt beruhte, so machte die praktisch-seelsorgerliche Haltung derselben sie auch der Fassungskraft der Gemeinde zugänglich. Aus dem richtig erkannten und tief empfundenen Bedürfnis seiner Hörer heraus erwuchsen seine Predigten. Kein Gebiet des Lebens, kein wichtiges Zeitereignis, kein bemerkenswerter Vorfall in der Gemeinde blieb da unbesprochen. In diesem Sinne waren seine Predigten populär. Wer freilich unter Popularität des Redners eine Herablassung desselben in Gedanken und Gedankenausdruck auf den Bildungsstandpunct des Landmanns versteht, wird sie an Löhe’s Predigten oft vermissen. Er wollte eben lieber anstatt zur Gemeinde herabzusteigen, sie hinaufheben zu seiner Höhe| der Betrachtung göttlicher Dinge. Doch stand ihm, wenn er wollte, auch der volkstümliche Ton der Rede zu Gebot. Wenns nötig war, verschmähte er auch drastische Ausdrücke nicht. Immer aber war Form und Ton der Rede der Situation angemessen. Den hohen liturgischen Ton forderte er namentlich von der Festpredigt. An hohen Festen, an welchen seine Seele besonders feierlich gestimmt und gehoben zu sein pflegte, schwebte auch seine Rede wie im Adlerfluge dahin und schien oft mehr Lobgesang und Anbetung als Predigt zu sein.
.
 Vielleicht wird es dem Schreiber dieses gegeben, dem letzten Band dieser Biographie eine Beschreibung der Feier der großen Woche, wie sie sich in späteren Jahren ausbildete, einzufügen und damit ein Stück Neuendettelsauer kirchlichen Lebens zur Darstellung zu bringen, das wohl wie eine Wiederkehr der Herrlichkeit altkirchlicher Festfeier, von der die Väter so begeistert reden, erscheinen konnte. Was es um kirchliche Festfeier, um die lebendige Vergegenwärtigung der heiligen Geschichte, um das feiernde Nacherleben der großen Thaten Gottes ist, auf denen unser Heil ruht – das konnte man in Neuendettelsau während der geistlichen Blütezeit dieses Ortes verstehen lernen. Jedes der großen Feste der Christenheit wurde mit gebührender Auszeichnung gefeiert, die Krone des Kirchenjahrs aber war die Charfreitags- und Osterfeier. An diesen Tagen war auch der Zudrang auswärtiger Festgäste, die an der Feier und dem Segen der Feier Theil begehrten, ein großer. Ganze Schaaren von Festpilgern sah man da dem stillen Dorfe zuströmen, das ihnen für Emmaus galt, und von wo auch gar Mancher mit brennendem Jüngerherzen heimkehrte. So ergreifend und erhebend übrigens die Charfreitags- und Osterpredigten Löhe’s waren, so erschien er doch – wenigstens ist das der Eindruck des Schreibers dieser Blätter – noch größer als Pfingstprediger.| Dieses Fest, welches bekanntermaßen an den Prediger die größten Ansprüche stellt, gab Löhe Gelegenheit vor dem geförderteren Theil seiner Gemeinde (im Betsaale) in meisterhafter Weise Themata zu erörtern, die dem geheimnisvollen Gebiet der inwendigen Erfahrung und der wunderbaren Wirksamkeit des Geistes angehören. Zwei solcher Pfingstpredigten stehen mir noch frisch und unvergessen vor der Seele. Die eine behandelte den Text 1. Cor. 12, 28 ff. „Die Kirche – so etwa begann die Predigt – gleicht einem Schiffe, das mit spitzem Kiel die Wogen durchschneidet und unaufhaltsam dem ewigen Port zusteuert – oder einer Colonne, die eng geschlossen sich durch ihre Feinde hindurchschlägt und zum ewigen Ziele dringt. Die Gemeinde der Gläubigen ist eine von der Erde fliehende, dem Himmel zueilende Schaar. Aber so richtig diese Ansicht von der Kirche ist, so ist sie doch einseitig und unvollständig. Die Kirche hat bei innerer Scheidung von der Welt doch auch die Aufgabe auf die Welt zu wirken. Dazu bedarf sie der Organisation, des Amtes und seiner manchfaltigen Gliederung. Jedes Amt setzt aber eine Gabe voraus. Amt ohne Gabe ist Leuchter ohne Licht, wiederum aber bedarf das Licht, damit es Allen scheine, die im Hause wohnen, des Leuchters. So auch bedarf die Gabe, um segensreich in der Ordnung Christi zu wirken, des Amtes. Zur Lösung ihrer Aufgabe in der Welt hat darum der HErr, wie dort Elia dem Elisa, der Kirche den Mantel der Wundergaben des Geistes zurückgelassen. Die Fülle der Charismen, von denen das ganze Textkapitel redet, ist die Pfingstausstattung der Kirche. – Aber sind denn nicht diese Charismen, wie so Viele behaupten, erloschen? Nein, das ist nur die Meinung der ungläubigen Gegenwart. Der Geist ist noch auf dem Plan, und wo der Geist ist, da sind auch seine Gaben. Man sagt: die Erde verliert nichts; auch die| Kirche verliert nichts von den Schätzen, die der HErr ihr anvertraut hat. Es ist mit den Geistesgaben wie mit dem Meere; da wechselt Ebbe und Flut. Gott kann wieder größeren Reichtum der Geistesgaben geben. Man kann nach den Gaben streben (V. 31); des Strebens bester Theil aber ist das Gebet. Um eine Gabe sollte insonderheit eine Genossenschaft von Diakonissen an Pfingsten beten; nämlich um die Gabe der ἀντιλήψεις („Helfer“) V. 28. Die ἀντίληψις ist die Gabe der Diakonie. Das Wort bedeutet eigentlich „hilfreich angreifen“. Nun wohl, denkt da die Eine und Andre, ich bin gesund, habe kräftige Glieder und kann darum anpacken, ich habe das Zeug zu einer perfecten Krankenpflegerin. Mit nichten; die Kunst des geistlichen Annahens, des barmherzigen Liebesdienstes an den Kranken und Elenden ist Gnadengabe, die mußt Du Dir erbitten etc.

