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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass

was er besitzt, und sich selber zum Opfer darzubringen, wofern er nur vor sich selber und seiner eigenen Forderung bestehen kann.

Packe nur den an Ethik und Moral Erkrankten beim Bewußtsein einer Selbstverschuldung und du brauchst nicht zu verantworten, auch wo du unverantwortlich ihn verstümmelst.

Und es gibt immer: zum Verbrechen Bereite – Freunde, Geliebte –, die den Opferschnitt vollziehen. Sie küssen ihm die Hände und feiern Schlachtfest. Sie ahnen nie ihre große Lebensschuld, segnen sich und zucken die Achseln: „Wer sich zum Lamme macht, den frißt der Wolf.“

Er aber erlerne (und hoffentlich nicht zu spät), daß es auf dieser Erde wichtiger ist, ein gutes, starkes und mutiges Raubtier zu sein als – ein Heiliger.

Denn der Mensch ist wie der Vogel, der sich wohl für Augenblicke in den reinen Äther zu erheben vermag, nicht aber obenbleiben und lebenslang im Äther hausen kann.

Und will er gleichwohl das Dasein im leeren Luftraum erzwingen, dann kehrt er nur immer häufiger zum Staube, die Schwungkraft seiner Flügel wird ermatten, sein Aufstieg wird seltener, die erreichte Höhe wird nur flacher werden.

Da knebelt sich der Geist durch gräßliche Schwüre. Er verschwört, jemals den lockenden Fackeltänzen der Gestalten zu erliegen.

Doch ein Dufthauch der Ferne, ein singendes Lachen, eine Strähne blonden Haars, ein Blick aus weichem Auge, und Eide liegen zermalmt.

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Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Jüdischer Verlag, Berlin 1930, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_j%C3%BCdische_Selbstha%C3%9F.pdf/95&oldid=- (Version vom 29.12.2019)