Textdaten
<<< >>>
Autor: Kurd Laßwitz
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Tröpfchen
Untertitel:
aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 209–243.
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[209]

Tröpfchen.




Wo die Halde sich senkt am Bergeshang, rieselt ein Quell im feuchten Wiesengrund, ehe er sich schäumend in die dunkle Waldschlucht stürzt. An seinem Laufe zog der Morgennebel in die Höhe. Die weißen Streifen wehten über die hohen Gräser hin, zwischen denen der Quell sich verbarg. Mit ihren schlanken Ähren hatten sie die Nacht hindurch nach den Sternen am klaren Himmel geschaut, aber die Sterne hatten sich nicht gerührt, und so waren die Gräser kalt geworden, eisig kalt, und anders erdienten’s die Sterne auch garnicht.

„Das ist die richtige Temperatur,“ sagte der Nebel, als er über die Halme strich. „Man muß sich konzentrieren, ehe die Sonne kommt.“ Und da hing ein Tröpfchen an jedem Halme.

Die Sonne kam und die Tröpfchen glänzten in bunten Farben, aber sie wurden immer kleiner, zuletzt waren sie völlig verschwunden, und sie wußten nichts von der ganzen Geschichte. Die andern Tropfen aber, die im Schatten hingen, meinten, es sei ihnen recht geschehen, und das hätten sie nun von der Sonne; aber [210] jetzt sind wir an der Reihe, und nun wollen wir uns breit machen.

Da kam der Wind und schüttelte die Gräser, und die ganze Gesellschaft stob umher. Die einen fielen auf den Boden und zerflossen, die andern in die Sonne und wurden aufgesogen, und sie hatten auch keine Geschichte.

Einer aber, gerade dort, wo der Bach den Winkel macht und unter den großen Blättern des Huflattigs verschwindet, hatte sich festgeklammert und blieb sitzen. Ein Käfer kroch vorbei und stieß ihn mit einem Beine an, da gab’s eine kleine Schwingung im Tropfen, er wurde platt und dann wieder rund, und so merkte er, daß er etwas wäre. Es dünkte ihm, als könne er zusammenhalten und etwas erleben. Aber hier unter den dichten Blättern vermochte er nichts zu sehen, und wie der Wind wieder über die Halde zog, ließ er den Stengel fahren und sprang hinein in den Bach. Schnell ging’s dahin, in’s Dunkel hinein, durch’s Tannendickicht. Wohlig war ihm zu Mute, als er in der volleren Flut dahinschoß, er wußte nur nicht recht, ob er selber es sei, was dort plätscherte. Aber jedesmal, wenn das Wasser auf einen Stein schlug und wieder in Tropfen zersplitterte, und er seine Gestalt zurückerhielt, da ward’s ihm gar seltsam, bang und verlassen, als würd’ er hinausgedrängt in’s Weite, in’s Unbekannte. Und es kam eine Angst über ihn, was er da draußen wohl solle. Warum nicht immer am Grashalm hängen und sich mit ihm im Winde neigen? Gab’s denn überhaupt etwas dort hinter dem Walde?

[211] Auf einmal wurde es hell um ihn am Waldesrand, die Steine funkelten wieder im Sonnenschein, und der Bach machte einen kühnen Sprung darüber. Beim letzten Abprall fühlte sich der Tropfen neu gerundet und schnell entschlossen sprang er zur Seite, bekam glücklich ein Farnkraut zu fassen und barg sich im kühlen Schatten eines großen Felsblocks. Den Stein umspannten die Wurzeln einer alten Fichte, die hier als aldwärter in die Lüfte ragte.

„Das war Dein Glück, Tröpfchen,“ sagte das Farnkraut. „Du kommst hier in eine sehr gebildete Gesellschaft.“

„Glück? Dummes Zeug!“ brummte der Felsblock. „Die Bildung macht’s nicht, und wenn ich nicht hier wäre, thätest Du besser, Dein Glück wo anders zu suchen.“

„Sie haben überhaupt keine Bildung,“ sagte die Fichte. „Darin eben liegt’s, daß Sie mich nicht verstehen. Sie sind nur eine rohe, ungestaltete Masse, ein gewöhnlicher Kalkstein; Sie sind nicht einmal krystallinisch, und das könnte man doch von Ihnen verlangen. Hätte ich das vor hundert Jahren gewußt, so hätte ich Ihnen niemals meine Wurzel gereicht.“

„Man merkt es, daß Sie alt geworden sind,“ erwiderte der Stein.

„Das ist eben das Schöne an der Bildung, daß sie fortschreitet. Ich habe Figur, ich habe Wurzeln und Stamm und Nadeln, ich habe Tüpfelzellen und einen Kreislauf, ich atme Kohlensäure und ich erzeuge [212] sogar Chlorophyll, und das kann nicht einmal der Mensch.“

„Und wenn ich Sie unten nicht hielte, wären Sie längst umgestürzt. Bei jedem Stürmchen biegen Sie sich, daß ich’s hier deutlich fühle. Was nützt Ihnen da Ihre Bildung? Sie haben eben keinen Charakter, und Charakter ist die Hauptsache, und den habe ich. Wie ich hier liege, so liege ich schon viele hundert Fichtenalter, und so werde ich liegen bleiben.“

„Und darin finden Sie Ihr Glück?“

„Habe ich garnicht nötig.“

„Wenn Sie aber der Mensch einmal in die Luft sprengt?“

„Sorgen Sie nicht, der wird Sie schon vorher fällen.“

Tröpfchen zitterte am Farnkraut, als es das hörte. Was mußte der Mensch für ein Wesen sein, daß er Bäume fällen und Felsen sprengen konnte. Und es wandte sich schüchtern an das Farnkraut und fragte:

„Was ist der Mensch?“

Das Farnkraut fühlte sich geschmeichelt; denn Fels und Fichte fragten es niemals um seine Meinung.

„Der Mensch,“ sagte das Farnkraut herablassend, „ist ein ausländisches Eichhörnchen, welches Papier, Eierschalen und Wurstpellen produziert, um dieselben von Zeit zu Zeit bei uns niederzulegen. Übrigens rate ich Dir, weniger zu sprechen; Dein Vater der Bach, macht ohnehin den größten Lärm in der Gegend.“

Tröpfchen wagte nicht weiter zu fragen. Aber nun lauschte es sorgfältig. Denn vom Thale herauf ließen [213] sich Schritte vernehmen, Stimmen erklangen auf dem Wege.

Zwei Wanderer traten in den Schatten der Fichte. Der Vorangehende, ein hagerer Herr mit dunklem Vollbart, drehte sich um und sagte:

„Nun werden Sie zufrieden sein, dies ist der übliche Frühstückspunkt.“

Der zweite kam etwas keuchend nach. Er trug den Hut in der Hand. Sein volles Gesicht glänzte in Schweiß gebadet und gerötet unter dem hellblonden Haar, das so kurz geschoren war, als käme er eben aus dem Zuchthause. Er kam aber aus einem Friseurladen der Stadt. Auf den Zuruf des andern blieb er stehen, setzte den Hut auf den Kopf, den Kneifer auf die Nase, strich seinen kleinen Schnurrbart, warf einen Blick auf den moosbedeckten Felsblock und fragte mißtrauisch:

„Ameisen?“

„Keine Sorge,“ sagte der erste, das gemeinsame Frühstück auspackend.

