Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Gracchus, Ti., cos. 215 v. Chr. 212 v. Chr. Gefallen
Band II A,2 (1923) S. 14011403
Tiberius Sempronius Gracchus (Konsul 215 v. Chr.) in der Wikipedia
Tiberius Sempronius Gracchus in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register II A,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|II A,2|1401|1403|Sempronius 51|[[REAutor]]|RE:Sempronius 51}}        

51) Ti. Sempronius Gracchus, Sohn von Nr. 50 (Ti. f. Ti. n. Fasti Cap.), war 538 = 216 curulischer Aedil (Liv. XXIII 24, 3. 30, 16) und wurde als solcher von dem Dictator M. Iunius Pera (o. Bd. X S. 1076f.) nach der Schlacht bei Cannae zu seinem Reiterobersten ernannt (Fasti Cap. Liv. XXII 57, 9. Zonar. IX 2) und dadurch zugleich für das folgende Jahr zum Consulat empfohlen (Liv. XXIII 24, 1–3; vgl. Mommsen Staatsr. II 174, 3), obgleich er höchstens während der Abwesenheit des Dictators vom Heere bei dem Versuche, das belagerte Casilinum zu verproviantieren, Gelegenheit zu selbständigerer Betätigung gefunden hatte (Liv. XXIII 19, 3–12). Zum Consul für 539 = 215 wurde er mit L. Postumius Albinus, der das Amt schon zweimal bekleidet hatte, gewählt, aber noch vor dem Amtsantritt kam die Nachricht, daß Postumius im Kampfe gegen die Boier gefallen sei; bei den Wahlen, die S. zu leiten hatte, wurde der tüchtige M. Claudius Marcellus gewählt; doch die Patricier verstanden es, da auf diese Weise zwei Plebeier an die Spitze des Staates getreten wären, die Wahl als fehlerhaft hinzustellen und bei der nochmaligen Erneuerung den Q. Fabius Maximus, der sich zweimal als Consul, auch als Censor und besonders als Dictator gegen Hannibal bewährt hatte, zum Amtsgenossen des S. zu erheben (Fasti Cap. Fasti fer. Lat. CIL I² p. 57. Liv. XXIII 24, 3. 5. 25, 1–11. 30, 14. 18. 31, 3. 7–14. XXXIV 1, 3. 6, 9; vgl. 8, 3. Oros. IV 16, 12. Cassiod. Chronogr. Hydat. Chron. Pasch. Zonar. IX 3, s. o. Bd. VI S. 1823, 23ff.). S. nahm mit seinem Heere, in dem Sklaven und andere Rekruten zahlreich vertreten waren, zuerst bei Sinuessa Stellung, dann ging er an der campanischen Küste südwärts nach Liternum und folgte darauf einer Aufforderung der fest an Rom haltenden Bürger von Cumae zur Besetzung ihrer Stadt; es glückte ihm ein nächtlicher Überfall auf die von Rom abgefallenen Campaner (Liv. XXIII 32, 1. 4. 13f. 35, 5ff.), die Abwehr eines Sturmangriffs Hannibals auf Cumae (Liv. XXIII 36, 1–37, 9; vgl. Sil. Ital. XII 63ff. Zonar. Auct. de vir. ill. 42, 6) und die Festnahme der Unterhändler zwischen Hannibal und König Philipp bei dem Versuche der Landung in der Nähe (Liv. XXIII 38, 1–4). Als Hannibal Campanien verließ und nach Apulien in die Winterquartiere ging, folgte ihm S. und bezog in und bei dem festen Luceria ebenfalls die Winterquartiere (Liv. XXIII 39, 5. 48, 3. XXIV 3, 16f.). Für 540 = 214 wurde er mit prorogiertem Imperium in seiner Stellung belassen (Liv. XXIV 10, 3. 11, 3), doch von den neuen Consuln Fabius und Marcellus bald nach Beneventum gerufen, um dem Hanno, der aus Bruttium hauptsächlich einheimische Hilfstruppen heranführte, die Vereinigung mit Hannibal unmöglich zu machen. In der Tat gelang ihm die Erfüllung dieses Auftrags, wofür [1402] die in seinem Heere dienenden Sklaven als Lohn die Freiheit erhielten. Der ausführliche Bericht des Liv. XXIV 14, 1–16, 9 ist sehr stark ausgeschmückt, doch nicht durchaus zu verwerfen, denn sowohl die Auszeichnung des S. selbst durch die Wiederwahl zum Consulat für das folgende Jahr wie die Belohnung der Sklaven ist Tatsache; die letztere (vgl. noch Liv. XXIV 18, 12. XXV 6, 21. 20, 4. XXVI 2, 10. Val. Max. V 6, 8. VII 6, 1. Frontin. strat. IV 7, 24. Flor. I 22, 30) war auf einem Votivbilde in dem Heiligtum der Libertas auf dem Aventin dargestellt (Liv. XXIV 16, 9; vgl. über das Heiligtum Nr. 50). Allerdings vergalt Hanno dem S. die Schlappe sehr bald wieder durch Niedermachen von Abteilungen seiner Truppen in Lucanien (Liv. XXIV 19, 4. 20, 1f.; vgl. über den Feldzug noch Zonar. IX 4. Meltzer-Kahrstedt Gesch. d. Karthager III 459). Zum zweiten Consulat gelangte S. 541 = 213 mit dem jüngeren Q. Fabius Maximus, dem Sohne seines früheren Kollegen (Fasti fer. Lat. a. O. Chronogr. Hydat. Chron. Pasch. Claud. Quadrig. frg. 57 bei Gell. II 2, 13. Nep. Hann. 5, 3. Liv. XXIV 43, 5. 