Die Gartenlaube (1883)/Heft 13
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No. 13. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
An unsere Freunde und Leser!
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. In dem mit nächster Nummer beginnenden zweiten Quartal wird die Redaction vor Allem bestrebt sein, das Blatt im Geiste des unvergeßlichen Gründers desselben fortzuführen; das Versprechen, welches Ernst Keil auf der ersten Seite des ersten Jahrgangs der „Gartenlaube“ seinen Lesern gegeben und welches er trotz aller sich aufthürmenden Widerstände zu halten wußte, bindet auch uns unsern alten und neuen Lesern gegenüber.
Was er vor mehr als dreißig Jahren über sein neues Unternehmen gesagt: „Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für Jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen“ – das ist das alte Programm der „Gartenlaube“, an dem auch wir fest und treu halten werden.
Mit Hülfe des weiten Kreises bewährter Mitarbeiter möge es uns also gelingen, unsere Freunde einzuführen in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten, in die Wunderwelt des gestirnten Himmels und die Geheimnisse lebender Wesen, in das laute Treiben der Werkstätten und in das stille, aber beglückende Schaffen des freien Geistes. Es soll nach wie vor die Pflicht der „Gartenlaube“ sein, die Unterdrückten des deutschen Volkes stets aufzumuntern und zum Kampfe des Lebens zu stählen, die Thränen der Armen zu stillen und überall, wo menschliche Hülfe dem menschlichen Unglück abhelfen kann, den Beistand der Edelgesinnten anzurufen.
Dabei werden wir fortfahren, unsere Leser, welche nach des Tages Last und Mühe zu diesen Blättern greifen, durch Herz und Gemüth bildende Erzählungen zu unterhalten und ihnen die wichtigsten Ereignisse unserer Zeit in Bild und Wort vor Augen zu führen.
Im nächsten Quartal werden wir den überall mit so großem Beifall aufgenommenen Roman
zum Abschluß bringen und außerdem zwei kürzere Novellen:
folgen lassen.
An belehrenden oder unterhaltenden und durchweg illustrirten Artikeln stellen wir für die allernächsten Nummern in Aussicht:
„Erinnerungen an Richard Wagner“. Nach bis jetzt noch nicht veröffentlichten Quellen dargestellt von F. Avenarius. „Ernst Dohm, der Dichter des ‚Kladderadatsch‘“ von Albert Traeger. „Die ältesten deutschen Soldaten aus dem Kriege 1870 und 1871“. „Der größte Arbeiterbauverein der Welt“ von P. Chr. Hansen. „Wo unsere Frauen Heilung suchen“ von einem hervorragenden Fachmanne. „Die Weltsprache der modernen Seefahrer“. „Saat und Zucht der eßbaren Pilze“ von Th. Gampe. „Die Krönungsstadt der Czaren“. „Ein Gang in das Spielwaarenland“ von Friedrich Hofmann. „Berichte über die Hygiene-Ausstellung in Berlin“.
Außerdem können wir unsern Lesern die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß der deutsche Forschungsreisende Dr. Pechuel-Loesche, welcher bekanntlich als Stellvertreter Stanley’s die berühmte internationale Congo-Expedition commandirte und vor Kurzem in seine Heimath zurückgekehrt ist, unserem Blatte die reiche Ausbeute seiner Aquarellskizzen zur Veröffentlichung gütigst überlassen hat. Wir werden schon im nächsten Quartal diese noch nirgends dargestellten Landschaftsbilder aus dem „dunklen Welttheil“ unter der Rubrik:
zugleich mit spannenden Berichten des Verfassers unsern Lesern vorführen. Diesen Schilderungen wird sich die bereits angekündigte Artikelserie: „Zehntausend Meilen durch den großen Westen“ von Udo Brachvogel mit Illustrationen von Rudolf Cronau, anschließen.
Die nächsten „Zwanglosen Blätter“ werden wichtige und gemeinnützige Novitäten der Frühjahrs- und Reisesaison besprechen.
Gebannt und erlöst.
(Fortsetzung.)
Ganz Werdenfels und die gesammte Nachbarschaft befand sich in Aufregung; denn die Thatsache, daß der Freiherr da war, stand nun unumstößlich fest. Durch die Dienerschaft, welche doch immerhin einigen Verkehr mit dem Dorfe aufrecht hielt, erfuhr man freilich, daß er auch hier seinen menschenfeindlichen Gewohnheiten treu blieb. Er verließ seine Gemächer nicht, ließ Niemand zu sich und sah selbst seinen jungen Verwandten täglich kaum auf eine halbe Stunde. Ihn selbst hatte noch Niemand wieder gesehen,
[202] seit er damals mitten im Sturme durch das Dorf gefahren war, aber dieser Zufall gab dem Aberglauben, der sich an seine Person knüpfte, neue Nahrung.
Jenes Unwetter war schwer und verhängnißvoll gewesen, es hatte in der Umgebung des Dorfes viel Schaden angerichtet, und gerade in diesem Sturme war Werdenfels gekommen. Er hätte keine schlimmere Zeit zu seiner Ankunft wählen können; die Leute schworen darauf, er habe ihnen das Unheil gebracht.
Inzwischen war der Sonntag herangekommen, der nach trüben, stürmischen Tagen endlich wieder helleres Wetter brachte. Der Gottesdienst war soeben zu Ende und auf dem Platze vor der Kirche stand noch die ganze Gemeinde in einzelncn Gruppen beisammen. Bei dieser Gelegenheit wurden gewöhnlich die Ereignisse der Woche besprochen, und diesmal lagen zwei Dinge von höchster Wichtigkeit vor: die Ankunft des Freiherrn von Werdenfels und das Heldenstück des Herrn Pfarrers.
Das ganze Dorf wußte, daß Gregor Vilmut in jener Sturmnacht im Mattenhofe gewesen war, um der Tochter des alten Eckfried die Sterbesacramente zu reichen. Die Bauern kannten hinreichend den Weg, wo man in solchem Wetter bei jedem Schritt bergaufwärts sein Leben wagte. Von ihnen hätte es kein Einziger gewagt, aber eben deshalb rechneten sie ihrem Pfarrer seinen Muth um so höher an. Es war nur eine Stimme ehrfurchtsvoller Bewunderung, wenn man von ihm sprach.
Frau von Hertenstein war mit ihrer Schwester und Fräulein Hofer zu dem versprochenen Besuche im Pfarrhause eingetroffen. Sie hatten gleichfalls dem Gottesdienste beigewohnt, und Anna sprach soeben mit dem alten Eckfried, der an der Kirchthür stand. Er trug heute sein Sonntagsgewand, das freilich auch dürftig genug war, und hielt einen Knaben von etwa vier Jahren an der Hand. Es war ein hübsches Kind, mit einem frischen, rosigen Gesicht, blondem Kraushaar und klaren blauen Augen, und es sah ohne jede Schüchternheit zu der jungen Frau empor.
„Also Ihr habt den kleinen Toni mitgebracht,“ sagte diese. „Er gleicht sehr seiner verstorbenen Mutter, er hat ganz die Züge Eurer Tochter.“
„Seinem seligen Ohm gleicht er noch mehr,“ versetzte Eckfried mit einem langen, düsteren Blick in das Gesicht des Kindes. „Er ist meinem armen Toni wie aus den Augen geschnitten. Man sollte meinen, es wär’ sein eigener Sohn, und er heißt ja auch nach ihm.“
„Und Ihr wollt Euren Enkel wirklich bei Euch behalten?“ fragte Anna, indem sie sich mitleidig zu der kleinen Waise niederbeugte.
Der Alte nickte.
„Ja, gnädige Frau, er bleibt bei mir. Der Herr Pfarrer meint freilich, daß ich mir eine Last auflade mit dem Buben, aber ich kann’s nicht ändern.“
Er brach ab und zog eilig den Hut, denn soeben trat der Pfarrer, der inzwischen in der Sacristei die priesterlichen Gewänder abgelegt hatte, aus der Kirchthür, und jetzt sah man es deutlich, welche Stellung Gregor Vilmut in seiner Gemeinde einnahm. Man hätte den Landesherrn nicht ehrfurchtsvoller begrüßen können, Alles drängte heran, um noch einmal den Segen des hochwürdigen Herrn zu empfangen, und Jeder war glücklich, wenn er eines besonderen Grußes oder einer Anrede gewürdigt wurde.
Eckfried war unter diesen Glücklichen; der Pfarrer trat eigens heran, als er den Knaben gewahrte.
„Ihr bleibt also bei Eurem Entschluß?“ fragte er. „Ihr werdet Mühe haben, den Buben durchzubringen, Ihr habt ja kaum das Brod für Euch selbst.“
„Es geht nicht anders, Hochwürden!“ versetzte der Alte. „Sie wissen ja, wie es im Mattenhof steht; der Hof ist über und über verschuldet und soll jetzt verkauft werden. Mein Schwiegersohn – nun, Sie kennen ihn ja – viel Gutes ist nicht an ihm, und die Stasi hat eine schwere Zeit bei ihm durchgemacht. Jetzt will er nach Amerika, da ist ihm der Bube nur eine Last, und er ist froh, daß er ihn los wird. Er würde ihn schlecht halten, und wenn er drüben wieder freit, wär’s vollends aus. Da habe ich mir den Toni genommen. Wo ich mein Brod finde, kommt er auch noch durch, und er ist ja das Letzte, was ich noch habe, sonst ist mir ja nichts übrig geblieben.“
Er strich mit seiner schwieligen Hand leise über das Haar des Kindes; es lag eine eigenthümliche Zartheit in dieser Bewegung, und in seinen verwitterten, durchfurchten Zügen zuckte es seltsam.
Auch Vilmut sah auf den verwaisten Kleinen nieder, aber es lag weder Güte noch Freundlichkeit in diesem Blick, nur scharfes, prüfendes Forschen.
„Haltet den Buben streng, Eckfried,“ sagte er. „Bei dem Vater hat er nichts Gutes gesehen und die Mutter hat ihn verzärtelt, macht Euch nicht der gleichen Schwäche schuldig. Kinder muß man in strenger Zucht halten, wenn etwas aus ihnen werden soll. Laßt es nicht daran fehlen!“
Der kleine Toni mochte wohl fühlen, daß die Worte des geistlichen Herrn nicht viel Wohlwollen enthielten; denn er schmiegte sich ängstlich an den Großvater.
Vilmut sprach noch mit Diesem und Jenem und verließ dann mit Frau von Hertenstein den Kirchplatz, während die beiden anderen Damen folgten. Als man bei dem Pfarrhause angelangt war, ergriff Lily die Gelegenheit und erklärte, sie wolle noch vor Tische einen Spaziergang machen.
