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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

Inmitten von gischtendem Wogenprall und strudelndem Schäumen steht auf urgranitenem Felsen das Schloß und stemmt dem uferlosen Elemente die Macht der Mauer entgegen.

Auf dem Felsen „Geist“ hat die Menschheit ihr Schloß Logos erbaut. Darin hält sie nun stand gegen Urwirre und Chaos.

Dieses Schloß hat einen Oberbau von vielen Stockwerken, genannt Ethos. Von der Spitze dieses Oberbaus kann man das unermeßliche Meer frei überblicken und über ihm den Himmel und die führenden Sterne.

Der nestflüchtige Wandervogel, unsre Seele, drängt über die Meere. Und kehrt doch nach jedem Fluge zurück in den gesicherten Käfig. Das ist unsre Angst und unsre Stärke, unsre Sehnsucht und unsre Entsagung. Wir vergessen, daß alles ein Schaum ist. Das Schloß auf Granit nennen wir Ewig. Und wähnen, unser wahres Leben sei: das Leben im Geist . . .


Alle, die den Knaben Otto Weininger gekannt haben, erzählen, daß er ein weltoffenes und sehr empfängliches Kind gewesen sei. Der Duft von Jasmin, der blühende Apfelbaum, das Schillern eines Schmetterlings konnte die zarte Seele überwältigen. Ferne Berge waren ein Versprechen von Glück, die ziehende Wolke ein Abenteuer. Die blaue Heide war Sehnsucht und der Moosrosenbusch ein Taumel der Seligkeit. Jeder Sinn war empfindlich, jeder Nerv leicht gereizt. Der Tod einer Mücke schon konnte zum „Problem“ werden.

Dieses Kind fühlte durch Sympathie alles Leben als

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/88&oldid=- (Version vom 29.12.2019)