Löhe, Thomasius, Harleß/I. Johann Konrad Wilhelm Löhe

« Vorwort Adolf von Stählin
Löhe, Thomasius, Harleß
II. Gottfried Thomasius »
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I.
Johann Konrad Wilhelm Löhe.

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| |  Johann Konrad Wilhelm Löhe gehört unter den Geistlichen, welche in diesem Jarhundert auf praktischem Gebiet schöpferisch gewirkt haben, zu den geistig bedeutendsten und vielseitigsten; sein Name ist in die Geschichte der lutherischen Kirche Bayerns, Deutschlands, Amerikas, die Geschichte der inneren Mission unserer Tage, die Geschichte christlicher Barmherzigkeit überhaupt tief verflochten. Löhe ist am 21. Februar 1808 in Fürth, der Nachbarstadt Nürnbergs, geboren; er stammt aus einem christlich frommen Bürgerhause. Er ist denen beizuzälen, die aus der Taufgnade nicht gefallen sind, deren Leben durch die schweren Gegensätze von Glaube und Unglaube, überhaupt durch ernstere Verirrungen nicht hindurchging. Sein Weg war möglichst geradlinig; auch der Zweifel hat ihn kaum berürt. Die Harmonie seiner Lebensentwicklung zeigt sich auch in der frühen wie weissagenden Ankündigung seines künftigen Lebensberufs; dem Kinde Spener vergleichbar hat auch Löhe schon als Kind den Kindern des Hauses gepredigt; nirgends hin zog es den Knaben stärker als in den Chor der Stadtkirche zur andächtigen Betrachtung der Abendmalsfeier. Aber auch der Zug zur Einsamkeit, zur Geschiedenheit von andern und vom gewönlichen machte sich bereits frühe geltend. Die Volksschule war Löhe drückend; die Flachheit des damaligen Religions- und Konfirmandenunterrichts stieß ihn ab. Um so bedeutsamer für ihn wurde der Gymnasialunterricht in Nürnberg unter dem damaligen Rektor C. L. Roth. Roth trat Löhe sehr nahe; er wurde ihm, wie Löhe selbst sagt, ein Johannes der Täufer, er sei ihm Dank schuldig bis ins ewige Leben. Löhe freute sich tief innerlich, als er Roths Liebe zur Religion warnahm. Die alten Klassiker, Tacitus etwa ausgenommen, sprachen ihn weniger an; dagegen| lebte er sich in die deutsche Dichterwelt ein. Eine Weile war Löhe in einer eigentümlichen sentimental romantischen Stimmung, welcher er in hochpoetischen Ergüssen einen ergreifenden Ausdruck in seinem Tagebuch gab. Auch jetzt fehlte übrigens ein religiöser Grundton nicht, der im Preise des Erlösers sich kund gab. Schon damals war er für das Amt der Kirche begeistert.
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 Im Jare 1826 bezog Löhe zum Studium der Theologie die Universität Erlangen. Hatte das Christentum ihn schon immer erfasst, so erfasste er es jetzt in unbedingter persönlichster Hingebung. Es geschah dies vorzugsweise unter dem Einfluss des reformirten Pfarres und Professors Krafft, dessen Bild in der Seele Löhes nie verblich. Löhe schrieb über ihn an seine Schwester: „Du hast ihn selbst einmal gesehen und den Mann in ihm gefunden. Diesen Mann denke dir nun von innerem Gefül so übermannt, dass er das Haupt auf den Katheder beugen musste und laut einige Sekunden schluchzte – welch eine Einleitung in ein Kollegium! So hat wol noch keiner gelesen“. Mit der christlichen Erweckung verband sich bei Löhe wie von selbst der Gewinn sicherer lutherischer Überzeugung. Im Jare 1836 schrieb Löhe an Huschke: „Obwol bei Gottes Wort aufgezogen, von Gottes Gnade nie verlassen, danke ich doch, menschlich zu reden, mein geistliches Leben einem reformirten Lehrer, Herrn Professor Krafft in Erlangen. Eben derselbe, dem ich annoch in herzlicher Liebe anhange, hat, one es zu wissen, meine Liebe zur lutherischen Kirche groß gezogen, da ich sie von Kindesbeinen an in mir trug“. Die Grundlage seiner lutherischen Richtung war die Tradition seiner fränkischen Heimat, die im Geiste des elterlichen Hauses sich spiegelte. Diese ward belebt durch das erweckende Wort eines reformirten Lehrers, der eine sehr irenische Stellung zur lutherischen Kirche einnahm. Hiezu kam als drittes die Beschäftigung mit der Lehre der lutherischen Kirche. Löhe erzält uns in den kirchlichen Briefen (pastoraltheologische Blätter von Vilmar 1861, II. Band, S. 109 f.), er sei in der damaligen Entwicklungsperiode hoch erfreut gewesen über den Fund der Hollazschen Dogmatik; von da sei er zu den Symbolen der lutherischen Kirche gefürt worden; er habe aber die positive Lehre, die ihn so sehr befriedigte, nicht| selbst aus der Schrift gefunden: „Die Tradition war mir eher klar als die Schrift, das Licht der Kirche leitete mich zum Brunnen der Warheit“. Erst später fand Löhe in tieferem Studium der hl. Schrift, dass „die symbolischen Entscheidungen der lutherischen Kirche dieser entsprachen“. Es ist jedenfalls merkwürdig, dass die nächsten Impulse für Löhes gesammte christlich kirchliche Lebensrichtung die landeskirchliche Tradition und das Wort eines reformirten Lehrers bildeten. Im Sommersemester 1828 weilte Löhe in Berlin; von tieferem theologischen Einfluss war dieser Aufenthalt nicht, wie denn überhaupt die Würdigung der Theologie nach ihrer spezifischen Bedeutung für die jeweilige Gegenwart nicht Löhes Sache war. Dagegen zogen ihn die damaligen bedeutenden Prediger Berlins, Schleiermacher nicht ausgeschlossen, sehr an; von besonderem Wert war ihm das homiletische Seminar von Strauß. Nach der im Jare 1830 bestandenen theologischen Prüfung, bei welcher seine originelle, geistgesalbte Predigt bereits Aufsehen gemacht hatte, kam bei dem damaligen Überfluss an Kandidaten für Löhe zunächst eine Zeit peinlichsten Wartens, in der er sich damit tröstete, daß er einmal auf Tod und Leben predigen werde. Bereits im folgenden Jare brach für ihn als Privatvikar in Kirchenlamitz in Oberfranken die Zeit einer reichgesegneten pastoralen Wirksamkeit an. Sie fiel in die schöne Periode geistlicher Erweckung, welche auch für Bayern längst angebrochen war. Eine gewaltige Bewegung ging von ihm aus; von weither strömte ihm das Volk zu. Neben unermüdlicher amtlicher Tätigkeit in Kirche und Schule ging damals schon, vorbildlich für später, die nachhaltigste Arbeit der Sammlung der Gläubigen in der Gemeinde zum Dienst an ihr einher. Gleich anfangs wurde Löhe in seiner Tätigkeit etwas beunruhigt; zwei Jare konnte er aber, wie er selbst berichtet, im vollen Frieden wirken, bis der Widerwille nicht der Gemeinde, sondern des dortigen Landrichters gegen ihn losbrach. Statliche und kirchliche Bureaukratie wirkten zusammen, um ihn von einer Stätte, wo er nach eigener Äußerung die schönste Zeit seines Lebens verbracht, zu entfernen. Der Dekan von Wunsiedel, von allem geistlichen Verständnis verlassen, lobte Löhe nach den verschiedensten Seiten, entdeckte aber bei ihm| „ausschweifenden Mystizismus“; der Landrichter meinte, Löhe eigne sich vorzüglich zu einem Missionar, wolle aber die Stelle eines solchen in der Heimat übernehmen; das Konsistorium in Bayreuth gab nach und enthob ihn seiner Vikariatsstelle, jedoch nicht unter dem Titel einer Strafversetzung. Das Verfaren gegen Löhe war dadurch erleichtert, dass die Sache der sogenannten Konventikel noch nicht geregelt war. Die Angelegenheit gelangte bis an das Ministerium, und das Oberkonsistorium, in dem immer schon ein entschieden kirchlicher Geist waltete, fand Gelegenheit, sich Löhes kräftigst anzunehmen. Seine Äußerung ist höchst charakteristisch; es meinte, eine Polizeibehörde, welche nicht bloß die physischen, sondern auch die höheren Bedürfnisse und Bestimmungen des Menschen zu begreifen und zu würdigen verstehe, werde den außeramtlichen Bemühungen Löhes ihren Beifall nicht versagen; Löhe zu einem Mystiker zu stempeln, könne nur vermöge einer waren Sprachverwirrung geschehen; ebensowenig könne von Sektirerei gesprochen werden, Löhe sei gerade der eifrigste Apologet der Kirchenlehre, ein Gegner aller Neologen und Sektirer. In England habe jüngst ein Parlamentsglied sich dahin geäußert, er halte es für monströs, dass die Leute sich zu jedem weltlichen Zwecke, in welcher Zal sie nur wollten, versammeln dürften, wärend eine Versammlung von mehr als zwanzig Personen zum Zwecke der Gottesverehrung eine Gesetzesverletzung sein solle; dem Landgerichte Kirchenlamitz sei diese Reflexion nicht gekommen: „überhaupt lehrt die Geschichte der Separatisten, dass kirchlicher Separatismus und Sektirerei, welche hier besorgt werden wollen, am allerwenigsten durch die Einmischung weltlicher Behörden verhütet werden. Gewaltsame Schritte schaden der Religiosität und gleichen dem Diensteifer des Bären, welcher, um die Fliege auf der Stirne des Freundes zu töten, diese mit einem Felsstück zerschmettert“. Das Verfaren der untern Kirchenbehörden wurde gemissbilligt; rückgängig ließ sich aber die Sache nicht wol machen, auch deshalb nicht, weil der Landrichter durch eine anzügliche Stelle in einer von Löhe gehaltenen Königspredigt sich persönlich verletzt sah. Löhe hat aber schon damals zur Besserung der kirchlichen Zustände insofern beigetragen, als infolge der erwänten Hergänge die Angelegenheit| der außerordentlichen Erbauungsstunden allmählich ihrer sicheren Regelung entgegengefürt wurde.

