Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Sohn des Daidalos
Band IX,1 (1914) S. 985989
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2) Ikaros, Sohn des Daidalos. Das weitverzweigte, in einzelnen Motiven mannigfach auseinandergehende sagengeschichtliche Material über I. (unwahrscheinliche Vermutungen über die Etymologie des Namens bei Curtius Griech. Etym.⁵ 461; völlig befriedigend scheint keine Erklärung; vgl. auch Bechtel-Fick Griech. Personenname 427. Preller-Robert Griech. Myth. I⁴ 667, 4. Usener Griech. Götternam. 18f. Milchhöfer Berl. Phil- Wochenschr. 1887, 770ff. und o. Bd. II S. 2203. M. Mayer Herm. XXVII 502ff. und Holland Die Sage von Daidalos und Ikaros, Gymn.-Progr. 1902, 28), wie es uns besonders ausführlich bei Ovid. ars am. II 22–96 (und in teilweise wörtlicher Wiederholung met. VIII 183–285; dazu vgl. noch Lactant. Placid. narrat. 674 Magn.) und damit wesentlich übereinstimmend [986] bei Apollod. bibl. III 9 und 214 und Epit. I 12 p. 177 Wagner, ferner bei Diodor. IV 77, 9 (vgl. auch die Anspielung Lucian. imag. 21; gall. 23; navig. 46), Strab. XIV 1, 19 p. 639 und Hygin. fab. 40, bei Aristobulos bei Arrian. anab. VII 20, 5, Zenob. IV 92, Serv. Aen. VI 14, Schol. Hom. Il. II 145 (vgl. auch Eustath. Hom. Il. 193, 4), Dio Chrysost. de regno 120 Bd. I S. 75. 25 Arnim usw. vorliegt und in dem der eigentliche Kern der I.-Sage ziemlich verdunkelt erscheint, haben in neuerer Zeit nach Roberts Analyse o. Bd. IV S. 1997ff. mit gutem Erfolge bes. Holland a. O. 25–33 und Knaack Herm. XXXVII (1902) 598–607 (oberflächlich Lafaye Les métamorphoses d’Ovide et leurs modales grecs 1904, 187ff.; dazu vgl. Gruppe in Bursians Jahresb. CXXXVII 1907, 523–526) zu sichten unternommen.

Nach der sicher richtigen Ansicht Roberts a. O. 1999 (vgl, auch Stamatiadis Ἰκαριακά. Samos 1893. Holland a. O. 28 und Gruppe a. O. 523 und Griech. Myth. und Relig. I 271) ist I. ursprünglich der Eponym des attischen Demos Ikaria und gehört zusammen mit Ikarios (so lautet die Namensform in den Handschriften des Dio Chrysost. a. O. und Hesych. II 352), dem Vater der Erigone (vgl. Usener a. O. Maass Anal. Eratosth. 105, 51 u. o.). Darauf weisen noch ganz bestimmte Züge der späteren Sage hin (z. B. Menekrates bei Serv. Aen. VI 14, nach dem I. nach der Flucht des Daidalos von den Athenern vertrieben und auf der Suche nach dem Vater durch Schiffbruch umkommt; vgl. auch Paus. IX 11, 4, der berichtet, daß das Grab des I. auf einer ins Ägäische Meer vorspringenden Landspitze gezeigt wurde. Vgl. auch Robert a. O. 1997f. und Holland a. O. 31; nach dem allerdings sehr späten Schol. Eurip. Hipp. 887 flieht Daidalos mit I. nach Athen und stürzt dieser in das Paralische, d. i. Attische Meer, das ehedem vielleicht Ikarisches Meer hieß). Seine Verbindung mit Daidalos, als dessen Sohn ihn die spätere Tradition (literarisch zuerst bei Xenoph. mem. IV 2, 33 bezeugt; auch die bildende Kunst weiß ursprünglich von I. nichts) kennt, ist zweifellos erst sekundär und hat ihren Ursprung vermutlich in der Nachbarschaft von Daidalidai. Gleichfalls spätere lokale Sagen verknüpften I. auch mit der Insel Ikaria des Ägäischen Meeres und, wie Knaack a. O. 600 aus dem Berichte des Aristobulos bei Arrian. a. O. schließen zu dürfen glaubte, auf der im Persischen Meerbusen nicht weit von der Euphratmündung gelegenen Insel Ichara, die Alexander Ikaros umnennen ließ; vgl. dagegen die Ausführungen Gruppes in Bursians Jahresb. a. O. 526, nach dessen Ansicht die Umbenennung deshalb erfolgte, weil auf Ichara wie auf der Insel Ikaria sich ein Heiligtum der Artemis Tauropolia befanden habe, I. aber zum Kreis der Artemis gehöre (Gruppe Griech. Myth. II 1278, 9).

