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Einsegnungsunterricht 1912
10. Stunde »
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9. Stunde.
Mittwoch, 30. Oktober 1912 nachmittags.
Lied 283, 1–5.
Psalm 18. 1–7, 47–51.
Kollekte Hausb. II. 226, 57. Psalm 73, 13 ff.
Lied 293. 1. 5
 Heute werden wir sagen dürfen, das Lied, das wir sangen, vor allem das Anfangswort des Psalms, den wir beteten, und die Kollekte, welche wir wählten, hat schon gezeigt, wovon die Rede sein wird. Und wenn Sie wissen, daß von der Liebe geredet werden soll, dann werden Sie auch wissen, was als letztes im Rückstand bleibt: die Hoffnung; denn 1. Kor. 13, ebenso 1 Thessalonicher 1. V. 3 hat der Apostel Glaube, Hoffnung, Liebe diese drei neben einander gestellt. Glaube und Liebe sind einander nah verwandt; wiederum zeigt das im Deutschen die Ableitung des Wortes in merkwürdiger Weise. Das lateinische Wort für Liebe, das sich den Übersetzern im Lateinischen dar bot, wäre amor gewesen. Da aber dieses Wort mit der Zeit manch häßliche Bedeutung unheiligen Tuns erlangt hatte, wie denn der Gott der Liebe diesen Namen unter den Römern führte, so wählte man dafür das lateinische caritas was eigentlich „ein teurer Kaufpreis“ bedeutet, etwas, was einem teuer oder wert ist. Ähnlich ist es im Deutschen gegangen. Das alte deutsche Wort für “lieben“ war „minnen,“ was heißt: innerlich mit einem andern sich verbinden oder zusammenschließen. Auch dieses Wort hatte durch Reden und Tun der sogen. Minnesänger gegen den Schluß des Mittelalters unschöne Bedeutung angenommen und so wählte man schon vor der Reformation für den deutschen Ausdruck des biblischen Begriffes das Wort „Liebe“, was heißt einen andern in seinen Schutz nehmen, wiederum mit „laube“ = Schutz verwandt, was in einem Liede nachklingt: „Liebe, die mich wird umstecken mit dem Laub der| Herrlichkeit.“ So ist „glauben und „lieben“ merkwürdigerweise der sprachlichen Ableitung nach nah verwandt.

 Glaube und Liebe gehören aufs engste zusammen. St. Johannes redet in seinem 1. Brief oft von der Liebe so, daß man den Glauben mit hinein genommen findet. Und doch sind Glaube und Liebe verschieden. Der Glaube nimmt und ergreift, die Liebe gibt. Der Glaube faßt, die Liebe entäußert sich. Aber so verschieden Glaube und Liebe sind, so eng gehören sie auch zusammen. Der lebendige Glaube kann nicht sein ohne daß er sich in der Liebe erschlösse und die Liebe, wiederum vor allem die Liebe zu Gott, kann ohne Glauben gar nicht vorhanden sein. Erst müssen wir im Glauben des gewiß worden sein, was Gott uns gibt, ehe wir zum Dank dafür uns Ihm wieder in Liebe schenken können.

 Wir reden heute: Von der Liebe und ihren Erweisungen: Barmherzigkeit, Geduld und Freundlichkeit.