 Die andere Predigt, gleichfalls vor der Diakonissengemeinde gehalten, behandelte einen wichtigen Gegenstand des inwendigen Lebens. Löhe redete auf Grund von 2. Cor. 11, 2 und Apocal. 14, 1–5 von der Gabe der Jungfräulichkeit.

 Was ist die Jungfräulichkeit, von der in diesen Texten die Rede ist, nicht? fragte Löhe zuerst und antwortete darauf: Keine blos weibliche Tugend, denn sie wird Apocal. 14 männlichen Gemütern zugeschrieben; auch keine Tugend der Ehelosen allein vgl. 2. Cor. 11, 2. Freilich könnte man dagegen aus Apocal. 14 einen Einwurf erheben. Indessen kann die Ehe, die Gott selbst gestiftet hat, kein μολύεσθαι μετὰ γυναικῶν heißen; ja es wäre eine Schande, so etwas nur im Ernste denken zu wollen. Die Jungfrauschaft, von der hier die Rede, ist weder die weibliche noch die leibliche Jungfrauschaft.

 Was ist sie denn? fragte er weiter, und gab darauf die Antwort: In dem hohen Styl des h. Johannes bezeichnet| παρθένος nicht die Jungfrau schlechtweg, sondern die bräutliche, die verlobte Jungfrau. Die Jungfräulichkeit ist also nicht blos einseitig, sondern so zu sagen zweiseitig zu fassen: Freiheit von der Welt und allen Erdendingen und bewußte Hingebung an Jesum, Nachfolge des Lammes. Auch männliche Gemüter müssen sich Christo gegenüber gleichsam weiblich fassen. Das alte Wort bekannten Tones: „Rein ab und Christo an!“ kommt hier zur Anwendung.

 Wie ist sie beschaffen? Einfalt (ἁπλότης εἰς Χριστόν 1. Cor. 11, 2) ist ihre schönste Form. Sie erscheint auch als eine Art von Hoheit. Natürlich ist sie nicht, sie ist keine Frucht menschlichen Ringens, sondern eine mühelos von Oben gegebene Sache, eine Gabe des Geistes. Dieser Umstand macht den gewählten Text pfingstmäßig.

 Was wirkt sie denn? Ich erinnere an das Wort der Väter: In cruce virgo virgini virginem tradidit. Eine Jungfrau (Jesus) hat vom Kreuz herab eine Jungfrau (Maria) einer Jungfrau (dem Johannes) anvertraut. Daraus demonstriere ich mir: Die Jungfräulichkeit bekommt hohe und herrliche Geschäfte in Zeit und Ewigkeit.

 Ferner lesen wir Apocal. 14, 3 daß nur die jungfräulichen Seelen das neue Lied, das vom Himmel her erklang, haben lernen können. Daraus schließe ich: Die Jungfräulichkeit macht tüchtig für die höchsten Freuden und reif für die seligsten Erfahrungen.

 Wollt ihr Euch nicht sehnen nach dieser edlen Gabe, nicht an Pfingsten sie Euch erbitten? Jeder kann sie erlangen. Wenn ein Weib zu mir käme, das sich im Schmutz der Lüste gewälzt hätte, und mich fragte: Kann ich auch noch jungfräulich werden? so würde ich in die Hände klatschen vor Freuden und sagen: Auch Du!