„Wozu das?“ fragte Vilmut tadelnd. „Du bist kein Kind mehr, und für ein junges Mädchen schickt sich dieses einsame Herumstreifen nicht. Geh’ in den Garten, da hast Du Luft und Bewegung genug.“
Lily erschrak; denn sie dachte an das Rendez-vous bei den Haselnüssen. Was sollte aus dem armen jungen Baron werden, der dort so sehnsüchtig auf die versprochene Nachricht harrte? Zum Glück legte sich Anna in das Mittel und bat für ihre Schwester. Gregor machte ein finsteres Gesicht, ließ sich aber doch schließlich erbitten, und Lily, froh der erhaltenen Erlaubniß, eilte davon.
„Ich werde Dich auch noch auf eine halbe Stunde verlassen müssen,“ sagte Vilmut zu der jungen Frau, als er mit ihr in das Haus trat. „Ich muß bei dem Bachmüller einen Krankenbesuch abstatten, werde aber jedenfalls zu Mittag zurück sein, und Du bist ja keine Fremde im Pfarrhause.“
Lily war inzwischen durch das Dorf gegangen, aber am Ende desselben bog sie schleunigst vom Wege ab und nahm die Richtung nach dem Schloßberg. Sie befand sich eigentlich in einiger Verlegenheit, denn ihre Mission, welche sie mit ebenso viel Begeisterung als Zuversicht übernommen hatte, war vollständig mißglückt.
Anna hatte ihre Bitten und Vorstellungen gar nicht angehört, ihr vielmehr sehr ernstlich jene unpassende Vertraulichkeit mit dem jungen Baron verwiesen. Die arme Kleine hatte es wieder einmal anhören müssen, daß sie in ihrem Alter noch gar nichts von solchen Dingen verstehe und sich wie ein unverständiges Kind benommen habe. Seitdem war es ihr nicht geglückt, daß Gespräch wieder auf diesen Gegenstand zu bringen, die Schwester zeigte sich völlig unzugänglich, sobald nur der Name Werdenfels genannt wurde.
Das durfte man nun freilich dem armen Paul nicht sagen. Er war im Stande, gleich auf der Stelle die Pistole zu laden, wenn ihm der letzte Trost genommen wurde. Lily sah ein, daß sie sehr vorsichtig zu Werke gehen müsse, wenn sie ein Menschenleben retten wollte, und das wollte sie unter allen Umständen. Sie machte sich deshalb auch gar keine Gewissensbisse über diese geheime Zusammenkunft, denn sie war sich bewußt, nur aus rein menschenfreundlichen und schwesterlichen Rücksichten darein gewilligt zu haben. Sie selbst kam ja dabei gar nicht in das Spiel.
Paul stand verabredetermaßen bei den Haselsträuchen, wo er bereits seit einer halben Stunde wartete. Er war im Jagdanzuge und trug die Flinte über der Schulter, denn er hatte es aus Rücksicht für das junge Mädchen doch nöthig gefunden, seinem Hiersein das Ansehen einer ganz zufälligen Jagdstreiferei zu geben. Zum Glücke war das Gehölz am Fuße des Schloßberges, wenn auch blätterlos, doch dicht genug, um die Beiden vor unberufenen Augen zu verbergen. Sie begrüßten sich und schüttelten sich freundschaftlich die Hände, wie das bei nahen Verbündeten Sitte ist.
„Ich bin so froh, daß Sie noch am Leben sind!“ sagte Lily aus Herzensgrunde.
„Ich wäre viel lieber todt!“ versicherte Paul melancholisch.
Lily sah ihn an, er war in der That noch recht blaß, aber er sah in dieser Blässe so hübsch und interessant aus, viel hübscher [203] als sonst in seiner übermüthigen Heiterkeit, und jetzt blitzte auch schon wieder ein Hoffnungsstrahl in seinem Auge, als er eindringlich fragte:
„Nun, mein Fräulein, haben Sie Ihr Versprechen gehalten? Bringen Sie mir irgend eine Hoffnung, irgend ein gütiges Wort von Ihrer Schwester?“
Das junge Mädchen schüttelte weise das Köpfchen:
„Aber, Herr von Werdenfels, das geht doch nicht so schnell! Anna hat einen sehr festen Charakter, sie ist nicht so leicht umzustimmen. Ich habe allerdings mit ihr gesprochen.“
„Haben Sie das wirklich gethan? O, Sie sind ein Engel an Güte!“ rief Paul enthusiastisch.
Lily war sehr angenehm berührt durch das Compliment. Das klang ganz anders, als wenn sie hören mußte: „Kind, das verstehst Du nicht!“ Sie hätte jetzt um keinen Preis ihre Niederlage eingestanden und war entschlossen, die Rolle des Schutzengels auf alle Fälle durchzuführen. Sie begann daher, dem jungen Manne aus einander zu setzen, daß er Geduld haben müsse, daß noch keineswegs alles verloren sei, und glaubte dabei sehr klug zu Werke zu gehen, aber Paul ließ sich nicht täuschen. Er that einige rasche Fragen, die Lily in der Ueberraschung ganz aufrichtig beantwortete, und diese Antworten verriethen ihm die Wahrheit. Sein eben noch so hoffnungsfreudiges Gesicht verdüsterte sich von Neuem.
„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen, mein Fräulein,“ sagte er bitter. „Ich sehe deutlich, was Sie mir verbergen wollen. Frau von Hertenstein bleibt unerbittlich bei ihrem Nein, und ich – bin der Verzweiflung preisgegeben.“
Er faßte heftig den Kolben seiner Flinte, es war eine ganz unwillkürliche Bewegung, aber Lily schrie entsetzt auf und ergriff seinen Arm.
„Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Um Gotteswillen, thun Sie das nicht!“
„Was denn?“ fragte Paul betroffen. „Was soll ich nicht thun?“
„Sich erschießen!“ schluchzte das junge Mädchen. „Und das wollen Sie hier vor meinen Augen vollführen? O, es ist schrecklich!“
Paul entsann sich jetzt erst jener Aeußerung, die er damals in der ersten Aufwallung des Schmerzes gethan hatte. Er sah, daß sie für Ernst genommen wurde, und die Angst um sein Leben rührte ihn. Er versuchte daher, die Erschrockene zu beruhigen, aber vergebens, sie traute seinen Versicherungen nicht.
„Sie werden es im Schlosse thun, wenn ich Sie jetzt daran verhindere!“ sagte sie. „Geben Sie mir die Flinte.“
„Aber mein Fräulein!“ warf Paul ein.
„Geben Sie mir die Flinte!“ wiederholte Lily befehlend, und als er nun wirklich dem Befehl nachkam, faßte sie einen heroischen Entschluß. Sie ergriff mit beiden Händen das Mordgewehr, trug es vorsichtig einige Schritte weit, bis zu dem Graben, der sich am Fuße des Schloßberges hinzog, und warf es mit voller Gewalt hinein. Die dünne Eisdecke des Wassers zerbrach, und Lily sah mit großer Befriedigung, wie das Gewehr untersank. Jetzt war ihrer Meinung nach das ganze Unheil beseitigt, es fiel ihr gar nicht ein, daß der junge Baron noch andere Schußwaffen haben könnte, und im Gefühl dieser Sicherheit stellte sie sich vor ihn hin und begann ihm eine nachdrückliche Rede zu halten. Sie führte ihm die Gottlosigkeit seines Beginnens zu Gemüthe, sprach von der zeitlichen und ewigen Verdammniß eines Selbstmörders und drohte ihm schließlich mit den Höllenstrafen.
Paul stand vor ihr und hörte mit immer steigender Verwunderung zu. Er begriff gar nicht, wie das junge Mädchen zu all diesen salbungsvollen Worten kam, denn er konnte natürlich nicht wissen, daß es eine Predigt Gregor Vilmut’s war, die dieser kürzlich über ein ähnliches Thema gehalten hatte, und die Lily frei aus dem Gedächtniß hersagte. Da die Höllenstrafen aber keinen sonderlichen Eindruck auf ihn machten, so unterhielt er sich damit, die jugendliche Predigerin anzusehen und Vergleichungen zwischen ihr und ihrer Schwester anzustellen.
Das frische, rosige Gesichtchen sah in der dunklen Pelzumhüllung allerliebst aus, und bei jenem heftigen Wurfe war eine der langen Flechten über die Schulter gefallen. Es waren reiche Flechten, von schöner hellbrauner Farbe, aber wo blieb der wunderbare Glanz, der wie ein zarter Goldschimmer auf jenem anderen Haar ruhte! Und was waren diese hellen Kinderaugen gegen die großen strahlenden Sterne, welche sich unter jenen langen Wimpern entschleierten! Gerade diese Vergleichung zeigte dem jungen Manne, was er verlor, und sein Schmerz erwachte aufs Neue. Er seufzte tief auf, als die Predigt zu Ende war, und sagte:
„Sie kennen die Liebe nicht, mein Fräulein! Sie wissen nicht, was es heißt, am Rande der Verzweiflung zu stehen!“
Das wußte Lily nun allerdings nicht, aber sie konnte sich denken, daß es etwas sehr Trauriges sei, und ging deshalb schleunigst vom Predigen zum Trösten über. Paul zeigte sich nicht ganz unzugänglich dafür, er ließ sich trösten und die Beiden waren im eifrigsten Gespräch begriffen, als ein Herr in dunkem Mantel zwischen den Bäumen sichtbar wurde.
„Mein Onkel!“ sagte Paul überrascht, denn es war das erste Mal, daß der Freiherr hier das Schloß verließ. Lily erschrak, sie kämpfte zwischen Furcht und Neugier, den Vielgenannten, das „Ungethüm von Felseneck“, endlich einmal von Angesicht zu sehen; während sie schwankte, ob sie fortlaufen oder Stand halten solle, war Werdenfels bereits hervorgetreten. Auch er schien überrascht, seinen Neffen in Gesellschaft einer jungen Dame zu erblicken, aber man sah es, daß ihm die Begegnung mit einer Fremden unangenehm war.
„Du hier, Paul?“ sagte er mit kühlem Gruße.
„Ich traf ganz zufällig mit Fräulein Vilmut zusammen,“ versetzte Paul, dem daran lag, das junge Mädchen vor Mißdeutungen zu schützen. „Sie ist heute zum Besuch im Pfarrhause von Werdenfels.“
Raimund wurde aufmerksam, es gab nur eine Familie dieses Namens in der Umgegend, und er wußte, daß Anna eine jüngere Schwester hatte. Er richtete einen forschenden Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens und trat rasch auf sie zu.
Dieser Blick aber und diese Annäherung waren zu viel für den Aberglauben Lily’s. All jene schrecklichen Geschichten von dem Teufelswerk und dem Halsumdrehen, womit sich der Freiherr bekanntlich abgab, wurden wieder lebendig. Sie schien für ihren eigenen Hals zu fürchten, denn sie flüchtete eiligst hinter Paul’s Rücken und blickte mit einer solchen Herzensangst zu Werdenfels hinüber, daß der junge Mann in die peinlichste Verlegenheit gerieth.
