Otto Weininger (Lessing)
Am 4. Oktober 1903 erschoß sich in Wien in der Schwarzspaniergasse, im Sterbezimmer Beethovens, der dreiundzwanzigjährige Student der Philosophie Otto Weininger. Ein unerklärliches Ereignis!
Wenige Monate zuvor war im Verlage von Wilhelm Braumüller in Wien (unter den Auspizien der Philosophieprofessoren Friedrich Jodl und Laurenz Müllner) ein mächtiges Gedankenwerk erschienen. Es führte den Titel „Geschlecht und Charakter“ und enthielt prinzipielle Untersuchungen über das Verhältnis des Elementaren zum Geistigen, wobei das Elementare als die „weiblich-mütterliche“, das Geistige aber als die „männlich-schöpferische“ Seite alles Daseins hingestellt, Weib und Mann also gleich Nabel und Hirn oder Wurzel und Wipfel widereinander ausgewogen wurden.
Der Erfolg des wildbewegten Buches war erstaunlich. Die bedeutenden Denker jener Tage: Ernst Mach, Georg Simmel, Henri Bergson, Fritz Mauthner, Alois Höfler, lasen das Buch und begannen in Kollegs und Gegenschriften sich mit seinen scharfsinnigen Gedanken auseinanderzusetzen. Der Widerspruch überwog die Zustimmung. [81] Aber nur eine Stimme herrschte: dieser dreiundzwanzigjährige Student müsse Genie sein.
Ein blutjunger Knabe war über Nacht berühmt geworden. Und froher Aufstieg schien ihm gewiß.
Da stand die verdutzte Welt vor der Kunde: Der Knabe hat seinen Kranz zerrissen, hat das Leben weggeworfen, im selben Raume, in dem auch Beethoven verhauchte. Er hat es so gehalten, wie siebenunddreißig Jahre zuvor der blutjunge Philipp Mainländer, der am Tage, wo er seine geniale „Philosophie der Erlösung“ im Drucke vollendet vor sich liegen sah, zum Stricke griff und starb.
Seit Weiningers Freitod ist nun fast ein Menschenalter vergangen. In diesem Menschenalter sind viele Schriften über Otto Weininger und sein System geschrieben worden. Richtigstellende und besserwissende Bücher. Und man kann es den nächsten Wiener Freunden des Frühvollendeten – Emil Lucka, Hermann Swoboda, Oskar Ewald und Moritz Rappaport – nicht verdenken, daß sie angesichts der vielen klugen Diagnosen von seiten orakuloser Ärzte und Irrenärzte sich gedrängt fühlten, sogar diejenige Lehre Weiningers zu rechtfertigen, welche doch wirklich nichts ist als ein tolles Naturspiel von krankhafter Verstiegenheit und von brutaler Willkür.
Ich meine die krüde und rüde Lehre vom Judentum.
Unsre Betrachtung nehme von ihr den Ausgangspunkt. Denn in ihr halten wir den Schlüssel zu dem ungeheuren Schicksal eines tragischen Selbsthasses.
Otto Weininger war Jude. Aber wenn jemals ein Kind den Schoß der Mutter bespien und ihrem Blute geflucht [82] hat, dann tat das dieser jüdische Ödipus. Seine Gegnerschaft gegen die Juden und das Jüdische war anders als jede Gegnerschaft zuvor. Nur mit Grausen und Bewunderung können wir an ihr lernen, daß dem bösen Auge alles möglich ist und daß schlechthin gegensätzliche Begriffe alle gleich brauchbar sind, wofern der böse Blick sie verwenden will.
Es hat bedeutende Männer gegeben, die ihre Vorurteile gegen „Judaismus“ und „Semitismus“ aus gesunden Lebensgefühlen, aus ihrem deutschen Blute und deutschen Gemüte geschöpft haben. Für sie war der Jude und zumal der Judengott etwas Unheimliches. Er erschien ihnen bleich und abstrakt. Diabolisch blutleer. Ein kalter Logiker. Ein neidischer Giftmischer. Ein herzkahler Zorngott. Ein lähmender Moralist. „Jahwismus, Jehowismus, Monismus, Monotheismus“ . . . das waren die gewöhnlichen Schlagworte. Sie wurden auf das Schuldkonto des grauen Volkes gesetzt. Vielleicht auch hießen die Schlagworte: „Spiritualismus, Kritizismus, Idealismus, Rationalismus.“ Jedenfalls war der Gott des Grolls und der Galle der Feind und Mörder der schöneren Götterwelt Griechenlands und der verschollenen Wunder Germaniens. Jehova wurde bekämpft als „der Zerstörer der Gestalt“. Die folgerichtigen Judengegner bekämpften daher mit dem Judentum auch immer zugleich das Christentum, ja sie sahen im Juden-Christentum: das geheime Werkzeug zur Zwiespaltung in Seele und Leib und Zerstörung beider durch den Geist.