 Besonders der Präsident des Oberkonsistoriums, der Bruder des Nürnberger Rektors, Friedrich von Roth, hat von da Löhe Liebe und Wertschätzung zugewendet. Löhe wurde alsbald reich entschädigt; er wurde Pfarrverweser bei St. Ägidien in Nürnberg. Sein dortiger Aufenthalt ist one Zweifel die Periode seiner glänzendsten und mächtigsten Wirksamkeit auf der Kanzel; Löhes Predigtgabe entfaltete sich in ihrer ganzen Fülle und kam den höheren und niederen Ständen in gleicher Weise zu gute. Die bedeutendsten Männer, Rektor Roth, Bürgermeister Merkel und andere schlossen sich an den jugendlichen Vikar an und nahmen auch an seinen Bibelstunden teil. Einmal besuchten Gymnasiasten eine der Predigten Löhes, um sie ihrer Kritik zu unterziehen; sie wurden von ihrer Macht tief getroffen und gingen nach dem Gottesdienst lautlos auseinander. Wie ein Prophet strafte Löhe die Sünde one Ansehen der Person; der Stadtmagistrat trug deshalb auf Abberufung Löhes an; das Konsistorium Ansbach wies dieses Ansinnen aber als völlig kompetenzwidrig mit aller Entschiedenheit zurück; auch der Dekan S., obwol er der älteren Schule angehörte, nahm sich Löhes mit väterlichem Wolwollen an.

