Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Löhe als Liturg

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Löhe als Katechet »
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Löhe als Liturg.
 Frühzeitig schon war es Löhe’s Bestreben, dem Hauptgottesdienste seine in der rationalistischen Zeit ihm abhanden gekommene liturgische Zier wieder zurückzuerstatten. Geraume Zeit bevor die Kirchenbehörden in Bayern auf Wiedereinführung liturgischer Ordnungen Bedacht nahmen, war in Dettelsau die Herrlichkeit der alten lutherischen Gottesdienste wieder auferstanden. Nicht auf ein Mal, sondern nach und nach suchte Löhe seine Gemeinde in den vollen liturgischen Reichtum der lutherischen Kirche einzuleiten. Indes waren hier schon im Jahre 1843 die wesentlichen Stücke der Communio in kirchlicher Uebung. Die im Jahr 1843 verfaßte Pfarrbeschreibung schildert den Verlauf des sonntäglichen Hauptgottesdienstes in| folgender Weise: „Statt des Introitus ein Lied, Kyrie, Gloria, gemeines Gebet, Epistel, Votum (Halleluja), Lied, Gebet, V. U., Evangelium, Predigt, Vermahnung zum Gebet, Fürbitten, V. U., Lied. Bei Communionen: ,Schaffe in mir Gott etc.‘, Abendmahlsvermahnung, Verba, Agnus, V. U., Pax, reihenweise Austheilung des Brots und an dieselbe um den Altar knieende Reihe gleich auch des Kelchs; während der Distribution Gesang: ,Gott sei gelobet etc.‘ Hernach: ,Danket dem HErrn etc.‘ Antwort: ,Und seine Güte etc.‘ Sanctus. Danksagung. ,Dominus vobiscum.Benedicamus. Benedictio.

 Wie Löhe bei der Einführung liturgischer Formen zu Wege gieng, sieht man am besten aus dem Ratschlag, den er dieserhalb dem Pastor Eichhorn auf dessen Bitte erteilte. Unter dem 21. August 1844 schreibt er demselben:

 „Meine ganze Gemeinde betet mit mir in den Christenlehren den Katechismus, am Mittwoch das Te Deum, am Freitag die Litanei. Ich habe diese und ähnliche Dinge zuerst ganz einfach eingeübt, dann mit ihr dieselben in der Kirche gebetet und dann die Gemeinde zur Theilnahme ermuntert, die nach und nach und immer mehr erfolgte. Auf das Verlangen der Gemeinden darf man meines Erachtens in dergleichen Dingen nicht warten. Verlangen setzt Kenntnis voraus – und diese ist ja nicht da. Eben durch die Uebung wirkt man erst das Verlangen. Lippenwerk wird es bei Etlichen immer sein; aber davor fürchte ich mich in dergleichen Dingen nicht, da ich ja auch meine Kinder viele Dinge auswendig lernen lasse, deren Kraft und Tugend sie nicht sogleich erfahren. Es liegt im Aeußeren etwas Pädagogisches, was die Kirche, die nicht blos eine Sammlung von Gewordenen, sondern auch von Werdenden ist, nie anders als zu ihrem Schaden verschmäht hat. Wenn Alles, was man in der Kirche singt und betet, nur| dann geschehen sollte, wenn es Ausdruck vorhandenen inwendigen Lebens ist, so wird wohl tiefe Stille eintreten müssen. – Als ich anfieng Te Deum zu beten, war es ziemlich unerquicklich: jetzt ists nicht mehr Lippenwerk allein; ich freue mich immer auf den Mittwoch. Noch mehr war es bei der alternierenden Litanei der Fall; dennoch bete ich sie nun bereits mit der großen Gemeinde im Sonntaghauptgottesdienste. – Ich erkenne immer mehr, daß liturgische Einrichtungen erst dann ihre volle Wirkung äußern, wenn sie nicht mehr neu sind. Die Neuheit stört, die Gewohnheit fördert. – – Daß ich bei gegebener Gelegenheit gegen alles opus operatum lehrend und eifernd auftrete, versteht sich.