 Wenn wir von der Liebe reden, so können wir nicht anders unsern Ausgang nehmen als von Gott, der selbst die Liebe ist. Gottes Wesen ist uns unerforschlich. Wir sehen hier immer nur durch einen Spiegel wie im Rätsel, wie der Apostel 1. Korinther 13 sagt. Wir vermögen uns nichts vorzustellen oder völlig klar zu machen, was losgelöst ist von der Welt der Erscheinung, in der wir uns bewegen. Und wie könnten wir vollends das Höchste, den Urquell alles Seins und aller Vollkommenheit, wie könnten wir das göttliche Wesen ermessen und begreifen! Nur soviel können wir wie von ferne davon sagen. Es ist in Gott der Inbegriff und die Zusammenfassung aller Vollkommenheit, aller Seligkeit und Herrlichkeit. Wir kennen Gott nur aus Seinem Tun und Verhalten gegenüber der Welt und den Menschen. Und da tritt uns ein doppeltes entgegen. Daß Gott einerseits abgeschlossen ist in Sich Selbst, als der keines Dinges und keines Menschen bedarf und daß dieser Gott Sich doch aufschloß in Liebe nach außen. Die Abgeschlossenheit und Erschlossenheit Gottes kann man wohl auch als Seine Heiligkeit und Seine Liebe bezeichnen. Als der Heilige unterscheidet Er sich von allem Unvollkommenen; als der, der die Liebe ist, schließt Er Sich uns auf. Man kann sich hier auf das Beispiel und den Vergleich des Lichtes beziehen: wie ein Licht erleuchtet und erwärmt aber auch verzehrt, so ist Gott die Heiligkeit und Liebe zugleich. „Gott ist die Liebe,“ das offenbart uns die Schrift 1. Joh. 4. Hierdurch wird uns auch einiger maßen Licht gegeben für die Erkenntnis der göttlichen Dreieinigkeit. Weil Gott der Ewige ist und der Welt, der Kreatur nicht bedarf, in Sich Selbst voll kommen, in sich selbst selig, so kann in Gott keine starre Einerleiheit sein. Nicht Monismus, was gegenwärtig so vielfach das Losungswort ist, und als Forderung des Denkens gilt, sondern Harmonie ist das Höchste und im Drei einigen Gott ist die höchste Harmonie alles Seins, alles Lebens, aller Seligkeit| Gott bedarf nicht der Engel, nicht der Welt, nicht der Menschen, aber in Liebe hat er Sich dennoch den Menschen aufgetan.
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 Und so reden wir weiter von dem, in welchem die Liebe Gottes leibhaftig erschienen ist. Weil das Alte Testament die Zeit der Vorbereitung ist, so ist auch die Offenbarung des Alten Testaments nur eine vorbereitende. Noch nicht als der Dreieinige, nur als der Einige, noch nicht als Der, der im eigentlichen Sinn die Liebe ist, sondern als der Heilige hat Gott Sich im Alten Testament offenbart. Daß die Heiligkeit Gottes im Alten Testament vor herrschte, vorherrschen mußte, kam daher, daß das Alte Testament, als die Zeit des Gesetzes, dem Evangelium dadurch den Weg bahnen sollte; denn aus dem Gesetz sollte kommen Erkenntnis der Sünde. Um die Erkenntnis der Sünde zu wirken, um Verlangen nach Trost und Gnade zu wecken, hat in der Zeit der Vorbereitung mehr die Heiligkeit Gottes sich betätigt und mehr die Furcht vor Gott hat die Gläubigen erfüllt, wie wir an Jesaia sehen, der als ihm die Offenbarung von Gottes Herrlichkeit wurde, rief: „Wehe mir, ich muß sterben; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth gesehen mit meinen Augen.“ – Aber in Christo ist nun die Liebe erschienen. „Daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, daß Gott Seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt.“ Und der, welcher gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist,“ was sollte Ihn anderes dazu getrieben haben als Seine Liebe. So sagt es der Eingang des letzten Buches der heiligen Schrift. Er nennt Jesum „den der uns geliebet hat und gewaschen von Sünden mit seinem Blut.“ Jesus ist selbst Gottes lieber Sohn, „der Sohn Seiner Liebe,“ wie es im Kolosserbrief heißt. Er ist Gottes lieber Sohn, auf dem das göttliche Wohlgefallen ruht. Durch Ihn hat sich die Liebe Gottes auch wieder über uns Menschen erstreckt, obwohl wir Gottes Feinde und Sünder waren. Und wie hat sich Jesus Christus erwiesen als die Liebe? Er tat es in Worten: Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.“ „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.“ Und im 4. Evangelium steht das große: „Also hat Gott die Welt geliebt etc.“. Die Liebe hat Er erwiesen in seinen Wundern. Was waren alle Seine Wunder anderes als Erweisung Seiner Liebe, Freundlichkeit und Erbarmung. Nur Hilfe und Heilung haben sie den Menschen gebracht. Kein Wunder der Strafe und des Gerichts hat der“Herr getan. Er hat es vielmehr abgelehnt. Als die Donnerskinder Ihm zumuteten, Er solle Feuer vom Himmel fallen lassen wie Elias, sagt Er: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht kommen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.“ Aber nicht nur Seine Worte und Seine Wunder, Sein ganzes Tun, Sein ganzes Verhalten gegen die Menschen, wie war es voll Freundlichkeit, voll suchender Liebe. Die Geringen hat Er an Sich genommen, mit Zöllnern und Sündern hat Er gegessen, zu den Kindern, den Kleinen hat Er Sich herabgelassen. Er ist immer wieder| dem Volke nachgegangen wie ein treuer Hirte. Mit welcher Liebe, Geduld und Sanftmut hat Er Seine unverständigen Jünger getragen, unterwiesen, geleitet und weitergeführt. Er hat Seine Liebe vollends erwiesen in Seinem Leiden und Sterben, da Er Sein Leben für uns gab. „Wie Er hatte geliebet die Seinen“, so beginnt Johannes den Abschnitt des Evangeliums, der sich der Leidensgeschichte zuwendet, „wie Er hatte geliebet die Seinen, die in der Welt waren, so liebte Er sie bis ans Ende.“ Und wie liebt Er uns jetzt noch, gedenkt unser vor dem Throne der Herrlichkeit, läßt Sich zu uns herab, geht uns nach durch Seinen Geist, ist in Wort und Sakrament bei Seiner Gemeinde auf Erden gegenwärtig und vertritt die Seinen, wenn sie durch Ihn zum Vater kommen, aufs beste vor dem Thron der Gnade. So ist die Liebe uns offenbar worden in Jesu Christo, daß wir beim Überblick darüber sagen müssen:

„Liebe, die mich hat gebunden
an ihr Joch mit Leib und Sinn,
Liebe, die mich überwunden
und mein Herz hat ganz dahin
Liebe, Dir ergeb’ ich mich,
Dein zu bleiben ewiglich“.

 So reden wir weiter von der gläubigen Erfassung der Liebe Gottes in Christo und von unserer dankbaren Gegenliebe.

 Wozu anders ist die Liebe Gottes in Christo uns leibhaftig erschienen, als damit Seine Liebe auch in uns erwachsen möge. Es kann aber Liebe zu Gott, in unserem, in der Menschen Herzen nur erstehen, wenn wir zuvor im Glauben die Liebe Gottes zu uns erkannt und erfahren haben. „Es ist ein Grundgesetz im Reiche Gottes“, sagt der Ethiker Harleß, „daß wir nichts haben, was wir nicht von Gott empfangen hätten“. So meint es auch der Herr. „Wie Mich Mein Vater liebet, so liebe ich euch. Bleibet in Meiner Liebe.“ Da führt Er Selbst die Liebe von Gott her über Ihn und Sein Werk herab zu den Herzen der Menschen, in denen sie Wurzel fassen soll. So bekennt es auch der Apostel der Liebe: „Wir haben geglaubt und erkannt die Liebe, die Gott zu uns hat“. Im Glauben erkennen, erfassen und erfahren wir die Liebe Gottes gegen uns. Und wenn wir dieser Liebe Gottes, mit der Er uns ewig geliebet hat, gewiß geworden sind, dann erwacht von selbst dankbare Gegenliebe in unseren Herzen. Darum sagt Johannes: „Darinnen stehet die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebet haben, sondern daß Er uns geliebet hat.“ So hat es der Herr Jesus selbst gemeint: „Ihr habt nicht Mich erwählet, sondern Ich habe euch erwählet und gesetzt, daß ihr hingehet und Frucht bringet und eure Frucht bleibe“. So erwächst die Liebe in uns durch Erfahrung der Liebe Gottes, mit der Er uns geliebet hat. Wir dürfen nun weiter reden:

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von der Art und der Kraft der Liebe.