 Gebet um jungfräulichen Sinn und eine gottverlobte Seele.

|  Es sind ja freilich nur dürftige Skizzen, die wir im Vorstehenden unsern Lesern bieten konnten. Aber einen Eindruck von der Herrlichkeit der Festpredigten Löhe’s und von der Hohheit der Gedanken, die er an solchen Tagen seiner Zuhörerschaft vorlegte, können sie doch geben.

 Natürlich predigte er anders vor seiner Dorfgemeinde, namentlich an gewöhnlichen Sonntagen. Da wußte er von den Höhen der Betrachtung auch herabzusteigen in die Niederungen des Lebens und der ordinären Wirklichkeit. Wenn es galt, Schäden und Sünden der Gemeinde zu strafen, wenn Texte wie 1. Thess. 4, 1 ff. oder Eph. 5, 1 ff. dazu biblischen Anlaß boten, da scheute er sich nicht, die Dinge beim wahren Namen zu nennen und der Gemeinde ihre Sünden mit derben Ausdrücken zu Gehör zu bringen.

 Da fielen zwischenein wol auch harte Aeußerungen, wie wenn er einmal seine Gemeinde einen elenden Pöbel, ein stumpfes Volk nannte, das durchs Leben träg und dumpf hinsimple etc. Von ihm vertrug die Gemeinde auch so herben Tadel, denn sie kannte doch sein väterlich Herz und fühlte es durch, daß auch das strenge Wort von Liebeseifer um die Seelen, nicht von ordinärer Lust am Schelten eingegeben sei. Er wußte auch anstößige Dinge z. B. des geschlechtlichen Lebens in einer Weise zu besprechen, die gleichweit entfernt von Prüderie wie von gemeiner Deutlichkeit war. Die natürliche und doch keusche Sprache der heil. Schrift von solchen Dingen galt ihm hierin als Muster. Daß für einen Prediger, der bei gegebenem Anlaß sich nicht scheute, auch so heikle Materien in den Bereich der Besprechung zu ziehen, die Gefahr nahe lag, die Grenzlinie des Schicklichen zu streifen, daß ein sehr geheiligter Sinn und viel Tact dazu gehörte, diese Gefahr zu vermeiden, ist zuzugeben. Einmal entsinne ich mich doch, daß die Gemeinde über| die Behandlung derartiger Dinge in der Predigt ungehalten war. Löhe hatte eine Reihe von Predigten angekündigt, in welchen er die Culturzustände der Gemeinde und die daraus für das sittliche Leben erwachsenden Gefahren besprechen wollte. In der ersten Predigt kam er auf die Uebelstände der Schlafräume etc. zu sprechen, und welche demoralisierenden Wirkungen das Zusammenschlafen von Aeltern und Kindern, heranwachsender Kinder beiderlei Geschlechts, roher Knechte mit den Knaben des Hausvaters auf Einem Lager, der Uebelstand, daß die Schlafstellen der männlichen und weiblichen Dienstboten oft nicht einmal durch einen Verschlag geschieden seien etc. notwendig zur Folge haben müsse, daß derartige Zustände unvermeidlich eine Brunnenstube der Unsittlichkeit und des Lasters seien. Dabei wurde auch die schlechte Beschaffenheit der Lagerstätten selbst und die Rücksichtslosigkeit gegen Alte und Kranke gerügt, die auf schmutzigen Betten in dumpfen, unheizbaren, finstern Winkeln von Kammern lägen, wo in einer Ecke vielleicht das Waschschaff mit der schmutzigen Wäsche, in der ändern die duftende Krautkufe stehe etc. Von diesem freilich getreuen Bild ihrer Cultur- und Sittenzustände war die Gemeinde selbstverständlich wenig erbaut; es hieß: „In eine solche ,Bettpredigt‘ gehen wir nicht mehr.“ Ob Löhe derartige Urteile zu Ohren kamen oder nicht, weiß ich nicht, doch blieb es bei der Einen Predigt und aus dem angekündigten Cyklus wurde nichts.

 So sehr war es Löhe gegeben, auch volkstümlich zu reden – oft bis zur Derbheit.