 „So wie ich von der Theilnahme der Gemeinde an der Liturgie Segen erfahre, so erfahre ich von selbstthätiger Theilnahme auch in anderen Stücken Segen. Ich frage in den Christenlehren auch die Alten. Es wollte anfangs nicht gehen; aber die Aufmerksamkeit wurde gemehrt, das war die erste Frucht. Jetzt ist es schon weiter, wenn auch noch nicht da, wo ichs wünsche.“

 Im Jahre 1853 am 1. p. Trin. wurde die volle Form der lutherischen Communio in der Kirche zu Neuendettelsau zum ersten Male gebraucht. Die Gemeinde zeigte sich empfänglich, und namentlich die Abendmahlsliturgie wurde ohne Widerspruch an-, ja mit Wohlgefallen aufgenommen, schon um der Gesänge willen, welche Löhe durch einen häufig anwesenden Freund seinen Missionsschülern einüben ließ. So war die Gemeinde bereits zur Kenntnis und Wertschätzung der Liturgie erzogen, ehe das bayerische Kirchenregiment liturgische Anordnungen zu machen versuchte. Aus diesem Grunde gieng auch der Sturm gegen die vom Kirchenregiment befohlene Liturgie, der späterhin von Nürnberg aus über das ganze protestantische| Bayern hinbrauste und dieselbe an vielen Orten, wo sie kaum eingeführt war, wieder wegfegte, an der Gemeinde Neuendettelsau spurlos vorüber. Nur vereinzelt regte sich gegen gewisse liturgische Gebräuche hie und da ein Geist des Widerspruchs. Ein schon älterer Mann, der gerne den Kritiker („Verständler“ sagt man dafür in Neuendettelsau) spielte, weigerte sich, auf das Gebet des Geistlichen am Altare mit der Gemeinde das „Amen“ zu sprechen, und gab für seine Weigerung den Grund an: „er brauche nicht des Pfarrers Arbeit zu thun“. Löhe bewies in einem der nächsten Gottesdienste aus 1. Cor. 14, 16, daß das „Amen“ der Gemeinde gehöre und daß es ihre Pflicht sei, mit demselben die Gebete des Geistlichen sich anzueignen und zu besiegeln.

 Das Knieen bei der Consecration war ebenfalls eine Sitte, zu der Manche sich anfänglich nicht bequemen wollten. Diesen Widerstand besiegte Löhe damit, daß er eine Abkündigung, in welcher er diese Sitte empfahl, mit den Worten schloß: „Den Flegeln aber ist es erlaubt, stehen zu bleiben.“ Dieses Prädicat zu verdienen hatte doch Niemand Lust, und die Anordnung wurde von nun an ohne Widerstreben befolgt.

 Auch die Opposition gegen die Litanei, zu der sich der schlechtere Theil der Gemeinde eine Zeit lang vereinigte, weil man das „HErr erbarme Dich“ zu „gottserbärmlich“ und höchstens für Sterbebetten passend fand, legte sich bald, und je länger desto mehr fand und lebte sich die Gemeinde in die gottesdienstlichen Formen und Weisen der Väter ein, so daß sie, was liturgische Bildung anbetrifft, vielleicht die bestgeschulte Landgemeinde im ganzen protestantischen Bayern genannt werden kann. „Sie haben ein liturgisches Volk“, sagte einmal ein weit gereister, in liturgischen Dingen selbst als Kenner geltender Geistlicher aus Norddeutschland, als er zum ersten Mal dem| Hauptgottesdienst in der Dorfkirche zu Dettelsau beigewohnt hatte. Aehnliche Eindrücke hat wol jeder Fremde erhalten, der in der sonntäglich gefüllten Kirche die Gemeinde mit feierlicher Würde und mit einheitlichem Zusammenklang der Stimmen das Credo Nicaenum sprechen oder das große Gloria oder Sanctus von ihr singen hörte.