Raimund blieb stehen, und ein Ausdruck tiefster Bitterkeit zuckte um seine Lippen bei dieser so deutlich kund gegebenen Furcht.
„Fürchten Sie nichts, mein Fräulein,“ sagte er kalt. „Sie brauchen nicht so angstvoll bei meinem Neffen Schutz zu suchen. Ich werde Sie sofort von meiner Nähe befreien!“ Damit wandte er sich um und schritt tiefer in das Gehölz hinein.
Als er eine Strecke entfernt war, kam auch Lily wieder hinter ihrem Beschützer zum Vorschein. Sie sah noch etwas zaghaft aus und fragte kleinlaut:
„Ich habe mich wohl sehr dumm benommen?“
Paul war im Grunde derselben Meinung, aber er sprach das natürlich nicht aus, sondern fragte nur:
„Aber weshalb fürchten Sie denn meinen Onkel so sehr? Sie taten schon einmal eine derartige Aeußerung, die ich mir nicht erklären konnte.“
„Ich habe ihn mir eigentlich weit schrecklicher gedacht,“ meinte Lily. „Er sieht ganz aus wie ein Mensch, bis auf die Blässe in seinem Gesicht.“
„Aber wie soll er denn aussehen?“ rief Paul beinahe ärgerlich. „Wofür halten Sie denn eigentlich den Freiherrn?“
Lily sah zu Boden; der junge Baron wußte offenbar nichts von all jenen unheimlichen Gerüchten, und sie konnte ihn doch unmöglich darüber aufklären. Sie brach deshalb ab und sprach ihre Absicht aus, zu gehen.
„Und Sie wollen wirklich gehen, ohne mir auch nur einen Hoffnungsschimmer zurückzulassen?“ fragte Paul, wieder ganz verzweiflungsvoll.
„Was kann ich denn thun?“ sagte das junge Mädchen betrübt. „Sie sind ja selbst der Meinung, daß meine Schwester bei ihrem Nein bleiben wird.“
„Ich brauche aber Trost in meinem Unglück,“ erklärte Paul mit großer Bestimmtheit, „und Ihre Tröstungen haben mir so unendlich wohl gethan. Wenn ich Sie für’s Erste nicht wiedersehen soll, darf ich Ihnen doch wenigstens schreiben?“
[204] „Ja, das dürfen Sie!“ versicherte Lily, die es grausam fand, dem Unglücklichen diesen Trost zu versagen. Sie reichte ihm die Hand und bemerkte mit großer Befriedigung, daß er sie diesmal auch an seine Lippen zog.
„Haben Sie Dank!“ sagte er herzlich, „und leben Sie wohl!“
„Leben Sie wohl!“ wiederholte Lily, der der Handkuß ebenso wohl gethan hatte, wie dem jungen Mann ihre Tröstungen, und darauf trennten sie sich.
Werdenfels war inzwischen weiter gegangen. Jener bittere Ausdruck lag noch in seinem Gesichte; er mochte wohl ahnen, wie man ihn dem jungen Mädchen geschildert hatte, daß es so in Angst gerieth bei seiner bloßen Annäherung. An einem Seitenpfade, dessen Windungen nach dem Schlosse zurückführten, blieb er finster stehen und schien zu überlegen, ob er umkehren solle, dann aber fuhr er mit der Hand über die Stirn und sagte halblaut:
„Das Einschließen nützt nichts! Habe ich es begonnen, so muß ich es auch durchführen, also weiter!“
Er ging in der That vorwärts und erreichte den Ausgang des Gehölzes, von wo ein Weg nach dem Dorfe führte, als ihm in der Windung dieses Weges ein Anderer entgegentrat, der vom Dorfe herkam. Raimund von Werdenfels und Gregor Vilmut standen plötzlich einander gegenüber.
Beide stutzten bei dieser unerwarteten Begegnung und hemmten ihren Schritt. Einige Secunden blickten sie sich schweigend an, dann sagte Vilmut in eisigem Tone: „Herr von Werdenfels – ich wußte bereits von Ihrer Ankunft.“
„Ich beabsichtigte auch nicht, ein Geheimniß daraus zu machen,“ entgegnete der Freiherr in dem gleichen Tone. „Ich war auf dem Wege zu Ihnen, Hochwürden.“
„Zu mir? Und das gerade heute?“
„Warum nicht heute? Ist Ihnen das nicht gelegen?“
Der Argwohn Vilmut’s begann zu schwinden, denn er sah, daß Werdenfels wirklich keine Ahnung hatte, wer sich im Pfarrhause befand, aber trotzdem galt es, ihn davon fern zu halten.
„So kommt diese Begegnung also Ihrem Wunsche entgegen,“ versetzte er. „Nun denn, wir sind auch hier allein und ich bin bereit, Sie zu hören.“
Er stand da, gewaffnet mit derselben starren Strenge, womit er im Beichtstuhl die reumüthigen Bekenntnisse seiner Pfarrkinder empfing, aber der Freiherr sah nicht aus wie ein Büßender. Er kreuzte ruhig die Arme und antwortete: „Ich wußte, daß Sie einer Aufforderung, im Schlosse zu erscheinen, nicht Folge leisten würden, deshalb blieb mir nichts übrig, als Sie aufzusuchen, aber ich glaube, Hochwürden, Sie täuschen sich über den Grund meines Kommens.“
„Schwerlich! Denn ich kenne nur eins, was Sie zu mir führen kann. Es hat freilich lange gedauert, ehe Sie diesen Weg zu mir fanden, volle sechs Jahre, aber es ist nie zu spät zur Umkehr. Sie wollen endlich den Schritt thun, den Sie damals verweigerten?“
Es lag kein Triumph in diesen Worten, aber der ganze Hochmuth des Priesters, der die Unterwerfung als selbstverständlich betrachtet. Raimund richtete sich plötzlich empor, mit jenem Ausdruck unnahbaren Stolzes, der ihm bisweilen eigen war, und seine Stimme klang voll und fest, als er sagte:
„Nein!“
„Nein?“ wiederholte Vilmut scharf. „Dann begreife ich in der That nicht, was Sie nach Werdenfels geführt hat.“
„Bedarf ich Ihrer Erlaubniß, um in meinem Schlosse zu wohnen?“ gab Raimund mit derselben Schärfe zurück.
„Sie sind der unbestrittene Herr Ihres Schlosses – das Dorf und die Gemeinde sind meine Domäne.“
„Die Sie ebenso absolut beherrschen, wie nur irgend ein Despot seine Unterthanen beherrscht. Ich habe das erfahren.“
„Ich übe nur die Zucht des Priesters,“ sagte Vilmut, jedes Wort betonend, „und dieser Zucht allein beugt sich die Gemeinde. Sie beugten sich nicht, Herr von Werdenfels, und doch kennen Sie die Bedingungen, unter denen ich Ihnen den Frieden bot und noch biete.“
„Und Sie wissen, daß ich mich diesen schmachvollen Bedingungen niemals fügen werde. Was auch geschehen mag, Sie werden es nicht erleben, einen Werdenfels im Staube vor sich zu sehen.“
„Der Hochmuth ist es, der in den Staub nieder muß!“ sagte Gregor unbewegt. „Das ist der erste Schritt zur Buße. Dieser Hochmuth ist ein Erbfehler Ihres Geschlechtes. So unähnlich Sie Ihrem Vater und Ihren Vorfahren auch sein mögen – in dem Punkte sind Sie ein echter Werdenfels!“
„Hochwürden, mißbrauchen Sie Ihr Priesteramt nicht zu Beleidigungen!“ fiel der Freiherr mit dumpfer, mühsam beherrschter Stimme ein. „Ich weiß, daß dieses Amt Sie unangreifbar macht, aber Sie könnten es dahin bringen, daß ich es vergesse.“
„So werde ich Sie daran erinnern,“ erklärte Gregor. „Beleidigungen empfängt man nur von seines Gleichen. Ich bin ein Diener des Herrn und fordere Ehrfurcht für die Worte, die ich in seinem Namen spreche.“
Raimund schien sich zu bezwingen.
„Wir wollen nicht um Worte rechten! Ich kam nicht, um mit Ihnen zu streiten, sondern um eine Frage an Sie zu richten, deren Beantwortung Sie mir schuldig sind. Es war Ihre eiserne Hand, die mir damals mein Glück entriß; ich möchte jetzt erfahren, ob diese Hand auch das Siegel auf meinen Verlust drückte. Jener letzte Brief, den ich an Anna Vilmut richtete, wurde ungelesen verbrannt?“
„Ja, aber wer sagte Ihnen das? Ich war allein mit meiner Cousine, als es geschah.“
„Also Sie waren zugegen? Das allein wollte ich wissen! Meine Braut hätte meine letzte Bitte gehört; es war Ihr Werk, daß jener Brief in die Flammen geworfen wurde, oder wollen Sie mir in das Angesicht hinein behaupten, daß Anna es freiwillig that?“
Der neue Rattenfänger.
„Allbekannt ist er im Land’ |
Schöne, weihevolle Tage waren es, Ende Juli 1869. Ferdinand Freiligrath, von dem endlich der Fluch der Verbannung genommen, war nach Deutschland zurückgekehrt und hielt die erste Rast in der geliebten Westfälischen Heimath, seit dreißig Jahren hatte er die rothe Erde nicht betreten. Bielefeld und die Vaterstadt Detmold ehrten ihn durch glänzende Feste, Sanges- und Sinnesgenossen eilten von allen Enden herbei, eng schaarte sich das Volk um seinen Dichterhelden, hoch und hell loderten die Flammen edelster Begeisterung empor – es waren unvergeßliche Tage. In nächster Nähe des Gefeierten hielt sich stets ein junger Mann, blond und schlank, mit blauen, klar und treuherzig blickenden Augen und von schlichtem, gewinnendem Wesen. Niemand kannte ihn, der „alte Wolff“, der letzte Redacteur der tapferen „Rheinischen Zeitung“ und ein Demokrat von echtem, vormärzlichem Schrot und Korn, hatte ihn als seinen Neffen Julius Wolff vorgestellt. Man erfuhr auch, daß er soeben das väterliche Geschäft, eine große Tuchfabrik in Quedlinburg aufgegeben, dafür an den Webstuhl der Zeit sich gesetzt und die „Harz-Zeitung“ begründet habe, die er, Redacteur und einziger Mitarbeiter, täglich herausgab. Also doch von der Zunft – seine umfassende Bildung lag offen zu Tage, und der unerschöpfliche Schatz seiner Kneiplieder im traulichen Kreise vervollständigte den Beweis, daß er die Hochschule mit glänzendem Erfolge besucht hatte. Alles gewann den wackeren Gesellen lieb, Freiligrath hatte eine
[205]besondere Zuneigung für ihn gefaßt, und als die festlich Vereinten allzu schnell sich wieder trennten, schied ihm in Jedem ein wahrer Freund.