 Doch naturgemäß war ihm die schöne, gewählte Form der Rede. Nicht als ob er auf den Schmuck der Rede irgend welchen Fleiß verwendet hätte, Form und Gestalt gewannen ja seine Gedanken immer erst in lebendiger Wechselwirkung mit der Gemeinde im Moment des Vortrags. Es war die harmonische| Vollendung seiner Persönlichkeit, die sich in der künstlerisch schönen Form seiner Rede wiederspiegelte. War ja doch auch schon im gewöhnlichen Verkehr seine Ausdrucksweise ungemein und edel. Ungesucht bot sich ihm auch für die Einkleidung seiner Gedanken das Bild. Oder vielmehr seine ganze Weise zu denken war so concret, so intuitiv, so sehr das Gegentheil der fleisch- und blutlosen Abstraction, daß unwillkürlich auch der Ausdruck des Gedankens sich plastisch, greifbar und lebensvoll gestaltete. Nie ermüdete er durch Ausmalen auch des beziehungsreichsten Bildes; einige Andeutungen, flüchtige Pinselstriche genügten ihm. Die ganze Reihe von Vorstellungen, die er durch so ein Bild wie mit einem Schlage erweckte, vor der Seele sich vorüberzuführen: diese Aufgabe überließ er dem Zuhörer. Wie prächtig aufflammende Meteore beleuchteten solche Bilder oft ganze Gedankenreihen mit plötzlicher Klarheit.
.
 Welchen Gesammteindruck bekam man von einem Text wie Römer 8, 18–23, wenn er die ihrer Erlösung vom Dienst der Eitelkeit und des vergänglichen Wesens ängstlich entgegenringende Creatur einer Kameelin verglich, die mit langgestrecktem Halse, hervorquellendem Auge und weitgeöffneten Nüstern durch den glühenden Sand der Wüste ihrem Ziel entgegenschnaubt – oder wenn er in einer Predigt über Luc. 21,25–36 die Gemeinde Jesu unter den Schrecken des jüngsten Tages der Königin Esther auf ihrem Gang zu Ahasver verglich, bei welcher Bangigkeit und Beben in dem Augenblicke schwand, als der König voll Huld und Freundlichkeit seines Scepters Spitze gegen sie neigte. Welche gestaltende Kraft der Phantasie offenbarte sich, wenn er einmal in kühnem Bilde den Eindruck des Ev. Matth. 2,13–23 in die Worte zusammendrängte: „Der Strahl der göttlichen Vorsehung – umrankt von dem Epheu des treuen, menschlichen Gehorsams“; oder wenn er in derselben Predigt sagte: „Jeder Lebenslauf ist| ein Kunstwerk der Vorsehung Gottes. Gold, edles, feingesponnenes hatte Er in der Hand, als Er den Lebenslauf seines eingebornen Sohnes wob; Silber, da Er den Lebenslauf eines Johannes, Spinneweb, da er Deinen und meinen Lebenslauf wob; dennoch kann keine Kanonenkugel das Spinneweb zerreißen, keine Welt und kein Teufel den göttlichen Plan über Dein Leben stören, aber Du kannst ihn zerstören durch Ungehorsam gegen die göttliche Führung“ etc.

 Gewis, das waren nicht rhetorische Bilder, sondern gewaltige Intuitionen, die auch dem Hörer von schwächerer Fassungskraft ein ahnendes Verständnis des Textes erschlossen.

 Als Löhe in den Wochenkirchen der Gemeinde den Galaterbrief auslegte, sagte er einmal: „Wenn man den h. Apostel Paulus malen wollte, so müßte man ihn darstellen, wie er mit dem einen Fuß auf den Trümmern der Götzenbilder steht, und mit dem mächtigen vorgesetzten rechten Fuß tritt er auf all die Kessel und Pfannen des Tempels und alle jüdischen Satzungen, und mit dem Auge schaut er frank und frei dem Herrn Jesus ins Angesicht und spricht: ,So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.‘“

 Ein andermal wollte er die Herrlichkeit der λογικὴ λατρεία, der neutestamentlichen Anbetung im Geist und in der Wahrheit, preisen. Da kam nun als Gegenbild hierzu – eine Schilderung des alttestamentlichen Opferdienstes, wie man Drastischeres nicht leicht hören konnte. Die blökenden Opferthiere, die ganze priesterliche Schlächterei, der Qualm der schmorenden Fettstücke auf dem Brandopferaltar – das Alles wurde mit abschreckender Naturwahrheit dargestellt, Alles zu dem Zweck, um im Sinne des Hebräerbriefs die größere Herrlichkeit des neuen Bundes und seiner Gottesdienste vor denen des alten Bundes zu preisen.

 Dafür, daß solche Schilderungen nicht misverstanden wurden,| wurde schon bei anderer Gelegenheit gesorgt. Wie oft konnte man ihn umgekehrt von der Feierlichkeit und Herrlichkeit des alttestamentlichen Tempeldienstes oder auch – zur Beschämung seiner Gemeinde – von den gewaltigen Ansprüchen reden hören, die derselbe an die Opferwilligkeit der Israeliten erhob. So sagte er einmal in einer Wochenpredigt über den Spruch: „Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten Deine Gelübde etc.“ – nachdem er gezeigt, was für ein materielles Opfer es für den Israeliten war, wenn er bei so häufigen Anlässen seine Lämmer- oder Rinderheerde decimieren mußte, um seiner religiösen Pflicht zu genügen, – indem er seine Zuhörer plötzlich apostrophierte: „Und Du – was opferst denn Du? Du gibst Deinem Gott gar nichts, Du speisest ihn mit Worten ab, und das hältst Du nach Art mancher Protestanten für eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit. Oder ja – Du gibst vielleicht, wenn Du gerührt bist, einen Pfennig, und wenn Du im Ueberschwang der Andacht bist, legst Du einen Zweier ein. Und wenn Du einmal in der Not bist, dann gelobst Du ein paar Kerzen und bringst dann ein paar Dinger daher so dünn wie Regenwürmer etc.“

 Man begreift, welche Anziehungskraft eine solch plastische Darstellung der Textesgedanken auf die Hörer machen mußte.

