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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

an. Die frohen Farben in den Straßen, die Geräte und Stoffe in den Auslagen, die Bilder der Maler, der verführerische Zauber der Frauen, der Liebreiz der Kinder, alle Schönheit machte ihn zum Mitschuldigen am Verbrechen.

In den Augen des Hundes sah er die gequälte Seele der Kreatur, die halb schon versittlicht und halb noch dem Wolfsherzen verhaftet, sich von der bösen Natur nicht erlösen kann. Aus den Augen des Pferdes starrte ihm der Wahnsinn entgegen eines Geschöpfes, das durch den Menschen gewandelt und umgezüchtet, irre geworden ist an seiner natürlichen Kraft und sie zu benutzen verschmäht oder sie kaum noch kennt. In den wunderbaren Geburten der Tiefsee, vor denen Goethe in die entzückten Worte ausbrach: „Wie schön ist ein Lebendes, wie wahr, wie einfach, wie in sich vollendet“, erkannte Weiningers kranker Blick mit Grauen die Leibwerdung der gierigen, qualligen, saugenden und krallenden Mordwut. Wollust schien ihm Mord. Liebe eine Schuld. Was wir Wunder nennen, nannte er Verbrechen. Das Unerhörte, das Unerfaßliche, das Irrationale, das Leben selber nannte er: Verbrechen.

Die erniedrigende Einsicht aber, daß wir unserm Leitbilde nicht gewachsen sind, führt nicht immer zu Zerknirschung und Zerrüttung. Sie führt auch zu Größenwahn und Selbstüberhebung.

Wir haben alle die Neigung, Forderungen, die wir selber nicht leicht erfüllen können, so zu übersteigern, daß kein Mensch sie erfüllen kann. Dadurch retten wir uns vor so mancher Niederlage.

Es sind nicht die schlauesten Füchse, die die Trauben,

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/98&oldid=- (Version vom 29.12.2019)