Der Blonde rückte sich auf dem Stein zurecht, setzte seinen Kneifer nochmals fest und sah dann hinaus in die sonnenbeglänzte Landschaft.

„Schneidiger Punkt,“ sagte er.

„Meistens Kalk,“ bemerkte der Schwarze, mit seinem Stock an den Felsen klopfend. „Drüben bunte Sandsteine, dort vorn Keupermergel — alles zusammengestürztes Gelände. Kein rechtes System, keine Kammbildung, in meinen Augen gar kein Gebirge.“

„Unsinn! Sie haben kein Gefühl für Naturschönheit,“ [214] erwiderte der Blonde und warf eine Eierschale so dicht an dem Farnkraut vorüber, daß Tröpfchen vor Schreck bald ins Wasser gefallen wäre. „System ist Unsinn. Naturgefühl, das macht es. Bin kolossal für Naturgefühl. Einziges Erziehungsmittel des Volkes. Muß sein Glück suchen in Bewunderung. Sehen Sie dahin, jener Bergrücken, ganz Moltkesche Nase! Welterobernde Ruhe blickt schweigend in das All, in das blaue Himmelsauge, Sinnbild der deutschen Frau — denn wo das Strenge mit dem Zarten — deutsche Kraft und deutsches Gemüt drücken der Weltentwickelung den Stempel auf. Niederdeutsche Ebene und Mittelgebirge — Empfindung und Charakter — Matthisson kränzt Luther auf der Wartburg; das ist die beste Wacht am Rhein. Führt unsere Jugend herauf und zeigt ihr die Welt, wie sie ist, wie die charaktervolle Zerklüftung der Natur in der Einheit des Gefühls zerschmilzt, und ihr habt das Ideal der deutschen Tugend, die Treue. Denn weil nur deutsches Klima derartig zerrissenes Gelände in den weichen Gemütsmantel schattenden Bergwalds zu betten vermag, darum eben erweist sich deutsche Treue als die schützende Hülle unseres universellen Geistes. Geben Sie mir etwas Salz.“

„Alles Einbruch,“ sage ich Ihnen, „ausgewaschene Gipsnester.“

„Was wollen Sie damit dem Volke bieten? Geben Sie ihm Gefühl, Naturgenuß, Auflösung in Bewunderung als Ersatz für die volkswirtschaftlich notwendige Entsagung. Lassen Sie mir noch einen Schluck Rotwein.“

[215] „Warum begnügen Sie sich nicht mit dem Naturgenuß?“

„Das ist etwas anderes. Nur die Ungleichheit ist kulturfördernd. Sehen Sie nicht, wie aus dem Einsturz drüben die mächtige Kuppe mit den drei Tannen hervorragt? Das ist Bismarcks Stirn! Die Elektrizität, die Weltkraft des Jahrhunderts, warum verteilt sie sich gleichmäßig auf der Kugel und strömt aus der Spitze aus? Passivität des Abgeflachten, Aktivität des Schneidigen, das sind die deutschen Grundkräfte, das lassen Sie uns aus der Natur lernen. Diese Landschaft hat ein durchaus germanisches Gepräge. Wie die Seele den Körper, baut sich der Geist die Natur, der Mensch das Gelände. Nur ein gläubiges Volk, dieser knorrigen Landschaft entsprossen, konnte das Pulver erfinden! Ist dieses Ei das letzte?“

„Sie sind in einem kleinen Irrtum, Verehrter. Hier zu unserer Rechten, über diesen Rücken läuft die Sprachgrenze. Alles, was Sie dort drüben beschrieben haben, ist nicht mehr deutsch. Sehen Sie die Karte.“

„Ach was, Karte! Bringen Sie kein Blatt Papier zwischen uns! Ich halte mich an das, was mir das lebendige Herz sagt, und wenn dies nicht deutsches Gebiet ist, so folgt daraus nur, daß unsere Grenzen zu eng sind. Es ist deutsch, es war deutsch und es wird deutsch sein, ich sage es Ihnen, denn nur im Gefühl ist Wahrheit. Haben Sie Feuer?“

„Mit Gefühl hätten Sie niemals die schwedischen Streichhölzer erfunden. Das ist kein Kulturprinzip. [216] Warum stehen Sie jetzt hier? Weil man die Eisenbahn hat, aber die gefühlvollen Plattdeutschen haben dem Papin auf der Fulda die erste Dampfmaschine zerschlagen. Erst lassen Sie uns etwas lernen, dann mögen wir schwärmen. Wären die Schutthalden drüben nicht künstlich aufgeforstet — doch lassen Sie uns gehen, die Sonne steigt und Ihre Cigarre brennt längst.“

Die Wanderer verloren sich aufwärts in den Wald.

„Welcher von den beiden war denn der Mensch?“ fragte Tröpfchen.

„Natürlich der mit der Eierschale,“ erwiderte das Farnkraut. „Er brachte uns seine Huldigung, wir sind nämlich die sogenannte Natur.“

„Wie schön er sprach,“ sagte Tröpfchen. „Ich habe ihn nicht verstanden, aber er hatte so etwas Wegwerfendes, und beinahe hätte er mich getroffen.“

„Wer spricht da unten?“ klang es von oben aus der Fichte. „Sind Sie es, Kalkstein? Jetzt haben Sie doch einmal gehört, daß Sie keine Bildung haben. Sie werden nie die schwedischen Streichhölzer erfinden, aber aus mir können noch welche werden.“

„Es sind unten das Farnkraut und ein kleiner Tropfen, die sich vorlaut benehmen. Was aber das Menschengerede anbetrifft, so könnte ich mich eher darauf berufen als Sie. Doch ich thu’s nicht. Gefühl ist Gewäsch und nicht Charakter. Und was die Menschen darunter verstehen, mag schönes Zeug sein. Übrigens ist es noch garnicht bewiesen, daß dies Menschen waren.“

[217] „Ich habe mich also geirrt,“ sagte Farnkraut zu Tröpfchen, „es waren gar keine Menschen.“ Und es nahm sich vor, nie wieder etwas zu sagen, bevor sich der Stein geäußert hätte.

„Dann möchte ich aber doch einmal die Menschen kennen lernen,“ rief Tröpfchen. „Ich will hinunter zu ihnen.“ Damit ließ es sich auf den Stein fallen und bat ihn um ein wenig Charakter.

„Den muß man sich selbst verschaffen,“ sagte der Kalkstein. „Nimm Dir von mir, soviel Du losbringst.“ Und Tröpfchen sog an dem Stein, aber es konnte nichts lösen.