Die Sage von I. hat offenbar erst durch das griechische Drama (vgl. Schol. zu Aristoph. Pax 141; in der Lyrik und im Dithyrambus wurde sie, soviel wir wissen, anscheinend nicht behandelt) Form und Ausbildung erhalten. Ob I. in dem Daidalos und in den Kamikoi des Sophokles (vgl. Holland a. O. 26) irgend eine Rolle spielte, [987] läßt sich bis jetzt wenigstens mit voller Sicherheit nicht feststellen, da sich aus den spärlichen Bruchstücken (z. B. frg. 165 und 304) keine rechte Vorstellung von ihrem Gang der Handlung gewinnen läßt Es muß daher auch dahingestellt bleiben, ob erst Euripides in seinen Kretern der Figur des I. zu einiger Bedeutung verhelfen hat, wie Knaack a. O. 601 mit v. Wilamowitz Anal. Eurip. 155 annimmt. Jedenfalls erscheint in diesem Drama, dessen Rekonstruktion (vgl. bes. Aristobulos a. O. Lucian. imag. 21 und gall. 28) nach Körte Aufsätze E. Curtius gewidmet 197 und I rilievi delle urne etrusche 1890 II 1 tav. XXVIII 3. XXIX 4. 5. XXX 5 und Kuhnert Daidalos in Jahrb. f. Philol. Suppl.-Bd. XV 183ff. besonders Robert a. O., Holland a. O. und Knaack a. O. gefördert haben, die Sage von dem Fluge des Daidalossohns für uns zuerst erkennbar in ihrer späteren Gestalt. Darnach verständigt (wohl in einer Dialogpartie) Daidalos, dem Pasiphae (ihr ist wohl der Prolog des Dramas zuzuweisen) zur Flucht verhilft, den I. von seinem Plan und gibt die nötigen Anweisungen zum Fliegen vermittelst der künstlichen Flügel. In einer folgenden Szene (parodiert von Aristoph. Ran. 849; vgl. das SchoL z. St. und Kuhnert a. O. 196) erhebt sich nach Hollands wahrscheinlicher Rekonstruktion (a. O. 9. Knaack a. O. 602f.) I. mit Daidalos auf der Flugmaschine in die Höhe und verhöhnt (vgl. Dio Chrysost. a. O. ἀλαζονεία) die Ohnmacht des Minos. Da I. aber den Rat des Vaters, mit seinem Flug sich in der Nähe der Erde zu halten (Arrian. a. O.), nicht befolgt, sondern der Sonne zu nahe kommt, so daß das die Flügel verbindende Wachs schmilzt, fällt er auf den Felsen einer Insel, die daher den Namen Ikaros oder Ikaria (vgl. Aesch. Pers. 876 Ἰκάρου ἴδος) erhält. In der Exodos des Stückes erzählt sodann eine Gottheit (nach Knaack a. O. 603 Aphrodite, die all das Unheil über das Haus des Minos gebracht hatte; vgl. jedoch auch Gruppe in Bursians Jahresb. a. O. 586) als deus ex machina den Sturz des Knaben und die Rettung des Daidalos nach Sizilien.

Die verwirrende Mannigfaltigkeit der einzelnen Züge (besonders der Anweisungen des Daidalos über die Art des Fliegens) und Motivierungen, die die Sage in den mythographischen Bearbeitungen aufweist, ist nur daraus zu erklären, daß der Stoff sehr oft und in bewußtem Gegensatz zu Vorgängern behandelt worden ist. In der alexandrinischen Dichtung ist die Sage mehrfach dargestellt worden. Zweifellos hat Ovid (neben einem mythologischen Handbuch, vgl. Holland a. O. 6 und Kienzle Ovidius qua ratione compend. mythol. adhibuerit 1903, 46f.) ein alexandrinisches Epyllion benutzt. Nach dem Schol. Hom. Il. II 145 hat Kallimachos in den Aitia die I.-Sage behandelt, im Anschluß an einen älteren, uns nicht mehr bekannten Dichter. In diesem Gedicht stürzt I. in das Meer und gibt diesem den Namen (vgl. bes. Ovid. met. VIII 234; trist. I 1, 90; fast IV 283. Lucian. Icarom. 2; Philops. 2. Apollod. epit. I 12. Schol. Hom. Il. II 145 usw.). Daß auch die Bestattung des von den Wellen an die Küste der Insel Doliche getriebenen Leichnams des I. durch Herakles (Apollod. bibl. II 6, 3, 4. Paus. a. O.) in der [988] Dichtung des Kallimachos erzählt worden sei, vermutet Baumeister Denkmäler s. Daidalos. Später scheint man die Sage auch mimisch dargestellt zu haben (vgl. Lucian. salt. 49. Suet. Noro 12).