Ein außerweltlicher Moloch also hatte sich eingedrängt zwischen Sinnlichkeit und Gedanke, um Leib [83] und Idee, Liebe und Vernunft zu verzwisten und beide unheilbar zu verderben.
„So ist denn der Leib entgöttlicht. Die Magie der Natur unverständlich geworden. Dionysos tot. Der große Pan tot. Die Magna Mater versunken. Siegfried erschlagen. Baldur gemordet!“ – So ging die Klage.
Und wer blieb Sieger?
Der unbenennbare Nebel- und Wüstengott, der sich offenbart in Dialektik und Rabulistik. Talmud und Pilpul. Lehre und Wort. Das aber ist die Welt des Juden.
In diese Kerbe schlugen und schlagen noch heute die meisten Widersacher. Aber eine zweite, wenn auch weit kleinere Gruppe nicht minder bedeutender Denker, die im Sinne jener ersteren selber als reine Juden bezeichnet werden müssen, hat ihre Abneigung just umgekehrt begründet. Martin Luther wirft den Juden vor, daß sie nicht „Söhne Gottes“ geworden, sondern „Kinder der Erde“ geblieben seien. „Sie streben noch im Sterbehemd und Sarg zur Erde und beten vor Sonne und Stern.“ Und bei einem späten, ganz rationalistischen Philosophen, dem blinden Eugen Dühring, finden sich zahllose Stellen nach Art der folgenden: „Der Jude ist nicht begabt für das Sachliche und Wirkliche, denn er ist ein Orientale und als solcher ein Fabulierer, der in Bildern und Träumen befangen lebt und in Gleichnissen denkt. Der Jude ist der eigentliche Mythenbildner. Der nordische Mensch, unter dem strengeren und nüchternem Himmel, muß dieses Volk der Maßlosigkeit mit der Logik bekämpfen. Wir müssen ihren religionistischen Fabeln einen gesunden Positivismus entgegenstemmen.“
So wäre denn also (je nachdem es gefällt) der Materialismus, [84] der Realismus das eine Mal jüdische Weltanschauung, und das andere Mal das Bollwerk gegen die „mythenbildende Phantasie der Juden“. Und ähnlich ist (je nachdem es gefällt) heute der Sozialismus, der Bolschewismus und morgen der Kapitalismus „jüdisch“. Oder heute: der Fortschritt, der Radikalismus, die Revolution. Morgen dagegen: der Stillstand, die Stagnation und die Reaktion.
In welches der beiden Scharniere aber paßt nun das System Otto Weiningers? Wohin gehört seine erstaunliche Lehre, daß das Jüdische nichts anderes sei als –: „die Buhlgewalt des Weibes, das den geistigen Vatergott zur trägen Materie herabzog“.
Nie haben in einem Menschen Wurzel und Gipfel so gehadert. Wir müssen tief einschneiden, um die kranke Stelle im Knochenmarke zu finden.
Wenn man Völker einteilen dürfte in Völker der Grenze und Völker der Unendlichkeit, in Völker der Plastik und Völker der Musik, dann möchte ich wohl dem jüdischen Volk (und übrigens auch dem deutschen) eher ein Pathos der Unendlichkeit zubilligen und eher das rhythmische Pulsen der Musikalität als die plastische Sicherheit der strengen Grenze. Was mit dieser Behauptung gemeint ist, wird dem Leser am leichtesten verständlich werden, wenn wir ausgehen von dem Einfluß der Juden auf die Mathematik.
Vor nahezu einem Menschenalter, etwa um die gleiche Zeit, da das Werk Weiningers erschien, veröffentlichte ich eine Abhandlung zur Psychologie der Mathematik, welche zu zeigen suchte, daß die damals mächtig einsetzende [85] Geometrisierung der Physik und Arithmetisierung der Geometrie und der schon damals sich ankündigende Aufstieg der „Relativitätslehre“ eng zusammenhänge mit der Seele jüdischer Menschen.