 Die Liturgie war Löhe ein heiliges Drama voll Leben und Bewegung, die erhabenste Schöpfung des christlichen Geistes, vor welcher alle Herrlichkeit weltlicher Poesie erbleichen müsse, ein Opfer, eine heilige That der Anbetung. Andacht, Ernst, Leben, heilige Munterkeit der Seele verlangte er von dem Liturgen wie von der Gemeinde. „Der Liturg“ – sagte er einmal – „soll nichts Anderes sein als eine lebendige Flamme der Andacht.“ Um zu verhüten, daß die Liturgie nicht zu einem geistlosen Formenwesen erstarre, hielt er von Zeit zu Zeit Vorträge über die Bedeutung der Gottesdienstordnung und ihrer einzelnen Theile und strafte auch mit kräftigen Worten etwa einreißenden Schlendrian. 2. Chron. 29 war ihm ein Vorbild heiligen, lebensvollen Zusammenwirkens von Priester und Gemeinde bei der Darbringung des Opfers der Lippen. Er selbst war, wenn er Priesteramts am Altare pflegte, voll gesammelten Ernstes und oft voll Inbrunst inwendiger Feier, so daß sein liturgischer Dienst am Altare auch die trägen, zur Andacht nicht bereiteten Seelen mit hinriß. „Er war eine priesterliche Seele. Er konnte auf der Kanzel und am Altar nicht walten, ohne daß sein Odem ausströmte wie eine Flamme. Das war keine Manier, keine angenommene Art bei ihm, es war die Flamme der Seele, die sich Gott opferte im Amte.“ So sagt Professor v. Zezschwitsch in der Predigt, die er am Epiphanienfest 1872 zum Gedächtnis Löhe’s hielt.

 Doch nicht blos für den engen Kreis seiner Gemeinde, sondern auch für die ganze bayrische Landeskirche und für noch| weitere Kreise der luth. Kirche ist Löhe ein Wecker und Wiederhersteller liturgischen Sinns und liturgischer Ordnungen geworden. Es wird hier der Ort sein, seiner schriftstellerischen liturgischen Arbeiten zu gedenken, deren Frucht die 1844 in erster Auflage erschienene „Agende für christliche Gemeinden des lutherischen Bekenntnisses“ war.

 Löhe beabsichtigte mit seiner Agende dem Bedürfnis der neugegründeten lutherischen Gemeinden in Nordamerica zu dienen, und aus diesem Grunde ist die Agende auch dem damaligen Pastor von Fort Wayne, späterem Präsidenten der Synode von Missouri, Friedrich Wyneken, gewidmet, der durch seinen Weckruf Löhe zum Werk der amerikanischen Mission angeregt hatte.

 In dieser Agende, die ihren Wert als liturgische Fundgrube heute noch besitzt, bot Löhe seinen amerikanischen Brüdern und der ganzen lutherischen Kirche die Frucht mehrjähriger ernster Arbeit. Ungefähr 200 ältere Kirchenordnungen und Agenden hatte er zu diesem Zweck durchforscht und das Beste daraus zu einem Ganzen vereinigt. Das Agendenstudium beschäftigte ihn schon vom ersten Jahre seines Lebens im Pfarramte an, mit besonderem Eifer aber warf er sich seit dem Jahre 1843 auf diese Beschäftigung, die ihm, wie er dem Schreiber dieses versicherte, eine Quelle reichen Trostes in dem Jammerthale wurde, in welches sein Lebensweg mit jenem schweren Jahre einmündete. Die Versenkung in die Herrlichkeit der schönen Gottesdienste der Kirche auf Erden hob ihn über das Leid der Gegenwart hinweg und weckte in ihm sehnsuchtsvolle Ahnung der Herrlichkeit jener Gottesdienste, welche die vollendete Gemeinde des Himmels Gotte und dem Lamme feiert.