9. 44, 1. 7. Cassiod.; vgl. o. Bd. VI S. 1789f.); er stand während dieses Jahres in Lucanien und hatte nur unbedeutende Gefechte zu bestehen (Liv. XXIV 44, 9. 47, 12. XXV 1, 5); um seinen Posten nicht zu verlassen, ernannte er für die Leitung der Wahlen einen Dictator (Liv. XXV 2, 3) und wurde für 542 = 212 wieder im Kommando bestätigt (Liv. XXV 3, 5), doch nach kurzer Zeit von den neuen Consuln mit seinen Reitern und Leichtbewaffneten nach Beneventum entboten (ebd. 15, 20). Bei dieser Gelegenheit ist er mit wenigen Begleitern in einen Hinterhalt geraten und getötet worden (vgl. über die Zeit Kahrstedt a. O. 263. 472). Liv. XXV 17, 3f. stellt fest: Nec locus nec ratio mortis in viro tam claro et insigni constat, funeris quoque … varia est fama; er gibt drei verschiedene Darstellungen wieder. Nach der ausführlichsten ist der Ort der Tat in Lucanis ad Campos qui Veteres vocantur, die Tat selbst ein hinterlistiger Verrat eines Gastfreundes des S., des Bundesoberhauptes der Lucaner Flavus (Liv. 16, 5–25), und die Bestattung des S. eine Art ehrenvoller Sühne dieses Frevels durch Hannibal (17, 4L); diese verbreitetste Darstellung (vulgatior fama 17, 4) haben unabhängig von Liv. (nach diesem Val. Max. I 6, 8. V 1 ext. 6. Oros. IV 16, 15. Ampel. 28, 4. Sil. Ital. XII 475–478. XIII 717. XVII 161 u. ö.) Cic. Tusc. I 89. Nep. Hann. 5, 3. Diod. XXVI 16. Appian. Hann. 35. Zonar. IV 5 Anf. angenommen (vgl. auch Polyaen. VI 38, 1 mit dem Namen des Verräters Flavus statt dem des S.) und hatte offenbar auch Polybios bereits vertreten (VIII 1, 2, verglichen mit der ganzen daran geknüpften Erörterung, zumal dem Schluß 2, 7–9). Ganz abweichend ist der Bericht, daß S. in agro Beneventano prope Calorem fluvium beim Baden überfallen worden und von den Seinen im Lager feierlich bestattet worden sei, nachdem ihnen Hannibal seinen abgeschlagenen Kopf ausgeliefert hatte (Liv. XXV 17, 1f. 4. 6f.); es ist vermutet worden, daB der wenig bekannte Fluß Calor in Lucanien (o. Bd. III S. 1362 Nr. 2. Nissen Ital. Landesk. II 891. 903, 2) mit dem bekannteren bei Benevent fließenden (o. Bd. III ebd. Nr. 1) vertauscht worden ist, um den Schauplatz des größten Erfolges [1403] des S. zu dem seines Endes zu machen (vgl. Hesselbarth Histor.-krit. Untersuch. zur dritten Dekade des Liv. 495); auch ohnehin macht diese Darstellung keinen sehr glaubwürdigen Eindruck. Ein dritter Bericht scheint hinsichtlich der Örtlichkeit und der Beisetzung des S. von dem Hauptbericht nicht verschieden gewesen zu sein (vgl. Hesselbarth a. O.), aber er verknüpfte das Ende des S. unmittelbar mit einem ihm zuteil gewordenen Vorzeichen: er habe ein Prodigium, das in Gestalt zweier Schlangen auftrat, an einer unberührten Stelle außerhalb seines Lagers sühnen wollen und sei dort in den feindlichen Hinterhalt geraten (Liv. 16, 1–4. 17, 3; daraus Val. Max. I 6, 8). Zur Beurteilung dieser Erzählung ist zu beachten, daß ein ähnliches Vorzeichen durch zwei Schlangen dem jüngeren Ti. Gracchus Nr. 54 von seinem Tode zuteil wurde (s. d. und o. Bd. IV S. 1593, 5ff.), daß dessen eigener Sohn C. Gracchus das berichtete (Cic. div. I 36), daß dieser selbst auch ein freilich andersartiges Vorzeichen seines eigenen Endes erzählte, und daß diese seine mündliche Erzählung von Coelius Antipater weitergegeben wurde (ebd. 56). Der dritte livianische Bericht über das Ereignis von 542 = 212 entstammt also wohl der gracchischen Familientradition, kann aber schon von Coelius Antipater mit dem ersten vom Verrate des Lucaners Flavus verbunden worden sein. Infolge der besonderen Umstände, unter denen S. seinen Tod fand, war die volle Wahrheit darüber bei ihm, wie einige Jahre später bei Marcellus (s. o. Bd. III S. 2753f.) nicht zu ermitteln, so daß bereits bei den Zeitgenossen verschiedene Berichte Glauben finden konnten. Der zuletzt erwähnte legt die Vermutung nahe, daß S. Priester war, vielleicht Augur, wie mehrere seiner Nachkommen (Nr. 52. 53. 54), doch fehlt sein Name in den livianischen Listen, Sein Andenken blieb stets in Ehren (vgl. z. B. Sall. Iug. 42, 1. Dio XLIV 30, 4).