Die gesamte Logik des Abendlandes, die von Aristoteles bis Kant immer das Selbe sagt, immer die selbe leere Selbstverständlichkeit . . . worauf doch kam sie hinaus?
Auf ein Bekenntnis zu Begrenztheit! Zur Begrenztheit des im Denken einmal Gesetzten oder einmal als gegeben Anerkannten.
Man möchte sagen: Logik war immer nur Aufforderung zur Einheit. Sie war immer nur jener Akt der Tat, welchen Aristoteles „a = a“, Satz der Einerleiheit, genannt hat.
Daher begann die Zertrümmerung der Logik und mit ihr die Zertrümmerung des Kosmos als eines Kosmos, als die Denker der christlichen Jahrtausende das Irrationale und das Imaginäre zum Gegenstand definitiven Wissens machten. Denn ein Irrationales oder Imaginäres ist nicht als Einheit faßbar. Unendliches kann nie beendet, Unermeßliches kann nie festgestellt werden. Selbst jener Satz der Identität und somit das Denken selber wurden sinnlos, sobald man absah von der Endlichkeit und Begrenztheit jedes im Denken als gegenständlich und dinglich Erfaßten . . . Erfaßt und schafft, hält und erhält aber etwa mit ihrem Kosmos sich die Menschheit selber? Schwindet nicht auch das Menschengeschlecht als lebende Einheit dahin, wenn das Denken die begrenzte Welt zerlöst?
In Platos „Theätet“ findet sich jenes wundersame Loblied auf die „Endlichkeit alles Vollkommenen“. Auch [86] das Schlechthin-Seiende (so sagt Plato) kann nicht unendlich sein, weil das Unendliche nur ein Unvollkommenes ist. Wäre die Substanz des Lebens unendlich, dann könnte sie weder Gestalt noch Schönheit haben. „Alles Schöne zeigt das Rätsel der Grenze, denn in allen Lebenstiefen blüht Gestalt.“
Diese Lehre vom schönen Leben als einer endlichen Gestalt ist das gerade Gegenstück zu jener Erhabenheitslehre Spinozas, welche verbietet: der Substanz des Lebens als dem schlechthin Seienden einen Namen zu geben, weil die Anzahl der „Gott“ zukommenden Attribute nicht begrenzbar sei — „denn jedes Begrenzen wäre ein Verneinen“.
Und doch ist Plato, der das Göttliche nur in Gestalten zu schauen vermag, der Zerlöser der griechischen Form!
Und doch ist Spinoza, welcher Gott nur erfassen konnte als unpersönliches Sein jenseits Raum und Zeit, der Verkäfiger der Natur in das Zwangsbett mathematischer Form!
Sollte es nun Zufall sein, daß die Auflösung des Kosmos in das unpersönliche Element zugunsten der Absolutheit mathematischer Normen vorwiegend die Tat von Logikern gewesen ist, die aus jüdischem Blute stammten?
Die durch das Wachstum der nichteuklidischen Geometrien nötig gewordenen neuen Wissensgebiete, die Anzahlen-, die Mengen-, die reine Mannigfaltigkeitslehre, das Auflösen der mit dem Unendlichen auf jedem Wissensgebiete verknüpften Paradoxien und die Relativierung auch der letzten Konkretheit und Anschaulichkeit zugunsten des absoluten Kalküls, das war das Werk eigentlich [87] jüdischer Intelligenzen wie Georg Cantor, Alfred Fränkel, Alfred Pringsheim, Arthur Schönfließ, Felix Hausdorff, Ludwig Kronecker, Alfred Sommerfeld, bis schließlich durch A. A. Michelson, M. Minkowski und A. Einstein die Weltwende (die Überwindung des Aristoteles, Euklid[WS 1], Newton und Kant) erzwungen wurde.
Es ist, als ob diese Kohorte sich verschworen hätte: das letzte arme Restchen sinnfälliger Gestaltlichkeit zu verflüchtigen und das letzte arme Daseinsklötzchen fortzustehlen, daran der Mensch im Tohuwabohu des „Unvollendbar“ sich noch anklammern konnte.
Denn nicht nur die „Welt in Raum und Zeit“ (diese abzählbare meßbare Welt) schwand dahin. Sondern das Werden selber; die Bewegung, die Reihe als eine lineare Kontinuität, die Gerichtetheit, der Anfang und das Ende.
Und so blieb nichts als Wille zum Wert. Auf den Aschen aller Inhalte sinnenfälliger Welt.