Am 21. Juli 1870 endete die „Harz-Zeitung“ mit einem Abschiedsgruße ihres Redacteurs: „Vorwärts“ in kernigen, klangvollen Versen. „Steh’ Jeder seinen Mann! Thut Eure Pflicht! Vorwärts mit Gott! ein Rückwärts giebt es nicht!“ Und also griff er von der Feder zum Schwerte, zog mit den Cameraden gen Frankreich, machte in der kronprinzlichen Armee den ganzen Krieg mit, ward vor Toul mit dem eisernen Kreuze geschmückt und alsbald zum Officier befördert.
Im Felde erhielt auch der Dichter die Feuertaufe. Die gewaltigen Eindrücke, der Reiz eigener Erlebnisse, Alles regte ihn an, manch gereimten Gruß entsandte er in die Heimath, und schon 1871 erschien: „Aus dem Felde. Kriegslieder von Julius Wolff“, ein dünnes Heft, das in der Sturmfluth damaliger Kriegspoesie nicht verloren ging, vielmehr weithin bekannt und beliebt, für ihn selbst aber die Flagge seiner Zukunft wurde.
Nach der Heimkehr ließ er mit der Gattin und vier Söhnen in Berlin sich nieder, frei und ganz der freien Kunst zu leben. Doch nicht leicht ist der Weg zum Ruhme, zumal wenn er durch den Buchhandel führt. Da lag das Werk nun fertig, dem Dichter zum Spott und zum Verdruß, acht der ersten deutschen Verlagsfirmen hatten es ihm bereits zurückgeschickt, allerdings frankirt und mit den verbindlichsten Wendungen, darunter Leute mit unfehlbarem Urtheile, wenigstens nach ihrem eigenen. Plötzlich [206] kommt eine freiwillige Anfrage von der Meyer’schen Hofbuchhandlung in Detmold, natürlich erhält sie das Manuscript umgehend – endlich! Nach langen, bangen Wochen hat der Glückliche das erste Exemplar des Buches in der Hand, da brennt die Druckerei ab, die ganze kaum fertig gewordene Auflage geht in Feuer auf, und es muß noch einmal gesetzt und gedruckt werden. Endlich! – der tückische Zufall hat ihm manchen Schelmenstreich gespielt, dem „Till Eulenspiegel redivivus. Ein Schelmenlied von Julius Wolff“, aber der neu erstandene Erzschelm deutscher Nation hat sie alle reichlich wett gemacht. Das Gedicht ist „Ferdinand Freiligrath in Liebe und Verehrung gewidmet“, er hat auf seine Entstehung nicht minderen Einfluß geübt, als auf die Lebensrichtung des Dichters, sei’s herzlich ihm gedankt! Was die Buchhändler gesündigt, die Kritiker überhasteten sich, es zu sühnen, jede Beurtheilung eine unbedingte Anerkennung, wenn nicht eine begeisterte Lobpreisung, die berufensten Stimmführer vereinten sich, dem Volke das Erscheinen eines bedeutenden, eines wahren und wirklichen Dichters zu verkündigen, und das Volk glaubte ihnen auf’s Wort – nämlich auf die Worte des Dichters hin, die schnell zu allen Ohren und in alle Herzen drangen. Wie wohllautend und leichtflüssig sind diese Verse, wie jugendfrisch und liebenswürdig der Humor, zuweilen übersprudelnd, niemals verletzend, und vor Allem echt deutsch Gefühl und Gesinnung. Dabei warmherzige, leichtblütige Auffassung des Lebens und aller Verhältnisse und als Grundstimmung wahre Freisinnigkeit, die sich doch nirgend als vordringliche Tendenz breit macht.
Vierzig Jahre alt war der am 16. September 1834 geborene Dichter, als sein erstes Werk ihn mit einem Schlage in die vordersten Reihen stellte. Voll jugendfrischer Begeisterung eilte er fortan von einem Erfolge zum andern. Wiederum war ein sagenhafter Schelm der Held seiner nächsten Dichtung. Wie er den Eulenspiegel aber in unsere Zeit herübergeholt hat, sucht er den „Rattenfänger von Hameln“ inmitten der seinigen auf und bringt uns den unheimlichen Zauberer und das düstere Mittelalter nicht minder nahe, als den lustigen Schalksnarren und die lichte Gegenwart.
„Doch nirgends giebt es im Archiv
Für Forscher was und Finder,
Als daß ein Pfeifer kam und rief
Die Ratten und die Kinder,“
und darum muß man die ganze Geschichte auf Treu’ und Glauben von Einem nehmen, „der schon in der Jugend selber Mäuse fing und Lieder machte“.
In einem alterthümlichen hochgiebeligen Erkerhause zu Quedlinburg ist Julius Wolff geboren, ein Urahn war Receptarius der gefürsteten Aebtissin von Cappel und Lemgo, ein späterer Vorfahr Kammerrath der letzten Aebtissin von Quedlinburg gewesen; die Mutter entstammte einer alten seßhaften Bürgerfamilie, die seit Jahrhunderten bereits das Tuchmachergewerbe in seiner Vaterstadt betrieben hatte. Vielseitige Ueberlieferungen lenkten frühzeitig den Blick des Knaben auf die Vergangenheit. Draußen vor den Thoren aber lag der Harz mit seinen schroffen Felsen, waldigen Abhängen, rauschenden Wassern und heimlichen Thälern, immer wieder lockte es ihn hinaus in die einsamste Wildniß, Alles sah, hörte und beobachtete er, was da fleugt und kreucht, ward ihm bekannt und lieb, und „fand er eine Feder liegen, bückt’ er sich und wußte gleich, aus wessen Flügel oder Schwanze sie gefallen“.
In seinem Kämmerlein wimmelte und krabbelte es von allerlei Waldgethier, in dem alten Hause voll Ecken und Winkeln trieben die Mäuse ein lustiges Spiel, und wagte sich einmal eine besonders kecke in die Wohnzimmer, schnell erhaschte sie der kundige Fänger mit geschickter Hand.
Den Mäusen nachstellend, fand er einst auf dem Boden eine alte sehr schlechte Ausgabe von Schiller’s Gedichten. Seitdem saß er tagelang auf den Bergen, in lauschigem Versteck lesend und träumend, eine unsichtbare Welt ging ihm plötzlich auf inmitten der sichtbaren Umgebung, und Stimmen wurden laut in seinem Innern, die nicht blos ein Wiederhall des bisher Gehörten waren. Er begann zu dichten, kleine schüchterne Versuche, meist nur bei besonderen Anlässen und Gelegenheiten. Allmählich wurde die Form gewandter, der Ausdruck klarer, der Drang mächtiger und bestimmter, namentlich als er im Kampfe mit dem äußeren Berufe sich geltend machte.
Der künftige Fabrikant mußte zunächst mehrere Jahre lang die nöthigen Fachkenntnisse sich aneignen, mußte spinnen, weben und walken. Im großen Maschinensaal, wo Alles durch einander wirbelte und surrte, fand der angehende Dichter noch die Spuren der Poesie, wenn auch andere, denn einst im heimischen Walde. Weit wurde ihm die Brust, als er in Berlin, den Natur- und sonstigen schönen Wissenschaften ergeben, ein flottes Studentenleben führte, aber das kaufmännische Comptoir schnürte sie ihm wieder zusammen, so eng, daß ihm die Lebenslust auszugehen drohte. Und dabei hatte er auf seinem dreibeinigen Drehsessel hartnäckige Belagerung und manchen Sturm auszuhalten von Verwandten und Freunden, die kein Mittel unversucht ließen, ihm das Dichten zu verleiden und auszutreiben, sodaß er schließlich der geliebten Kunst nur ganz heimlich oblag.
Wie klingt sie verlockend, des Rattenfängers Pfeife, dessen sagenhafte Gestalt die Naturgewalt der Poesie und Musik an dem unmittelbarsten und natürlichsten Empfängnißvermögen, dem der Thiere und Kinder versinnbildlicht; der Orpheus des heitern hellenischen Himmels in der fratzenhaften Verkleidung des abergläubigen Mittelalters!
Daß alle Mädchen an ihm hangen, versteht sich von selbst, aber auch die Männer widerstehen nur schwer dem gutgelaunten Sänger, der ob der unergründlichen Ursache solch verblüffender Wirkungen nothgedruugen ein Zauberer sein muß. Fast nicht minder zauberhaften Erfolg hat Wolff’s Dichtung gehabt, achtzehn wirkliche und starke Auflagen in sieben Jahren, das allein schon genügt. Wunderkräftig hat sie aber auch das alte halbvergessene Märchen wieder frisch und lebendig gemacht und mitten hinein in den Vordergrund der allgemeinen Schaulust und Unterhaltung gestellt.
Seit ihrem Erscheinen ist der Rattenfänger ein Stammgast der Theaterzettel und Anschlagesäulen, wimmeln alle Bretter und Planken von Ratten und Kindern. Victor Neßler’s melodienreiche Oper hat mit ihm die ersten Bühnen erobert, die Vorstadttheater haben seit langer Zeit keinen so wirksamen Cassenzauberer gehabt, und was er im Circus Renz und seinen Ablegern nicht singen und sagen kann, das drückt er dort durch allgemein verständliche Geberden pantomimisch aus. Ueberall erscheint er aber „frei bearbeitet nach Julius Wolff’s gleichnamiger Dichtung“. So nahe hat uns der Dichter den Helden gestellt, seine Geschichte so glaubhaft erzählt und den ganzen Stoff in so zwingende Form gebracht, daß jede Abweichung den Eindruck irrthümlicher Unwahrscheinlichkeit machen würde, und doch ist dieser Stoff bis auf einige ganz schattenhafte Umrisse das freie Eigenthum des Dichters.
Wolff hat die selbstgeschaffene Gestalt so lieb gewonnen, daß er sein neuestes Werk „Singuf. Rattenfängerlieder“ gewissermaßen als das ihre erscheinen läßt. Es sind die gesammelten Gedichte des „kecken, schlanken Spielmanns mit den heißen, dunklen Augen, mit dem abgeschnittenen Ohre“ – und sie schließen mit den Versen: „Nach Hameln!“ da, wo die früher erzählte Geschichte anfängt. Es ist ein deutlicher Beweis für Wolff’s dichterische Begabung, daß seine Vorzüge und Eigenarten im Lyrischen gipfeln, alle Töne, die er mit gleicher Sicherheit und Wirkung anzuschlagen weiß, im Liede am reinsten und vollsten ausklingen. Vom duftigsten wehmüthigen Liebes- bis zum ausgelassensten Trink- und Schelmenlied findet er überall den wahrsten und einfachsten, meist geradezu volksthümlichen Ausdruck. In seinen poetischen Erzählungen kommen häufige lyrische Unterbrechungen vor, die aber nirgend willkürlich und zufällig, sondern, wie Monologe im Drama, die Erläuterung und Begründung der Handlung in den handelnden Personen selbst sind.