 Die Liebe ist nichts anderes als volle Hingabe, ein Leben für andere. Wie Gott Sich uns aufschloß, wie Christus Sich für uns gab, so geben wir uns Ihm in Liebe zum Eigentum. Die Liebe im vollen Sinn kann nun freilich sich nur auf den beziehen, der selbst die Liebe ist. Liebe im wahrsten und vollsten Sinn, ist Liebe zu Gott. Aber aus der Liebe zu Gott muß hervorwachsen die Liebe zu den Brüdern. Wenn wir Den lieben, der uns neu geboren hat, dann lieben wir auch die, die von Ihm geboren sind. Wenn wir der Erlösung durch Christus uns dankbar freuen, dann lieben wir auch von Herzen unsere Miterlösten. Auch die Liebe zu den Brüdern ist nichts anderes als Hingabe an sie. „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde“. „Daran haben wir erkannt die Liebe, daß Er Sein Leben für uns gelassen hat und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.“ Dieser Liebe Lob wird gesungen im alten Testament, freilich in recht alttestamentlicher äußerlich sinnbildlicher Weise, doch in tiefem Wort, im Lied der Lieder, im „Hohenlied“. Dort heißt es: „Liebe ist stark wie der Tod“, der nämlich alles überwindet. Also kann die Liebe auch alles überwinden, aber sie selbst ist unüberwindlich; denn so heißt es dort auch: „daß auch viele Ströme nicht vermögen die Liebe zu löschen“. Im Neuen Testament haben wir das hoch erhabene Lied der Liebe 1. Korinther 13, wo uns die Liebe gezeigt wird als solche, die alles übertrifft, alles überwindet, alles überdauert. Der Apostel zeigt dort in hohen Worten, daß alles nichts ist ohne die Liebe, daß man alles vermag durch die Liebe, und daß alles dahinfällt außer der Liebe. Da geht in des Apostels Worten vor unsern Augen glänzend auf das Dreigestirn: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese Drei, aber die Liebe ist die größeste unter ihnen. Warum ist die Liebe die größeste unter ihnen? Darum schon, weil sie völlig bleibt wie sie ist. Der Glaube bleibt auch, aber er wandelt sich in gläubiges Schauen, die Hoffnung bleibt auch, aber sie vollendet sich in freudiges Haben und Besitzen. Die Liebe aber bleibt, was sie ist und wie sie ist. Die Liebe ist die größeste; denn sie bezeichnet die innerste Gemeinschaft mit Gott und mit Christo. Ja durch Liebe nehmen wir gewissermaßen am göttlichen Leben selber teil, weil Gott eben selbst die Liebe ist.

 Wir reden nun aber von den Erweisungen der Liebe.

 Gehen wir wiederum von der Liebe Gottes aus, so kann man in der Liebe Gottes unterscheiden: Seine Liebe, die Er allen Kreaturen schlechthin erweist, das ist Seine Güte, dann Seine Liebe, die er an den Menschen erweist, das ist Seine Freundlichkeit oder Menschenliebe, wie es in der Titusstelle eigentlich heißt: „Es ist erschienen die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilandes.“ Endlich die Liebe, die Er dem Sünder gegenüber erweist, das ist Seine Geduld und Langmut, daß Er nicht gleich straft, sondern Zeit| läßt zur Buße und Bekehrung, und Seine Gnade und Erbarmung, daß Er Sich des Sünders annimmt und Sich zu ihm herab läßt, um ihn zu Sich emporzuziehen. Die meisten dieser Erweisungen, die in der heiligen Schrift der Liebe Gottes zugeschrieben werden, können auch von der Menschen Liebe und gegenüber den Menschen gesagt werden.