 Als Löhes Zeit in Nürnberg zu Ende ging, am 30. März 1835, schrieb Professor und Ephorus Dr. Höfling in Erlangen an den Präsidenten von Roth: „Von ganz besonders wichtigem Einfluss auf die Studierenden würde es sein, wenn es möglich wäre, an die hiesige Stadtkirche einen lutherischen Prediger wie Löhe zu bringen. Davon verspräche ich mir für die praktische Bildung der jungen Theologen mehr als von allem, was sonst geschehen kann. Er hat gestern hier gepredigt und ich muss sagen, dass ich noch keinen solchen Prediger gehört habe. Das hiesige Kirchentum ist so verfallen, dass es gewiss nur ein so eminent begabter Prediger wieder heben kann“. Diesen Brief sandte Roth an den Vorstand des Konsistoriums in Ansbach mit der Bemerkung, dass ihm die Äußerung Höflings über den Kandidaten Löhe sehr beachtenswert erscheine. Das Konsistorium bestimmte Löhe zum Vikar Kraffts, der damals leidend war; dieser hatte aber bereits| eine andere Aushilfe angenommen. Es schlug ihn dann für eine Repetentenstelle vor, wobei ihm eine bestimmte Zal von Predigten übertragen werden sollte. Die Erledigung einer solchen Stelle verzögerte sich aber. So musste Löhe noch von Ort zu Ort als Pfarrverweser wandern, bis er durch eine eigentümliche Verkettung von Umständen im Jare 1837 als Pfarrer in Neuendettelsau fast wider seine eigene innerste Intention angestellt wurde. „Nicht tot möchte ich in diesem Neste liegen“, rief Löhe aus, als er einmal als Pfarrverweser von Merkendorf Neuendettelsau betreten hatte, und doch ist Neuendettelsau ihm eine liebe Heimat, auch die Heimat seiner teuersten Ideale geworden. Er fand später den Ort, den andere von allen Reizen der Natur verlassen fanden, schön, obwol er einige der herrlichsten Gegenden der Erde gesehen hatte, und wusste in das dortige Leben einen reichen Kranz geschichtlicher Erinnerungen, an welchen es der ganzen Gegend nicht fehlt, zu verweben. Löhe eignete die Gabe liebenswürdigster, man möchte sagen, Göthescher Idealisirung. Man hat es bisweilen tragisch gefunden, dass eine so außerordentliche Kraft in solche Einsamkeit verschlagen erschien; Löhe strebte längere Zeit selbst nach größerer Wirksamkeit; viermal hat er sich um städtische Stellen gemeldet; es wurde ihm keine zu teil. Ehren wir auch hierinnen eine höhere providenzielle Fürung! Eine in so hohem Maße selbständig angelegte, zum Herrschen berufene Natur wie die Löhes hätte sich kaum zu einer Wirksamkeit neben anderen geeignet. Gerade an diesem einsamen, abgeschiedenen Orte sollte Löhe seine schöpferischen Kräfte in staunenswerter Weise zur Entfaltung bringen. Das geringe Dorf ist durch ihn eine Berühmtheit geworden im Reiche Gottes; in eine großartige christliche Kolonie, in eine Stadt auf dem Berge ward es durch Löhe umgewandelt, von der die segnenden Stralen barmherziger Liebe auf zwei Weltteile ausgegangen sind.
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 Ehe es aber dazu kam, war ein schwerer äußerer und innerer Kampf zu kämpfen. Vom Jare 1848–1852 bewegte Löhe der Gedanke des Austritts aus der bayerischen Landeskirche mit einer Stärke, dass die Separation mehr denn einmal beschlossene Sache war; der Konflikt mit dem Kirchenregimente hatte zuletzt eine| Höhe erreicht, dass an nichts anderes mehr zu denken war. Fragen wir, wie es hiezu gekommen, so ist zu erwidern, nicht durch die besonderen Gebrechen der bayerischen Landeskirche, so sehr wir diese nicht ableugnen oder mindern wollen, wenigstens durch diese nicht allein. Wir gestehen zu, dass sie nicht bloß an den Schäden des Landeskirchentums überhaupt litt, sondern dass manches in ihrer Verfassung und der kirchlichen Praxis nach der konfessionellen Seite sehr reformbedürftig war; sie hatte sich aber früher als die meisten deutschen Landeskirchen durch ein glückliches Zusammenwirken verschiedener Potenzen der Herrschaft des Rationalismus entwunden; das lutherische Bekenntnis, welches rechtlich nie abrogirt worden war, war mehr und mehr zu tatsächlicher Geltung gelangt; ein Mann wie Scheibel hatte den lutherischen Charakter der bayerischen Landeskirche anerkannt; Ranke erzält in seinen Jugenderinnerungen, dass er bereits im Jare 1826 als Pfarrer von R. verpflichtet worden sei, die reine Lehre des göttlichen Wortes in Übereinstimmung mit den Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche treu und eindringlich zu verkündigen; seit dem Jare 1841 war die ordinatorische Verpflichtung auf das Bekenntnis der Kirche förmlich eingefürt worden; Thomasius redet in seinem bekannten Werke: Das Wiedererwachen des ev. Lebens in der luther. Kirche Bayerns, von einer Erneuerung der luther. Kirche längst vor dem Jare 1848; die bayerischen Generalsynoden hatten vom Jare 1823 an, wo die erste abgehalten worden ist, eine immer entschiedenere kirchliche Physiognomie angenommen. Löhe hat im Jare 1837 selbst an Huschke geschrieben: „Für Verhältnisse, wie die unsrigen im bayerischen Vaterland sind, bleibt freilich nichts übrig, als sich mit der Krone unserer Kirche, dem reinen Wort und Sakrament, zu begnügen. Dass wir diese im schönsten Glanze tragen dürfen unverwehrt, hat mich erst herzlich getröstet etc.“
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 Der Grund zum Kampf gegen die Landeskirche lag tiefer; er lag in dem Gegensatz gegen das Landeskirchentum überhaupt. Mit diesem war Löhe zerfallen; es war der Konflikt zwischen Idee und Wirklichkeit, der ihm allenthalben in den faktischen Zuständen entgegentrat, unter welchem er unsäglich litt. Löhe hat tiefer als andere in die Schäden des Volkslebens und der Kirche geblickt;| er war aber auch mehr als andere von der Herrlichkeit der Kirche erfüllt; es loderte in ihm eine heilige Flamme des Eifers für den Herrn und sein Haus; er kann nach dieser Seite an Männer wie Spener, dessen „herrliches Streben“ Löhe pries, H. Müller, J. V. Andreä erinnern; die Sehnsucht nach bessern Zuständen war sein innerster Herzschlag. Als nun das Jar 1848 mit seinen Stürmen hereinbrach, fürchtete er nicht wie so viele den Zusammenbruch des alten Verhältnisses zwischen Kirche und Stat, sondern hoffte und wünschte ihn, weil er glaubte, dass über diesem Sturze das bessere Neue erblühen werde. Er war nicht bloß gegen das protestantische Landeskirchentum, sondern überhaupt gegen alles, was man Volks- und Statskirchentum nennt; er sprach oft von den verderbten Landeskirchen, er behauptet aber in seiner Schrift von der Barmherzigkeit, dass die Christenheit des 4., 5. und 6. Jarhunderts verderbter war als jetzt (S. 120), er war geneigt, in der kirchengeschichtlichen Entwicklung seit Konstantin und seit der Reformation einen Fehlgang der Kirche zu erkennen. Es hat sich in den damaligen Kämpfen wirklich um einen tiefen Prinzipienstreit, wie Thomasius in d. a. Schrift (S. 301) mit Recht sagt, um einen verschiedenen Begriff der Kirche gehandelt. Darum haben diese Kämpfe auch allgemeineres Interesse. Löhe fasste das Wesen der Kirche als einer Gemeinschaft der Gläubigen allzusehr mit ihrer Erscheinung, mit deren sichtbarem Organismus in eins zusammen. „Wir sehnen uns“, sagt er in seinem Vorschlag zur Vereinigung luth. Christen für apostolisches Leben vom Jare 1848, „nach einer warhaftigen Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche soll, so wünschen wir, nicht bloß ein Glaubensartikel sein, sondern ins Leben eintreten und erscheinen“. In der Schrift: „Unsere kirchliche Lage“, äußert er sich: „Ewig im ganzen, wechselnd in Betreff der einzelnen Bestandteile, gedeiht die Kirche schwerlich recht, wenn nicht die Möglichkeit freiesten Ab- und Zuzugs, ja die Notwendigkeit dieser Freiheit erkannt und zur Anerkennung gebracht wird“; im Jare 1848 schreibt er an C. v. Raumer: „Wenn die Kirche in unserer Zeit ist, was sie sein kann und zum Heile der Welt sein soll, so ist sie eine sehr kleine Minorität. Sie wird keine Macht, wenn sie nicht klein wird. Was nicht| intensiv ist, ist nicht extensiv“. Im Korrespondenzblatt der Gesellschaft für innere Mission nach dem Sinne der lutherischen Kirche, 1853, S. 111 ff. wird behauptet, dass Christus die Sichtbarkeit der Kirche, wie sie im Alten Testament bestanden, nicht hat aufheben, sondern über alle Völker hat erstrecken, ein Reich Gottes nicht bloß im Geist, sondern in der Wahrheit, wo Äußeres dem Inneren entspräche, wo durch den in den Gliedern waltenden Geist dieselben zu einem Leib zusammengefügt würden, ein sichtbares Reich, eine Gemeinde der Heiligen hat stiften wollen: „die Kirche ist eine sichtbare, eine äußere Gemeinschaft der durch einen Glauben und Bekenntnis verbundenen Kinder Gottes“. Ferner lesen wir hier: „So wie die Kirche Christi nicht one Amt besteht, so auch nicht one Kirchenregiment, weil dies wesentlich in dem von Christus gesetzten Amte begriffen ist. – Die Kirche darf als solche kein Regiment außer dem Amte dulden“. Diese Worte stammen allerdings nicht von Löhe selbst her; sind aber seinen Gedanken unmittelbar entnommen. Man wird nicht leugnen können, dass in diesem Kirchenbegriff donatistisch-individualistische Anschauungen mit einem leise romanisirenden Zuge sich berürten. Letzteren haben Männer wie Hofmann und Höfling in Löhes Amtsbegriff, wie er ihn in den Schriften „Aphorismen über die neutestamentlichen Ämter und ihr Verhältnis zur Gemeinde (1849), und „Kirche und Amt, neue Aphorismen (1851)“ entwickelt hat, von Anfang gefunden.
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 Löhe hat nun in erster Linie auch durchaus eine kirchliche Neubildung im Gegensatz zur Landeskirche, mit deren Bestand jene Anschauungen sich schlechterdings nicht vertrugen, erstrebt. Der prinzipielle Bruch mit dem Landeskirchentum trat allenthalben hervor, schon in der ersten, übrigens viel Treffendes enthaltenen Schrift: Vorschlag etc., wo die Separation nur als Frage der Zeit und schon jetzt als das eigentlich Berechtigte und Notwendige angesehen wird: „es ist wahr, dass es da Bruch, Riss, Separation gäbe, aber ists nicht doch immerhin das Weiseste und Beste, sich auch räumlich zu scheiden, wenn inwendig doch alles zerrissen ist (S. 10)?“ obwol später von einem Zuwarten so lange als möglich geredet wird. Nach den Aphorismen ist die bestehende Kirche| eigentlich keine Kirche mehr. Löhe schreibt: „Wer um jeden Preis zusammenhalten will, was beisammen ist, sei es gleich wie es will, sei es gleich nach des Herrn Befehlen zu verlassen oder zu entfernen, der kann keinen Geschmack an diesen Aphorismen finden, die aus einer großen Sehnsucht nach besseren Zuständen geschrieben sind und keineswegs die Wehen scheuen, welche erfolgen müssten, wenn sich auf dem alten Bekenntnis eine Kirche erheben sollte, die des Namens würdig und nicht von dem Meisten, was sie sein soll, wie die bisherige, das Gegenteil wäre (S. 139 f.)“.
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 Auch die an die Generalsynode vom Jare 1849 gerichtete, mit 330 Unterschriften versehene Petition, in welcher Abtun des Summepiskopats, vollständige konfessionelle Purifikation, strengste Verpflichtung auf das Bekenntnis etc. gefordert wurde, ging von seiten Löhes im Grunde genommen von derselben Voraussetzung aus. Sie war mehr ein Ultimatum als ein Reformgesuch. Löhe schrieb damals: „Ich hoffe von der Generalsynode wenig – – wer die Petition unterschreibt, macht sich auf das Äußerste gefasst und ist des Sinnes, im Verneinungsfall der Bitten von der Landeskirche abzutreten – ich meinerseits finde die kirchlichen Zustände allenthalben faul, allenthalben brichts – ich meinesteils will, wenn die Generalsynode sich wider gerechte Forderungen sträubt, tun, was, wie mir dämmert, schon längst das Rechte gewesen wäre“. In einem andern Brief schreibt Löhe: „Die zufälligen Erfolge wärend der letzten 15–18 Jare sind klein gegen die Verwarlosung so vieler Tausende, an welcher wir keine Mitschuld tragen können“. Obwol nun die kirchlich Gesinntesten sonst und auch die meisten, welche jene Petition unterschrieben hatten, von dem Ergebnis der Synode nicht unbefriedigt waren, Männer wie Thomasius, Höfling, der Referent in der Zeitschrift: „Protestantismus und Kirche“, überaus anerkennend über sie urteilten, obwol unmittelbar nach der Synode die strengsten Freunde Löhes und Löhe selbst auf den Austritt zunächst verzichteten, so ließ Löhe gleichwol, als die Verhandlungen der Synode veröffentlicht worden waren, die allerdings von manchem auf derselben vorgekommenen Misston Zeugnis gaben, die Schrift: „Die bayerische Generalsynode vom Frühjar 1849 und das lutherische Bekenntnis| ausgehen. Sie enthielt die schärfste, vielfach unbillige Kritik einer Synode, welche, um mit Höfling auf der Leipziger Konferenz des Jares 1849 zu reden, einen sehr bedeutenden Fortschritt gegen früher bekundete und nach Thomasius eine Reihe von Beschlüssen fasste, die dem kirchlichen Bewusstsein einen bestimmteren und volleren Ausdruck geben sollten; diese Schrift lief in einen förmlichen Absagebrief an die Landeskirche aus.
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 Es sollte aber nicht zur Separation kommen. Löhe wollte austreten, aber konnte nicht. Sein geschichtlicher Sinn, ein unaustilglicher Zug von Liebe und Pietät gegen das traditionelle Kirchentum, aus dem er selbst hervorgegangen war, und in dem er mehr wurzelte, als er sich selbst oft gestand, seine Nüchternheit und Geistesklarheit, die ihn selbst wider misstrauisch machten in Bezug auf die Ausfürbarkeit seiner kirchlichen Ideale, besondere äußere Fügungen haben es nicht dazu kommen lassen, obwol der Schritt mehr denn einmal innerlich bereits geschehen war. So oft man Löhe entgegen kam, nahm er selbst bereits getane Schritte wider zurück; gerade hiedurch ist sein Verfaren unendlich verschieden von dem fanatischen Separatismus unserer Tage, der seinem abstrakten Prinzip rücksichtslos nachgeht und vor keiner Folge zurückschreckt. Es war ein unendliches Schwanken in Löhes Tun, aber auch stete Bereitschaft, auf Rat und Wolmeinen andrer einzugehen. Seine innersten Anschauungen forderten den Austritt, ruhige Erwägung für sich und mit andern legte immer wider den Versuch der Reform nahe. Nachdem die Beleuchtung der Beschlüsse der Generalsynode erschienen, kam es zunächst zu einer Verhandlung zwischen Löhe einer-, Hofmann und Thomasius andererseits. Löhe zeigte sich sehr nachgiebig; die theologische Fakultät in Erlangen unterbreitete dem Oberkonsistorium, Löhes Sache bis zu einem gewissen Grad zu der ihren machend, Vorschläge, um wo möglich dem drohenden Riss vorzubeugen; der Vermittlungsversuch fürte aber zu keinem Ziele, sondern endete mit gegenseitiger Entfremdung. Man wandte sich nun direkt an das Oberkonsistorium, zunächst in Sachen des Bekenntnisses; man äußerte sich dankbar für den erfolgten Bescheid. Es wurde aber mit dieser Danksagung der Antrag auf volle Trennung der Kirchen-| und Abendmalsgemeinschaft zwischen der lutherischen und reformirten Kirche, welch letztere in Bayern nur wenige Gemeinden umfasst, gestellt. Auf diesen Punkt konzentrirte sich jetzt die ganze Bewegung; sie ergriff viele Gemeinden, das Kirchenregiment wurde mit Petitionen von Geistlichen, Kirchenvorständen und Gemeinden überflutet, obwol in den allermeisten Fällen von Annahme der Reformirten und Unirten zum hl. Abendmale gar keine Rede sein konnte, da solche nicht vorhanden waren, und kein Geistlicher zu ihrer Annahme genötigt wurde. Man erklärte aber die sogenannte gemischte Abendmalsgemeinschaft, die hie und da, namentlich in Diasporagemeinden vorkam, für den schwärzesten Fleck der Landeskirche und unbedingt für Sünde; Gemeindeglieder enthielten sich um deswillen des Sakramentsgenusses, Geistliche baten um Stellvertretung bei der Administration; andere wurden von Gemeindegliedern befragt, was sie im Möglichkeitsfalle tun würden; es war eine schwere Zeit für die Landeskirche. Nach längerem Zögern antwortete das Kirchenregiment in einem überaus erwogenen Erlaß vom 19. Sept. 1851, der auch auf Löhe seines Eindrucks nicht verfehlte; in ihm wurde der lutherische Charakter der bayerischen Landeskirche diess. d. Rheins, von den wenigen reformirten Gemeinden abgesehen, das Nichtvorhandensein einer rechtlichen oder tatsächlichen Union mit Entschiedenheit behauptet und die vereinzelt stattfindende Abendmalsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformirten als ein durch unvermeidliche Verhältnisse hervorgerufener Notstand bezeichnet. Völlig befriedigt war man hiedurch aber nicht, man wollte radikale konfessionelle Scheidung nach allen Seiten. Wärend man aber seither stetig von einer Trennung von der Landeskirche gesprochen hatte, nahm Löhe gegen das Kirchenregiment, scheinbar ganz unvermittelt, in Warheit aber von dem Rate auswärtiger Freunde bestimmt, plötzlich insofern eine andere Stellung ein, als er mit seinen Freunden innerhalb der Kirche bleiben zu wollen erklärte, aber mit einer Art