 Bemerkenswert ist schon in der ersten Auflage dieser Agende der ökumenische Zug, gemäß welchem Löhe sich nicht mit einer puren Repristination der altlutherischen Gottesdienstordnung| begnügte, sondern einer Bereicherung derselben aus dem Schatze altkirchlicher Liturgien das Wort redete. Daß er dabei dem Vorwurf des Katholisierens entrinnen werde, konnte er bei der Voreingenommenheit gegen alles Liturgische, die noch vor 30 Jahren herrschte, kaum erwarten. Vorsorglich suchte er daher schon im Vorwort zu der ersten Auflage seiner Agende diesem Vorwurf zu begegnen. „Wollte man“ – schreibt er – „von dieser Agende sagen, sie romanisiere, so müßte man das von allen lutherischen Agenden gelten lassen. Man könnte übrigens mit mehr Recht behaupten, die römische Kirche katholisiere in denjenigen Theilen der Liturgie, in denen sie mit der wahrhaft katholischen, hier auf Erden lutherisch zubenannten Kirche zusammenstimmt. Die römischen Liturgieen wimmeln von schlimmer Zuthat; aber es sind mitten im Dorngestrüpp hie und da noch Ueberreste besserer Zeiten und einer wahrhaft christlichen Gesinnung vorhanden. Man findet einzelne Gebete, die nach Form und Inhalt schwerlich durch Anderes oder Neues ersetzt werden können, von denen man im oben angegebenen besten Sinne des Worts sagen kann: sie katholisieren. Diese sollte man aus der Gefangenschaft befreien und in lutherische Agenden einführen. Sie gehören hinein etc.“
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 Trotzdem aber, daß Löhe außer ein paar Gebeten an Kranken- und Sterbebetten aus den römischen Liturgieen nichts in seine Agende herübernahm, was nicht schon in den alten lutherischen Agenden Aufnahme gefunden hatte, glaubte sich doch ein sonst treuer Pfarrer in Löhe’s nächster Nähe berufen, beim Erscheinen der Löhe’schen Agende einen Allarmruf an alle evangelische Gewissen ergehen zu lassen. Bezeichnend genug lautete schon der Titel des Schriftchens: „Gefahr für die evangelische Kirche! oder die Liturgie in der Agende etc. von Wilhelm Löhe.“ „Wer diese Liturgie annimmt, ist vom protestantischen Grunde| gewichen: sie ist ein todter Mechanismus, so geisttödtend als das Abbeten des Rosenkranzes oder das Exercieren der Recruten; sie ist die modernisierte römische Messe, auch durch Grundirrlehren der römischen Kirche bedingt, wie denn z. B. der vorgeschriebene Gebrauch, das Kirchengebet nicht auf der Kanzel, sondern auf dem Altar, und zwar dem Altar zugekehrt, zu sprechen seinen Grund in dem römischen Dogma von der Transsubstantiation hatte“. Diese Stellen mögen eine Vorstellung von dem Geist geben, in welchem das Schriftchen verfaßt ist. Löhe’s Freund, Pfarrer Wucherer, antwortete dem Verfasser in einer Gegenschrift, worauf dieser noch einmal replicierte. Für Löhe fand dieser literarische Angriff ein übles Nachspiel in einer Klage, welche etliche seiner Widerwärtigen in der Gemeinde, jenes Schriftchen als willkommenen Anlaß benützend, gegen ihn beim Consistorium einreichten. Die Klagsteller protestierten gegen Löhe’s liturgische Neuerungen und verlangten gleichzeitig, aus der Gemeinde Neuendettelsau ausgepfarrt und dem Pfarrer Z. von G., dem Verfasser des oben erwähnten Schriftchens, als Beichtkinder überwiesen zu werden[.] Das Consistorium ließ nun zwar Löhe vollste Gerechtigkeit widerfahren, allein dadurch wurde der Riß in Löhe’s Gemeinde und sein Misverhältnis zu seinen Widersachern nicht geheilt. Dagegen wurde Löhe nach einigen Jahren die Erquickung zu Theil, daß sein damaliger Gegner, Pfarrer Z., unvermutet ihn aufsuchte, ihm die brüderliche Rechte reichte und mit einer Demut, die man versucht war für schöner zu halten, als wenn er sich nie geirrt hätte, bekannte, daß er sich geirrt habe: „es sei ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, ein Traum habe ihn belehrt“. Pfarrer Z. wurde von da an Löhe’s inniger Freund und blieb es bis zu seinem Tode. Löhe hat ihm in der Vorrede zur 2. Auflage seiner Agende ein schönes Ehrengedächtnis errichtet.
