Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
korrigiert  
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
'königliche Tagebücher', Aufzeichnungen im Heerlager Alexanders_d._Großen
Band V,2 (1905) S. 27492753
Ephemeriden Alexanders des Großen in der Wikipedia
Ephemeriden Alexanders des Großen in Wikidata
Bildergalerie im Original
Register V,2 Alle Register
Linkvorlage für WP   
* {{RE|V,2|2749|2753|Ephemerides|[[REAutor]]|RE:Ephemerides}}        

Ephemerides (βασίλειοι oder βασιλικαὶ ἐφημερίδες), königliche Tagebücher, werden die offiziellen Aufzeichnungen, die im Heerlager Alexanders d. Gr. gemacht wurden, genannt (ἐφημερίς heißt allgemein bei Suid. s. v. τῶν ἀφ’ ἑκάστης ἡμέρας συμπιπτόντων ἀπογραφή). Mit der Führung und Redaktion dieser Tagebücher war Eumenes von Kardia, der ἀρχιγραμματεύς Alexanders, betraut, dem, wie es scheint, dabei noch Diodotos von Erythrai zur Seite gestanden hat (Athen. X 434 b). Die E. berichteten in der Form von Tagebüchern die zu der Person des Königs in Beziehung stehenden Ereignisse; bei der zentralen Bedeutung, die die Person des Königs für das gesamte Reich hatte, bildeten sie eine zentrale Berichterstattung über alle wichtigen politischen und militärischen Vorgänge des Reiches (vgl. Kaerst Gesch. d. hellenist. Zeitalters I 384). Droysen Gesch. d. Hellen. I 2, 382ff. hat die Bedeutung derartiger offizieller Aufzeichnungen für unsere geschichtliche Überlieferung über Alexander erkannt, jedoch irrigerweise unsere E. als ein bloßes Hofjournal bezeichnet und gemeint, daneben noch militärische E., von deren besonderer Existenz wir aber nichts wissen, annehmen zu müssen. Demgegenüber hat Wilcken Philol. LIII 112ff. mit Recht betont, daß ,Hof-‘ und ,Feld-journal‘ Alexanders sich von einander nicht scheiden lassen, daß die Berichterstattung der E. nicht auf die Vorkommnisse des Hofes, auf die rein persönlichen Erlebnisse des Königs beschränkt war, sondern zugleich auch die administrativen und militärischen Handlungen Alexanders enthielt. Eine Nachricht des Aristeas (ep. ad Philocr. 298 Wendl.) über die Tagebücher der ptolemaeischen Könige und die in einer Papyrusurkunde erhaltenen Fragmente von ὑπομνηματισμοί eines ägyptischen Strategen aus der Zeit des Alexander Severus dienten Wilcken dazu, die Anlage solcher offizieller Tagebücher genauer darzulegen und dadurch auch auf den Charakter der E. Alexanders ein helleres Licht fallen zu lassen. Die wenigen Fragmente, die von den letzteren auf uns gekommen sind, insbesondere das ausführliche Fragment, das den offiziellen Bericht über Krankheit und Ende des großen Königs enthält (Arr. anab. VII 25f. Plut. Alex. 76), zeigen unzweideutig die verschiedensten Seiten von Alexanders Tätigkeit, die Akte seiner politischen und militärischen Verwaltung wie die rein persönlichen Beschäftigungen seiner Muße in der gleichen Berichterstattung vereinigt. Die Mitteilungen, die Plut. Alex. 23 im allgemeinen über das Leben Alexanders macht — offenbar nach einem Schriftsteller, [2750] der die E. als Quelle