Protest, mit dem Vorbehalt, dass er diejenigen Geistlichen und Gemeindeglieder nicht für lutherisch halten könne, welche irgenwie in gemischte Abendmalsgemeinschaft verwickelt seien. Nach der Meinung vieler, auch der in der Zeitschrift: Protestantismus und Kirche,| in welcher die obschwebenden Fragen fort und fort mit großer Sicherheit und Schärfe verhandelt wurden, von Hofmann vertretenen, und namentlich nach der Überzeugung des Kirchenregiments war hiedurch aus der projektirten Separation von der Landeskirche eine Art Exkommunikation aller anders Denkenden von seiten einzelner Geistlichen der Landeskirche geworden, obwol Löhe dies von Anfang als Missverständnis bezeichnet hatte. Man blieb in der Landeskirche, weil man die Verbindung mit der eigenen Gemeinde als unlöslich bezeichnete, schien aber allerdings die anderen von sich und im Grunde von der Kirche auszuschließen. Der Gegensatz zwischen Löhe und dem Kirchenregiment erhielt hiedurch die äußerste Zuspitzung. Das Oberkonsistorium erwiderte die letzte Kundgebung mit der Aufforderung, dass die Unterzeichner der Landeskirche sich treu und gehorsam anschließen oder ihr Amt niederlegen sollten. Löhe und seine Freunde erklärten aber, letzteres nicht tun zu können, und hielten dabei ihren früher behaupteten Standpunkt fest; Löhe und einer seiner Freunde taten dies mit großer Mäßigung und nicht one wesentliche Milderung der Sache. Löhe legte alles „in die Hände der gnädigen Obern“. Man gab zu, dass manches in dem früher gesagten zu hoch und zu weit gegriffen sei; Aufhebung der Kirchengemeinschaft und Bleibenwollen in der Landeskirche könnte als Widerspruch erscheinen; man wolle sich dem bestehenden Kirchenregimente nicht entziehen, man beabsichtigte keine kirchenregimentliche Sonderung oder Sonderstellung, man wolle auf die in konfessionellen Dingen noch unentschiedenen Brüder warten. Wärend man vorher von dem unlutherischen Verfaren der andern gesprochen, nannte man es jetzt nur „nicht warhaft lutherisch“. Diese nähere Erläuterung hätte beruhigen können. Das Kirchenregiment stellte aber einem abstrakten Prinzip das Recht der Kirche ebenso abstrakt gegenüber, und ging auf der einmal betretenen Ban weiter. Der Mann, der die ganze Angelegenheit längere Zeit mit viel Takt, Umsicht und möglichstem Wolwollen für Löhe behandelt hatte, Dr. Böckh, trat mehr und mehr zurück, andere Elemente machten sich geltend. Es erfolgte die Suspensionsbedrohung gegen Löhe und acht andere Geistliche, und dann, jedoch nur mit einer Stimme Majorität, der Suspensionsantrag.
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|  So stand die Landeskirche vor einem schweren Risse. Die wirkliche Suspension hätte die wirkliche Separation one Zweifel nach sich gezogen. Die Kunde von Maßnahmen gegen Löhe wirkte peinlich auch auf Geistliche, die ihm ferner standen; in Eingaben an das Kirchenregiment sprach man von dem unabsehbaren Unglück einer Separation. Es sollte aber auch jetzt nicht zu dieser kommen. Der edle König Max II. hatte one Zweifel einen tieferen Einblick in die Lage der Dinge; dem Hof überhaupt war die kirchliche Bewegung nicht fremd geblieben; König Ludwig I. soll die Schrift Löhes: „Unsere kirchliche Lage“, selbst gelesen haben. Der regierende König war mit Harleß, dem er bereits als Kronprinz näher getreten war, auch nach dessen Wegzug von Bayern immer in Verbindung geblieben und hatte das lebhafte Interesse, das Unrecht, das unter Abel an ihm begangen worden war, zu sünen. Man wusste, dass auch in weiteren Kreisen kein sonderliches Vertrauen zu der damaligen Leitung des Oberkonsistoriums vorhanden sei. So wurde am 29. September 1852 Harleß an die Spitze des letzteren berufen und die Löhesche Frage erledigte sich dadurch von selbst, obwol erst unter dem 7. Juli 1853 beschieden wurde, dass der Suspensionsantrag bis auf Weiteres zu beruhen habe. Durch Harleß wurde vor Allem eine reinliche und friedliche Sonderung der lutherischen und reformirten Kirche zu Stande gebracht; ein selbständiger lutherischer Kirchenkörper wurde geschaffen, neben welchem auch die reformirte Kirche erst zu ihrer vollen Selbständigkeit gelangte. Andere heilsame Reformen wurden sofort in Angriff genommen und allmählich durchgefürt. All dies und das unbedingte Vertrauen, das Harleß’ Persönlichkeit genoss, wirkten zusammen, den Löheschen Kreis zu beruhigen. Es war ein großes Glück für die Landeskirche, dass ihr der schwere Riss erspart und eine Kraft wie die Löhes erhalten blieb, aber auch ein unverkennbarer Segen für Löhe, dass er nicht in die Enge der Separation gedrängt wurde. Es war eine merkwürdige Fügung! Löhe hatte sich mit dem Gedanken kirchlicher Neubildung im Gegensatz zum Landeskirchentum getragen, nun aber zur Neuorganisation und Kräftigung der Landeskirche beigetragen. Er hatte sich unter anderem sehr stark gegen einen katholischen Summepiskopus,| auch im Namen des Bekenntnisses, erklärt, und gerade dieser wirkte dahin, dass ihm das Verbleiben in der Landeskirche wesentlich erleichtert wurde. Alle Wünsche Löhes wurden freilich nicht befriedigt, und konnten es nicht werden; dies wäre dem Aufgeben der Landeskirche gleichgekommen. Auch der Punkt, um dessen willen der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht hatte, konnte nicht ganz im Sinne Löhes bereinigt werden. Im Prinzip blieb Löhes Stellung zum Landeskirchentum dieselbe. Als Harleß schon eingetreten war, unter dem 13. Dez. 1852, schrieb er an die Separirten in Nassau und Baden: „Was die armen, krankenden, sterbenden, von den Massen der Welt gelähmten und fast getöteten Landeskirchen heutzutage nicht mehr können, das geht auf euch und eures gleichen über“. Der Austrittsgedanke tauchte noch einigemale auf, aber nie mehr mit der Stärke wie früher. Einige Jare später schrieb einer der nächsten Freunde Löhes: „Dass Löhe eine Freikirche bilde, davor darf niemand eine Angst haben, das geht nicht mehr; es wäre schon früher schlecht genug gegangen und Gott hat uns vor großem Jammer und Schaden behütet“.
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 Man darf auch geradezu sagen, dass allein die Landeskirche Löhe Raum bot nicht bloß für die volle Entfaltung seiner Kräfte, sondern auch für eine eigentümliche Mannigfaltigkeit und einen oft auffallenden Wechsel seiner Anschauungen. Löhe eignete nämlich bei aller tiefen, Ehrfurcht gebietenden Ruhe seines Wesens in Amt und Verkehr im Innersten eine große Beweglichkeit, ein Trieb, immer von andern, von besonderen Warnehmungen und Erfarungen zu lernen, auch eine gewisse Abhängigkeit von momentanen Eindrücken. Er blieb lutherischer Grundanschauung treu; im einzelnen hat er aber seine Ansichten oft, bisweilen in das gerade Gegenteil geändert. In seiner herrlichen Schrift über die Kirche (Drei Bücher von der Kirche, 1845), einem waren Loblied auf sie in schöner, erhabener Darstellung – sie wurde auch ins Englische übersetzt – vertrat Löhe die strengste lutherische Orthodoxie. Die lutherische Kirche ist ihm die Kirche schlechthin, in einem Sinne, wie es Joh. Gerhard kaum zugestanden hätte: „Die Reformation ist vollendet in der Lehre, die Lehre und das Bekenntnis ist fertig“. In der Stellung zur katholischen Kirche| tritt durchaus der altprotestantische Gegensatz hervor. In der Schrift: Vorschlag zur Vereinigung etc. S. 10 wird geradezu behauptet, dass falsche Lehre nicht geringer anzuschlagen sei als sittenloser Wandel. Schon im Jare 1850 sprach aber Löhe von der Notwendigkeit der Fortbildung mancher symbolischen Lehren, namentlich der vom Amte, nachdem seine eigenen Schüler in Amerika „im Fanatismus kirchlicher Meinungen und des Undankes“, wie Löhe selbst sagt, wegen seiner Anschauung vom kirchlichen Amt sich von ihm losgesagt hatten. Später geschah dies auch wegen des Chiliasmus, den Löhe früher verworfen, dann aber im Jare 1857 in einer gewaltigen Predigt über Phil. 3, 7–11 öffentlich verkündigt hatte. Ganz schön sagt Löhe in den kirchlichen Briefen, wie er von den Symbolen zur Schrift gekommen sei und gefunden habe, dass die heil. Schrift reicher, tiefer, wahrer sei als die Symbole, und dass die Kirche daher nicht bloß auf den Lorbeeren der Väter ruhen dürfe, sondern immer mehr zu wachsen und völlig zu werden, alle Aufforderung und allen Anlass habe, die Schrift sei lichter und klarer, billiger und gerechter als das Wort der Menschen; Löhe beklagt sich, dass manche mit den symbolischen Büchern Abgötterei trieben, und unterscheidet ausdrücklich Bekenntnis und Theologie. Noch weiter ist hierinnen das Korrespondenzblatt (1859, S. 23 ff., 29 ff., 37 ff.) gegangen. Hier wird „das verhältnismäßig reinste Bekenntnis der göttlichen, seligmachenden Warheit“ das Kleinod der lutherischen Kirche genannt und von einem Luthertum gesprochen, das die Warheit überall anerkennt, wo es sie findet, und Gerechtigkeit übt und Milde im Urteil über andere Konfessionen, das sich neben den Unterschieden auch der vorhandenen Einigkeit, die über den Konfessionen steht, bewusst ist und derselben von Herzen freut. Zu beklagen war es aber, dass diese freiere und weitere Anschauung in Beurteilung der anderen Konfessionen fast nur der katholischen Kirche zugute kam und nach dieser Seite über das richtige Maß hinausfürte. Die im Jare 1860 erschienenen „Rosenmonate heiliger Frauen“ erregten das größte Aufsehen, zum teil auch unter den nächsten Freunden Löhes, und riefen schärfsten Widerspruch zweier bedeutender lutherischer Theologen hervor. Löhe hat in diesem Werk,| das im einzelnen Treffliches enthält, im ganzen eine in der Kirche früh aufgekommene Werk- und Entsagungslehre verherrlicht, welche mit protestantischer Grundanschauung sich prinzipiell und auf die Dauer nicht verträgt. Man muss sagen, dass Löhe eine Weile auch nach anderen Seiten, z. B. in der Frage über das Gelübde der Ehelosigkeit, auf einer bedenklichen Schneide einherging. Allein Löhe wurzelte von früh an und stetig so tief und unerschüttert in der Lehre von der Rechtfertigung, dass von einer bewussten Hinneigung zur katholischen Kirche keine Rede sein konnte; er äußerte offen, dass die Katholiken seinen Übertritt erwarteten, dass er fast alle Tage von da Briefe in diesem Sinne erhalte, aber ebenso entschieden sagt er in den kirchlichen Briefen: „Ich habe keinen Umgang mit Römischkatholischen, ich habe nie einer ihrer Lehren beigestimmt, ich bin gar kein Anhänger des Papismus, ich habe keine einzige römisch-katholische Besonderheit zu der meinen gemacht, ich hange wie ehedem an den symbolischen Sätzen und Lehren der lutherischen Kirche“. Löhe wollte aber Unvereinbares mit einander vereinigen; er versuchte, in einer Art Reformatismus, wie ihn V. E. Löscher nach anderer Seite hin an den Pietisten tadelte, die reformatorischen Grundsätze, denen er durchaus treu bleiben wollte, zu bereichern mit früh aufgekommenen ethischen Anschauungen, die in ihrer weiteren Konsequenz gerade die Reformation herausgefordert hatten. Dass „Stimmung und Färbung seines Urteils“ der römischen Kirche gegenüber anders geworden, gibt Löhe zu (vgl. auch die Vorrede zum Martyrologium vom Jare 1868), dies schloss aber nicht aus, dass er auf das schärfste gegen das neue Dogma sich aussprach. Leider hat nun aber Löhe in seinem: Gutachten in Sachen der Abendmalsgemeinschaft (1863) der reformirten Kirche, die der lutherischen doch weit näher steht als die römisch-katholische, gleiche Billigkeit nicht zukommen lassen; er hat die sehr ungerechten Urteile Luthers in dem kleinen Bekenntnis vom heil. Abendmal hier sich angeeignet und Tit. 3, 10 one weiteres auf Reformirte und Unirte angewendet. Gleichwol hat er auch in dieser Schrift seiner früheren Ansicht über Abendmalsgemeinschaft im Grunde die Spitze abgebrochen und ist im einzelnen, wie tatsächlich vorliegt, noch zu weiteren Konzessionen| fortgegangen. Er hat in der Schweiz mit Reformirten brüderlich verkehrt, wie solche auch öfter längere Zeit in Neuendettelsau sich aufhielten, und nachher offen erklärt, er würde jedem gläubigen reformirten Pfarrer seine Kanzel einräumen.
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 In einer der schönsten Stellen in dem Buche von der Kirche hat Löhe gesagt: „Es ist alles zu hoffen, wenn das Wort und die Lehre walten. Darum vor allem ums Wort lasst uns beten. Verfassung, Ordnung, Liturgie und Zucht können mangeln und dennoch Tausende selig werden, wenn nur das Wort da ist. Am Worte liegts gar. Wir können es nicht entbehren“. Gewiss ist Löhe diesem Grundsatz später nicht mehr ganz treu geblieben. Kirchliche Organisation war seine Stärke, er hat sie aber auch oft in einseitiger Weise geltend gemacht. Er hat auf die Verfassung oft mehr in reformirter als lutherischer Weise Nachdruck gelegt, schon in der Petition an die Generalsynode vom Jare 1849 geschah letzteres. Wir stimmen ferner ganz dem sel. Schubert bei, wenn er an Löhe schreibt: „Der Herr hat Sie berufen und erwält, dem unheiligen Geist unserer Zeit gegenüber ein Verkündiger und Zeuge der Himmelskräfte zu sein, die im Sakrament des Altars liegen“. Unzälige haben dies zu ihrem Segen erfaren. Aber leugnen lässt sich nicht, dass Löhe im Vergleich mit dem Gnadenmittel des Wortes, das er in dem bei aller Einfachheit großartigen, von tief gesunden seelsorgerlichen Maximen zeugenden Traktat: „Von dem göttlichen Worte, als dem Lichte, das zum Frieden fürt (1837)“, der auch ins Französische übersetzt wurde, so unvergleichlich würdigte, später das Sakrament fast über Gebür erhob. Das Sakrament des Altars schien bisweilen alles zu sein. „Das Sakrament bildet, das Sakrament erhält, das Sakrament fördert und vollendet die Gemeinde, wenn es erfasst, dargelegt, gereicht und gebraucht wird, wie es sein soll. In ihm ist für die Fürung der Gemeinde und der einzelnen Seele das Centrum gegeben, in ihm konzentriren sich recht fasslich und greiflich alle Lehren der Kirche. Am allermeisten die von der „Rechtfertigung und Heiligung“. Früher ist mir Luthertum so viel gewesen als Bekenntnis zu den Symbolen von A bis Z, jetzt birgt sich mir das ganze Luthertum in das Sakrament des Altars, in| welchem nachweisbar alle Hauptlehren des Christentums, insonderheit die reformatorischen, ihren Mittel- und Brennpunkt haben“. Bengel hätte gegen so manche Äußerung in dieser Richtung dasselbe gesagt, was er gegen die Herrnhuter bei ihrer einseitigen Betonung der Versönungslehre, obwol diese ja den Mittelpunkt bildet, geäußert hat. Auch war Löhe das heil. Abendmal nach einer Seite doch zu sehr Mittel der Selbstdarstellung einer Gemeinde der Heiligen und ihrer Abgrenzung nach Außen, womit zusammenhängt, dass er das voll Sakramentale öfters von dem Sakrifiziellen, den völligen Abendmalssegen von dem Abendmalsbekenntnis abhängig machen zu wollen schien. Auch das Herrlichste kann gerade, wenn man für dasselbe im Gegensatz zu dessen Unterschätzung eifert, leicht in nicht ganz richtigem Lichte, in einem die Warheit überbietenden Übermaß dargestellt werden. Auch Harleß glaubte nach dieser Seite berichtigen zu sollen (Die Bedeutung des heil. Abendmals, Zeitschr. für luth. Theol. u. Kirche, 1867, S. 94 f.).
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 Eine ganz sichere, in sich geschlossene, stetige kirchlich-theologische Grundanschauung hatte Löhe nicht. Er war nie befriedigt, er wollte immer bessern, ändern und ergänzen. Dieser Grundzug hatte etwas Ehrwürdiges und Großartiges, war aber doch auch Veranlassung zu manchem Abgleiten vom richtigen Pfade, um so mehr, als Löhe geneigt war, das momentan für wahr Gehaltene als von seinem Lebensberuf ihm gewiesen anzusehen und zum Schiboleth auch für andere zu machen. Vor allem möchten wir aber jetzt in dieser Eigentümlichkeit das Streben Löhes erkennen, sich stets aus jeder Enge zu ökumenischer Weite zu erheben; darauf zielt doch auch sein Wort: „Wenn fünf Minuten vor meinem Tode ich höre, dass irgenwo eine bessere Kirche entsteht, als die lutherische, verschreibe ich mich sterbend noch der neuen Kirche, noch fünf Minuten vor meinem Tode“. Nur eines müssen wir ebenso bestimmt behaupten, ein Mann von dieser, in seiner Originalität wurzelnden Geneigtheit, auch Gegensätzliches in sich zu vereinigen oder zu verschiedenen Zeiten zu vertreten, ein Mann von diesem idealen Flug hätte in einer deutschen oder amerikanischen Freikirche seine Stätte nicht gefunden. Löhe hätte| separirt nur auf sich selber stehen können; dies hätte aber für ihn und andere one Zweifel auch seine besonderen Gefaren gehabt. Auch in dem kleinen Löheschen Kreise sprach man z. B. zur Zeit der Rosenmonate von einem drohenden Risse. Löhe ist uns gerade in der nicht immer harmonisch gearteten Vielgestaltigkeit seiner Richtung und Anschauung, seines Strebens und Wirkens, so eigentümlich es lauten mag, ein großer Apologet des Landeskirchentums, dessen Schwäche, dessen Stärke aber auch eine gewisse Weite ist.