In den späten Tagen der platonischen Schule tauchte ein Begriff auf, der dies Dämmern grauer Gestaltenleere schon ankündigt. „Apeirotaraxie“: Schauder vor der Unermeßlichkeit!
War es nicht natürlich, daß sich das Leben in seine Schalen- und Schneckenhäuser, hinter Panzer und Damm rettete?
Und sollten nicht gerade die Hingerissenen, Ekstatischen, Urlebendigen (diese am leichtesten aus sich Herauszulockenden) am bängsten ausgespäht haben nach Tor und Dach? Nach Schutz vor Verfluten und Verflackern? Und sei es Turm oder Gefängnis!
[88] Inmitten von gischtendem Wogenprall und strudelndem Schäumen steht auf urgranitenem Felsen das Schloß und stemmt dem uferlosen Elemente die Macht der Mauer entgegen.
Auf dem Felsen „Geist“ hat die Menschheit ihr Schloß Logos erbaut. Darin hält sie nun stand gegen Urwirre und Chaos.
Dieses Schloß hat einen Oberbau von vielen Stockwerken, genannt Ethos. Von der Spitze dieses Oberbaus kann man das unermeßliche Meer frei überblicken und über ihm den Himmel und die führenden Sterne.
Der nestflüchtige Wandervogel, unsre Seele, drängt über die Meere. Und kehrt doch nach jedem Fluge zurück in den gesicherten Käfig. Das ist unsre Angst und unsre Stärke, unsre Sehnsucht und unsre Entsagung. Wir vergessen, daß alles ein Schaum ist. Das Schloß auf Granit nennen wir Ewig. Und wähnen, unser wahres Leben sei: das Leben im Geist . . .
Alle, die den Knaben Otto Weininger gekannt haben, erzählen, daß er ein weltoffenes und sehr empfängliches Kind gewesen sei. Der Duft von Jasmin, der blühende Apfelbaum, das Schillern eines Schmetterlings konnte die zarte Seele überwältigen. Ferne Berge waren ein Versprechen von Glück, die ziehende Wolke ein Abenteuer. Die blaue Heide war Sehnsucht und der Moosrosenbusch ein Taumel der Seligkeit. Jeder Sinn war empfindlich, jeder Nerv leicht gereizt. Der Tod einer
Mücke schon konnte zum „Problem“ werden.
Dieses Kind fühlte durch Sympathie alles Leben als [89] eigenes Leben, schwang in Landschaft und Jahreszeit wie ein Elfenseelchen und stand immer in Gefahr, in Gesichte zu verfließen.
Und dieses Kind wuchs zum Jüngling. Und der Jüngling ward ein Dichter. Lange ehe er zum Denker wurde. Seine Neugier war unbegrenzt und unbegrenzt sein Lebenshunger. Seine Fähigkeit, alles mitzuahmen und überall das Wesen zu erspüren, machte ihm Das am allerschwersten, was den ärmeren und starreren Seelen am leichtesten fällt: Selbstbegrenzende Form.
Es schien ihm lange unmöglich, sich für einen Beruf, dieses bürgerliche Rückgrat des Lebens, zu entscheiden. Denn es gab nichts, was ihn nicht fesselte. Alles hätte er lernen, alles hätte er leben mögen.
So war er denn dauernd in der Gefahr, sich zu zersplittern. Und eben darum wurde sein Ein und Alles schließlich eine einzige große Leidenschaft: Über Millionen Gestalten sich zu erheben und den Generalnenner zu finden für die hin und her reißende Fülle der Impressionen.
Das ist der Weg zur Philosophie . . .
Noch ruhte sein Auge nicht auf dem Nächsten. Er war jung, und jeder Vogel sang Fernweh. Es kann einen jungen Menschen zur Verzweiflung bringen, daß so viele Länder bleiben werden, die er niemals sehen, so viele Hände, die er niemals drücken, so viele Stirnen, die er niemals küssen wird.
Denn obwohl dieser Seele Wärme und Treue natürlich waren, so hätte es doch eines Entschlusses bedurft, um sich selber zu finden.
Er war das Spiel jedes Lufthauchs. Darum erschien [90] ihm „Sittlicher Charakter“ größer und bewundernswerter als alle Gaben und Reichtümer des Lebens.