„Es fehlt Dir an Bildung,“ mischte die Fichte sich ein. „Ich will Dir etwas Geistiges mitgeben. Könnte ich mit Dir wandern zu den Städten der Menschen und ihrer Weisheit lauschen! Wie glücklich müssen sie sein!“

Die Fichte rauschte mit ihren Ästen, die Luft strich über das Tröpfchen, und es saugte die Kohlensäure ein. Und da auf einmal konnte es den Kalk vom Steine nagen, und nun merkte es, daß es hartes Wasser geworden sei. „Das ist doch schon etwas,“ dachte es. „Bildung und Charakter habe ich, nun noch ein wenig Glück, und ich kann es mit den Menschen aufnehmen.“

Eben wollte es in den Bach springen, um fortzueilen, als sich aus dem Walde Gesang vernehmen ließ. Ein einzelner Wanderer kam den Berg herab, rüstigen Schrittes. Auch er hielt an der Fichte an und blickte hinaus in die Sonnenlandschaft.

Einsam und still war’s jetzt ringsum. Nur unten [218] ein fernes Plätschern des Bachs, oben ein leises Summen von Insekten am Waldrand, wo die Sonne auf die Wiese schien. In bläulichem Dunste schimmerten die Schatten, der Atem des Sommertages hob sich von Gras und Blüten. Ein gelber Falter flatterte von der Halde herüber und breitete seine Flügel auf dem Steine aus.

Des Wanderers Augen leuchteten im Schauen. Kein Laut kam von seinem Lippen, und doch hörten es Wald und Berge, Luft und Bach, was seine Seele sprach:


     Traute Heimat! Träumst du noch immer
Im stillen Glanze grünender Fluren
Meiner Jugend
Langentbehrte, glückliche Träume?
Immer noch ragst du, zackiger Fels,
Aus der Wipfel strebendem Kranz,
Immer noch schaut ihr, einsame Tannen,
Von euerer Höhe schweigend herab.
Fest und treu im geschlossenen Kreise
Engen Genügens waldiger Berge
Haftet die Seele, die heimatfrohe,
Und der zögernde Hirte
Treibt, wie Damon, die Herden aus.


     Doch was glänzt dort am sanften Hang
Wogender Feldfrucht leuchtendes Gelb?
Wo dem Knaben der dornige Strauch
Zwischen Geröll und welkendem Grase
Einst nur spärliche Beeren bot,
Rieseln Bächlein
Dem Halm Erquickung zu,
Zog die Pflugschaar
Segenspendende Bahnen.

[219]

     Was ringt sich herauf,
Weiß glänzendes Band,
Am steilen Hang,
Am gesprengten Felsen?
An des Gebirgs verwitternder Mauer
Klammert die sprossende Menschheit
Sich mit kletternden Ranken an.


     Wo doch wurzelt die treibende Kraft,
Himmel und Erde die Säfte entringend
Zur unendlichen Arbeit?


     Siehe, was hebt sich in dämmernder Ferne,
Wo der bleichere Himmel
Ringender Geister, emsiger Hände
Rastlos schaffende Sorge deckt?
Aus leichtem Rauch zum Gebilde geballt
Trittst du hervor,
Meinen sterblichen Augen
Enthüllst du dich gnädig, göttliches Bild,
Genius der Menschheit!
Das Haupt erhebst du,
Und geordnet im Raume
Rollen die Sterne gemessene Bahnen,
Zucken des Äthers leuchtende Wellen,
Strömen die Körper nach festem Gesetze,
Und im Zwang des geregelten Wirbels
Zu ewigem Kreislauf
Beugt sich Natur.


     Im All verloren auf Weltenstäubchen
Soll ich verwehen, ein Spiel der Zeit,
Ziellos vernichtet?

[220]

     Du senkst, o Genius,
Den schaffenden Blick in die eigene Brust,
Du hebst ihn aufs neue —
Und siegreich durchs All
Leuchtet ein Wort, —
Weit über den sausenden Sternen
Und über der Zeit zerstörendem Abgrund
Schuf es dein Wille im Menschenherzen:
Pflicht, du erhabener, großer Name!
Andächtig und ernst in der Freiheit Würde
Hör’ ich die Stimme des eigenen Busens:
„Du sollst!“ — —


     Doch Stürme toben ums stolze Haupt,
In wilden Wogen brausen und schwellen
Die zwingenden Mächte ums schwache Bollwerk
Des hoffenden Herzens.
Wir zagen und schwanken,
Der inneren Stimme heilig Gebot
Gestürzt zu schauen im Wirken des Tages.


     Und wiederum hebst du,
Genius der Menschheit,
Die leuchtenden Augen.
Unendlicher Liebreiz umspielt das Antlitz.
Die tobenden Stürme, die wilden Wogen
Stürzen melodisch zusammen zum Reigen.
Die kühlen Sterne, in ihrem Kreislauf
Wärmer erglühend, erzählen von ferner,
Seliger Zukunft holdem Gedeihen.
Freundliche Engel schweben im lichten,
Purpurnen Äther;
Das erhabene Wort des erfüllten Gesetzes
Im reinen Herzen
Gießen sie Frieden ins schwanke Gemüt.

[221]

Natur und Pflicht
Vereinst du, o Menschheit,
Im allumfassenden Schöpfergefühle
Wonnig zerfließend,
Und schmiedest die Welt
Zur reinen Gestaltung unendlicher Schönheit
Im Blicke der Liebe!

     Dort seh’ ich dich walten
Durch Nacht zum Lichte,
Ewige Menschheit!
Nimm deinen Sohn in die Mutterarme
Und laß mich wirken
An deinem liebenden Herzen,
Heilige, schaffende Menschheit!


Der Wandrer stieg zu Thale, seine Schritte verhallten.

Tröpfchen aber, berauscht vom hohen Liede der Menschheit, das in seinem kleinem Herzen nachbebte, zögerte nicht länger. Die gepriesenen Menschen wollte es drunten selbst aufsuchen. Es ließ sich abwärts rollen, und die Strudel des Baches führten es fort. Was die Fichte rauschte und der Felsblock brummte, drang nicht mehr bis zu ihm.

Als Tröpfchen ins Thal kam und der Lauf des Wassers langsamer wurde, da begann es bald sich zu langweilen. Es hatte gedacht, nun würden die Überraschungen und Neuigkeiten sich drängen; statt dessen glitt es stetig im Flüßchen dahin, wurde Tage hindurch an einer Schleuße gestaut und erblickte nichts als niedrige, grüne Uferränder. Es hatte Mühe, sich sein bischen [222] Charakter und Bildung zu bewahren, um nicht ganz in der großen Masse zu zerfließen. Manchmal kamen Tiere zum Wasser, um zu trinken, und Menschen, um zu schöpfen. Aber Tröpfchen wurde nicht getroffen.

Eines Abends jedoch fühlte es sich auf einmal emporgehoben, und als es umschaute, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne durch das Glas einer dunkelgrünen Flasche, in welcher es sich unversehens gefangen hatte. Ein Mann hielt sie gegen das Licht, er war noch jung, aber bleich, und düster war sein Blick.