 Die Liebe zur Landeskirche schlug bei Löhe auch immer wider überraschend durch. Das Merkwürdigste ist, dass Löhe noch mitten im brennendsten Kampfe sein treffliches Buch: „Der evangel. Geistliche“ (I. Band 1852, II. Band 1858) schrieb, in dessen Vorwort er sagt: „Der Standpunkt, von welchem aus geschrieben wurde, ist hauptsächlich der eines Landpfarrers in der Landeskirche“; Löhe hat hier tatsächlich gezeigt, dass eine kirchlich ideale Richtung sich gar wol mit dem Stehen auf dem realen Boden des Landeskirchentums verträgt. Im Jare 1856 hat Löhe von der von ihm geliebten Landeskirche, der Kirche seiner süßen Heimat gesprochen, und hat das Regiment unter Harleß ungemein gerühmt: „Ich sehe, dass eine andere Zeit gekommen ist“. Das schloss aber freilich nicht aus, dass Löhe im folgenden Jare an Harleß schrieb: „Ich habe an dieser Landeskirche keine Freude, ich finde die Prinzipien dieses Regiments insgemein papistisch“, und im Jare 1860 sich äußerte: „Ich konnte mit Händen greifen, wie wenig Verbesserung der Lage durch den Wechsel der Personen herbeigebracht werden konnte“.