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|  Diese zweite Auflage ist der ersten gegenüber eine wesentlich vermehrte und verbesserte zu nennen. Die belehrenden Einleitungen und Anmerkungen, die reichlichen Quellennachweise etc. verleihen ihr einen besonderen Wert. Sie ist durch diese Beigabe – unbeschadet ihrer Verwendung zum gottesdienstlichen Gebrauch – zugleich auch ein Hand- und Lernbuch für solche geworden, die, ohne selbständige Studien gemacht zu haben, in liturgischen Dingen nach Belehrung und Auskunft verlangen. Die eingehende Bekanntschaft mit den Liturgieen der römischen und vor Allem der orientalischen Kirchen, welche sich Löhe in der Zwischenzeit erworben hatte, verrät sich in dieser neuen Auflage überall und beeinflußte auch Löhe’s Urteil über den Wert der lutherischen Gottesdienstordnung. War ihm diese früher wie eine Art von Ideal erschienen, so fand er sich jetzt, nachdem ihm in Renaudot’s großem Sammelwerke die liturgischen Schätze der orientalischen Kirchen bekannt geworden waren, zu einer viel bescheideneren Schätzung der Leistungen der lutherischen Kirche auf liturgischem Gebiete angeleitet. „Der Herausgeber kann nicht leugnen“ – sagt Löhe von sich im Vorwort zu der neuen Ausgabe – „daß er keine ihm bekannt gewordene lutherische Liturgie für das hält, was die lutherische Kirche auf diesem Felde hätte leisten und ihren Gemeinden bieten können. Man war der römischen Liturgie zu überdrüssig geworden, man kannte die uralten Liturgieen zu wenig, man gab der Predigt einen allzu großen Raum, und die Zeit drängte zu sehr auf das Lehrhafte, als daß man für Liturgie den rechten, einfachen, vorurteilslosen Sinn und zur Herstellung der Kirche völlig würdiger Liturgieen die nötige Fähigkeit hätte haben und bekommen können. Es ist daher noch viel zu thun übrig, und wenn in irgend einem Gebiete unserer Kirche auf der alten Basis vollendend vorwärts geschritten werden kann, so ist es gerade auf| dem liturgischen Gebiete. Ein echter Lutheraner ist auch hier nicht der, welcher durch die Leistungen der Vergangenheit alle Arbeit abgeschlossen glaubt und eben damit ohne es zu denken der lutherischen Kirche die Lebensfähigkeit abspricht, indem er ihr Wachstum und Fortschritt zur Vollendung nimmt, sondern der scheint der lutherischen Kirche am treusten zu dienen, welcher in Einem Sinn und Geiste mit den Vätern auf der betretenen Bahn vorwärts geht. In diesem Sinn hat der Herausgeber dieser Liturgie hie und da eine Andeutung zum Fortschritt gegeben, sich aber wol gehütet, der Zeit mehr, als sie tragen, genießen und verdauen kann, zuzumuten.“
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 Im Anschluß an diese Worte Löhe’s sei es uns erlaubt, einige seiner leitenden liturgischen Grundsätze anzuführen. Die lutherische Liturgie galt ihm nicht für etwas Vollendetes. Die Reformatoren, sagte er, seien bei ihren liturgischen Einrichtungen nicht nach theoretischen Grundsätzen verfahren, sondern hätten einfach die römische Liturgie in die gereinigte Kirche mit herüber genommen, nur mit Ausscheidung alles dessen, was unverträglich mit dem protestantischen Princip erschien. Wenn man in neuerer Zeit Ordnung und Freiheit als die Principien der lutherischen Liturgie bezeichnet habe, so seien das einesteils so selbstverständliche, andernteils so pur formale Principien, daß mit deren Aufstellung wenig gedient sei. Die Forderung, durch welche man das Realprincip der Liturgie bezeichnen wollte, daß nämlich dieselbe ein Ausdruck des inwendigen Lebens sein sollte, schien Löhe zu hoch gestellt. In dieser Beziehung waren ihm immer Luther’s bekannte Worte in „der deutschen Messe und Ordnung Gottesdiensts“ von Wichtigkeit. Luther spricht dort bekanntlich – allerdings mehr nur andeutend – von dem Ideal „einer rechten Messe unter eitel Christen“, das ihm vorschwebe; gesteht dann aber, daß er eine solche Gemeine oder| Versammlung noch nicht ordnen oder anrichten könne, denn er habe noch nicht Leute und Personen dazu; so sehe er auch nicht viel, die dazu dringen. Inzwischen wolle er es bei der (gereinigten) römischen Messe bewenden lassen. Er erklärt dann die von ihm eingerichtete Gottesdienstordnung „für eine öffentliche Reizung zum Glauben und zum Christentum“.