„Du hast auch lange nichts gesehen als Wasser,“ sagte er zu der Flasche.

„Ich dachte, es würde auf ein Maß Wein reichen für die kranke Frau, aber bei der Ablöhnung — ja, Mahlzeit! da gab’s einen Abzug dafür und einen dafür — Und dabei muß man’s Maul halten, wenn man nicht vor der Thür sitzen will. Verdammt!“

Er nahm einen Zug aus der Flasche. Tröpfchen klammerte sich ängstlich an den Boden, um nicht verschluckt werden.

Der Mann stellte die Flasche neben sich, holte eine Pfeife heraus und suchte den letzten Tabak in seiner Tasche zusammen.

„Er ist auch wieder teurer geworden,“ murrte er, „kaum bringt man’s noch zu einer ordentlichen Pfeife. Und bei allem Sparen will’s nicht einmal zur Miete reichen. Wär’ nur die Frau erst wieder gesund!“

Er schüttelte die Flasche, daß Tröpfchen jämmerlich zerstoßen wurde.

[223] „Hol euch der Teufel!“ rief er dann, und spritzte den Rest des Wassers zurück in das Flüßchen. Ein Glück, daß Tröpfchen wieder ins Wasser fiel, und noch dazu so schön rund, wie jemals. Da rann es weiter dahin und zerbrach sich den Kopf über das Heil der schaffenden Menschheit.

Am Morgen kam Tröpfchen durch ein Dorf. Der kleine Fluß war seicht geworden; Gänse und barfüßige Kinder wühlten den Schlamm auf, daß Tröpfchen nicht recht sehen konnte. Es schlüpfte in einen schmäleren Kanal und fand sich zwischen Bäumen und Gärten. Eben sprang es übermütig in die Höhe, um ein paar Sonnenrosen zu bewundern, die mit dummen Gesichtern herüberglotzten. In diesem Augenblick wurde es dunkel; Tröpfchen saß in einer Gießkanne, mit welcher eine Frau Wasser geschöpft hatte. Sie schritt auf das Haus zu, um die Blumen vor dem Fenster zu begießen, aber als sie eben beginnen wollte, bemerkte sie das Heranrollen eines Wagens. Schnell trocknete sie die Hände an der Schürze und lief in das Haus. Die Gießkanne blieb unmittelbar unter dem offenen Fenster stehen.

Tröpfchen konnte nichts sehen als ein kleines Stück blauen Himmel und eine Ranke wilden Weines, die sich im Lichte dehnte. Aber nun hörte es etwas. Vom Fenster her erscholl ein Choral aus Kinderkehlen, dann die tiefere Stimme des Lehrers und regelmäßige Antworten im Chore.

Aha, dachte Tröpfchen, hier ist eine Schule, hier giebt es Bildung. Das wäre etwas für die Fichte! [224] Wenn ich nur besser verstehen könnte! Und als es so recht angestrengt aufpaßte, hörte es den Lehrer erklären, wie die Welt in sechs Tagen sei geschaffen worden. Und zuerst war alles Wasser und finster darauf, dann aber wurde es hell; und der Himmel ward als ein festes Gewölbe zwischen die Wasser gesetzt und zwei Lichter darauf befestigt, Sonne und Mond. Dann erklärte der Lehrer, wie die Pflanzen und Tiere und Menschen wurden und wie sie alle eingerichtet seien ganz genau so, wie sie’s gerade am besten brauchen könnten.

Tröpfchen war selig. Nun weiß ich doch, wie die Welt geworden ist und wie’s in ihr zugeht! Was man nicht alles von den Menschen lernen kann!

Es entstand ein fröhliches Lärmen. Mit Freudengeschrei drängten die Kinder aus dem Hause — die Schule war vor der Zeit geschlossen worden. Aber nun hörte Tröpfchen in dem Zimmer noch eine laute, etwas schnarrende Stimme. Die Stimme war ihm doch bekannt? So hatte der Mann mit den Eierschalen geredet.

„Mit Ihren Leistungen bin ich nicht unzufrieden, Herr Lehrer. Aber in einer anderen Beziehung muß ich Ihnen meine ernste Mißbilligung aussprechen. Ich sehe da eine Zeitung auf Ihrem Tische, die mir nicht gefällt. Ein solches Blatt mit zersetzenden Tendenzen gehört nicht in die Hand des Volksschullehrers. Es ist mir berichtet worden, daß Sie sich auch anderweitig agitatorisch beteiligt haben. Bedenken Sie, daß Sie die Jugend vor allem zur Unterordnung[WS 1] zu erziehen haben, daß aber ein solches Beispiel Sie zur Ausübung [225] Ihres Amtes unfähig macht. Ich verwarne Sie und —“

Ein unterdrücktes Schluchzen unmittelbar neben Tröpfchen verhinderte es weiter zu hören. Die Frau hatte sich unter das Fenster gestellt um zu lauschen. „Es ist unser Unglück, ich hab’s ihm ja gesagt,“ seufzte sie.

Das Fenster wurde von innen geschlossen. Die Frau trat erschrocken zur Seite und stieß dabei die Gießkanne um. Das Wasser floß zum Teil über das Beet, zum größten Teil in die gepflasterte Abflußrinne, die sich unmittelbar an der Mauer hinzog, und von hier führte ein hölzernes Rohr direkt in den Kanal.

Tröpfchen gelang es nach manchen Fährlichkeiten und ritterlichem Kampfe mit einem Strohhalm und einer überraschten Kellerassel sein altes Bett wiederzuerreichen. Es hatte sich noch nicht von seinem Schrecken erholt, als es in einen kleinen Teich gelangte, wo es große Mühe hatte überhaupt vorwärts zu kommen. Aber hier gewann es eine hübsche Aussicht.

An dem flachen Ufer standen unter schattigen Bäumen Tische und Bänke, und Menschen saßen ringsumher, singend und trinkend, und fast alle hatten bunte Mützen auf dem Kopf und farbige Bänder um die Brust. Und mitten unter ihnen, zur Rechten des ehrfurchtsvoll auf ihn blickenden Präsiden, saß Tröpfchens alter Naturfreund, der Mann mit den Eierschalen, und sang eifrig mit den Refrain des Liedes, der lautete: „Frei, frei ist der Bursch!“

[226] Als das Lied zu Ende war, erhob er sich, setzte seinen Kneifer zurecht und sprach:

„Liebe Brüder, liebe junge Freunde! Eben auf einer Inspektionstour begriffen, begegne ich euch auf euerem Katerbummel. Da muß ich euch doch auf ein paar Minuten guten Tag sagen, unter den deutschen Linden, im freien Lufthauch der Natur. Ja, frei, frei ist der Bursch! Aber nur der Doktrinarismus fabelt vom Zwange des Philisteriums. Wir, die wir im Gefühl festhalten den heiligen Pulsschlag der Natur, wir wissen, daß der gekappte Obstbaum die edleren Früchte trägt! Über dem niedergebeugten Grase erhebt sich stolz die blühende Linde. Die Natur ist aristokratisch! Unsere ledernen Sohlen treten das Gras der breiten Erde, aber die bunte Mütze heben wir in den weiten Äther. Das ist die Harmonie der Freiheit, wie das farbige Spektrum aus der Berührung von Licht und Regen seinen Bogen über das Firmament zieht. Auf seiner Brücke wandeln wir nach Walhall wie unsere Heldenväter. Auf das Alter folgt die Jugend, so soll es heißen! Es lebe die Jugend! Es lebe die Natur! Es lebe die Freiheit!“

Der Präside schmetterte mit seinem Schläger auf den Tisch.

