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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

Aber nur eine Stimme herrschte: dieser dreiundzwanzigjährige Student müsse Genie sein.

Ein blutjunger Knabe war über Nacht berühmt geworden. Und froher Aufstieg schien ihm gewiß.

Da stand die verdutzte Welt vor der Kunde: Der Knabe hat seinen Kranz zerrissen, hat das Leben weggeworfen, im selben Raume, in dem auch Beethoven verhauchte. Er hat es so gehalten, wie siebenunddreißig Jahre zuvor der blutjunge Philipp Mainländer, der am Tage, wo er seine geniale „Philosophie der Erlösung“ im Drucke vollendet vor sich liegen sah, zum Stricke griff und starb.

Seit Weiningers Freitod ist nun fast ein Menschenalter vergangen. In diesem Menschenalter sind viele Schriften über Otto Weininger und sein System geschrieben worden. Richtigstellende und besserwissende Bücher. Und man kann es den nächsten Wiener Freunden des Frühvollendeten – Emil Lucka, Hermann Swoboda, Oskar Ewald und Moritz Rappaport – nicht verdenken, daß sie angesichts der vielen klugen Diagnosen von seiten orakuloser Ärzte und Irrenärzte sich gedrängt fühlten, sogar diejenige Lehre Weiningers zu rechtfertigen, welche doch wirklich nichts ist als ein tolles Naturspiel von krankhafter Verstiegenheit und von brutaler Willkür.

Ich meine die krüde und rüde Lehre vom Judentum.

Unsre Betrachtung nehme von ihr den Ausgangspunkt. Denn in ihr halten wir den Schlüssel zu dem ungeheuren Schicksal eines tragischen Selbsthasses.

Otto Weininger war Jude. Aber wenn jemals ein Kind den Schoß der Mutter bespien und ihrem Blute geflucht

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/81&oldid=- (Version vom 29.12.2019)