 Man kann hier als nächsten Gesichtspunkt aufstellen den Unterschied der Liebe, die sich erzeigt gegenüber allen Menschen, dann der Liebe, die sich denen gegenüber erweisen muß, mit welchen wir im näheren Umgang stehen und endlich der Liebe, die wir zu betätigen haben gegenüber den Armen und Elenden. Diese Erweisungen der Liebe zusammen bilden die allgemeine Liebe im Unterschied von der sonderlichen, der brüderlichen Liebe, nämlich dem besonderen Liebesverhältnis der Christen untereinander, von welchem der Apostel sagt: „Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich“, es heißt eigentlich zärtlich, so wie Verwandte, unmittelbare Angehörige untereinander verbunden sind. In allen diesen Erweisungen erzeigt sich nun die hingebende Liebe als eine Quelle der Kraft für den Christenwandel und besonders auch für den Diakonissenberuf.

 Ich rede zu Dienerinnen der Barmherzigkeit und stelle darum unter den sonderlichen Erweisungen der Liebe, die als Quelle der Kraft in unserm Leben sich erweisen sollen, die Barmherzigkeit voran. Löhe hat im Jahre 1860 „das Büchlein von der Barmherzigkeit“ ausgehen lassen: Sechs Kapitel für jedermann, ein siebentes für die Dienerinnen der Barmherzigkeit; entstanden aus Diktaten, die er in der Diakonissenschule gegeben hatte. Er spricht da von der Barmherzigkeit. Zuerst davon, was sie ist, wie Gott sie im Alten und darnach im Neuen Testament geübt hat, wie Er sie im Alten und Neuen Testament zu üben befohlen hat, wie die Kirche sie zu den verschiedenen Zeiten übte und wie sie vom Diakonissenberuf geübt werden soll. Es ist dies Büchlein immer wieder aufs neue denen zu empfehlen zum Lesen und Betrachten, die Dienerinnen der Barmherzigkeit sind. Was Löhe hier schon in kurzem aufzeigt, wie die Kirche zu verschiedenen Zeiten Barmherzigkeit übte, das ist seither in dem großen Werk Uhlhorns: „die Liebestätigkeit in der christlichen Kirche“ im einzelnen in eingehender Weise dargestellt worden. Es ist bekannt, wie die Barmherzigkeitsübung zuerst in der Kirche ein gemeindliches Amt der Diakonen und Diakonissen gewesen ist, daß dann weiterhin das Klosterwesen diese Tätigkeiten an sich zog, daß gegen den Ausgang des Mittelalters Bruderschaften und auch Gemeinschaften von Frauen sich gebildet haben, die im gemeinsamen Leben Gott dienen und Liebe und Erbarmung üben wollten. Man kann sagen, daß alle die entschiedenen Entgegenwirkungen gegen das tote Christentum des Mittelalters von ähnlichen Gedanken ausgingen. Hat doch Waldez in Lyon, von dem alle reformatorischen Bewegungen ihren Ausgang genommen haben, mit seinem Verein (Vereinigung oder Genossenschaft des Waldez) nichts anderes| gewollt als einen Verein solcher zu gründen, die auf eigenen Besitz verzichtend, dem Volk, den Armen das Evangelium bringen und sich ihrer annehmen wollten. In der Reformationszeit wurde der ernstliche Versuch gemacht die Übung der Barmherzigkeit, die Armenpflege, wieder zur Sache der kirchlichen Gemeinde zu machen, aber der Gang der Kirchengeschichte brachte es mit sich, daß diese Anfänge mehr in bürgerliche und zuletzt staatliche Hände übergegangen sind. Der Kirche unserer Zeit hat Gott den Weg verstattet, daß durch freiwillige Genossenschaften, sonderlich der Diakonissen, die Übung der Barmherzigkeit geschehen darf. Es ist ja nun wohl zuzugeben, daß nicht alle Tätigkeiten der weiblichen Diakonie geradezu Übungen der Barmherzigkeit genannt werden können. In der mittelalterlichen Kirche pflegte man sieben Werke leiblicher Barmherzigkeit aufzuzählen im Anschluß an Matth. 25. nämlich: Nackte kleiden, Durstige tränken, Hungrige speisen, Kranke besuchen, Gefangener sich annehmen, Gäste beherbergen und um die Siebenzahl voll zu machen, nahm man aus Tob. 12, 12 das Begraben der Toten hinzu. Daneben zählte man sieben Werke geistlicher Übung: beraten, ermahnen, belehren, trösten, vergeben, tragen und beten. Wir werden diese Übungen und Werke nicht voneinander trennen wollen, sondern vielmehr gerne das daraus entnehmen, daß auch das Mittelalter es mit der Barmherzigkeitsübung ernst nahm, zwar mehrfach willkürliche Wege ging, dabei doch aber auch verstand, daß jede leibliche Barmherzigkeitsübung den Seelen zugleich dienen sollte. Man kann nun, wenn man von sieben Werken der Barmherzigkeit spricht, wohl auch sieben Betätigungen der weiblichen Diakonie aufzählen. Man kann als erste Betätigung nennen: 1. Erziehen und Unterrichten der Kinder und der heranwachsenden Jugend. 