„Silentium für einen Salamander auf unseren alten Herrn — —“

„Die hätten wir,“ sagte eine Stimme unmittelbar neben Tröpfchen. „Argyroneta aquatica, da wird es nicht fehlen! Schönes Exemplar, samt dem Neste.“

[227] Mit Entsetzen sah sich Tröpfchen neben einer kleinen Wasserspinne in ein Glas gesperrt. Bei der eifrigen Beobachtung des Redners, bei der Bemühung ihn zu verstehen, hatte Tröpfchen nicht bemerkt, daß es dem jenseitigen Uferrande zugetrieben war und sich schon dicht an den Blättern einer Wasserpflanze befand. Und nun war es zugleich mit der Spinne gefangen worden. Der Mensch verschloß das Glas und steckte es vorsichtig in seine Tasche.

Es war finster und sehr unheimlich in der Flasche; Tröpfchen wollte vermeiden mit der Spinne in Berührung zu kommen. Aber all seine Erlebnisse und besonders das letzte Abenteuer bewegten es so lebhaft, daß es gar zu gern eine Frage gethan hätte. Schließlich siegte der Bildungstrieb über den Charakter und es sagte zur Spinne:

„Glauben Sie, daß dies ein Mensch war, der uns in die Tasche gesteckt hat?“

„Was ist das, ein Mensch?“ fragte die Spinne.

„Das wissen Sie nicht?“ erwiderte Tröpfchen erstaunt. Da kommen Sie bei mir an die richtige Quelle, denn ich bin auf einer Studienreise über den Menschen begriffen und habe ihn kennen gelernt. Er ist ein mächtiges Geschöpf, er verehrt uns, denn wir sind die Natur, er weiß auch, wie die Welt geschaffen ist —“

„Welt?“ sagte die Spinne. „Kenne ich auch nicht. Ist das auch eine Spinne?“

„Das ist Wasser und Luft, Erde und Licht zusammen, [228] und wenn das nicht wäre, so wären wir auch nicht.“

„Oho,“ erwiderte die Spinne, „Sie vergessen, daß ich ein Haus habe, und das mache ich selbst, und die Luft bringe ich hinein, und was den Menschen anbetrifft, so fragt es sich, ob er überhaupt Lungen hat, und wieviele?“

„Das kam auch in der Schule vor, zwei Lungen hat er.“

„Nun, soviel habe ich auch. Und wieviel Beine?“

„Auch zwei, manche sagen vier —“

„Das ist gar nichts, denn ich habe deren acht. Und wieviel Augen?“

„Auch zwei.“

„Lächerlich, ich habe acht! Und wieviel Spinnwarzen?“

Die hat er gar nicht.“

„Keine Spinnwarzen? Und da wollen Sie in meiner Gegenwart vom Menschen reden? Schämen Sie sich! Ein erbärmliches Tier muß das sein!“

„Allerdings, zwei habe ich kennen gelernt, die nichts hatten. Der eine hatte kein Geld und der andere hatte keine Freiheit, oder vielleicht ist auch beides dasselbe. Indessen, ich befand mich damals in einer Zwangslage, das eine Mal in einer grünen Flasche und das andere Mal in einer Gießkanne, so mochte ich die Sache nicht recht übersehen können. Als ich aber im Freien war, da habe ich einen reden hören, — wenn ich ihn verstanden hätte, so könnte [229] ich Ihnen beweisen, daß die Menschen sehr glücklich sind.“

„So lange Sie nicht beweisen, daß der Mensch eine Spinne ist, und zwar eine Wasserspinne, kann mir das Alles nicht imponieren. Da ich jetzt satt bin, so will ich mich herablassen und Ihnen sagen, warum. Ich bin nämlich das einzige Wesen. Die anderen sind nur da, weil ich sie sehe, atme oder esse. Meine Beute fange ich selbst, mein Netz spinne ich selbst und meine Fäden ziehe ich ebenfalls selbst. An Ihre sogenannte Welt glaube ich nicht, und an den Menschen auch nicht, und wenn ich gesättigt in meiner Luftblase sitze, so ist der Weltzweck erfüllt. Und so ist es!“

„Aber erlauben Sie, Sie sitzen jetzt in einer Flasche und müssen es sich gefallen lassen, —“

„Und läßt sich Ihr Mensch nichts gefallen?“

„Das wohl, aber er leugnet auch nicht die Außenwelt —“

„Das mag bei ihm richtig sein, aber außer mir giebt es nichts, und das würden Sie einsehen, wenn Sie den richtigen Begriff der Existenz hätten. Denn der Mensch, der mich in sein Glas steckt, beweist nichts. Nicht er hat mich, sondern ich habe mich selbst in seiner Tasche. Und wenn ich hier verhungern sollte, so würde das wieder nur mich allein angehen. Von dem Menschen werde ich erst etwas merken, wenn er sich bemühen wird, an mir, als dem einzigen Wesen, teilzunehmen. Ich werde ihn teilnehmen lassen, wie ich Sie teilnehmen lasse. Ich bin die Welt, aber ich gestatte Ihnen, in mir zu sein.“

[230] Bei diesen Worten der Spinne fühlten sich Tröpfchen und Spinne durcheinandergeschüttelt, dann wurde es hell um sie. Der Mensch hatte die Flasche zwischen eine Reihe anderer auf einen Tisch in die Nähe des Fensters gesetzt. Die Spinne wurde samt ihrem Neste aus der Flasche genommen, und dabei blieb Tröpfchen im Innern des Flaschenhalses hängen und wurde wieder rundlich. Es blieb recht lange allein und sah sich nach einer Unterhaltung um.

Unter den Flaschen stand eine von besonders eleganter Gestalt mit einem schönen Zettel beklebt; darauf war ein goldener Rand und bunte Schrift. Das war gewiß etwas Vornehmes, und Tröpfchen dachte, ob es wohl auch einmal so etwas Feines werden könne, wie die Flüssigkeit in der Flasche.