 Dazu kam die Ruhe und Kraft des Vortrags. Das Göthe’sche Wort (das Löhe selbst gern im Munde führte) von dem urkräftigen Behagen, aus dem die Rede quellen müsse, wenn sie die Herzen der Hörer zwingen solle, konnte man an ihm verstehen lernen. Auch im höchsten Affect war eine wunderbare Ruhe und Gehaltenheit an ihm wahrzunehmen. Seine Action war mäßig und würdevoll. Keine Aufregung, kein künstliches Echauffement, das so oft zum Ersatz des wahren Affects dienen muß, bemerkte man. Die gewaltige Stimme war in den Jahren| seiner Kraft gleichwol reichster Modulation fähig. Er konnte in allen Tönen und Tonarten reden, so schön und zart und innig und so stark und erschütternd als er wollte. So erklärt es sich, wie seine Predigt nach allen Seiten hin anregte. Es ist richtig was ein Sachverständiger urteilte, der ihn Jahre lang in seiner Kraftperiode hörte, daß er mit seiner Predigtweise Erkenntnis und Phantasie, Gefühl und Willen gleich stark in Anspruch nahm. Daher kam die mächtige Gesammtwirkung auf den ganzen Menschen. Man gieng erleuchtet, mit neuen Anschauungen und Gedanken bereichert, innerlich gehoben und gestärkt aus der Predigt. Man hatte Speise fürs ewige Leben empfangen und nicht blos etwas Befriedigendes und Schönes gehört, sondern man nahm eine Aufgabe fürs Leben mit.
.
 Bei seinen Predigten band sich Löhe gern an die kirchliche Textwahl, der er vor allen modernen Perikopenreihen weitaus den Preis gab. Das Bedürfnis nach Abwechslung zwischen den von der Kirche verordneten mit freigewählten Texten empfand weder er selbst noch seine Gemeinde. Für den nötigen Wechsel war anderweitig gesorgt. Vor Allem dienten die Wochenkirchen zur Einführung in den gesammten Reichtum der Schrift. Die Marien- und Aposteltage, St. Johannis-, Laurentius- und Michaelstag etc. wurden regelmäßig durch Gottesdienst und Predigt ausgezeichnet. In den Wochenkirchen, die zweimal, am Mittwoch und Freitag, stattfanden, und wobei Löhe immer freie Vorträge hielt, erklärte er am liebsten fortlaufend biblische Bücher Alten und Neuen Testaments. Es wird wol kaum ein Buch in der Bibel sein, welches er nicht auf diese Weise wenigstens in den Grundzügen seiner Gemeinde vorgeführt hätte. Aber auch wenn er, wie oft, zwei Jahrgänge hinter einander über die Evangelien predigte, fehlte es doch nicht an Mannigfaltigkeit der Gedanken. Ein so reicher Geist brachte aus dem alten| Schatze immer Neues hervor. Bei seinem häufigen Predigen war es doch eine Seltenheit, daß bekannte Gedankenreihen sich wiederholten, so daß er es sich selbst zum Vorwurfe machte, daß er nicht genug das Alte und Bekannte wiedergebe.
.
 Auf seine Vorbereitung zur Predigt verwendete er so viel Fleiß als ihm die Zeit gestattete. Jahre lang schrieb er seine Predigten vollständig aus und zwar so sauber und schön wie Alles was aus seiner Feder floß. Später entwarf er wenigstens ausführlichere oder kürzere Skizzen. Häufig freilich mußte ihm auch eine Meditation von einigen Minuten genügen. Diese extemporierten Predigten waren oft die schönsten und eindringlichsten. Dennoch verließ er sich, wenn er es irgend vermeiden konnte, nicht auf die Eingebung des Augenblicks. Wie oft saß er, wenn seine Gäste zu Bette gegangen waren, in später Nachtstunde über seinem Texte sinnend. Wie oft findet sich in seinen Notizbüchern der erste Predigtentwurf zwei, drei Mal verändert, bis ihm Ausdruck und Ordnung der Gedanken genügte. Wenn aber durchaus keine Zeit zur Vorbereitung zu erhaschen war, so reichte ihm auch der Gang zur Kirche und die wenigen Minuten während des Gemeindegesangs zur Conception seiner Rede hin. Wie wäre es sonst auch möglich gewesen, daß er – und zwar nicht blos in