 Übrigens war das Verhältnis Löhes zur Landeskirche seit der Krisis im Jare 1852 im Ganzen ein friedliches. Löhe hat zwar die Frage der Abendmalsgemeinschaft noch dreimal angeregt, im Jare 1853, 1857 und 1861. Sein Auftreten im Jare 1857 wärend der durch die Liturgie und andere Anordnungen veranlaßen Stürme war uns immer am wenigsten verständlich; Löhe wollte damals unter Lockerung des Parochialverbandes alle mit der Bewegung unzufriedenen, ihm gleichgesinnten Elemente durch Aufnahme in die Abendmalsgemeinschaft kirchlich organisiren; es| war eine Art kirchlicher Gegenagitation zur Abwehr des widerkirchlichen Liturgiesturmes. In der damaligen Eingabe an das Oberkonsistorium trat Löhe schroffer und gebieterischer auf als je; er zog sie aber selbst wider zurück; einer seiner ehrwürdigsten Freunde war infolge jenes Schrittes aus der Gesellschaft für innere Mission ausgetreten. Einen weiteren Erfolg hatten diese neuen Versuche nicht. Der einzige Konflikt von Bedeutung in jener Periode war nicht kirchlich geistlicher, sondern kirchlich statsgesetzlicher Natur. Löhe hatte sich geweigert, ein Gemeindeglied, das wegen böslicher Verlassung der Frau rechtskräftig geschieden war und die Erlaubnis zur Widerverehelichung erhalten hat, wozu Löhe selbst als Vorstand der Armenpflege mitgewirkt, zu trauen, auch das Dimissoriale, damit ein anderer traue, auszustellen. Es kam auf diese Weise zu einer vorübergehenden Suspension vom Amte. Die aktenmäßige Darstellung dieses Konflikts findet sich in Protestantismus und Kirche, Jahrgang 1860, II, S. 263 f. Wir urteilen hier nicht über die materielle Seite der Frage; auch nahe Freunde Löhes, wie z. B. Dr. Weber, haben aber sein Verfaren formell inkorrekt gefunden, meinten auch, Löhe hätte one Gewissensverletzung wenigstens das Dimissoriale ausstellen können. Damals war es das letzte Mal, dass Löhe die Austrittsfrage ernstlich erwog; sie wurde auf einer engeren Konferenz besprochen; nur eine Stimme soll dafür gewesen sein; eine andere aus der Mitte der Separation mahnte dringendst ab. Nach einiger Zögerung übernahm Löhe mit einer Selbstverleugnung, die ihn ehrt, das Amt wider. Von geringerem Belang war die Kollision wegen Vornahme einer Krankenölung; als die Sache mit der für die Handlung verfassten Liturgie veröffentlicht worden war, untersagte das Oberkonsistorium, gewiss mit Recht, die weitere Vornahme. In Sachen der Kinderbeichte, einer besonderen Kirchenzuchtordnung, welche Löhe ganz selbständig eingefürt hatte, und in so manchem anderen ist das Kirchenregiment Löhe, trotz geäußerter Bedenken, möglichst entgegengekommen. Wenn wir von den Vorgängen in Kirchenlamitz absehen, dergleichen damals freilich öfter vorkam und bezüglich deren wenigstens das Oberkonsistorium nachträglich kräftigst für Löhe eintrat, ist uns kein Konflikt| mit der Gemeinde bekannt, wo Löhe beim Kirchenregiment nicht Schutz gefunden hätte. Er selbst schreibt 1836 an Huschke: „Meine Oberen haben mich bisher geschützt“. Die drei Dekane, unter denen Löhe stand, Glieder des Oberkonsistoriums und Konsistoriums, waren Löhes persönliche Freunde, die immer, wo es not tat, wider Verständigung und Ausgleich herbeizufüren suchten. Wenn Löhe einmal sagt: „Es gehört gewiss auch zur Weisheit derjenigen, welche im Regiment der Kirche sitzen, den Geist der Freiwilligkeit nicht in Fesseln zu bannen, an denen er sterben muß, sondern ihn vielmehr zu wecken und ihm die zur Entwickelung seiner Kraft notwendige Weitschaft zu lassen, zu gewären und zu schützen“, so hat er dies selbst reichlichst erfaren. Ein einziger Besuch in Neuendettelsau konnte dies lehren. Er bildete mit seinen Anstalten eine ecclesiola in ecclesia im schönsten Sinne des Wortes. Seine hohen Gaben und Leistungen wurden stets auf das Bereitwilligste anerkannt; schon im Jare 1836 hieß es: „Hat sich in vorzüglichem Grade ausgezeichnet“. Die Kanzel ist Löhe nie verboten worden, was wir nur erwänen, weil es behauptet worden ist. Auch die Nichtbestätigung seiner Wal zum Senior im Jare 1843 ging nicht aus Übelwollen hervor, sondern weil einige Pfarreien erledigt waren und die Senioratswal bei Besetztsein aller Pfarrstellen vorgenommen werden soll. Es wurde damals nicht etwa eine andere Wal vorgenommen, sondern, wie das in solchen Fällen immer geschieht, ein Senioratsverweser aufgestellt. Bei der im nächsten Jare stattgefundenen abermaligen Wal erhielt Löhe nur zwei Stimmen. Das Kapitel entschied sich für den bereits fungirenden Senioratsverweser.