Bewunderungswürdig ist Wolff’s Kunst, in der Lyrik zu charakterisiren und in diesen Liedern nicht blos die Menschen, sondern auch ihre Zeit zum anschaulichsten Verständniß zu bringen; historische Lyrik möchte man diese neue Form und Gattung nennen und ihre Pflege als ein besonderes Verdienst Julius Wolff’s in Rechnung stellen. Ein Verdienst, an welchem der Forscher und Gelehrte nicht minderen Antheil hat, als der Poet, hinter dessen glänzender Begabung freilich die mühsame und gewissenhafte Arbeit des ersteren bis zur Unerkennbarkeit verschwindet. Gott schenke uns der gelehrten Dichter recht viele, wolle aber vor dichtenden Gelehrten in Gnaden uns immer bewahren! So wirkt auch die Liedersammluug „Singuf“ wie ein geschichtliches Culturbild des Mittelalters und seiner fahrenden [207] Spielleute, von denen die höfische Kunst der Minnesänger dem Volke übermittelt, verdeutlicht und angeeignet wurde. Wie weit aber der Weg von Walther von der Vogelweide bis zu Heinrich Heine sein mag, ihr Gebiet ist dasselbe und nicht größer oder kleiner als das Menschenherz mit seiner Fülle von Lust und Leid, und dieses Gebiet beherrscht Julius Wolff mit gleicher Sicherheit und vollendeter Meisterschaft. Auch hier ist der Erfolg nicht ausgeblieben, mit erklärlicher Vorliebe bemächtigen sich alle Tonsetzer seiner Texte, er gehört jetzt schon zu den meistcomponierten Dichtern, und die Concertprogramme wetteifern mit den Theaterzetteln in der Verkündung seines Ruhmes.
Nicht minder genau als das Menschenherz kennt er das Wesen und Walten der Natur, ihre Gebilde und Erscheinungen sind ihm vertraut, alle ihre Stimmen dem der Vogelsprache Kundigen verständlich. Das dankt er seiner Heimath, dem Harzgebirg, wo im Thal der wilden Bode seiner „goldnen Jugend Stromgebiet“ belegen. Der Heimath dankt er aber auch ein besonderes Lied, das er nur von ihr empfangen und ihr wieder gewidmet hat. „Der wilde Jäger. Eine Waidmannsmär“ erschien 1877 und beginnt mit einer Schilderung des erwachenden Frühlings, die zu dem Schönsten gehört, was unsere Literatur an beschreibender Poesie besitzt. Von allen Dichtungen Wolff’s ist dies vielleicht die vollendetste, namentlich in der Handlung einheitlichste und wirksamste, hier auch der geschichtliche Ausblick der klarste und weiteste. Der wilde Jäger, die Versinnbildlichung der trotzig auf sich beruhenden Manneskraft, die, selbst eine elementare Gewalt, im Kampfe mit den Mächten der Natur ihre höchste Bethätigung findet und der Muskelstärke des Eigenwillens gegenüber weder die Berechtigung des Geistes, noch die Schranke des Gesetzes und der Sitte anerkennt, ist von der Sage auf die Grenze zwischen das germanische Heidenthum und den siegreichen Christusglauben gestellt; durch die vergeistigte Natur, welche den Todesseufzer des gekreuzigten Erlösers wehmüthig widerhallt, jagt lärmend und heulend, unter Donner und Blitz, der gespenstische Spuk einher, ein begrabenes Geschlecht, das zu mitternächtigem Scheinleben erwacht. Wolff hat dies zwar festgehalten, seinen Grafen Hans Hackelberend aber untergehen lassen auf der Scheide einer späteren, uns näher liegenden Zeit. Er fällt, ein Vertreter und Verfechter des eigensüchtigen, hartherzigen Faustrechts, der Himmel über der erstürmten Burg ist von der rächenden Flamme des Bauernkrieges blutig geröthet, und unaufhaltsam wälzen über die zusammenstürzenden Wälle die Schaaren der Unterdrückten und Rechtlosen sich herein, die mit den Werkzeugen der Arbeit das Schwert in der eisernen Ritterfaust zerschlagen.
Wie wunderbar aber die versinkende Welt gewesen, welch unverwelkliche Blüthen auf ihrer Höhe sie getrieben, deren berauschender Duft die spätesten Geschlechter noch entzücken und berücken wird, das hat so stimmungsvoll und überzeugend kein Anderer uns noch gezeigt, wie „Tannhäuser. Ein Minnesang“ von Julius Wolff.
Das Jahrhundert der Hohenstaufen und der Kreuzzüge, der Kaiser und Päpste, Welfen und Ghibellinen, der Ritter und Minnesänger, Turniere und Minnehöfe – hier steigt es auf in alter, unvergänglicher Pracht, mit reicher Fülle der Gestalten, glühendem Farbenglanz und strotzender Lebenskraft. Abend- und Morgenland, die Meeresbraut Venedig, das ewige Rom und Byzanz mit seinen goldenen Kuppeln fesseln die Blicke, aber als Mittelpunkt des Ganzen erhebt sich aus dem deutschen Walde die liebliche Wartburg. Des Gottesfriedens, des echten Ritterthums und der reinen Minne schützende Veste bannt sie den Zauber des unheimlichen Hörselberges, in dessen Tiefe Frau Venus dem Fall des strauchelnden Sängers lockend die Arme entgegenstreckt. Sie vermag ihn nicht zu halten, im Feuer der Leidenschaft wird nur das reine Gold seiner Saiten für den unsterblichen Gesang seines kurzen Lebens geläutert. Entronnen aus dem Banne der Teufelinne, in strengster Verborgenheit sich haltend, schickt Heinrich von Ofterdingen seinem Volke als Abschiedsgruß das Nibelungenlied, reitet auf das Schlachtgefild, und „niemals gelangte wieder Kunde von ihm zu eines Menschen Ohr“.
In diese glänzenden Schilderungen hat Wolff seine schönsten Lieder gestreut, im Sängerkrieg den höchsten Gipfel seiner Kunst erstiegen; das „ergreifende Singen“, mit welchem der schon besiegte Tannhäuser dem siegreichen Wolfram von Eschenbach den Kranz wieder aus der Hand und den Sieger selbst an seine Brust zwingt, wird auch die strengsten unter den heutigen Richtern hinreißen.
Das deutsche Volk hat seinen Richterspruch gefällt; seit acht Jahren erst ist ihm der Name Julius Wolff genannt, und weit über hunderttausend Bände sind mit diesem Namen seitdem in alle Welt gegangen, in jedem Jahre mehren sich die Auflagen der erschienenen Werke, denen hoffentlich noch viele neue folgen werden.
Auch auf dramatischem Gebiete hat Wolff sich versucht, ohne bisher einen entschiedenen Erfolg zu erzielen; seine Stärke liegt vor Allem in seinen Liedern, in deren Ursprung das Geheimniß ihrer Wirkung ruht:
„Die Blumen flüstern sie mir zu
Und wildes Waldgesinde,
Ich höre sie bei guter Ruh’
Im Wasser und im Winde.
Aus Mädchenaugen les’ ich sie
Mit Lachen und mit Scherzen,
Aber sie kommen anders nie,
Als auf dem Weg zum Herzen.“
Ein Triumph deutscher Kriegs-Industrie.
Wenn auch die Reichstagsverhandlungen über den Militäretat und der Steuerzettel uns Bürgern des neuen deutschen Reichs die Allen angeborene Freude am Soldatenleben bisweilen mehr oder weniger verleiden, so genügt doch schon ein Blick in die Geschichte unseres Volkes, namentlich der letzten zwei Jahrhunderte, um uns die Schatten über etwaige Ansprüche unseres Kriegsministers rasch zu verscheuchen. Wie viele Milliarden deutschen Staats- und Volksvermögens, wie unsägliches Familienelend, wie viel Trauer und Schmach über verlorene Schlachten und Gebiete hätten unserem Vaterlande erspart werden können, wenn man nicht nur allzu oft mit den Millionen für tüchtige Kriegsrüstung gegeizt, oder sie für den oft nichtswürdigsten Luxus verschwendet hätte! – Ja, der Steuerzettel ist jetzt manchmal drückend, aber wie erleichtert fühlt sich unser Herz, wenn wir heute auf unser Heer und nach unseren Grenzen schauen! Mit welcher Ruhe, mit welchem Vertrauen können wir dies! Die in der Weltgeschichte einzig dastehende Feuerprobe des zum ersten Mal seit Jahrhunderten im Kampfe vereinigten und alleinstehenden deutschen Heeres in Frankreich erfüllt uns mit der Zuversicht, daß bis ins Herz Deutschlands kein Feind wieder dringen werde.
Eben deswegen überschlagen wir beim Zeitungslesen sicher keinen Bericht, der uns über neue Versuche und Fortschritte auf dem Gebiete unserer Kriegsrüstungen belehrt. Wir wissen, daß nur die vollendetste Schlagfertigkeit und Waffentüchtigkeit unserer Land- und Seemacht uns den Frieden sichert. Besonders anziehend für uns alle ist die Großartigkeit, die in dem technischen Theile des Rüstungswerkes uns am anschaulichsten vor Augen tritt. Bekanntlich stehen seit langer Zeit sich Schutz- und Trutzwaffen im Wettstreite gegenüber, und namentlich überbieten sich gegenseitig die Kaliber der Geschütze und die Stärke der schützenden Panzerplatten von Schiffen und Landbefestigungen. Gerade auf diesem Gebiete ist nun der deutschen Technik ein Fortschritt gelungen, über welchen unseren Lesern sicherlich eine illustrirte Belehrung willkommen sein wird.
Das letzte Jahrzehnt hat nämlich unser Vaterland in vielen Beziehungen aus der ehemaligen drückenden Abhängigkeit von auswärtiger Industrie-Übermacht erlöst. Ebenso wie das friedlichste Werkzeug, die Nähmaschine, ihre amerikanische Schwester nicht nur völlig erreicht, sondern in mancher Richtung überholt hat, konnte auch die deutsche Flotte sich von Englands Walzeisenwerken lossagen, indem seit 1878 die Dillinger Hütten an der Saar die für die kaiserliche Admiralität zum Bau neuer Panzerschiffe erforderlichen Walzeisenplatten in vorzüglichster Güte liefern. Schließlich, und das muß als ein großer Triumph gelten, ist es Deutschland in wenigen Jahren gelungen, das beste Material für die Panzerung seiner Land- und Küstenbefestigungen in dem sogenannten Hartgußeisen [208] zu erzeugen, welches im Stande ist, den schwersten Marinegeschützen den nachhaltigsten Widerstand entgegenzusetzen.
Der Ruhm der Herstellung dieses Hartgußeisens und zwar in jeder Form, in riesigen Dimensionen und hohen Gewichten, dabei dennoch in völlig gleichartiger und allen Ansprüchen an einen Panzer völlig gerecht werdender, vorzüglicher Qualität gebührt allein Herrn Commerzienrath Gruson in Buckau bei Magdeburg.