Was wunder also, daß Otto Weininger sich angstvoll einschloß in das Schloß Logos und in das oberste Turmgemach „Ethos“. Da saß er, ein freiwillig Gefangener und verwendete seine gewaltige Denkkraft einzig darauf, sich vorzubeweisen, daß das Leben in diesem herrlichen Elfenbeinturme das wahre, das eigentliche, das einzig würdige Leben sei.
Keiner möge diesen jungen Idealismus verleumden. Er war zwar ein Notausgang. Aber darum keine Lüge ...
Eine Erinnerung aus eigener Kindheit taucht vor mir auf: Im Garten und Wald überfiel den Knaben oft ein Grauen (ähnlich dem, was man in der Psychiatrie „Absenzen“ nennt), daß man in fremde Schicksale vergleiten müsse, und ein entsetzlicher Zweifel: „Bin ich denn wirklich da?“ Dann packte ich gern den erstbesten Gegenstand fest mit den Fingern, um an der Empfindung des Widerstands mich meiner selbst zu vergewissern.
Ich entsinne mich noch an Ort und Stunde, wo der Gefährte jener Tage mir von einer ganz andern, der meinen entgegengesetzten Angst sprach: Träte er am Abend in der Dämmerung vor einen Spiegel, dann erfasse ihn die Furcht, sein Bild könne in dem Glase erstarren und festgerinnen und dann als ein festgeronnener Doppelgänger ihm aus dem Glase entgegentreten.
Dies sind die beiden Pole des Todes, durch die wir, solange wir als Menschen atmen, immer hindurchsteuern! Auf der einen Seite laufen wir immer Gefahr, zum Schwamme zu werden. Auf der anderen Seite laufen wir immer Gefahr, zur Bildsäule zu erstarren. Die eine Gefahr [91] erzeugt das Unendlichkeitsgrauen. Die andere: die Endlichkeitsangst.
Otto Weininger war eine herakliteische Natur, die nach Haltung und Form hinstrebte. Schon dies Proteïsche seines noch unfertigen Wesens bot eine gute Grundlage für eine Tragödie des Selbsthasses. Aber es mußte noch ein Zweites hinzukommen. Etwas unauflösbar Problematisches. Die Geburt als Jude, und zwar als ein vom Judentume abgelöster Jude. –
Kein Mensch hat sich je von dem Zwang seines Blutes befreit. Kein kategorischer Imperativ hat je die Stimme des Blutes überwuchtet.
Alles, was an Weininger Leben war (und es brannte in ihm heißes Leben), das nannte er vor sich selber: das Jüdische.
Und da an keinem andern Punkte der Mensch gleich unbezwinglich gebunden ist an Schicksal und Ewigkeit wie im Punkte des Geschlechts, und da seine immer bewegte Seele eine männliche Seele war und mithin das Weib als Ergänzung und Gegenpol nicht entbehren konnte, so nannte er alles, was ihn zog und schreckte: das Weibliche.
Weib und Jude also, das waren für ihn zwei verschiedene Namen für den Naturgrund, den er fürchtete und mied.
Wir müssen nunmehr uns die Studienbahn vergegenwärtigen, in die dieser elementarische Jüngling hineingeriet. Sie erfüllte ihn mit Denkvoraussetzungen, welche zu überwinden und abzustreifen ein vollerfülltes Denkerleben und jahrzehntelange Denkarbeit benötigt hätte.
[92] Die abendländische Philosophie von Descartes bis Kant ging immer aus von dem Urphänomen: Bewußtsein. Nie kam sie auf den Gedanken, daß das Bewußtsein und die gesamte Inhaltswelt von Bewußtsein (also alles, was wir Menschen jemals Wirklichkeit nennen können) aus dem Lebenselemente herausgetreten sei als eine schöpferische Möglichkeit des Lebens unter Millionen anderer Möglichkeiten. Nein! Die Welt im Bewußtsein war die Welt überhaupt!
„Lebendig ist, was bewußt ward!“
Just als ob Lebendiges überhaupt bewußt werden könnte!
„Das Leben hat sein Dasein, ja hat das Recht auf Dasein erst zu beweisen als ein denkendes oder gedachtes Lebendiges.“
Und so verkehrten sich die Pole: Bewußtsein, Logos, Geist wurden zum wahren Leben. Und das tragende Element gewann den Charakter eines dunklen Abfalls vom Geiste und seiner göttlichen Reinheit.