seiner Darstellung vor sich hatte —, heben ebenso seine richterlichen und militärischen Geschäfte hervor, wie seine Beschäftigung mit Jagd und andere Übungen und Unterhaltungen des Königs und seine täglichen Opfer. Und in dem Berichte über die letzte Krankheit des Königs finden sich sowohl bei Arrian wie auch bei Plutarch neben den Bulletins über die fortschreitenden Krankheitserscheinungen die Notizen über wichtige Audienzen und militärische Anordnungen Alexanders. Der Zweck, dem diese Aufzeichnungen dienten, läßt sich darnach unschwer erkennen. Es sollte eine fortlaufende Orientierung für den König selbst sowie seine Feldherrn und Beamten über den Zusammenhang und Fortgang der Geschäfte der politischen Administration wie der militärischen Aufgaben des Reiches ermöglicht werden. Der Zweck war demgemäß zunächst ein geschäftlicher, administrativer, nicht eigentlich literarischer. Indessen steht es doch wohl im Einklang mit dem ganzen Charakter von Alexanders Regierungstätigkeit, wenn wir annehmen, daß er über dem nächsten Zweck der geschäftlichen Information doch auch den weiteren Gesichtspunkt nicht übersah, daß die großen Momente der Eroberung und Neugestaltuug der Welt, die sich an sein persönliches Tun knüpften, in möglichst authentischer Form überliefert wurden — natürlich, soweit es sich mit seinen eigenen politischen Zwecken in Übereinstimmung bringen ließ. Ob nach dem Tode Alexanders eine eigentlich literarische Veröffentlichung der E. stattgefunden hat, darüber vermögen wir nichts mit Bestimmtheit auszusagen. Daß Eumenes von Kardia selbst eine derartige Publikation der von ihm geführten Tagebücher bewerkstelligt habe — wofür zunächst die Zitate bei Aelian. v. h. III 23. Athen. X 434 b und Plut. symp. I 6 zu sprechen scheinen könnten — ist bei den nach dem Tode Alexanders eingetretenen Wirren und Verwicklungen, in die Eumenes in so hervorragendem Maße hineingezogen wurde, kaum wahrscheinlich. Wir dürfen wohl annehmen, daß die E. neben anderen offiziellen Aufzeichnungen, wie den Σταθμοί, in dem königlichen Archiv, dem γαζοφυλάκιον (Strab. II 69; vgl. auch B. Esr. 5, 17. 6, 1) aufbewahrt wurden (C. F. Lehmann Herm. XXXVI 319f. hat versucht, die Wege aufzuzeigen, auf denen die Aufzeichnungen der E. in unsere geschichtliche Überlieferung gelangt seien; indessen beruht seine Darlegung auf zu unsichern Grundlagen). Vielleicht ist später auch eine auf das große Publikum berechnete schriftstellerische Bearbeitung der E. erschienen; ein solches Werk könnte das eines sonst unbekannten Historikers Strattis von Olynthos gewesen sein, von dem Suidas s. v. eine Schrift: Περὶ τῶν Ἀλεξάνδρου ἐφημερίδων βιβλία πέντε anführt. Es möchte dann vielleicht zwischen einer solchen Bearbeitung und den ursprünglichen Aufzeichnungen der E. ein ähnliches Verhältnis anzunehmen sein, wie es sich nach der Ansicht von E. Schwαrtz (Art. Baiton Bd. II S. 2779 und Bematistai Bd. III S. 266f.) zwischen den offiziellen Aufzeichnungen der Σταθμοί und späteren literarischen Bearbeitungen derselben ergeben würde.

