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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

Ihn ergriff die selige Sehnsucht der Nachtschmetterlinge, die in Nächten der Zeugung gepackt sind von der höheren Über-Zeugung und nun wandern müssen ins Licht, darin alles Leben stirbt und wieder neu wird.

„Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet:
Das Lebend'ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.“

Ein Feldherr steht vor der Feste auf uneinnehmbarem Felsen, den noch niemand erstürmte. Da wagt er das Letzte. Er schickt sein Liebstes, sein Kind, in die Festung und schwört: „Morgen hole ich dich oder wir gehen zugrunde.“

Er wirft das Palladium, ohne das er nicht leben mag, mitten in die Feinde und springt ihm nach, um es zu retten.

Er verbrennt hinter sich die Schiffe. Er wagt den Sprung über die Mauer. Nun gibt es kein Zurück.

Otto Weininger, Student der Philosophie, dreiundzwanzig Jahre alt, Jude, hatte mit einem unübersteiglichen System der Sittlichkeit sich selbst und der Welt ein Versprechen gegeben. Er hatte mit einem stolzen Werk sich selbst vernichtet und sich selbst geschaffen. Vernichtet hatte er sein angeborenes Ich. Pascals „moi haïssable“. Zum Lichte geboren hatte er sein eingeborenes Selbst. Kants „Intellegible autonome Persönlichkeit“.

Lieber wollte er sterben, als von der erreichten Höhe nun zurücksinken in das uns alle bändigende Gemeine.

Da kam der Erfolg.

Und es gibt nichts Seelenverderbenderes als Erfolg.

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/96&oldid=- (Version vom 29.12.2019)