Da klang es auf einmal aus der Flasche:

„Du kommst mir so bekannt vor, da drüben. Sind wir nicht schon einmal zusammen in einer grünen Flasche gewesen und dann wieder in den Fluß gegossen worden?“

„Richtig, ich erinnere mich,“ sagte Tröpfchen. „Wir waren Nachbarn, aber wie bist Du so vornehm geworden?“

„Ja, das bin ich, obgleich ich nichts weiter als Wasser bin, aber ich bin Schönheitswasser, und nachher werde ich chemisch untersucht werden. Denn ich koste fünf Mark die Flasche.“

„Und wie hast Du das fertig gebracht?“

„Ich kam in ein großes Bassin und lange Zeit [231] durch dunkle Röhren, und dann floß ich aus einem goldenen Hahne heraus. Dort waren viele hundert Flaschen, wie die, in der Du mich siehst, und ein Mensch ließ sie alle voll Wasser laufen, und in jede that er noch einen kleinen Tropfen aus einer andern Flasche, daß wir alle wunderschön rochen. Da waren wir Schönheitswasser geworden, und die Menschen kamen und kauften uns für fünf Mark die Flasche. Eine Dame nahm mich mit vier andern Flaschen zusammen, da war es etwas billiger. Und jeden Morgen that sie etwas in ihr Waschwasser. Da wurde sie immer schöner.“

„Und wie kamst Du denn hierher?“

„Eines Abends war die Dame sehr ungehalten und warf die Blumen aus ihrem Haar in eine Ecke. Dann trat sie vor den Spiegel, sah sich lange darin an, und endlich rief sie:

„Sie ist doch nicht schöner, die blonde Gans! Und sie hat auch Sommersprossen! Aber das Wasser taugt nichts!“

Den andern Tag schickte sie mich hierher, und nun werde ich wohl noch etwas Vornehmeres werden.“

„Kann man das?“ fragte Tröpfchen. „Was kann man denn noch werden, vielleicht eine Welt, wie die Spinne?“

„Herzblut!“ sagte eine Stimme auf dem Tische. Tröpfchen sah sich um, da lag ein Glasstreifen mit Papier beklebt. „Ich war auch einmal ein Wassertropfen, und jetzt bin ich Herzblut, aber getrocknetes. Denn ich bin auf Bacillen untersucht.“

„Herzblut kenne ich auch,“ rief ein alter Feuersteinsplitter, [232] der daneben lag. „Aber es ist rot und warm, das weiß ich noch. In Yukatan war’s, auf einem großen Gebäude, hoch über der Stadt, und viele Stufen führten hinauf. Damals war ich noch ein scharfes Messer, und ein herrlich gekleideter Mann schwang mich über einem breiten Steine. Auf dem Steine aber lag ein Mensch, den hielten vier andere. Und ich fuhr in den Menschen, da rissen sie ihm das Herz heraus und hielten es in die Höhe, damit sich die Sonne freute. Und alle die zusahen, freuten sich auch, weil sich die Sonne freute. Aber das ist schon lange her!“

„Und weiter kann man nichts werden?“ fragte Tröpfchen.

„Doch, wenn man Glück hat, und das Herz wird nicht auf einmal herausgerissen, sondern nur alle Tage ein wenig, daß der Mensch alt dabei wird.“ Der das sprach, war ein bleicher Menschenschädel, der auf dem Schranke stand.

„Und was wird man dann?“

„Eine Thräne.

Tröpfchen konnte nicht weiter fragen. Die Spinne wurde wieder in die Flasche gethan und der Deckel geschlossen.

„Wie ist es Ihnen ergangen?“ fragte Tröpfchen.

„Es hat mich etwas an meinem Beine gekratzt,“ sagte die Spinne. „Vielleicht war es der Mensch.“ Und damit fing sie an ein neues Haus zu bauen.

Der Mensch hatte mit der Spinne auch einige kleine Insekten in das Glas gethan, natürlich zur Nahrung [233] für die Spinne; und das imponierte Tröpfchen nicht wenig. Vielleicht ist sie doch die Welt, dachte es.

Am andern Tage wanderte das Glas wieder in die Tasche. Als der Mensch es aufs neue herauszog, hielt er es in die Höhe und redete laut vor einem großen Kreise von Zuhörern, die auf ihn hinblickten.

„Wahrhaftig,“ sagte Tröpfchen zur Spinne, „die Menschen sind Ihretwegen hier.“

„Es dreht sich alles um mich,“ erwiderte die Spinne und blähte ihr Nest auf.

Der Mensch aber sprach: „Was Sie hier sehen, meine Herren, ist nichts Besonderes — eine gewöhnliche Argyroneta; und nicht um Ihnen die Spinne zu zeigen, brachte ich sie mit. Aber an ihren Beinen lebt ein kleiner, mit bloßem Auge kaum sichtbarer Ektoparasit aus der Gattung der Saugwürmer, Trematoda, den ich zu Ehren seines berühmten Entdeckers Mystozoon Schleiermeier genannt habe. Ich stelle Ihnen denselben vor.“ —

Es wurde auf einen Augenblick dunkel im Saal, dann erschien auf einer großen Leinwand das Saugwürmchen in zehntausendfacher Vergrößerung, als ein scheußlicher Drache, mit Schuppen, Stacheln, furchtbaren Saugnäpfen und Zangen.

Wenn das auf der Spinne lebt, dachte Tröpfchen, so stecken wir doch vielleicht alle in ihr.

„Ich bin die Welt,“ sagte die Spinne.

„Aber auch dieses kleine Geschöpf, welches auf den Beinen von Argyroneta schmarotzt, fuhr der Redner [234] fort, „auch dieses ist es noch nicht, was uns interessiert.

Ich hatte das Glück, in den Saugnäpfen dieses Parasiten einen Afterparasiten zu entdecken, Ursula clarior “ — ein neues Untier erschien auf der Leinwand — „und in dem Ganglionknoten desselben eine noch unbekannte Bakterienart, ich nenne sie den Punktbacillus.

Er ist das kleinste Lebewesen, welches wir kennen — aber, meine Herren, ich bin stolz, Ihnen dies zuerst sagen zu dürfen, wir stehen hier vor einer Entdeckung von unübersehbarer Tragweite. Ich habe im Gegensatz zu berühmten Theorien den Übergang von Bacillenformen in einander nachgewiesen. Aus dem Parasiten Ursula entwickelt sich das im Blute des Menschen schmarotzende Polystoma Lurcium. Mit ihm dringt der Punktbacillus in das menschliche Nervensystem, und hier wird daraus der Gedankenstrich-Bacillus. Und nun, meine Herren — es ist mir gelungen, durch eine Reihe von Reinkulturen aus dem Punktbacillus den Gedankenstrichbacillus zu züchten; von diesem aber habe ich in Gemeinschaft mit meinem Kollegen Musitanus nachgewiesen, daß er es ist, welcher die Zersetzung der Gehirnsubstanz bewirkt. Kein Gehirnvorgang ohne Bakterienwachstum, kein Gedanke ohne Bacillus! Er ist es, der in uns denkt! Und so, meine Herren, habe ich Ihnen den Bacillus logicus in seiner Entstehungsgeschichte aufgezeigt. Seine künstliche Kultur ist nur noch eine Frage der Zeit, und seine Einimpfung in das Blut wird den europäischen Denkprozeß beschleunigen. [235] Ein paar Bacillen weniger oder mehr, und ein Narr oder ein Philosoph steht vor Ihnen; ein lebhafterer Spaltungsprozeß, und aus dem Cretin wird ein Kant!