 Doch Löhe darf nicht nach diesem oder jenem, sondern muss nach seiner ganzen Persönlichkeit beurteilt werden. Als solche war er eine Größe in Gottes Reich. Derselbe Mann, der so gewaltig und oft auch einseitig für Glaube und Lehre eiferte, war zugleich von mächtig schöpferischer Kraft auf dem Gebiete barmherziger Liebe. Auf die Jare des Streites folgte unmittelbar, wie ein versönender Abschluss, die Periode eines großartigen Schaffens auf diesem Gebiete.

 Übrigens war Löhe schon vom Jare 1840 an in letzterer| Richtung tätig gewesen und zwar für Heranbildung von geistlichen Arbeitskräften unter den in Nordamerika eingewanderten Deutschen. Er gründete durch Vereinigung mit den ausgewanderten sächsischen Lutheranern die Missourisynode, die fränkischen Kolonieen in Michigan und später die Iowasynode. Zwei schöne Missionshäuser stehen jetzt in Neuendettelsau, in welchen künftige Diener der lutherischen Kirche unter den Deutschen Nordamerikas und neuester Zeit auch Australiens herangebildet werden. Im Jare 1849 rief Löhe die Gesellschaft für innere Mission im Sinne der lutherischen Kirche ins Leben, welche unter ihren vier Arbeitskreisen ganz besonders dem angegebenen Zwecke dienen will. Im Jare 1853, kurz nachdem Harleß eingetreten, wurde nun aber ein Verein für weibliche Diakonie gegründet, welcher überhaupt „Erweckung und Bildung des Sinnes für den Dienst der leidenden Menschheit in der lutherischen Bevölkerung Bayerns, namentlich in dem weiblichen Teile derselben“, sich zum Ziele setzte. Dieser Verein ist der Mutterboden, aus welchem die Diakonissen- und die anderen Anstalten hervorgingen, mit welchen Neuendettelsau bedeckt ist. Am 15. Oktober 1854 wurde das Diakonissenhaus eingeweiht; nun entwickelte sich alles mit staunenswerter Schnelligkeit. „Auf nahezu 140 Tagwerken eigenen Besitzes stehen zur Zeit achtzehn Gebäude, welche von Jar zu Jar angewachsen sind; über dreihundert Personen umfasst die Anstaltsgemeinde und aus der Quelle barmherzigen Dienstes, welche Löhe hier öffnete, sind die Bächlein in alle Lande hinausgeflossen, bis ferne übers Meer. Um das Mutterhaus her, durch liebliche und nutzreiche Gartenanlagen verbunden, erheben sich die Ökonomiegebäude, die Blödenhäuser, die Pfründe, der herrlich ausgefürte Betsal, das Rettungshaus, das Männer- und Frauen-Hospital, das Magdalenium, die Industrieschule, das Feierabendhaus, das Rektorat“. Im Jare 1865 wurde in Schloss Polsingen bei Öttingen eine Filiale der Diakonissenanstalt in Neuendettelsau, bestehend in der männlichen Abteilung der Blödenanstalt, in einem Distriktshospital, in einem Rettungshaus und einer Kleinkinderbewaranstalt, gegründet. Löhe hat sich über seine Erfarungen bei Gründung all dieser Anstalten so geäußert: „Ich kann mich nicht| rühmen, ein Nachfolger A. H. Franckes oder eines anderen etwa noch größeren Geldsammlers für das Reich Gottes zu sein. Ich werde wol aussagen dürfen und müssen, dass meine Wasser im Vergleich mit denen anderer der stillen Quelle Siloah gleichen, aber in Warheit, es ist mir doch so viel durch Gott gelungen, dass ich es nicht zälen noch wägen kann, und ich bin doch auch eines von den vielen Beispielen, an denen Gott bewiesen hat, was Jesu Mutter sagte: Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lasset die Reichen leer. Ich bin ja kein Krösus und überhaupt kein Geldmensch, aber die Unterstützung des großen Gottes habe ich dennoch oft genug zu schauen bekommen. Ich möchte jedermann auf dem Wege der Barmherzigkeit vor Leichtsinn und Übermut warnen, aber auch keinen züchtigen, der in seiner Liebesarbeit seine Hoffnung und sein Vertrauen auf den reichen Gott zu setzen wagt. Es lebt noch immer der alte Gott, der die Hungrigen mit seinen Gütern füllt und die Reichen leer lässt“. Unter den 54 Diakonissenanstalten, die gegenwärtig bestehen, war die von Löhe gegründete die 18., auf die Zal der Schwestern hin angesehen, nimmt sie die dritte oder vierte Stelle ein.

 Abgesehen von dem reichen Segen, der von diesen Schöpfungen ausging und noch ausgeht, waren sie insofern für Löhe von der größten Bedeutung, als durch dieselben seine kirchlichen Ideale eine annähernde Verwirklichung fanden und sein schaffender Geist in ihnen überhaupt zur Ruhe kam. Die Fülle seiner Gaben ließ Löhe inmitten dieser Anstalten ungehemmt ausströmen; namentlich erblühte auch ein gottesdienstliches Leben in einzigartiger Schönheit und Lieblichkeit.

 Sprechen wir noch von der Persönlichkeit Löhes im engeren Sinne, so war das Eigentümliche an ihm der innige Bund eines spezifisch religiösen Lebenstypus mit einer genialen Naturanlage; die Kehrseite davon, dass Löhe ungeachtet seiner außerordentlichen Begabung weniger als andere durch die Schule der Reflexion und der theologischen Vermittlung hindurchgegangen war, gab sich in der ungebrochenen Kraft, der frischen Ursprünglichkeit, der Tiefe und Fülle kund, in der die christliche Warheit schon in dem Jüngling sich spiegelte und aus ihm oft überwältigend entgegentrat;| jene Begabung verlieh zugleich dem, was er sagte, den Stempel des Originalen und des in der Form Vollendeten. Löhe eignete eine ungewönliche Macht der Sprache; eine eigentümliche Hoheit, ein edles Pathos, ein poetischer Hauch war über das, was er schrieb, ausgegossen. Vilmar sagte, seit Göthe habe niemand mehr ein so schönes Deutsch geschrieben, wie Löhe. Wie schön, wie erhebend sind doch die Briefe, die Löhe schon als junger Vikar schrieb! Und welch eine Blumenlese reicher und reifer christlicher und pastoraler Erfarung bieten sie in öfters geradezu klassischer Form! Sünde und Gnade, Rechtfertigung und Heiligung in echt evangelischem Bunde sind die Angelpunkte, um welche von Anfang alles bei ihm sich bewegte; ergreifend ist dabei ein tief elegischer Zug schon in früher Jugend, die Sehnsucht nach dem ewigen Leben, die lebendigste Beziehung auch des Einzelnen und Kleinen auf den höchsten Lebenszweck, das unbedingte Sichstellen in das Licht der Ewigkeit.
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 Groß ist Löhe als Prediger, er zält zu den größten des Jarhunderts. Es tritt aus seinen Predigten ebenso die unmittelbar quellende Kraft einer tief in Gottes Wort eingetauchten originalen Persönlichkeit, als dialektische Abrundung, erhabener Schwung und liturgische Feier entgegen. Mit Recht hat Kahnis in Löhe im Gegensatz zu L. Harms, der vorwiegend Wille war, mehr durch die Gnade verklärte Natur gefunden. Es war bewundernswürdig und ist auch von Kahnis anerkannt, wie aus dieser geistlichen Naturfülle, auch wo die Predigt Sache des Moments war, der Strom der Rede sich oft krystallhell im sichersten Bette ergoss. K. von Raumer fand in Löhes Predigten um des klaren dialektischen Flusses willen eine Ähnlichkeit mit Schleiermachers Predigtweise. Urwüchsige Kraft, blühende Phantasie, prophetischen Lebensernst atmen die ersten homiletischen Erzeugnisse Löhes: Sieben Predigten (1836) und Predigten über das Vaterunser (1837). Das Vollendetste bietet Löhe in seiner Evangelienpostille (1848, bereits in vierter Auflage erschienen): tiefe Versenkung in den Text, abgeklärte, ebenmäßige Form, plastische Schönheit, teilweise, namentlich in den Festpredigten ein liturgisch-hymnischer Ton zeichnen sie aus. Tiefgehende Schriftauslegung, großen Reichtum der| Anwendung bietet die Epistelpostille (1858). Vortrefflich sind auch die „sieben Vorträge über die Worte Jesu am Kreuze“ (1859, 1868 in 2. Auflage).