Weininger versenkte sich in die Scholastiker. Er las Hegel und Kant. Er verfiel dem Zauber der Mathematik und der Phänomenologie. So verfestigte sich in ihm jener ungeheure Geschichts- und Sittlichkeitshochmut der wertenden Persönlichkeit, die ihre chthonischen Unter- und Hinterwelten als eine sie niederziehende Schmach empfindet.
Das ist der Dünkel, welcher Kant sprechen ließ: „Der Verstand erschafft die Natur“, und welcher Hegel höhnen ließ: „Wenn die Natur nicht mit der Vernunft übereinstimmt, um so schlimmer für die Natur.“
Weininger haßte das Blut, und sein Blut war jüdisches [93] Blut. Und er haßte das Weib und die Stimme des Erdgeistes, von der Stunde ab, wo in dem Knaben das Gattungsgeheimnis sich zu regen begann.
Kein Wort finden wir in Weiningers hinterlassenen Papieren so häufig wie die Worte: Verbrechen und verbrecherisch.
Seine ganze Philosophie war ein einziges Gegrübel über das Problem der Sünde und der Erlösung. Und so wurde diese Philosophie eine durch und durch christliche. Denn während bei den Indern, in den Vedas und sogar noch bei Buddha immer die Liebe, die Lebenseinheit, das „ta twam asi“ im Mittelpunkte alles Denkens steht, ist das Zentralerlebnis eines Christen: Der dunkle Abfall vom Leben. Die unabwendbare Schuld. Die mit dem Menschen selber geborene Verzwistung. Wo gibt es Erlösung von dieser Urschuld?
„Erlösung“ gibt es nur durch das Aufheben alles Menschenlebens im reinen Geiste.
Vollendete Vernunft, vollendete Sittlichkeit, das wäre das Ende! ...
Man könnte sagen: In diesem jungen Philosophen ist Kants Zweiweltentheorie verrückt geworden.
Er sieht alles unter der Optik der intellegiblen Welt.
Die Bibel, das Veda, Buddha, Plato . . . alles verkündigt ihm nur die Herrlichkeit eines Lebens, das etwas ganz anderes ist als: das Leben von dieser Welt.
Wo aber das Verschuldungs- und Selbstrichterpathos einmal Platz greift, da vergraut die Erde und wächst eine mönchische Neigung, die lockende „Frau Welt“ sich zu verekeln.
[94] Denn „Frau Welt“ ist schön. Und alle Schönheit will Liebe.
Er hat Angst, dieser Schönheit zu unterliegen. Und so versucht er durch Ekeltöne sich diese Schönheit zu verwidern. Kein Scheltwort ist ihm herb genug, um das schöne Leben zu schmähen.
Und je mehr ihn die Schönheit zieht und lockt, um so gräßlicher malt er sich seinen Fall und sein Hinsinken in Grauen und Schmach.
Zu versinken in den Schoß der Frau Welt, das wäre der Verlust seines mühsam erarbeiteten Selbst und seiner endlich erkämpften philosophischen Ruhe.
Jeder Selbstabstrafer aber schwelgt in Übertreibung. Das Schuldgefühl des an Ethik und Moral Erkrankten steht niemals in einem richtigen Verhältnis zu der die Reue auslösenden Tat.
Es gab Selbstzerfleischungen um ein Nichts!
Augustinus füllt noch als alter Mann viele Seiten mit wilden Selbstverfluchungen, weil er sich voller Qual erinnert, daß er als Knabe im Garten des Nachbars Äpfel stahl.
Sören Kierkegaard wird zum tiefen Psychologen der Reue, aus Qual über sein vermeintliches Verschulden an einem Mädchen, dem er lebensängstlich einst den Verlobungsring zurückgab.
Ja, Origines sühnt einen Augenblick der Selbstbefleckung, indem er sich für Lebenszeit entmannt.
Wo die Natur sich gegen sich selber kehrt, da wird der Mensch wehrlos. Und nichts ist leichter als einen Wehrlosen zu opfern.
Der von Ethik und Moral Besessene ist bereit, alles, [95] was er besitzt, und sich selber zum Opfer darzubringen, wofern er nur vor sich selber und seiner eigenen Forderung bestehen kann.
Packe nur den an Ethik und Moral Erkrankten beim Bewußtsein einer Selbstverschuldung und du brauchst nicht zu verantworten, auch wo du unverantwortlich ihn verstümmelst.