Festzeiten, zwei, drei, vier Mal des Tages redete, und zwar fast immer frisch, anziehend und anregend. Freilich hätte auch diese wunderbare Gabe der Productivität verarmen müssen, wenn Löhe nicht durch unablässiges Studium seinem Geiste neue Gedankenstoffe zugeführt und sein geistiges Besitztum dadurch immerwährend erweitert und bereichert hätte. Indem er aber selbst fortwährend in die Scheunen seines Geistes einsammelte, blieb er im Stande auszugeben und mitzuteilen. Müßig hat man ihn nie gesehen. War er frei von Amtsgeschäften, so war ein Buch in seiner Hand. Fand sich zur Lectüre unter Tags| keine Zeit, so spendete die stille Nacht die nötige Muße. Vor Mitternacht gieng er selten zu Bette, aber auch dann häufig nicht um den Schlaf sofort zu suchen, sondern um die stille Zeit zur Lectüre anzuwenden. Noch einige Jahre vor seinem Tode gönnte er sich nicht mehr als 5–6 Stunden Schlafes. Was ihm als Gewinn seiner Lectüre blieb, das wußte er ebensowol als die Frucht seines Bibelstudiums und seiner Erfahrungen in Amt und Seelsorge sowie im gewöhnlichen Umgang auf die ungezwungenste Weise in die Predigt zu verweben und schicklich zu verwerten. Wie oft haben wir diese Gabe Löhe’s bewundert, vermöge welcher er auch den Stoff seiner oft dem eigentlich geistlichen Gebiet seitab liegenden Lectüre sich innerlich zu assimilieren und für die Predigt nutzbar zu machen und so zu sagen überall die geistigen Tangenten zu ziehen verstand.
.
 Wir haben in dem Bisherigen unsere aus langjährigem Hören der Predigten Löhe’s erwachsenen Eindrücke wiederzugeben versucht. Wir begreifen es, daß diejenigen, die genötigt sind, lediglich aus Löhe’s Postillen sich ein Urteil über seine Predigtweise zu bilden, zu anderen Eindrücken gelangen können. Aber wir möchten fast die Behauptung wagen, daß wer Löhe nur aus seinen gedruckten Predigten kennt, überhaupt nicht zu einem Urteil über seine homiletische Begabung kompetent ist. Gehört der Recensent überdies – wie das bei dem Verfasser der vor einigen Jahren erschienenen „Homiletischen Charakterbilder“ der Fall zu sein scheint – mit seinen theologischen Sympathien einem gegnerischen Lager an, so kann es nicht fehlen, daß in sein Urteil manche schiefe und unrichtige Auffassung einfließt. Es bleibt eben doch wahr: Das Beste und Herrlichste was Löhe geredet hat, ist nicht dasjenige was er vorher oder nachher zu Papier gebracht hat, sondern was er nur von Angesicht zu Angesicht, von Mund zu Ohr und Herz redete. Seine mündlichen| Predigten waren viel lebensvoller und namentlich auch in der thematischen Durchführung einheitlicher als die im Druck erschienenen. Löhe konnte nun einmal am Schreibtische nichts Anderes als Material sammeln, das sich ihm erst im Rapport mit der Gemeinde gestaltete und belebte. Die Gemeinde war der Stab Mosis, der an den Felsen schlug, daß aus ihm lebendige Wasser quollen. Auch wenn er, wie in früheren Jahren, die Predigt vollständig ausschrieb, ja sogar zum Zweck besseren Memorierens ein zweites Mal (!) abschrieb, war es ihm unmöglich, sich beim Vortrag ans Concept zu binden. Er vergaß Vieles von dem, was er gesammelt hatte, neue Gedanken strömten ihm zu, und so wurde auch die vorbereitete Predigt eine Improvisation des Augenblicks. Eben darauf beruhte zum nicht geringsten Theil der Reiz seiner Predigt, daß die mächtige Gedankenarbeit gleichsam vor dem Auge und Ohr des Zuhörers vor sich gieng. Dabei verrieth nichts, daß er extemporierte, ruhig und sicher wogte die Rede dahin. Wenn er so auf der Kanzel oder in späteren Jahren vor seinem Pulte stand und ihm wie aus unerschöpflichem Vorrat Gedanken und Worte quollen, konnte man wol an das Wort des griechischen Dichters erinnert werden:

„Denn einer tiefen Furche gleicht sein Geist,
Aus der des weisen Rates Fülle sprießt.“

 Es begreift sich bei dieser Eigenart Löhe’s leicht, wie viel von der Anziehungskraft seiner mündlichen Predigt beim Druck verloren gehen mußte. Er wußte das selbst; daher er sich erst nach längerer Ueberlegung und auf vielfaches Zureden von Freunden entschloß, einen Jahrgang von Evangelienpredigten im Druck erscheinen zu lassen. So entstand die Evangelien-Postille, die in erster Auflage im Jahr 1848 bei Liesching in Stuttgart erschien. Sie enthält – mit wenigen Ausnahmen –| Predigtvorträge, die Löhe im Jahre 1846/47 vor seiner Gemeinde gehalten hatte. Meistens arbeitete er die vorher concipierten Predigten, nachdem er sie gehalten, für den Druck noch einmal um. Auf diese Weise schrieb er mit eilender Feder oft an einem Tage 3-31/2, häufig 2 Predigten.

 Was er mit seiner Postille anstrebte und wie er seine Leistung selbst beurteilte, darüber gibt die Correspondenz mit seinem Verleger, dem ihm sehr befreundeten und von ihm hochgeschätzten Buchhändler Samuel Gottlieb Liesching, interessante Aufschlüsse.

 „Von Jugend auf“ – schreibt er ihm unter dem 10. Dezember 1846 – „hat sich in mir die Sehnsucht Frucht zu bringen mit der nach stillster Ruhe gestritten. Die Worte: „Er ruhete von aller Seiner Arbeit“ und: „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch“ haben mir so wohl gefallen, daß ich nicht wußte, welchem den Vorzug geben. Könnte ich meinem Volke eine Postille geben, die ihm nützte und frei wäre von den Gebrechen, welche die Zeit trägt (andere Gebrechen würde sie genug haben), so wäre mir’s lieb – und dann Stille. Ich sehne mich, ich verlange auf das Brünstigste die Stille Seines heiligen Tempels.“

 „Sie wissen“ – schreibt er etwas später demselben – „daß ich einen Theil meiner Vorbereitungszeit zu meinem Heimgang auf die Ausarbeitung einer Postille theils gewendet habe, theils noch wende. Rudelbach versuchte in seinen bei Heyder in Erlangen herausgegebenen Heften seiner Zeit etwas zu bieten, was eine etwas längere Dauer hätte als der Schwarm von Erbauungsbüchern, welche, von der Zeit, an ihr spurlos vorübergehen und nur von der großen Schwachheit dieser Zeit der Nachwelt berichten. Ich bin nicht Rudelbach, aber derselbe Gedanke ist meiner.“

|  Sein Ziel hatte sich sonach Löhe allerdings hoch gesteckt. Es erreicht zu haben, maßte er sich nicht an.

 Am 1. Juni 1847 schreibt er an Raumer: „Ich weiß, wie unvollkommen alle meine Sachen sind; auch die, welche ich gut verstehen sollte; ich kann kein κτῆμα εἰς ἀεί der Kirche geben. So will ich eben noch einmal zufrieden sein anzuregen und mich freuen, wenn aus meinem vergänglichen Samen ein unvergängliches Leben hie und da entsproßt.“

 Aehnliche Aeußerungen finden sich in Briefen an seinen Verleger, so z. B. in einem Briefe vom 25. August 1847: „Sie schreiben mir tröstliche Worte vom Eindruck meiner Postille auf Sie. Mein schriftliches Predigen ist meist hinter meinem mündlichen zurückgeblieben, und mein’ jetziges Predigen im Allgemeinen ist an Frische und Kraft nicht mehr wie zur Zeit, da ich in Kirchenlamitz, Nürnberg oder Altdorf predigte. Ich bin noch kein alter Mann, und ich komme mir doch recht alt geworden vor, so viel Jugend und Jugendschmuck des Lebens liegt hinter mir. – Sie finden einen Unterschied zwischen meiner Postille und andern Predigten; ich finde ihn auch. Der bescheidene Titel ,Postille‘ decke meine Mängel. Ich weiß, daß ich nicht gelehrt, noch wissenschaftlich bin, und lasse darum andern gern die Palme; aber so bin ich, und so gerät mir’s. Ich habe mich richtig beurteilt, verehrter Freund, als ich sagte, ich könne das Manuscript zu den Predigten nicht auf einmal versprechen; ich wußte wol, daß die Unvollkommenheit meiner Leistungen mich zu schwer drücken würde, als daß es mir gelingen könnte, ohne äußern Anstoß bis zu Ende zu kommen. Ich frage mich oft, was mich zum Schreiben treibt; ich verliere über dem Jagen nach meinen Idealen alle Ideale und behalte das Gefühl meines Nichts und meiner Sünde, das mir Gott zu wahrer Buße segnen wolle.“

|  Bei der Zusendung des letzten Manuskripts schreibt er demselben: „Ich habe gemeint, ein wenig zum Besten der Kirche thun zu können, ich lege aber reichlich gedemütigt und fast jammernd die Feder nieder. Es kommt mir alles so ex abrupto gesagt, so unverbunden und schlecht gesagt vor, und jeder Correcturbogen, den ich lese, macht mir bang, es möchte dem Leser gehen wie mir. Es ist Alles so ungefeilt, so unvollendet, daß mich in meinem Urteil auch der Umstand nicht irre machen würde, wenn die Postille eine günstige Aufnahme fände.“