Unter Hartgußeisen versteht man in der Technik eine aus gewöhnlichem Gußeisen fabricirte Masse, deren Guß nicht in einer Lehm-, sondern in einer eisernen Form – Schale oder Coquille – stattfindet. Durch die Anwendung der als sehr guter Wärmeleiter wirkenden eisernen Form wird eine ungemein schnelle Erstarrung der Gußmassen erzielt, und dies verursacht nicht nur eine dichte Lagerung der einzelnen Eisentheilchen, sondern verhindert auch vor allen Dingen eine chemische Änderung des Eisens, wie z. B. durch Verbrennung der in demselben enthaltenen Kohle. Schon die in den sechsziger Jahren von Gruson gefertigten Hartgussgeschosse waren den englischen Panzergeschossen aus ähnlichem Material an Güte, vor allem an Härte, überlegen. Trotzdem blieb die Fabrik in Buckau dabei nicht stehen. Gruson’s Bestreben ging darauf aus, das Hartgußeisen durch eine besondere Mischung verschiedener Roheisensorten und durch ein besonderes Gußverfahren auf einen möglichst hohen Härtegrad zu bringen, und dies gelang ihm so vollkommen, daß seine eigenen Hartgußgranaten bei den letzten Erprobungen an dem neuen Hartgußpanzer in Trümmer gingen. Erst nach längerem Beschießen zeigte derselbe geringen Vertiefungen und kleine Risse.
Da jedoch diese Eisenhärte allein ein Fehler des Panzers wäre, der gleichzeitig genügende Zähigkeit besitzen muß, um den wiederholt darauf fallenden Geschossen möglichst lange widerstehen zu können, so sann Gruson weiter und erreichte auch diese letzte Vervollkommnung seines Gußeisens durch eine Mischung verschiedener Essensorten. – Näher auf das Mischungsverhältniß einzugehen, würde hier zu weit führen und dürfte ebenso wenig im Interesse der Fabrik liegen, wie eine eingehende Beschreibung der Maßnahmen, welche den größeren oder geringeren Härtegrad des Hartgußeisens herbeiführen.
Dem Leser der „Gartenlaube“ wird es aber interessant sein, einiges über die Panzerfrage im allgemein zu erfahren, und dies führt uns von selbst auch zur Beantwortung der Frage: Warum man in Deutschland für Land- und Küstenbefestigungen der Walzeisen-Panzerung die Hartguß-Panzerung vorgezogen hat.
Es ist jedes Staates erste militärische Aufgabe, für seine Kriegsbedürfnisse im eigenen Lande die erforderlichen Quellen zu erschließen. Hierdurch wird nicht nur der Möglichkeit vorgebeugt, daß ihm eine vielleicht unentbehrliche auswärtige Quelle im Fall eines Krieges abgeschnitten werden kann, sondern auch in national-ökonomischer, in handelspolitischer Richtung erreicht, daß die für Kriegszwecke verausgabten Summen im eignen Lande bleiben und auf diese Weise wieder dem Wohlstand des Reiches und seiner Bürger zu Gute kommen.
Als aber das deutsche Reich mit dem Ausbau seines Festungsystems, mit der Anlage neuer Küstenbefestigungen vorging, war die Fabrik in Dillingen noch nicht in der Lage, Panzerplatten anfertigen zu können, wogegen Gruson bereits im Jahre 1868 einen Panzerstand aus Hartguß zu Versuchszwecken auf dem Tegler Schießplatze bei Berlin aufgestellt hatte. Kurz nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges konnten die Versuche bereits wieder, und zwar in erweitertem Maßstabe, gegen einen Panzerdrehthurm aufgenommen [209] werden. Sie wurden dann bis in den Winter 1873 bis 1874 fortgesetzt, zu welcher Zeit die deutsche Militärverwaltung die Panzerfrage für Land- und Seebefestigungen zu Gunsten des Gruson’schen Materials endgültig entschied und die Fabrik in Buckau mit umfangreichen Aufträgen sowohl für feste Panzerstände, wie auch für Panzerdrehthürme bedachte. So vollzog sich in Deutschland in der kurzen Zeit von fünf Jahren die Lösung einer gewichtigen Frage – dank dem unermüdlichen Eifer deutscher Ingenieur- und Artillerie-Officiere, dank der großen Energie des überaus strebsamen Groß-Industriellen Herrn Commmerzienraths Gruson. –
An England, einen See-Staat mit weit ausgedehnten Küsten und vielen Hafenanlagen war schon weit früher die Frage erhöhter Sicherung der Seebefestigung herangetreten. Englands großer, die Welt beherrschender Eisenindustrie standen wohl Mittel zur Disposition, diese Frage ebenfalls schnell lösen zu können. Geschah dies auch dort? Nein. In England wollte jedes Privatetablissement die Panzerfrage für sich ausnutzen, und so wurde Zeit und Geld mit Prüfung zahlreicher, sicherlich oft ganz unbrauchbarer Vorschläge vergeudet, welche sich außerdem jede öffentliche Kritik gefallen lassen mußten, die der Sache selbst nicht dienen, sondern nur schaden konnte. Außerdem gebrach es auch an einer einheitlichen Leitung der gesammten Versuche, da die verschiedenen Branchen der Militärverwaltung selbst in ihren Ansichten stark aus einander gingen.
Erst das Jahr 1870 mit der Besorgniß, in den Krieg verwickelt zu werden, schaffte die 10 Jahre und länger ventilirte Frage aus der Welt, und wurden nunmehr mit aller Energie die Panzerungen an den schon früher in Mauerwerk begonnenen Küstenbefestigungen angebracht; erstere bestehen aus einem System von 3 fünfzölligen (englisch) Walzeisenplatten, die, 6 Zoll von einander entfernt, mit Bolzen verbunden, und deren Zwischenräume mit einem Eisenkitt ausgefüllt sind. – Hierbei sei noch bemerkt, daß die Engländer ihre Konstruktion nur mit der Hälfte der summarischen Geschoßkraft erprobten, die dem deutschen Hartgußpanzer zugemuthet wurde.
Bezüglich der Schiffspanzerung hielt man noch vor 10 Jahren einen Walzeisenpanzer von 30 Centimeter Stärke für völlig ausreichend; seitdem sind aber die Geschützcaliber der See-Artillerie bedeutend gewachsen, und wurden deshalb die Panzerplatten einzelner Schiffe bis zur doppelten Stärke gebracht. Ebenso verließ man das Walzeisen, und stellten zuerst die Engländer sogenannte „Compoundplatten“ her, welche aus einer Stahlplatte von 1/3 und aus einer Eisenplatte von 2/3 der Gesamtstärke bestehen, die beide fest auf einander geschweißt und gewalzt worden sind. – Derartige Platten werden jetzt auch in Dillingen gefertigt.
Die Franzosen dagegen glaubten durch einen reinen Stahlpanzer am besten der Gewalt der schwersten Caliber entgegentreten zu können. Italien, dessen Industrie es noch nicht gestattet, Panzermaterial im eigenen Lande zu beschaffen, steht momentan im Begriff, neuerbaute Schiffe mit solchem auszustatten, und stellte daher vor einiger Zeit Versuche mit französischen Stahl- und englischen Compoundplatten von 48 Centimeter Stärke an. Als Resultat derselben ergab sich, daß die Stahlplatten den Compoundplatten etwas überlegen, daß aber beide dem italienischen 45 Centimeter-Geschütz nicht gewachsen waren. Hierbei muß wiederum noch bemerkt werden, daß das neue deutsche Krupp’sche 30,5 Centimeter-Geschütz dem italienischen 45 Centimeter-Rohr bei weitem überlegen ist und daß ersteres auch eine Compoundplatte von 51 Centimeter Stärke glatt durchschlagen haben würde. Dem 35 Centimeter-Geschütz derselben Fabrik könnte auch eine 60 Centimeter starke Compoundplatte nicht Widerstand leisten, und die Krupp’sche 40 Centimeter-Kanone dürfte sogar im Stande sein, die ebenfalls mit 60 Zentimeter starken Compoundplatten versehene Inflexible auf 3000 Meter Entfernung zu durchbohren. –
Wohin soll das noch führen? Lieb Vaterland, magst ruhig sein; Krupp, Gruson, Dillingen, sie halten Wacht zu Drei’n!
Ein Hoch der deutschen Industrie, welche nächst der bewährten Heeresleitung es ebenfalls verstanden hat, den Respect vor der deutschen Armee, dem deutschen Volke in Wehr und Waffen, nach außen hin zu fördern! Ein Hoch den Leitern der bürgerlichen Institute, die ein den fremden Heeren gegenüber nicht nur ebenbürtiges, sondern vielfach überlegenes Kriegsmaterial zu erzeugen gewußt haben! – Mag der freundliche Leser heute einen kurzen Besuch der Fabrik von Gruson abstatten, um dieselbe hierdurch besonders zu ehren.
Wie überall da, wo deutsche Industrie schafft und wirkt, so bietet sich uns auch in der Gruson’schen Fabrik das Bild eines von kundiger Hand geleiteten complicirten Räderwerks, in dem selbst die kleinste Schraube, das winzigste Getriebe mit der dem deutschen Volke in so hohem Maße eigenthümlichen Pünktlichkeit, Ordnung und Gewissenhaftigkeit eingreifen. Und wenn auch der Anblick der vielen Rauch und Dampf ausstoßenden Schornsteine, [210] das Getöse der Hämmer, das rastlose Laufen der Maschinen, die Gluth ausströmenden Oefen, der Betrieb auf den das ganze Etablissement durchlaufenden Schienensträngen, das Arbeiten der Dampfkrahne und das emsige Treiben von 1400 und mehr Arbeitern den Eindruck ungestümer, rasender Thätigkeit hervorrufen, so genügen dennoch wenige Minuten der Beobachtung, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß Alles zu einem endlichen, wohldurchdachten Ziele führt. Wie könnte dies auch anders sein! Ist doch Gruson bei dem Altmeister der Eisenindustrie in die Schule gegangen, und hat doch derselbe, welcher jetzt selbst zu den Koryphäen in der Eisenbranche zählt, bei Borsig in Berlin die erste Ausbildung erhalten. Ein gründliches Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, sowie eine längere Thätigkeit als Director anderer großer Eisenindustrie-Etablissements vollendeten Gruson’s Ausbildung, sodaß er sich 1856 bereits an demselben Orte – freilich nur klein beginnend – auf eigene Füße stellen konnte, an dem später seine nach und nach immer mehr und mehr erweiterten Fabrikräume entstanden, welche jetzt in vielen mächtigen Gebäuden einen Raum von 80,000 Quadratmetern bedecken.