Und es gibt immer: zum Verbrechen Bereite – Freunde, Geliebte –, die den Opferschnitt vollziehen. Sie küssen ihm die Hände und feiern Schlachtfest. Sie ahnen nie ihre große Lebensschuld, segnen sich und zucken die Achseln: „Wer sich zum Lamme macht, den frißt der Wolf.“
Er aber erlerne (und hoffentlich nicht zu spät), daß es auf dieser Erde wichtiger ist, ein gutes, starkes und mutiges Raubtier zu sein als – ein Heiliger.
Denn der Mensch ist wie der Vogel, der sich wohl für Augenblicke in den reinen Äther zu erheben vermag, nicht aber obenbleiben und lebenslang im Äther hausen kann.
Und will er gleichwohl das Dasein im leeren Luftraum erzwingen, dann kehrt er nur immer häufiger zum Staube, die Schwungkraft seiner Flügel wird ermatten, sein Aufstieg wird seltener, die erreichte Höhe wird nur flacher werden.
Da knebelt sich der Geist durch gräßliche Schwüre. Er verschwört, jemals den lockenden Fackeltänzen der Gestalten zu erliegen.
Doch ein Dufthauch der Ferne, ein singendes Lachen, eine Strähne blonden Haars, ein Blick aus weichem Auge, und Eide liegen zermalmt.
[96] Ihn ergriff die selige Sehnsucht der Nachtschmetterlinge, die in Nächten der Zeugung gepackt sind von der höheren Über-Zeugung und nun wandern müssen ins Licht, darin alles Leben stirbt und wieder neu wird.
- „Sagt es niemand, nur den Weisen,
- Weil die Menge gleich verhöhnet:
- Das Lebend'ge will ich preisen,
- Das nach Flammentod sich sehnet.“
Ein Feldherr steht vor der Feste auf uneinnehmbarem Felsen, den noch niemand erstürmte. Da wagt er das Letzte. Er schickt sein Liebstes, sein Kind, in die Festung und schwört: „Morgen hole ich dich oder wir gehen zugrunde.“
Er wirft das Palladium, ohne das er nicht leben mag, mitten in die Feinde und springt ihm nach, um es zu retten.
Er verbrennt hinter sich die Schiffe. Er wagt den Sprung über die Mauer. Nun gibt es kein Zurück.
Otto Weininger, Student der Philosophie, dreiundzwanzig Jahre alt, Jude, hatte mit einem unübersteiglichen System der Sittlichkeit sich selbst und der Welt ein Versprechen gegeben. Er hatte mit einem stolzen Werk sich selbst vernichtet und sich selbst geschaffen. Vernichtet hatte er sein angeborenes Ich. Pascals „moi haïssable“. Zum Lichte geboren hatte er sein eingeborenes Selbst. Kants „Intellegible autonome Persönlichkeit“.
Lieber wollte er sterben, als von der erreichten Höhe nun zurücksinken in das uns alle bändigende Gemeine.
Da kam der Erfolg.
Und es gibt nichts Seelenverderbenderes als Erfolg.
[97] Der Ruhm Europas überraschte den armen jüdischen Studenten. Ehren, Reisen, Geld, Macht, stolze Frauen. Nie hatte einen Heiligen „Frau Welt“ so lockend bestürmt. Dieser Knabe hielt sich für ein Stiefkind des Lebens, und nun trat das Leben in seinen Hungerturm und sprach: „Mein Geliebter.“
Aber der arme Junge hatte ein braves Herz. Das war keiner, der fernerhin Wasser zu predigen vermochte, während er heimlich vom Lebensweine trank.
Was er versprochen hatte, das zahlte er bar.
Seine Angstneurose raunte, daß er schwächer sein werde als seine Predigt. Er wußte, daß er sich festgelegt habe auf Kampfregeln, die sein Blut nicht würde bestehen können. Ihn packte die Zwangsvorstellung: Verbrechen. Und es gibt nur ein Verbrechen: Untreue gegen sich selbst.
Brach er sich die Eide im Angesicht der Tausende, die jetzt auf ihn ihre Blicke hefteten, als auf den jungen Thronerben der deutschen Philosophie, dann mußte er, ein unechter Kronanwärter, schamvoll in den dunkelsten Winkel kriechen und sterben, schlechter als ein schlechtes Tier. Zu seinen Freunden, den Eltern, den Lehrern sagte Ouo Weininger: „Ich bin ein Verbrecher.“ Er schlich, während die Welt seinen Namen erhöhte, verstört in die Kirchen oder in den Wiener Wald und stöhnte: „Ich stehe unter dem Fluch des Verbrechens.“
Was wollte der harmlose Mensch? Wie konnte dieser weiche Knabe, der keiner Fliege ein Leid tat, sich als den Schuldigsten aller Schuldigen fühlen?