Meine Herren! In dem Schmarotzer eines Schmarotzers einer Spinne lebt ein Organismus, von welchem tausend Millionen noch nicht ein Milligramm wiegen, und in ihm sehen Sie die Urform, ja den Herrn alles Lebens, nicht bloß alles Lebens, nein, aller Kultur! Als einfache Zellen sind die Bacillen Urform, aber da sie nicht assimilieren, sondern nur zersetzen, sind sie der ewige Gährstoff, der an unserm Leben nagt. Sie herrschen über uns unzugänglich und unverstanden wie Götter. Sie dringen in unser Blut und vernichten die bauende Arbeit unseres Leibes, sie dringen in unser Gehirn, und die Gedanken des Entdeckers blitzen auf. Und wieder mitten im siegreichen Schaffen des Genius zernagt das Bacillenheer unsere Lebenssäfte, und die Ideale der Menschheit sinken in Nacht mit ihren Trägern. Doch was wollen wir? Was sind wir anders als eine Bacillenkolonie auf der Erde, Schmarotzer am Leibe der Pflanzenwelt? Denn auch wir besitzen kein Chlorophyll, auch wir können nicht unmittelbar die Elemente assimilieren. Der Bacillus ist unser Herr und unser Bruder. Ist er unser Vorbild, das Ziel, dem wir zustreben und das er schon erreicht hat, das Ideal des Parasitentums, weil er einzellig für sich schmarotzt? Oder sind wir die höhere Stufe, weil unser Körper ein Zellenstaat parasitischen Charakters ist? Wer möchte das entscheiden, der nicht der Entwickelung des Weltprozesses [236] beigewohnt? Wie kam das Leben auf die Erde?“

Das wenigstens weiß ich, dachte Tröpfchen.

„Als der Glutball der Erde aus dem planetarischen Nebel sich ausschied und erstarrte, als nach Jahrmillionen im schlammigen Grunde des heißen Urmeers zwischen komplizierten Molekülen die ersten diosmotischen Erscheinungen auftraten, da war die Geburtsstätte des Protoplasmas. Aber war es auch die Geburtsstätte des Bacillus? Wieviel Millionen von Jahren mußten weiter verfließen, ehe die Bedingungen seines Lebens erfüllt wurden, da sie das Leben der andern voraussetzen? Nein, meine Herren, der Bacillus ist keine Urform, er ist die Endform alles Daseins, er ist das höchste und vollkommenste Wesen in der Welt des Lebens! Der Mensch herrscht über die Natur, aber der Bacillus herrscht über den Menschen. Der Mensch bewohnt das Planetensystem, aber der Bacillus bewohnt den Menschen. Welches Weltsystem mag er sich von dem komplizierten Weltsystem seines lebendigen Wohnorts entworfen haben? Wie berechnen seine Astronomen den Umlauf des Blutes? Wonach bestimmen seine Staatsmänner die Anlage von Kolonien? Welches mögen seine sittlichen Maximen sein? Sicherlich besitzt er solche! Denn rücksichtslos wie der Mensch zerstört er fremdes Leben zu eigenen Zwecken, wandelt er die Natur um durch seine Arbeit. Und unaufhaltsam vermehrt sich sein Geschlecht. Meine Herren! Denken Sie sich einen Riesen, der das Gewimmel der Menschheit [237] auf der Erdoberfläche durch ein Mikroskop beobachtet — was würde er erblicken? Sähe er die Mutterliebe, die Gottesfurcht, das Mitleid in unsern Herzen? Sähe er den Mut des Helden, die Begeisterung des Forschers, die Ideale des Künstlers, die Wonne des Liebenden? Nein, er sähe nur Entstehen und Vergehen von Individuen, Anhäufung und Vernichtung von Massen, Änderungen der örtlichen und zeitlichen Gruppierung — alles, was wir an den Bacillen sehen. Mit welchem echte wollen wir dem Bacillus, den wir nur von außen beobachten, alles das absprechen, was auch an uns niemand von außen wahrnehmen könnte? Warum soll nicht in ihm ein Microbacillus logicus vegetieren, der in ihm den logischen Spaltungsprozeß bewirkt, wie in uns? Wo sind die Grenzen des Universums? Darum, meine Herren, Achtung vor dem Bacillus, Achtung vor dem Mächtigsten im Kleinsten! Sammeln wir uns und bedenken wir, daß wir nicht einmal Bacillen sind!“

Der Redner verließ seinen Platz, die Zuhörer gingen nach Hause. Eine Scheuerfrau kam mit Besen und Eimer. Das Glas mit dem Tröpfchen und der Spinne war vergessen, und da der Deckel offen geblieben war, so hatte sich die Spinne davongemacht. Sie kroch über die Dielen.

„Eine Spinne!“ schrie die Frau und stieß mit dem Besen nach ihr.

„Ich bin die Welt,“ sagte die Spinne. Da war sie zerquetscht. [238] Der Parasit Mystozoon Schleiermeier und dessen Parasit Ursula clarior und dessen Parasit, der Punktbacillus, waren über die Möglichkeit eines Weltunterganges noch nicht im Klaren, als Tröpfchen sie aus den Augen verlor. Denn die Frau nahm das Glas, hielt es gegen das Licht und sagte: „Es scheint nur Wasser.“ Sie roch daran. „Aber es stinkt.“ Und damit hatte sie es in den Eimer gegossen.

Das waren schlimme Tage für Tröpfchen in dem finstern Kanale und in dem Klärbecken, wo sich der Unrat der ganzen Stadt absetzte. Wo ist nun die Welt? fragte es sich. War es die Spinne? Aber die ist ja zertreten. Und wie ist die Welt entstanden? Dieser Mensch mit den Bacillen war offenbar nicht der Ansicht, daß die Sache gerade so zugegangen sei, wie Tröpfchen in der Schule gelernt hatte. Wer hatte nun Recht? Soviel ist klar, dachte Tröpfchen, die Menschen wissen selbst nichts. Wie sollten sie auch, da sich doch selbst die Spinne geirrt zu haben schien. Was ist der Mensch? Nicht einmal ein Bacillus? Nun, Bakterien gab es hier genug, und Tröpfchen wußte ja jetzt, wie sie aussahen. Vielleicht konnte es von ihnen etwas erfahren. Sie schienen allerdings recht einsilbig.

„Was ist der Mensch?“ fragte es die Bacillen.

„Unsere Hoffnung.“

„So seid Ihr das Leben?“

„Wir waren es und wir werden es.“

„Und was seid Ihr jetzt?“

„Der Tod.“

[239] Tröpfchen befand sich wieder im Freien. Ein breiter Strom wälzte es mit seinen Wogen. Niedrig und grau zogen die Wolken und der Wind wehte kalt vom flachen Ufer her. Dort standen zwei Menschen eng verschlungen.