 Groß ist Löhe ferner als Liturg; man hat mit Recht von einer liturgischen Majestät Löhes gesprochen; Löhe war ein Mann des Gebets und Opfers: „er war eine priesterliche Seele, er konnte auf der Kanzel und auf dem Altar nicht walten, one dass sein Odem ausströmte wie eine Flamme; das war keine Manier, keine angenommene Art bei ihm, es war die Flamme der Seele, die sich Gott opferte im Amte“, sagt Zezschwitz schön und wahr. Löhe hatte auf liturgischem Gebiete auch die ausgebreitetste Gelehrsamkeit; seine Agende für christliche Gemeinden (1848 in 1. Auflage, 1853 und 1859 in zweiter sehr erweiterter Auflage erschienen) ruht wol auf gründlicheren Studien, als irgend eine andere des Jarhunderts; sie wurde in das Hottentotische für Gemeinden am Kap übersetzt. Niemand war für die Liturgie so begeistert, als er: „ich weiß nichts Höheres, nichts Schöneres zu nennen, als die Gottesdienste meines Christus; da werden alle Künste des Menschen einig zur Anbetung, da verklärt sich ihr Angesicht, da wird neu ihre Gestalt und Stimme, da geben sie Gott die Ehre – – – die heilige Liturgie in der Kirche übertrifft alle Poesie der Welt (Epistelpostille I, S. 134)“. Löhe ist für weite Kreise ein Wecker und Widerhersteller liturgischen Sinnes und liturgischer Ordnung geworden. Den unmittelbar praktischen Wert der Liturgie überschätzte er nicht; einer gesetzlichen Weise ihrer Einfürung und ihres Gebrauchs war er abhold.

 Am größten war Löhe one Zweifel als Seelsorger; gerade nach dieser Seite muss man ihm eine charismatische Begabung nachrühmen. Löhe hatte von Haus aus eine seltene Macht über die Gemüter; noch in jüngeren Jaren äußerte er wol, dass er vor dieser Macht bisweilen selbst sich fürchte. In seelsorgerlichem Umgang war diese Gewalt seiner Persönlichkeit übrigens mit väterlicher Milde, mit der Gabe, auf die Individualität und das besonderste Bedürfnis einzugehen, gepart. Wie viele sind in der langen Zeit der Wirksamkeit Löhes in Neuendettelsau unter den verschiedensten Anliegen dort ein- und ausgegangen und haben| Beruhigung und Friede sich eingeholt! Mit einer Art souveräner Machtvollkommenheit trat Löhe bisweilen schwerstem Jammer der Erde und auch den dunkelsten Nachtseiten des menschlichen Lebens entgegen. In der Privatbeichte, die er mit großer Weisheit handhabte, hat er für viele eine reiche Quelle seelsorgerlicher Beratung und Tröstung geöffnet. Unermüdlich war Löhe an Kranken- und Sterbebetten; er selbst sagt, dass er hier die seligsten Stunden verlebt habe. Die Macht des Gebets und der Fürbitte durften er und andere dabei reichlichst erfaren.

 Löhe war auch einer der bedeutendsten kirchlichen Schriftsteller des Jarhunderts. Ich zäle bei 60 größere und kleinere Schriften desselben. Sie sind aus den Erfarungen des geistlichen Amtes hervorgewachsen, dienen praktischen Bedürfnissen und sind dabei fast immer von einem größeren kirchlich idealen Hintergrund getragen. Außer den bereits genannten füren wir das Haus-, Schul- und Kirchenbuch für Christen lutherischen Bekenntnisses in drei Teilen an, in welches Löhe unter anderem seine sehr gesunden katechetischen Grundsätze niedergelegt hat und von dem er selbst sagt: „Das Hausbuch ist die Frucht meines Lebens und Webens im Amte; ich habe nichts besseres nachzulassen“. Im Jare 1847 erschienen seine Erinnerungen aus der Reformationsgeschichte von Franken, auf Grund deren Leopold von Ranke sagte, Löhe zeige Beruf zum Historiker. Zwei besonders schöne, anregende und sinnige Schriften sind die von der Barmherzigkeit und von der weiblichen Einfalt. Außerdem rüren von ihm eine Menge kleinerer liturgischer Schriften, Gebetbücher, unter diesen die weit verbreiteten „Samenkörner“, welche bis jetzt 29 Auflagen erlebten, und Traktate her. Der erste unter diesen war: Dina oder wider die Jugendlust. Man darf nur diesen einen Traktat mit seinem erschütternden Ernst, seinem Eingreifen in die tatsächlichen Verhältnisse und seinem gleichwol von allem Unedlen fernen Ton lesen, um sich davon zu überzeugen, dass Löhe auch auf diesem Gebiete Ungewönliches leistete.

 Groß war endlich Löhes schöpferisches und organisatorisches Talent; diese Gaben liegen ja klar vor aller Augen. Große und immer neue Konzeptionen begegneten sich in ihm mit einem bewundernswürdigen| Überblick über das Ganze und der Fürsorge für das Einzelne und auch Kleine. Von allen Seiten wusste er zu lernen und aufzunehmen. Als er im Hotel de Dieu in Lyon weilte, erhielt er Eindrücke, die zu schönen Nachschöpfungen in Neuendettelsau fürten. Religion und Kunst hatten in ihm einen seltenen harmonischen Bund geschlossen. Sein außerordentlicher Schönheitssinn lieh dem, was er schuf, stets die edle Form, welche auch ferner Stehende anzog und mit Bewunderung erfüllte.
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 Mit vollem Grund rechnet Kahnis Löhe zu den großen Männern im Reiche Gottes (Der innere Gang des deutschen Protestantismus, II, S. 231). Löhe war eine kirchliche Persönlichkeit im großen Stil; das muss man anerkennen, wenn man in vielen Dingen auch seine Anschauung und Richtung nicht teilt. Ein flecken- und irrtumloser Heiliger war Löhe nicht und wollte er selbst nicht sein. Stets war es uns aber merkwürdig, dass zu einer Zeit, da Löhe in der Polemik gegen das Bestehende allzusehr aufging, der Tholucksche Anzeiger über ihn sich äußerte: „Unter dem harten Panzer lutherischer Orthodoxie schlägt dem Manne ein volles christliches und apostolisches Herz“. Die geistige Bedeutung Löhes kündete sich auch in seiner äußeren Erscheinung an. Die mächtige Bildung seines Hauptes, die auf Reisen wol auch Fremden auffallen konnte, die hohe Stirn, der Mund mit dem Ausdrucke großer Bestimmtheit, die gewaltige Stimme in den Tagen seiner Kraft – alles war ungewönlich. Sein großes Auge war von lichter Bläue und konnte sehr verschieden blicken, sehr mild, aber auch durchbohrend. Auf den edlen Zügen seines Antlitzes lag ein tiefer Friede, der oft zum Heimweh nach einer anderen Welt sich verklärte. In großer Selbstverleugnung und Aufopferung diente Löhe dem Herrn und seiner Kirche. Sein Vermögen hat er im Dienst des Reiches Gottes geopfert. Die Summen, die er mit seinen literarischen Arbeiten verdiente, gingen denselben Weg. Die treue opfervolle, bis ins Einzelnste sich erstreckende Hingebung an die eigene Gemeinde stand gerade im umgekehrten Verhältnisse zu der Abneigung gegen die Landeskirche, die ihn manchmal übermannen wollte. Der Freuden der Erde blühten ihm wenige. Löhe war| überaus glücklich verheiratet mit Helene Andreä-Hebenstreit aus Frankfurt a. M. Diese geistlich tief geweihte Ehe wurde durch den frühen Tod der Gattin gelöst. Löhe wurde hiedurch eine unsäglich tiefe Wunde geschlagen; er hat seiner Gattin in dem „Lebenslauf einer heil. Magd Gottes aus dem Pfarrstande“ ein herrliches Denkmal gesetzt. Im Jare 1857 schrieb Löhe: „Seit 14 Jaren ist mir mein persönlicher Gang ein trüber, mein irdisches Leben eine abgebrochene Säule; aber meine Hälfte ist in der Herrlichkeit des Herrn und mir ist auf meinen Kummer die Sonne des Lebens höher gestiegen und Licht und Klarheit ist mir in manches Gebiet gefallen, das mir vormals nächtlich war“. Seine an sich starke Gesundheit wurde verhältnismäßig frühe gebrochen; bei dem Mangel aller Erholung, an den Löhe lange Zeit sich gewönt hatte, den vielen Nachtwachen, darf dies nicht wundernehmen. Schon in Kirchenlamitz schrieb er: „Ich bin von früh Morgen bis zwölf oder ein Uhr in der Nacht beschäftigt, darum kann ich dazwischen auch etwas studiren“. Später stiegen seine Amtslasten bei der Vereinigung des Pfarramtes mit dem Rektorat über sämtliche Anstalten von Jar zu Jar, oft ins Immense. Schon seit Beginn der sechziger Jare überfielen ihn körperliche Schwachheiten; weiterhin wurde er mehrmals von Schlaganfällen heimgesucht; die letzten Jare waren sehr schwer. Am 2. Januar 1872 entschlief er im Frieden. Am 5. Januar wurde er unter einem endlosen Zuge zur Erde bestattet; Männer der Wissenschaft, geistliche und weltliche Würdenträger erzeigten ihm die letzte Ehre. Jedes freie Wort am Grabe hatte Löhe sich ausdrücklich verbeten. Es fand nur eine liturgische Begräbnisfeier statt. In vielen kirchlichen, auch in einigen politischen Blättern wurde aber sein Name sofort gebürend gefeiert. In einer höhern und höchsten Interessen vielfach abgewandten Zeit war Löhe ein gottbegnadeter Zeuge des Herrn, ein mächtiger Prediger des Glaubens und der Liebe in Wort und Tat. Die Kirche, deren leuchtende Zierde er gewesen, wird seiner nicht vergessen.





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Löhe, Thomasius, Harleß
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