Die zum Betrieb von 550 Arbeitsmaschinen, den Dampfkrähnen, hydraulischen Werken etc. erforderlichen 363 Pferdekräfte verdanken ihren Ursprung 31 mächtigen Dampfmaschinen, während in 12 großen Coupol- und 10 Tiegelschmelzöfen das Eisen aus den Rohmetallen gewonnen wird, welches in täglich 3000 und mehr Stücken als fertiger Guß zu weiterer Bearbeitung gelangt. Erlischt des Tages Licht, so erglühen 80 große elektrische Lampen, um, theilweise selbst die ganze Nacht hindurch, das niemals völlig ruhende Treiben zu beleuchten.
Beim Eintritt in das Etablissement glaubt man sich in einer kleinen Stadt zu befinden, deren gerade, sich vielfach kreuzende, zur leichteren Orientierung besonders benannte Straßen jedoch das wogende Leben einer Großstadt aufweisen. Ein vielverwickelter Schienenstrang durchzieht die gesamten Anlagen und endigt schließlich auf dem Bahnhofe von Buckau. Hin und wieder erweitern sich diese Straßen zu Plätzen, unter denen der Wilhelmsplatz sich besonders dadurch auszeichnet, daß an demselben das Comptoir liegt, die Centralstelle des genammten Instituts, und daß mitten in demselben, auf einem mit eisernem Gitter umgebenen Sockel, die Millionste der in der Fabrik gegossenen Hartgußgranaten, welche die Jahreszahl 1875 trägt, als bleibendes Andenken postirt worden ist.
Beim Rundgang durch die Straßen ruht das Auge des Besuchers, welcher seitens der Fabrikdirection die freundlichste Aufnahme und vieles Entgegenkommen findet, mit Vergnügen auf den athletischen, schwarzberußten Gestalten der emsigen Arbeiter, deren schwielige Hände und geröthete Wangen freilich von der Last der Arbeit zeugen, deren äußeres Wohlaussehen aber auch darauf schließen läßt, daß hier Mühe und Fleiß reichlich belohnt wird, und aus deren Blicken ein Etwas leuchtet, was darauf hindeutet, daß hier Arbeiter und Arbeitgeber in gegenseitiger Zufriedenheit auf einander bauen und vertrauen.
Die interessanteste aller dieser Straßen ist unstreitig die „Granatenstraße“ (vergl. Abbildung, S. 208), in welcher Tausende und aber Tausende von Geschossen, wohl geordnet und aufgespeichert, harmlos lagern, um, vorläufig still träumend, einst feuerspeiend ihre blutige Bestimmung zu erfüllen.
Als großartigster aller inneren Räume der Fabrik muß die weite, mit Oberlicht versehene, 10 Meter hohe, 20 Meter breite und 260 Meter lange Halle angesehen werden, in welcher die Panzerplatten in’s Dasein treten, deren größte das formidable Gewicht von 50,000 Kilogramm repräsentiren, was einem ungefähren Rauminhalt von etwa 6 bis 7 Cubikmeter entspricht. Die für einen derartigen Guß erforderlichen Erzmassen werden in den großen in der Halle selbst befindlichen Coupolöfen erzeugt, deren Einrichtung es gestattet, das Roheisen in wenigen Stunden – 10,000 Kilogramm in einer Stunde – niederzuschmelzen. Die Oefen werden nach und nach von der Gicht aus beschickt und, nachdem das Eisen in Fluß gerathen, etwa alle 10 bis 15 Minuten abgestochen.
Die abgestochenen Massen fließen von den Oefen aus nach einem vorläufigen Sammelbassin, dem sogenannten Sumpf, aus welchem sie später, wenn das für den Guß einer Platte erforderliche Quantum vorhanden, von Neuem in einen anderen Behälter entlassen werden, in dem sich das flüssige Metall in Folge der sprudelnden Bewegung gründlich mischt.
Nach einiger Zeit der Abkühlung, welche der kundige Gießmeister bestimmt, und nachdem einige Probegußstäbe angefertigt, zerbrochen und auf ihre Bruchfläche geprüft worden sind, wird die noch immer dunkelrothe feurige Gluth durch eine Schütze in die Dammgrube und nach der in letzterer befindlichen Coquillenform abgelassen. Einem Höllenstrom gleich stürzt die Masse in das unterirdische Dunkel, die in diesem befindliche Luft unter Feuererscheinungen und mit pfeifendem, zischendem Geheul verdrängend.
Die Abkühlung des noch soeben brodelnden Metalls erfolgt höchst langsam, und erst nach mehreren Tagen kann das wohlgelungene Werk der Dammgrube enthoben werden, um mittelst der Dammlaufkrahne nach dem Montageraum der Panzerplatten geführt zu werden, in welchem die weitere Bearbeitung erfolgt.
Der Montageraum ist ebenfalls ein weitläufiges Gebäude – sind hier doch gleichzeitig die verschiedenen Stücke des Panzers, eines Panzerstandes oder Panzerdrehthurms unterzubringen, damit durch Dampfhobel, Meißel, Feile und Fräsemaschine die einzelnen Theile derselben genau an einander gepaßt und vorübergehend aufgestellt werden können. Diese Theile sollen sich später gegenseitig durch die eigene Verspannung und das eigene Gewicht halten; Bolzen und Nieten werden hierzu nicht verwendet, gerade glatte Flächen, hin und wieder ein Falz sind die einzige Verbindung der zwischen den verschiedenen Blöcken sich bildenden Nähte.
Sind auch diese Arbeiten beendet, so können die Panzertheile ihrem Bestimmungsort zugeführt werden, um auf den vorher in Mauerwerk höchst solide hergestellten Unterbauten schließlich als vollendetes Ganzes zur Aufstellung zu gelangen. Selbstverständlich gehören zur Ueberführung aus der Fabrik nach den einzelnen Festungen und Küstenbatterien ganz besondere Transportmittel, bestehend in ausnahmsweise stark construirten Eisenbahnwagen, in Straßenlocomotiven und in mächtigen Schiffsgefäßen, wie z. B. zum Herüberschaffen der Panzertheile für den Bau von Batterien nach den Sandbänken in der Wesermündung.
Steht endlich ein derartiger Panzerdrehthurm (vergl. Abbildung, S. 209) mit ein oder zwei Geschützen fertig da, und werden Thurm und Geschütze bedient, so scheint es kaum glaublich, daß die Herstellung dieses Panzerstandes so viele Umstände gemacht hat. Ein Panzerdrehthurm bietet einen – man möchte fast sagen – zierlichen Anblick dar, und die durch ein sinnreiches Räderwerk, durch die Wirkung von Hand- und hydraulischen Maschinen erzielte Leichtigkeit der Bewegung desselben läßt das Gewicht vergessen, welches doch immerhin mehrere Tausende von Centnern repräsentirt.
Das Geschütz, welches seine Mündung durch eine ganz kleine Scharte neugierig herausschauen läßt, ist auf der Rollbahn d beweglich, und mit demselben kann auch die Kuppel des Thurmes durch wenige Leute, welche im Raume c die Bewegungseinrichtung bedienen, nach jeder beliebigen Richtung leicht gedreht werden. In der Abtheilung f unter dem eigentlichen Thurme liegen die Geschosse, sie werden durch eine Hebevorrichtung zum Geschütze hinaufbefördert, in welcher Weise auch die Kartuschen aus der Casematte e nach oben zu schaffen sind. Rings um das Innere der Kuppel läuft eine Gallerie, die eine Communication um das Geschütz gestattet und den Transport der Munition zu demselben zuläßt. Diese Gallerie ist vorn durch einen Vorpanzer b gesichert, während sie hinten genügenden Schutz durch eine einfache Mauerüberwölbung findet.
Vor dem Vorpanzer und um den Thurm herum liegt außerdem ein mit schweren, starken Granitplatten abgepflastertes, sanft geböschtes Glacis a, welches die Eigenschaft besitzt, etwa vor dem Thurme aufschlagende Geschosse zum Ricochetiren gegen die Panzer gg zu bringen, an deren gewölbten Flächen sie entweder abgleiten oder zerschellen.
Bevor wir aus der Fabrik scheiden, sei noch eines anderen, erst in neuester Zeit in derselben eingeführten Fabrikationzweiges gedacht, nämlich des eines Revolvergeschützes, welches zuerst unter dem Namen „Hotchkiß-Kanone“ in Amerika angefertigt worden ist, augenblicklich aber auch in die deutsche Marine eingeführt wird.
Diese Kanone besteht aus fünf Läufen, welche nach allen Seiten drehbar sind und auf diese Weise ein völlig unbeschränktes Schußfeld haben. Ueber den Läufen befindet sich ein Patronenlager, das auch selbst während des Abfeuerns der ersteren stets von Neuem mit Munition gefüllt werden kann. Das Geschoß [211] besteht aus einer kleinen Granate, deren schnell hinter einander fortgeschleuderte Massen namentlich Torpedobooten sehr verderbenbringend werden möchten. Das Abfeuern des Geschützes wird durch die einfache Drehung einer Kurbel erzielt.
Für heute denn „Lebewohl!“ du Stätte des Todes und der Vernichtung unserer Feinde, du Quelle des Schutzes unserer eigenen Leiber im Kampfe um Deutschlands Ehre. Verschlingst Du auch Tausende und aber Tausende, und wandelst du auch das Gold nur in Hartgußeisen, in ein todtes Capital, so schützest du dagegen hierdurch die lebende Schaffenskraft von Millionen und aber Millionen deutscher Männer und giebst deren Armen an anderer Stelle friedliche Ruhe und Gelegenheit zu reichlich lohnender Arbeit. Möge dieser kriegerische Zweig der deutschen Eisenindustrie uns noch lange den Frieden bewahren!
Zur Erinnerung an Adolf Schults.[1]
„Noch einmal hoffen, hoffen, hoffen!“
So klang des Sängers Schwanenlied,
Der dann, vom frühen Tod getroffen,
Nur allzu bald von dannen schied.
Er dacht’ an Weib und Kinderschaar,
D’rum wollt’ wie müd’ und matt er war,
Nach einmal er empor sich raffen
Zu neuem Hoffen, neuem Schaffen.
Und ach! wohl ist dem müden Mann
Es mit dem Hoffen Ernst gewesen!
Sein letztes Lied – die Thräne rann
Vom Auge mir, als ich’s gelesen –:
In neuem Heft das erste Blatt!
Da hat der Sänger, krank und matt,
Dies Lied, sein letztes aufschrieben –
Das and’re all’ ist leer geblieben!
Es schwieg der Mund auf immerdar,
D’raus manches tiefe Lied erklungen.
Bald hat der treuen Freunde Schaar
Den Sänger in das Grab gesungen.