2. Rettung der Verlorenen. 3. Pflege leiblich und geistlich Gebrechlicher. 4. Krankenpflege. 5. Armenpflege in der Gemeinde. 6. Landesnöte, Pflege der Verwundeten im Krieg. 7. Dienst im Heiligtum durch die weibliche Hand. Dann hätte man auch sieben verschiedene Betätigungen, aus denen man leicht mehr noch machen könnte. Jedenfalls möchte ich sagen: Nicht alle diese Betätigungen sind unmittelbar Übungen der eigentlichen Barmherzigkeit, d. h. desjenigen Sinnes des Christen, der sich des Elends annimmt, dem Elend und der Not aus Liebe zum Herrn zu steuern sucht. Aber das kann gesagt werden, daß alles, was in Betätigung weiblicher Gabe und Kraft zum Dienst der Gemeinde geschieht, im Sinn und Geist der Barmherzigkeit geübt werden kann, geübt werden muß, damit es wahren Wert vor Gott und auch einen wahren Wert und Erfolg bei den Menschen hat. Der Beweggrund alles Tuns muß sein dankbare Liebe gegen Gott, der sich unserer in Christo erbarmt und die herzliche Liebe zu den Menschen, die unseres Erbarmens allezeit in irgend einer Weise bedürfen. Ziel und Zweck alles Tuns der Diakonisse muß sein, der Seelen sich anzunehmen, damit auch ihnen Erbarmung widerfahre. Der Weg dazu muß sein, Nachfolge des Königs der Barmherzigkeit. Wir wiesen daraus hin, in welchem Sinn liebenden| Erbarmens der Herr Jesus durch die Welt gegangen ist, wie Er der Kleinen so freundlich Sich annahm, die Schwachen stützte, die Verlorenen suchte. Was können wir alles aus diesem Vorgang des großen Königs der Barmherzigkeit lernen für jegliche Betätigung, zu der die Einzelnen berufen sind. Und die Kraft der Barmherzigkeit muß sein: die täglich neue Erfahrung der göttlichen Barmherzigkeit, die uns widerfahren ist, ja von der wir täglich leben müssen, so gewiß wir von nichts anderem leben können, als von der Sünden vergebenden Gnade Gottes in Christo, diesem Ausfluß des göttlichen Erbarmens.
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 Wir reden weiter von der Geduld. Barmherzigkeit ist die Liebe, die sich gegenüber Hilfsbedürftigen irgendwie erweist, Geduld ist dagegen die Liebe, die wir an denen zu üben haben, mit denen wir zusammenleben, zusammenwirken, sei es im Kreis der Familie, sei es in der Gemeinschaft der Schwestern, wie Sie diesen Weg durch Gottes Gnade erwählt haben und ihn geführt worden sind. Man kann wohl sagen und muß es sagen in Anwendung der Grundsätze christlicher Sittlichkeit, daß es auch eine Selbstbehauptung des Christen gibt, die darin besteht, daß ein Christ das, was ihm an Gabe von Gott geworden ist, festhalten und vermöge dieser Gabe und seiner damit gegebenen Stellung auch behaupten muß. Diese Pflicht der Selbstbehauptung ist im Ganzen mehr die Aufgabe des Mannes, den seine Stellung ins öffentliche Leben führt. Ein Mann ist genötigt einzutreten für sein und seines Hauses und endlich auch des Landes gutes Recht und ist berechtigt, bei aller Ehrerbietung unter Umständen solchen entgegenzutreten, die sonst auch Recht und Macht in der Welt haben. Aber es ist das Glück, der besondere Vorzug des Weibes, daß ihre Aufgabe sie in die Häuslichkeit, in die Stille und Verborgenheit führt, sodaß eben durch den Schutz und die Achtung, die dem weiblichen Geschlecht gezollt werden, dieses Recht der Selbstbehauptung bei Frauen und bei Schwestern sehr zurücktreten kann, daß vielmehr Übung der Geduld immer ihre größte und wichtigste Aufgabe sein muß. Sie haben zu üben die Geduld, daß Sie die, mit denen Sie zusammenleben und zu arbeiten haben, in ihrer Besonderheit zu tragen wissen. Die Wurzel dieses Verhaltens ist der Sinn, nicht sich, sondern andern zu leben, nicht