„Fürchtest Du Dich?“ fragte er.

„Ich fürchte nichts als die Trennung von Dir.“

„Es giebt nur einen Weg, der uns vereint.“

„Er liegt vor uns, wir werden ihn gehen.“

„Fluch ihnen, die uns hineintreiben!“

„Nein, vergieb ihnen, denn wir werden Ruhe finden.“

„Armes, unglückseliges Weib, leb’ wohl!“

„Ich bleibe bei Dir.“

Ein dumpfer Fall — entsetzt stob Tröpfchen in die Höhe — da waren ja Menschen selbst zu ihm gekommen! Aber sie wollten nicht reden. Vorüber — dem Meere zu, dem Meere!

Lange barg sich Tröpfchen im Meere. Welt und Menschen wollten ihm nicht gefallen. Da unten war’s einsam. Es wußte nicht, wie lange es durch die Ozeane hin und her trieb, bis ihm eines Tages die Sehnsucht kam nach Fichte und Stein, bei denen es einst geweilt. Von der Höhe des Wellenkammes lugte es in die Ferne.

Ein Schiff schnitt eilend durchs Wasser mit geschwellten Segeln. Gebräunte Männer mit weißem Turban schauen rückwärts, sorgenvoll und finster. Dumpfes Klagen schallt aus dem Raume. Das Sklavenschiff jagt mit günstigem Winde. Aber schneller ist die graue [240] Rauchwolke dort hinten, wo das Rollen des Schusses mahnend Halt gebietet und die Adlerflagge in die Höhe steigt. Die finstern Männer sehen nach ihren Waffen und fliegen der Küste zu. Aber näher schon donnert es herüber, im Schiff zerspringen die Geschosse, die braunen Räuber, die geraubten Schwarzen zugleich zerschmetternd. Haltet aus, der Sieger bringt euch die Freiheit! Haltet aus auf dem brennenden Wrack! Schon sind die rettenden Boote nahe, da sinkt der zerschossene Bau in die Flut. Die Menschlichkeit hat gesiegt, die Sklaven sind frei, wo wir alle frei sind.

Tröpfchen tanzt zitternd im hellen Sonnenstrahl auf der schäumenden Oberfläche — es wird ihm so leicht, so frei — es steigt empor, es schwebt in der Luft — durchsichtig und klar im blauen Himmelsraume — — Schon liegt das Meer weit unter ihm — noch eine Strecke — ach, wie kalt wird es hier — es zieht sich zusammen, es ist wieder ein Tröpfchen — nein, nicht eines, ein ganzes Wölkchen ist’s, und langsam zieht’s über das Schiff der weißen Männer. Was thun die Menschen? Die sie soeben grausam zerschmetterten, sie ziehen sie mühevoll aus den Wellen, sorgsam verbinden sie die Wunden. Der braune Araber wie der schwarze Neger, der gefangene Herr und der befreite Sklave liegen nebeneinander, und der weiße Mann kühlt ihnen die Stirn.

Woher das klare Eis in der Tropenglut? Woher die eilende Fahrt in der Windstille, die sichere Richtung in der Uferlosigkeit? Woher der glänzende Lichtstrom in der [241] Nacht? Und Tröpfchen denkt des ernsten Mannes mit der hohen Stirn, dessen Forscherblick dem Geheimnis des Bacillus nachspähte, es denkt jenes andern Mannes mit den leuchtenden Augen, der das Lied sang von der ewigen, schaffenden Menschheit. — Weit über die Erde blickt es von der Wolke auf siegreiche Arbeit und mächtiges Gelingen. Die Wolke senkt sich, und wieder sieht es die Armen und Unfreien im Kampfe mit des Lebens Notdurft, sieht den Hochmut und die Herzlosigkeit, Verblendung und Überhebung, Dummheit und Schlechtigkeit, Jammer und Verzweiflung, wie jeder Einzelne rastlos ringt im Kampfe des Daseins. Die Wolke steigt, und nun überschaut es alle zusammen und es däucht ihm ein großes Werk, das sie schaffen. Und es schwebte hinauf, so hoch die Winde es tragen wollten, bis die Grenzen ferne verschwammen von Land zu Land, von Meer zu Meer — Noch lagerte das Dunkel dort unten, aber sein Wölkchen erglänzte golden im Frührot; und vor der Sonne herschwebend auf Geisterschwingen begegnete ihm der Genius des Tages und lächelte liebreich.

„Bringst Du ihnen das Glück?“ fragte Tröpfchen.

Der Genius schwieg und schwebte lächelnd weiter.

Und Tröpfchen spähte hinab und dachte: Glücklich werden sie nicht dort unten? Aber würdig können sie werden des Glücks, hinabzuschauen mit mir von der Wolke, um zu begreifen, daß sie nicht anders sein können. Und also denkend zog es still den heimatlichen Bergen zu.

[242] „Streitet nur weiter, Fichte und Stein: Bildung und Charakter, Denken und Wollen, Natur und Freiheit, braucht ihr nicht beide? Habt ihr nicht beide? Aber wo ließet ihr das Glück? Ich hab’s nicht gesehen, wo ich vorbeizog, es muß wohl dort wohnen, wo Tröpfchen nicht hin kam, woher das Lied klang, das der Wanderer ersann am Waldesrand? Aber ich bin ja auch nur ein Wölkchen geworden, und keine Thräne —“

Die Abendsonne lag grüßend auf der Fichte, da stand das Wölkchen mit rosigem Scheine über ihr.

Auf dem Steine saß wieder jener Wanderer, doch nicht allein. Eine zärtliche Gestalt in hellem Gewande schmiegte sich neben ihn, und in ihren Schoß schüttete ein Kind fröhlich lachend einen Strauß von Haideröschen Aber plötzlich schreit der Knabe auf und zieht blutend die Hand zurück. „Sieh wie die bösen Dornen mich gestochen haben!“ ruft er schon wieder lächelnd. „Warum müssen die Rosen Dornen haben?“

Der Vater nahm seinen Kopf zwischen die Hände und sagte ernsthaft: „Siehst Du das rosige Wölkchen dort oben? Würde es wohl so schön erglänzen, wenn nicht die Sonne jetzt unterginge und die Nacht heraufstiege? Hast Du nicht gehört vom starken Helden Siegfried, daß selbst ihn die Todeswunde treffen konnte? Es kann nichts geben in der Welt, nichts Herrliches, an dem nicht ein Flecken, nichts Gutes, an dem nicht ein Tadel wäre — das ist nun Menschenloos, daß auch dem Besten etwas fehlen muß.“

Aufmerksam lauschte der Knabe und schwieg nachdenklich. [243] Dann wandte er die großen blauen Augen auf seiner Mutter freundliches Antlitz und fragte verwundert:

„Was fehlt denn aber an Dir?“

Die Mutter küßte ihren Liebling. Das rosige Wölkchen war verschwunden und auf die Locken des Knaben fiel eine Thräne des Glückes.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unterordung