Aus den Augen der Blumen, den Blicken der Tiere, selbst aus Kristall und Stein, überall sah ihn das Verbrechen [98] an. Die frohen Farben in den Straßen, die Geräte und Stoffe in den Auslagen, die Bilder der Maler, der verführerische Zauber der Frauen, der Liebreiz der Kinder, alle Schönheit machte ihn zum Mitschuldigen am Verbrechen.
In den Augen des Hundes sah er die gequälte Seele der Kreatur, die halb schon versittlicht und halb noch dem Wolfsherzen verhaftet, sich von der bösen Natur nicht erlösen kann. Aus den Augen des Pferdes starrte ihm der Wahnsinn entgegen eines Geschöpfes, das durch den Menschen gewandelt und umgezüchtet, irre geworden ist an seiner natürlichen Kraft und sie zu benutzen verschmäht oder sie kaum noch kennt. In den wunderbaren Geburten der Tiefsee, vor denen Goethe in die entzückten Worte ausbrach: „Wie schön ist ein Lebendes, wie wahr, wie einfach, wie in sich vollendet“, erkannte Weiningers kranker Blick mit Grauen die Leibwerdung der gierigen, qualligen, saugenden und krallenden Mordwut. Wollust schien ihm Mord. Liebe eine Schuld. Was wir Wunder nennen, nannte er Verbrechen. Das Unerhörte, das Unerfaßliche, das Irrationale, das Leben selber nannte er: Verbrechen.
Die erniedrigende Einsicht aber, daß wir unserm Leitbilde nicht gewachsen sind, führt nicht immer zu Zerknirschung und Zerrüttung. Sie führt auch zu Größenwahn und Selbstüberhebung.
Wir haben alle die Neigung, Forderungen, die wir selber nicht leicht erfüllen können, so zu übersteigern, daß kein Mensch sie erfüllen kann. Dadurch retten wir uns vor so mancher Niederlage.
Es sind nicht die schlauesten Füchse, die die Trauben, [99] welche ihnen zu hoch hängen, für sauer erklären. Die schlaueren erklären sie für unberührbar und heilig. „Wir sind alle Sünder von Jugend auf“, wie gern sagt das ein jeder Fuchs. Das geistige Wesen in uns fühlt sich hoch erhoben über alles Irdische, je tiefer es auch die eigene Seele unter sich im Staube sieht.
Welcher Seelenforscher zerlegte je unsern Knoten von Dünkel und Demut, Unantastbarkeit und Armesündergefühl.
Otto Weininger war viel zu selbstbewußt. Sein geistiger Hochmut wuchs aus einer Überspannung sittlicher Ideale, als deren gottgesandten Künder und Jünger er sich fühlte. War das Gefäß auch nur aus schlechtem Ton, es enthielt ja doch das Öl, ohne welches künftig kein König konnte gesalbt werden.
So hatte er sich verstiegen. Um nicht zurück zu müssen, zerbrach er seine Form.
Blühte nirgend mehr Wohltat?
Er floh noch einmal an das große Herz Beethoven. Die „Eroika“, der prometheische Gesang vom Lose des Lichtbringers auf Erden, deutete ihm, was in Worten nie zu deuten wäre: „Wer Gott schaut, stirbt.“ . . .
Wir denken an ihn, als an Goethes Euphorion, der kaum geboren und zum Heros bestimmt, jugendkühn auf die Felsen stieg und schön zerschmetterte beim ihm versagten Flug. Und auch um ihn fühlen wir die Worte klagen, die der Dichter an der Bahre Nietzsches sang:
- „Du hast das Nächste in dir selbst getötet,
- Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern
- Und aufzuschrein im Schmerz der Einsamkeit.
- Der kam zu spät, der flehend zu dir sagte:
[100]
- ‚Dort ist kein Weg mehr über eisige Felsen
- Und Horste grauser Vögel – Nun ist not:
- Sich bannen in den Kreis, den Liebe schließt.‘...
- Und wenn die strenge und gequälte Stimme
- Dann wie ein Loblied tönt in blaue Nacht
- Und helle Flut – so klagt: ‚Sie hätte singen,
- Nicht reden sollen, diese neue Seele‘.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Enklid