zu suchen was unser, sondern was des andern ist. Die Kraft der Geduld ist die Demut, daß man sich nicht höher achte, denn man in Wahrheit gestellt ist, daß man gerne sich unter andere fügt. Es muß Unter- und Überordnung geben; aber die, die übergeordnet sind, sollen das nie als eine Macht ansehen, die sie haben, als eine Gewalt, die sie üben, sondern nur als einen Dienst; denn etwas anderes kennt die Kirche Gottes nicht. „Die Gewaltigen in der Welt heißt man gnädige Herren“ und gibt ihnen diesen und jenen Titel, „unter euch nicht also,“ sagt der Herr. „Sondern wer unter euch der Größte sein will, der sei euer Diener, und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer aller Knecht.“ So ist es unter Christen. Darum ist die Kraft des geduldigen Tragens Anderer stets die Demut und der Weg ist kein andrer| als der: tragen, dulden und überwinden. Tragen, was andere zu tragen geben, in der Überzeugung, daß man selbst andern zu tragen gibt. Unter Umständen auch einmal etwas erdulden, was wirklich Unrecht und nicht am Platze sein mag. Und das Schönste ist dann durch Liebe, Sanftmut und Geduld zu überwinden. So ist die Krone dieser Liebeskraft, die in der Geduld im Zusammenleben mit andern sich zeigen soll: die Friedfertigkeit, nämlich in dem Sinn, wie der Herr es in Seinen Seligpreisungen sagt: ,Selig sind die Friedfertigen“ (Matth. 5). Es ist ein schöner Ruhm friedfertig zu sein. „Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Aber der Herr meint noch etwas viel Höheres; denn es heißt: „Selig sind die Friedebringenden.“ Seine Jünger sollen nicht nur Frieden halten, damit das rechte Verhältnis und die gute Ordnung einigermaßen aufrecht erhalten werde, o nein, nicht nur in diesem Sinn sollen sie Frieden halten, sondern ihre ganze Art, ihre ganze Erscheinung, ihr ganzes Wesen soll etwas Beruhigendes haben. Und das gilt von keinem Beruf wohl in dem Maß, wie vom Beruf der Schwestern. Ihre Gott geheiligte Stille und Ruhe, ihre friedliche Art soll beruhigend wirken, vor allem auf die Kranken, aber auch beruhigend und nicht aufregend auf die Kinder und sonstige Schwache, die man zu leiten hat. Die in diesem Sinn Friede bringend sind, erweisen sich als rechte Kinder Gottes, als rechte Kinder des großen Königs des Friedens, der Friede gemacht hat durch sein Blut am Kreuz.
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 Und nun noch von der Freundlichkeit, als der Liebeskraft, die sich erweisen muß gegen alle Menschen unterschiedslos. Wie man der Geduld entgegenstellen kann die Pflicht der Selbstbehauptung, so kann man der Freundlichkeit gegenüber oder neben sie zur Ergänzung stellen die Zurückhaltung. Gewiß muß ein Maß von Zurückhaltung geübt werden, vor allem von Schwestern und ganz besonders im Verkehr mit dem andern Geschlecht. Gewiß ist die Zurückhaltung nötig, aber sie ist nicht das Höchste, sie ist gleichsam nur der Weg zum höheren, nur ein Ausgleich. Freundlichkeit als eine Liebeskraft ist noch etwas viel höheres. Und die Freundlichkeit soll sich nun erweisen, zunächst in der Höflichkeit. Auch Höflichkeit ist eine christliche Tugend, nicht nur eine Form. Es gibt viele Formen der Höflichkeit und in der Gegenwart sind sie nicht wenig gesteigert worden und doch liegt darin eine gewisse Zucht. Wer das Leben der gebildeten Stände beobachten konnte, wird sagen: Der Ton und die Haltung ist im ganzen feiner und höflicher geworden wie ehedem. Früher hat Naturwüchsigkeit als Höchstes gegolten, jetzt ist man mehr zum Standpunkt der Form gelangt. Es ist damit viel Unwahres, viel äußerlich Angenommenes verbunden und doch ist es eine feine äußerliche Zucht. Christen sollen doch Höflichkeit üben. Wie kann man aus Abrahams Leben, aus seinem Verhalten gegen die Engel, aus seinen Verhandlungen mit den Kindern Heths über den Kauf des Grabes Höflichkeit und Achten auf die Form in hohem| Maße erkennen. Es ist etwas Großes auch um die Form der Höflichkeit und des Anstandes und man soll nicht denken, daß ein Christ berechtigt sei, sich darüber hinwegzusetzen.