 Und ein andermal schreibt er unter dem gleichen Eindruck: „Obwol misgestaltet und misraten in jeder Weise hangt meine Seele doch an dem Gedanken, daß sich alles Wahre und Gute im Schönen vollenden müsse, und da hinaus geht mir Alles. Es ist ein Schrei nach Vollendung in mir, den ich mit der Menge meiner Sünden doch nicht übertäuben kann. Wenn mein seliger Freund Fritz (Liesching) und meine selige Freundin, die mir noch näher gewesen, noch bei mir wären, so würde ich mit jenem nach dem Ausdruck dessen gesucht haben, wovon ich sinne und sage, und an dieser und ihrem Verständnis erprobt haben, ob ich zum Inhalt die Form, die Form der einfältigen Schönheit gefunden. Wie es jetzt ist, lehre mich allein der HErr, der heilige Geist, der die Sprachlosen reden lehrt. Von Ihm kommt ja alleine Verstand und Weisheit.“

 Die erste Auflage der Evangelien-Postille widmete Löhe seiner greisen Mutter. „Ich möchte“ – schreibt er am 4. October 1847 seinem Verleger – „die Predigten gern meiner Mutter dedicieren. Als ich hörte – als Knabe –, daß Epaminondas seine Siegeskränze seiner Mutter gebracht, wünschte ich mir Siegeskränze, um sie meiner Mutter zu geben. Ich hab keine und halt auch meine Postille für keinen. Dazu ist meine Mutter eine bescheidene, 77jährige Frau, die von der Erwähnung,| daß sie noch lebe, schon unangenehm berührt werden könnte. Kann ich dies Letzte überwinden, so folg ich dem Zuge, den ich dennoch habe. Wenn nicht, so widme ich ihr mein Buch incognito.

 Das christliche Publicum hat bekanntlich über Löhe’s Postille ein ohne Vergleich günstigeres Urteil gefällt als er selbst. Das Buch ist im August 1874 in vierter Auflage erschienen und wird aller Wahrscheinlichkeit nach noch länger einen dankbaren Kreis von Lesern besitzen, die ihr Bedürfnis nach Erbauung in demselben befriedigen. Von den vielen anerkennenden Urteilen, die Löhe auf schriftlichem Wege über seine Evangelien-Postille zugiengen, ist ihm eins besonders wertvoll gewesen und geblieben. Es ist ein Brief Schuberts vom 21. März 1856. Ich denke, er darf hier zum Schluß dieses Abschnitts eine Stelle finden.

 „Ein alter, armer Mitknecht an der Verheißung in Christo, welche auch die Armen reich, die Verzagten mutig und getrost macht, möchte Ihnen, geliebter Bruder in dem HErrn, schon längere Zeit her seine Hand reichen und mit Ihnen im Geist gemeinsam seine Kniee beugen vor Dem, der aus Gnaden Sie gewürdigt hat, ein Gefäß des lebendigen Wassers zu sein und zu werden, das viele Seelen getränkt hat mit Kräften des ewigen Lebens. Auf Seine Füße, welche nur den Weg zu unserm Heil am Kreuze giengen, kann ich armer, alter, von Ihm geretteter Sünder meine Thränen der Liebe und des Dankes nicht weinen; ich habe sie aber oft geweint, wenn ich die lebendigen Worte in den Wächterrufen Ihrer evangelischen Hauspostille las. Das Engelbrot, welches Elias dort unter dem Wachholderbusch gereicht wurde, war ein anderes Brot als das irdische, um dessen Gabe wir an jedem Tage bitten, denn in Kraft derselben Speise gieng der Prophet vierzig Tage.| Das himmlische Manna aber, das hochheilige Sacrament: der wahre Leib und das wahre Blut unsers HErrn Jesu Christi, hat noch ganz andere Kräfte als das Engelbrot beim Wachholderbusch. Lasse der HErr, mein Gott, die Kräfte dieses wahren Brotes vom Himmel an Ihrem Geiste wie an Ihrem Leibe kund werden. Möge es Ihm gefallen, Sie noch vierzig Jahre seiner Kirche zum Heil und zum Trost zu erhalten.

 Wie habe ich mich gestern an Ihrer Gründonnerstags-, heute an Ihrer Charfreitagspredigt gestärkt und erhoben. Der Herr hat Sie berufen und geweiht, dem unheiligen Geist unserer Zeit gegenüber ein Verkündiger und Zeuge der Himmelskräfte zu sein, die im Sacrament des Altares liegen.

 Er segne und behüte Sie.

Ihr alter, dankbarer Freund 
Dr. Gotthilf Heinrich Schubert. 

 München, 21. März 1856.





« Zweites Kapitel Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
Löhe als Liturg »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).