Von welchem Zeitpunkt an Alexander die E.-Aufzeichnungen [2751] abfassen ließ, ob er einen äußeren Anlaß dazu hatte oder ein bestimmtes Vorbild dafür befolgte, vermögen wir nicht mit Sicherheit anzugeben. Vielleicht waren, wie Wilcken vermutet, auch schon Anfänge solcher Aufzeichnungen unter der Regierung Philipps vorhanden. Man hat verschiedentlich die Ansicht aufgestellt (so auch Niese Gesch. d. griech. u. maked. Staaten I 3f.), daß die E. der persischen Hofsitte nachgebildet seien und erst mit der Zeit begonnen hätten, wo Alexander die persischen Gebräuche angenommen habe, d. h. nach dem Tode des Dareios. Diese an sich unbegründete und unwahrscheinliche Annahme scheitert schon daran, daß wir mit großer Wahrscheinlichkeit den Einfluß der E. auf unsere geschichtliche Überlieferung über Alexander schon in früherer Zeit nachweisen können. So trägt z. B. die Erzählung Arrians (III 1f. 5f., vgl. auch die entsprechenden Partien bei Curtius Rufus über die Vorgänge während des ägyptischen Aufenthalts Alexanders und während seines Vormarsches gegen Dareios, über die Nachrichten, die der König erhält, die Anordnungen, die er trifft usw., durchaus den Charakter der auf die offiziellen Berichte der E. zurückgehenden Tradition. E. Meyer Gesch. d. Altert. III 46f. weist auf die allgemeinen Analogien zwischen den E. Alexanders und den offiziellen Aufzeichnungen an den orientalischen Königshöfen hin. Diese Analogien sind in gewissem Sinne unstreitig vorhanden: insbesondere dürfen, neben der im Pharaonenreiche üblichen Berichterstattung an den Königshof, in diesem Zusammenhange die ,Memorandenbücher‘ in den Archiven des persischen Reiches, in denen für die Person des Königs wichtige Vorgänge oder Entscheidungen registriert waren (vgl. B. Esther 6, 1; vgl. auch Herod. VIII 90) genannt werden. Indessen, daß es am persischen Königshofe zusammenhängende Aufzeichnungen gegeben habe, die, ähnlich wie die E. Alexanders, eine Grundlage der geschichtlichen Überlieferung hätten abgeben können, davon kann doch wohl nicht die Rede sein. Die βασιλικαὶ διφθέραι, die Ktesias nach Diod. II 32, 4 als Quelle für sein Geschichtswerk bezeichnete — E. Meyer a. O. —, dürften wohl nicht viel höheren urkundlichen Wert besitzen, als die von E. Meyer in diesem Zusammenhange ebenfalls angeführten βασιλικαὶ ἀναγραφαί, nach denen die ,Barbaren‘ die Geschichte des Memnon erzählten (Diod. II 22, 5). Die eigentlich geschichtlichen Aufzeichnungen der früheren orientalischen Könige — vor allem wohl die Bücher der Könige von Israel und Juda und die assyrisch-babylonischen Annalen — können allerdings in gewisse Parallele zu den E. Alexanders gestellt werden, indessen tritt bei ihnen im allgemeinen doch der geschäftliche Zweck, der Gesichtspunkt der Organisation und Verwaltung, hinter dem Streben, die Taten der betreffenden Herrscher zu verkünden, die Majestät ihres Königtums zu verherrlichen, ganz zurück. Jedenfalls bedarf das Verhältnis unserer E. zu den orientalischen Aufzeichnungen noch weiterer Erforschung und Aufklärung. Wir können aber wohl schon jetzt sagen: die E. Alexanders erheben sich in der Vielseitigkeit ihrer Anlage und in ihrem umfassenden politisch und militärisch sachkundigen Charakter [2752] ebenso über die früheren orientalischen Aufzeichnungen, wie das Königtum Alexanders an organisatorischer Kraft und Durchbildung die vorausgegangenen orientalischen Herrschaften übertrifft. Wir dürfen also in diesen E., wie in anderen Aufzeichnungen, die auf Initiative und Befehl des großen Herrschers entstanden, den Ausdruck der eigenen Bedürfnisse und Aufgaben des Reiches Alexanders sehen, sie in unmittelbare Beziehung zu seiner organisatorischen Wirksamkeit überhaupt setzen, sie aus deren eigenartigem Charakter erklären. Vor allem wurzeln sie in dem eigentümlichen persönlichen Prinzip der Herrschaftsbildung, das überhaupt für das Reich Alexanders von grundlegender Bedeutung ist (vgl. Kaerst a. O. 382ff.). Je mehr sich die organisatorische Tätigkeit Alexanders entfaltete, desto vielseitiger und umfassender wird sich die Berichterstattung der E. entwickelt haben.