 Mehr wie Höflichkeit ist die Gefälligkeit, daß wo man irgend kann, sei es auch im kleinen, einen gefallen erweist. Mehr noch ist Dienstfertigkeit die den Schwestern besonders wohl ansteht und nach der die Außenwelt ihre Art gewöhnlich zu beurteilen pflegt. Es ist manchmal gesagt worden, daß man den Schwestern Neuendettelsaus einen gewissen Mangel an Freundlichkeit nachsagt, zum Teil mit Unrecht, weil es Vielleicht daher kommt, daß unsere Schwestern mehr, als man anderweits für richtig erkennt, Zurückhaltung üben sollen in Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. Aber vielleicht ist der Vorwurf nicht ohne alles Unrecht; denn es gilt wirkliche Freundlichkeit zu üben und man darf nicht aus falscher Ängstlichkeit, Scheu und Zurückhaltung diese Aufgabe der Freundlichkeit den Menschen gegenüber verletzen. Doch viel wichtiger und größer ist das, daß die Liebeswerke, wie sie der Kirche unserer Zeit von Gott geschenkt worden sind, der Welt den Beweis liefern können und sollen, daß das Christentum eine Kraft Gottes ist und eine höhere Liebesmacht in sich schließt. Darum ist es etwas Großes, wenn man auch nur zu bescheidenem Teil an diesem Liebeswerk mitarbeiten darf. Wollen wir darum mit dem Wort des Herrn schließen und es uns einprägen, nicht nur für unser Verhältnis nach außen, sondern besonders auch für das Verhältnis der Schwestern untereinander und insbesondere für die Übung der Liebe und Erbarmung gegen die uns Befohlenen:

 „Daran wird Jedermann erkennen, daß Ihr Meine Jünger seid, so Ihr Liebe untereinander habet.“





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