Die Sage von dem Fluge des I. ist schon früh (anscheinend zuerst von Kleidemos bei Plut. Thes. 19 = FHG I 359, 5; dazu Kuhnert a. O. 200 und Robert a. O. 2006) im Zusammenhang mit der von Daidalos euhemeristisch umgedeutet und weitergebildet worden. So flieht I. nach Palaiph. 13 und Menekrates bei Serv. Aen. VI 14 (FHG II 344, 7; vgl. auch Servius selbst und Mythogr. Vatic. I 43 und II 126. Schol. Lucan. Phars. VIII 244 und aus gleicher Vorlage Solin. 11, 30) gemeinsam mit Daidalos zu Schiffe und stürzt ins Meer infolge ungeschickten Ruderns (Paus. IX 11, 4f.) oder nach anderer Fassung (Diod. IV 77, 6), weil er allzu früh tollkühn vom Schiff ans Ufer zu springen versucht. Wertlose Weiterbildung derartiger Kombinationen ist die Nachricht des Plin. n. h. VII 56. 208 (vgl. auch Hesych. a. O. und Iulianos in der Anthol. Planud. 107f.), daß I. der Erfinder der Segelkunst sei oder der kunstmäßigen Bearbeitung des Holzes.

Über die Deutung des Mythus von I., auf dessen Ähnlichkeit mit den verwandten Sagen des Talos, Atymnios und Phaethon wiederholt hingewiesen worden ist, ist manches vermutet worden, vgl. z. B. Gilbert Griech. Götterl. 180. Holland a. O. 31. Am plausibelsten ist die Ansicht Gruppes, der Griech. Myth. II 1810 (vgl. auch S. 946 und 960) ausgehend von der ursprünglichen Identität des Daidalossohnes und des Vaters der Erigone den vom Himmel fallenden I. als den in der Sonnennähe verschwindenden Orion oder Morgenstern erklärt. Ohne genügende Grundlage sind die im Anschluß an eine Vermutung von Mayer Herm. XXVII 502ff. vorgebrachten Folgerungen, Ikarios und Ikaros wiesen auf Zusammenhang mit karischen Mythen hin (vgl. auch Holland a. O. 28f.).

Bildliche Darstellungen aus der I.-Sage sind nicht selten. Schon im Altertum soll nach Aristot. de mir. ausc. 81 p. 836 b (vgl. auch Steph. Byz. s. Ἠλεκτρίδες νῆσοι) Daidalos seine und des I. Bildsäule auf den Bernsteininseln aufgestellt haben, und auf den Türflügeln des von ihm dem Apollon zu Ehren in Cumae erbauten Tempels soll das Unglück des I. dargestellt gewesen sein (vgl. Serv. a. O.). In der ältesten Darstellung des Daidalosfluges auf einem schwarzfigurigen Skyphos (Mitte des 7. oder 6. Jhdts.; vgl. Rayet Gaz. arch. IX 1884, 1ff.; abgeb. auch bei Daremberg-Saglio Dict. des Antiq. II 6) fehlt noch die Figur des I. Die Inschrift einer apulischen Schale bei Gerhard Hyperbor.-röm. Stud. I 173 nr. 9, die einen nackten bärtigen, mit Flügeln versehenen Mann, der im Begriff zu fliegen ist, darstellt, nennt neben Daidalos auch I. Der auf dem Relief einer kampanischen Tonlampe (Arch. Ztg. 1852 Taf. 39, 2) dargestellte Flieger läßt sich als I. deuten. Auf einer Paste des Britischen Museums (Catal. of engrav. gems nr. 1333) ist I. über das Meer fliegend dargestellt. Über sonstige auf den Flug des I. bezügliche Denkmäler vgl. Pottier in Daremberg-Saglio Dict. des Antiq. II 6ff. Baumeister Denkmäler I 403ff. [989] Furtwängler Samml. Somzée 57 XXXIII Roscher Myth. Lex. II 1, 116. Holland a. O. 27 A.

[Heeg.]