 Aehnlich, wenn auch nicht in so ausschließlicher Weise, betonte Löhe die pädagogische Bedeutung der Liturgie und sah in ihr zunächst ein Mittel der Erziehung und Uebung im Glauben und in der Heiligung. „In gewissem Maße“ – schrieb er schon im Jahre 1841 an Raumer – „wird die Liturgie immer auch Ausdruck des inwendigen Lebens sein. Aber wenn nun keine Liturgie für die τέλειοι nachgewiesen werden kann (sonst wär’ sie schon lange zum Idol geworden), so müssen wir die Liturgie eben der einfachen Heilsordnung anpassen und ein Heiligungsmittel (pädagogisches Mittel) sein lassen.“ „Die christliche Heilsordnung als positives liturgisches Princip“ – dies kommt vielleicht der Löhe’schen Anschauung am nächsten.

 Bei seinen Anschauungen über den nicht absolut mustergültigen Wert der lutherischen Liturgie hielt er dieselbe einer Fortbildung für ebenso fähig wie bedürftig. „Die lutherische Liturgie“ – pflegte er zu sagen – „ist eine schöne, aber abgebrochene Säule. Sie bedarf einer Ergänzung und Vollendung.“ Zum Beleg dafür wies er beispielsweise auf den Mangel der Consecration des Elementes bei der heiligen Taufe hin, der lediglich einer Unbedachtsamkeit seinen Ursprung verdankt (s. Löhe’s Ev. Geistl. II, p. 216 ff.). Mit Recht nannte Löhe diese Unterlassung der Consecration des Taufwassers in der lutherischen Kirche, welche doch die Notwendigkeit der Consecration von Brot und Wein im Abendmahl so sehr betont (cf. Form. Conc. Sol. Decl., p. 664), eine Inconsequenz und eine liturgische| Ungebühr. Ebenso bezeichnet er es auch als einen Mangel der lutherischen Kirche, daß ihr das Verständnis für Zweck und Bedeutung der sogenannten „Benedictionen“ fast ganz abhanden gekommen sei. Man habe in der Reformationszeit im erklärlichen und berechtigten Gegensatz gegen das unwürdige und kindische Ceremonienspiel der römischen Kirche etwas zu rasch zugefahren und das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es lasse sich nicht Alles was Benediction heiße unbesehen in „den Gäukelsack des Papstes“ (Art. Smalc. III, p. 15) werfen. Es werde da auch gehen wie mit dem kanonischen Recht, das Luther anfangs verbrannt und hernach studiert habe. Wenn nach 1. Tim. 4, 4. 5 der Christ Recht und Pflicht habe, alle Kreatur durch Gottes Wort und Gebet zu heiligen, so sei es gewis nur eine Forderung der Schicklichkeit, daß Alles was zum gottesdienstlichen Brauch dienen solle, auf diese Weise geweiht und geheiligt werde. Es sei doch ein Mangel an Form, wenn man z. B. eine neue Kirche ebenso einweihen, wolle wie einen neuen Rock, nämlich einfach durch den erstmaligen Gebrauch.
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 Doch wir wollen, um unnötige Weitschweifigkeit zu vermeiden, hier auf die herrliche Einleitung zu Löhe’s Hausbuch II. Theil, p. 1–108 verweisen und nur noch erwähnen, daß Löhe dem von ihm gerügten Mangel der lutherischen Liturgie durch selbständige, schöpferische Versuche unter Benutzung alter Muster abzuhelfen trachtete. Es liegt eine Reihe bei verschiedenen Anlässen von Löhe ausgearbeiteter Benedictionsformulare vor, die bei einer in Aussicht stehenden neuen Auflage seiner Agende der Würdigung Sachverständiger dargeboten werden können. Kommen diese Versuche zur Veröffentlichung, so werden sie den Beweis liefern, wie ernst Löhe bei der Benutzung und Bearbeitung der liturgischen Schätze der römischen und griechischen Kirche den reformatorischen Standpunct zu| wahren wußte, und wie fern er von allem ritualistischen Cokettieren mit Rom war. Einfaches Copieren der römischen Originale war ihm widerwärtig. Was er an liturgischen Formen den vorreformatorischen Kirchen entlehnte, gieng bei ihm durch einen geistigen Neubildungsproceß und erfuhr gleichsam eine Wiedergeburt im Sinn und Geist der Reformation und ihrer Principien. Seine Agende wird immer als eine Leistung von grundleglicher Bedeutung und voll fruchtbarer Anregungen für die lutherische Kirche der Zukunft gelten.

 Zum Schluß sei noch die „Laienagende“, ein Auszug aus der Kirchenagende Löhe’s zum Gebrauch der Gemeinde beim Gottesdienst, erwähnt. Sie enthält außer der Ordnung des Hauptgottesdienstes eine Auswahl der schönsten Gebete der Kirche und gibt im Vorwort wertvolle Bemerkungen über die verschiedenen in der Kirche gebräuchlichen Formen und Arten des Gebets.





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