So deutlich sich der tiefer eindringenden Forschung der Einfluß der E. auf die uns erhaltene geschichtliche Überlieferung über Alexander offenbart, so schwierig ist es, das Maß dieses Einflusses genauer zu bestimmen und zu umgrenzen. Es handelt sich dabei vornehmlich auch um die Frage, ob und inwieweit die E. eine eingehendere Darstellung der kriegerischen Ereignisse gegeben haben. An sich schon ist es — trotz der unzweifelhaften Befähigung des Eumenes für sachverständige Wiedergabe militärischer Vorgänge — wahrscheinlich, daß in ihnen nur die allgemeinen Umrisse der militärischen Operationen, die Anordnungen für ihre Durchführung und ihre Ergebnisse, wie diese in den Meldungen an das Hauptquartier vorlagen, mitgeteilt wurden. Diese Annahme scheint auch durch die Analyse unserer Überlieferung Bestätigung zu finden, was hier allerdings nicht genauer ausgeführt werden kann. Ein gemeinsamer Grundstock der Überlieferung ist in ihren verschiedenen uns erhaltenen Zweigen noch erkennbar; die Aufzeichnungen der E. haben gewiß bereits die Grundlage der ersten literarischen Bearbeitung der Alexandergeschichte, wie sie im Werk des Kallisthenes vorlag, gebildet und sind schon durch den Einfluß dieses Werkes auf die späteren historischen Darstellungen zugleich auch in mehr oder weniger abgeleiteter Form in diese gelangt. Am reichsten und klarsten ist aber diese offizielle, aus dem Hauptquartier Alexanders selbst hervorgegangene Grundlage der Tradition in dem Werke des Ptolemaios, der Hauptquelle Arrians, zur Ausprägung gekommen (in dieser Auffassung stimme ich durchaus mit Wilcken a. O. 117ff. überein, wenn ich auch die von ihm angeführten Gründe für die Benützung der E. durch Ptolemaios mir nicht durchweg aneignen kann; vgl. Philol. LVI 336ff.; die Auslegung, die Wachsmuth Rh. Mus. LVI 221 von'der Stelle Arrian. VII 26, 3 gibt, kommt sachlich im wesentlichen auf dasselbe heraus, wie meine Erklärung). Nicht darin besteht des Ptolemaios Verdienst, daß er überhaupt die E. benützt, sondern daß er auf sie vor allem seine Geschichte Alexanders aufgebaut hat. Wir dürfen dabei aber allerdings nicht übersehen, daß die E. wohl nur den allgemeinen Rahmen für die Berichterstattung des Ptolemaios gebildet haben werden, und daß er diesem Rahmen durch ausführliche sachverständige militärische Schilderungen, [2753] die er vornehmlich aus eigenen Erinnerungen und Aufzeichnungen schöpfte, Füllung gab. Gerade die eingehende Darstellung, in der Ptolemaios militärische Vorgänge, bei denen er selbst eine Rolle spielte — vornehmlich in der späteren Zeit der Alexanderfeldzüge — geschildert zu haben scheint, läßt besonders deutlich erkennen, wo und inwieweit seine Berichte über die Grundlage der B. hinausgingen. Und dann dürfen wir weiter nicht vergessen, daß es wohl neben den .königlichen Tagebüchern‘ noch andere offizielle Aufzeichnungen im Hauptquartier Alexanders gegeben hat, nicht bloß die σταθμοί der Bematisten, sondern wahrscheinlich auch militärische Berichte, die über die Ausführung wichtiger militärischer Aufträge an den König erstattet wurden (vgl. auch Schwartz Griech. Roman 80), vielleicht auch Darstellungen des Königs selbst über einzelne bedeutsame militärische Vorgänge.

Wie das Königtum Alexanders überhaupt Grundlage und Vorbild für die hellenistische Monarchie geworden ist, so dürfen wir in den in seinem Auftrage geführten βασίλειοι ἐφημερίδες auch das Vorbild für die tagebuchartigen Aufzeichnungen, die an den hellenistischen Fürstenhöfen im Gebrauch waren, erblicken (vgl. was Polyaen. IV 6, 2 über ὑπομνήματα eines Königs Antigonos mitteilt und was oben über die Tagebücher am ptolemaeischen Hofe bemerkt ist). Leider ist unsere Kenntnis dieser Institution bisher noch eine sehr fragmentarische. Daß wiederum die Tagebücher der hellenistischen Fürsten mit Wahrscheinlichkeit als Vorbilder für die commentarii der römischen Kaiserzeit angesehen werden können, hat Wilcken a. O. S. 116 mit Recht hervorgehoben.

Literatur: A. Schoene Analecta philologica historica I 1870, 33ff. Droysen Gesch. d. Hellenism. I 2, 382ff., vor allem Wilcken Philol. LIII 80ff.

[Kaerst. ]