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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

erzeugt das Unendlichkeitsgrauen. Die andere: die Endlichkeitsangst.

Otto Weininger war eine herakliteische Natur, die nach Haltung und Form hinstrebte. Schon dies Proteïsche seines noch unfertigen Wesens bot eine gute Grundlage für eine Tragödie des Selbsthasses. Aber es mußte noch ein Zweites hinzukommen. Etwas unauflösbar Problematisches. Die Geburt als Jude, und zwar als ein vom Judentume abgelöster Jude. –

Kein Mensch hat sich je von dem Zwang seines Blutes befreit. Kein kategorischer Imperativ hat je die Stimme des Blutes überwuchtet.

Alles, was an Weininger Leben war (und es brannte in ihm heißes Leben), das nannte er vor sich selber: das Jüdische.

Und da an keinem andern Punkte der Mensch gleich unbezwinglich gebunden ist an Schicksal und Ewigkeit wie im Punkte des Geschlechts, und da seine immer bewegte Seele eine männliche Seele war und mithin das Weib als Ergänzung und Gegenpol nicht entbehren konnte, so nannte er alles, was ihn zog und schreckte: das Weibliche.

Weib und Jude also, das waren für ihn zwei verschiedene Namen für den Naturgrund, den er fürchtete und mied.


Wir müssen nunmehr uns die Studienbahn vergegenwärtigen, in die dieser elementarische Jüngling hineingeriet. Sie erfüllte ihn mit Denkvoraussetzungen, welche zu überwinden und abzustreifen ein vollerfülltes Denkerleben und jahrzehntelange Denkarbeit benötigt hätte.

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/91&oldid=- (Version vom 29.12.2019)