Es war am Auferstehungstag:
Die neu erwachte Erde lag
Von Frühlingsstrahlen übergossen,
Als sich ob ihm das Grab geschlossen. –
Hin jagt die Zeit in raschem Lauf,
Es drängt sich hastend Well’ auf Welle,
Und ruhlos geht es ab und auf
Das Alte weicht und räumt die Stelle
Dem Neuen ein! Wie manches heut’,
Ist hin, was einst das Herz erfreut,
Und and’res ward geschaffen wieder,
Und jeder Lenz bringt neue Lieder. –
Schon fünfundzwanzig Jahr’ vergangen,
Seit dich der frühe Tod gefällt.
Doch wie, seit deine Weisen klangen,
Sich auch gewandelt hat die Welt:
Du sollst uns unvergessen sein.
Als Kranz auf deinen Leichenstein
Laß dieses Lied mich heute legen,
Und dein Gedächtniß bleib’ in Segen! Hermann Schults.
- ↑ Eine Biographie des Dichters mit Portrait brachte die „Gartenlaube“ im Jahre 1858 kurz nach seinem Tode (S. 485) in demselben Jahrgang (S. 240) sein letztes Lied, mit dessen Schlußzeile das obige Gedicht beginnt. Da jener Jahrgang unseres Blattes vielen unserer Leser nicht mehr zugänglich ist und dem im Leben so unglücklichen Dichter auch noch das Schicksal droht, zu bald für den Werth seiner Dichtungen der Vergessenheit zu verfallen, so wollen wir hier daran erinnern, daß Adolf Schults als Verherrlicher des Familienlebens noch heute sehr hoch, ja in einzelnen seiner Seelenbilder und Lieder als unübertroffener Meister in der „Poesie des Hauses“ dasteht. Dies müssen wir um so höher achten, als bittere Sorge und der Zwiespalt zwischen seinem innern und äußern Beruf ihn nie zu Glück und Frieden kommen ließen. Er war in seinem 14. Jahre als Lehrling in ein Handelshaus eingetreten und Comptoirist bis an sein Ende geblieben. Seine „Gedichte“ erlebten von 1843 bis 1868 vier Auflagen. Außerdem hat er „Märzgesänge“ (25 Zeitgedichte, 1848), „Lieder aus Wisconsin“, „Leierkastenlieder“ etc., und die lyrischen Cyklen: „Zu Hause“, „Martin Luther“, „Ludwig Capet“ und „Der Harfner am Herd“ veröffentlicht. Unsere Gegenwart wirft gegenüber dem, was die Lebenden schaffen, zu viel Besseres zu den Todten.
Hamburgs Zollvereins-Anschluß.
Hamburg steht vor einer Umwälzung, wie sie so großartig, kostspielig und in alle Verhältnisse einschneidend die alte „freie und Hansestadt“ an der Elbe seit ihrem Bestehen nicht erlebt hat. Zum Zweck der Ausführung der neuen Freihafenanlagen soll ein ganzes Stadtviertel abgebrochen werden; 25,000 Menschen müssen andere Wohnungen oder andere Geschäftsräume aufsuchen. Von den auf 106 Millionen Reichsmark geschätzten Kosten desjenigen Ausführungsprojectes, hinsichtlich dessen sich nach mehrjährigem Prüfen und ebenso langem heftigem Streite der Senat und die Bürgerschaft endlich geeinigt haben, trägt das deutsche Reich 40 Millionen, den Rest der hamburgische Staat, welcher dadurch eine für seine Vermögensverhältnisse ungeheuere Belastung übernimmt. Selbst der große Brand Hamburgs 1842 verschlang an unbeweglichem und beweglichem Eigenthume nur 50 Millionen Reichsmark, zerstörte 4219 Häuser und machte 20,000 Personen obdachlos. Doch dieser Vergleich möge nur die Größe ersterer Ziffern illustriren, im Uebrigen ist die Sachlage eine wesentlich verschiedene, schon insofern, als damals Trauer und Kummer dort herrschten, wo jetzt für den größten Theil der Bevölkerung der Himmel voller Geigen hängt; hätte man eine Volksabstimmung vorgenommen, sie wäre vielleicht zu Gunsten einer noch schwereren Belastung der Steuerkraft ausgefallen, zu Gunsten des großartigsten Ausführungsprojectes, welches gar 123 Millionen in Anspruch nehmen wollte.
Wie wesentlich anders waren die Ansichten der Hamburger noch vor etwa drei Jahren! Damals, als sie den erbitterten „Zollkrieg“ mit dem deutschen Reichskanzler führten, schwur die weit überwiegende Mehrheit der Hanseaten auf die Parole „Freihafen“, und nur eine verschwindend kleine Minderheit trat für den „Zollanschluß“ ein. Am 15. Juni 1881 jedoch ward jener Krieg beendet, und der Kern des Friedensvertrages läßt sich etwa in folgende Worte fassen:
„Die Stadt Hamburg wird gegen Ende des Jahres 1888, nach dem 1. October an einem vom Bundesrathe zu bestimmenden Tage, ihre bisherige ‚Freihafenstellung‘ verlieren und dem deutschen Zollverband angeschlossen werden. Sie behält indessen einen ‚Freihafenbezirk‘; innerhalb dieses lediglich von außen zollamtlich zu bewachenden Bezirks ist die Bewegung der Schiffe und Waaren von jeder Zollcontrolle befreit und die unumschränkte Anlegung von industriellen Großbetrieben gestattet. Wohnungen und Kleinhandlungen jedoch sind daselbst nicht zulässig.“
Der deutsche Reichskanzler soll vor etwa einem Jahrzehnte die Aeußerung gethan haben, er verstehe Manches, aber zu verstehen, [212] weshalb im neuen deutschen Reiche die Hansestädte laut Artikel 34 der Reichsverfassung außerhalb des Zollvereins bleiben dürften, sei er nicht fähig. Zweifellos dachten die meisten Deutschen ebenso, und oft genug mußte der im „Binnenlande“ reisende Hanseat die Beobachtung machen, daß seine Freihafenstellung daselbst ein durchaus unverstandenes Ding sei. Es würde uns jedoch zu weit führen, hier eine wenn auch nur kurze Erläuterung der Eigenthümlichkeiten des Hamburger Welthandels-Verkehrs, welche diese Ausnahmestellung bedingten, zu geben.
Daß Hamburg bis zum Jahre 1866 außerhalb des Zollvereins blieb, war schon deswegen selbstverständlich, weil seine nächste Nachbarschaft (Schleswig-Holstein, Lauenburg, die mecklenburgischen Großherzogthümer) ein Gleiches that. Nachdem aber die Schlacht bei Königgrätz geschlagen war, rückte die Zollgrenze eng an die Mauern Hamburgs heran, und die Frage, ob dasselbe auch ferner außerhalb des deutschen Wirthschaftsgebietes bleiben solle, gewann für ganz Deutschland erhöhtes Interesse.
Die Bitte der Hanseaten um Beibehaltung des bisherigen Zustandes fand Gewährung und der erwähnte Artikel 34 der Reichsverfassung (die Hansestädte bleiben außerhalb des Zollverbandes, bis sie selbst ihren Eintritt beantragen) bestätigte eine Ausnahmestellung, wie sie außerhalb Deutschlands nur noch Triest und Singapore aufzuweisen haben: es wurden „zollfreie Niederlagen“ ohne jegliche Zollkontrolle durch ganze Städte gebildet.
Seitdem gab es in Hamburg eine, wenn auch winzig kleine, Zollanschluß-Partei. Sie bildete sich vorwiegend aus zweierlei Bestandtheilen. Erstens aus denjenigen Fabrikanten und Gewerbetreibenden, die nicht für die überseeische Ausfuhr, sondern für die benachbarte deutsche Kundschaft arbeiteten, unter Concurrenz mit dem Zollinlande. Daß für dieselben die Zollgrenze rings um Hamburg schwer schädigend, in manchen Fällen selbst ruinös war, braucht nicht näher beleuchtet zu werden. Zweitens klagten die Händler mit deutschen Fabrikaten. Was sie nach Hamburg eingeführt hatten, ließ sich nur in der Stadt selbst oder im Auslande verwerthen, konnte aber in die nächste, die deutsche Nachbarschaft nicht zurück. Einigermaßen Abhülfe ward ihnen durch eine großartige „Zollvereins-Niederlage“ geschaffen, welche Einrichtung die „Gartenlaube“ 1871 in einem ausführlichen illustrirten Artikel besprochen hat. Aber auch diese Zollvereins-Niederlage war und blieb insofern nur ein Nothbehelf, als ihre Interessenten zwei Lager, zwei Comptoirs, doppeltes Geschäftspersonal halten mußten, einmal in der Freihafenstadt, das andere Mal in der Zollvereins-Niederlage. Jeder Sachkundige wird bestätigen, wie drückend derartiges selbst für größere Geschäfte ist; der kleinere Kaufmann könnte solche Last überhaupt kaum tragen.
Indessen jeder Versuch der Zollanschluß-Partei, in Hamburg selbst zur Geltung zu gelangen, ward im Keime erstickt. Sammelte sie mühsam zu einer Kundgebung 30 Unterschriften an der Börse, so antworteten die „Freihäfler“ mit einem Protest, der sich sofort mit 1500 Unterschriften bedeckte. Auch in den Kreisen der Gewerbetreibenden war das Verhältniß kein wesentlich günstigeres, der Handwerkerstand entschied sich mit seltenen Ausnahmen bei Bürgerschafts- und Reichstagswahlen stets mit sehr großer Mehrheit in demselben Sinne wie die Kaufmannschaft. Selbst die socialdemokratischen Wahlprogramme verfehlten nie, die gut-freihändlerische Gesinnung der Candidaten zu bekunden. Der sonst so ruhige Hamburger, der selbst bei den wichtigsten politischen Fragen kalt zu bleiben pflegte, erwärmte sich sofort, wenn die Anschlußfrage auf’s Tapet kam, und ging begeistert zur Urne, wenn es galt, einen „Anschlüßler“ zu bekämpfen.
Senat und Bürgerschaft, Handels- und Gewerbekammer hielten fest zur Freihafenpartei, und sie fanden in Deutschland ihre mächtige Stütze an der von Camphausen und Delbrück in der Reichsregierung vertretenen Wirthschaftspolitik. Da schrieb der Reichskanzler den inhaltsschweren Brief an den Freiherrn von Thüngen, die „Zollreform“ trat ein, die Hamburger Zollanschluß-Partei, wandte sich an den Reichskanzler, und mit seiner im April 1881 aufgestellten Forderung, daß Altona nebst der hamburgischen Vorstadt St. Pauli dem Zollverband anzuschließen sei, ward der „Zollkrieg“ eröffnet.
Es würde zu weit führen, auf den Verlauf desselben einzugehen; der Hinweis auf den oben skizzirten Friedensvertrag genüge. Letzterer ließ den während der Feindseligkeiten geäußerten Ausspruch Bismarck’s, „er werde die Hamburger durch die Coulanz seiner Bedingungen in Erstaunen setzen“, in der That zur Erfüllung gelangen.
Wir reden hier nicht von der Ansehnlichkeit des vom Reiche zu leistenden Kostenbeitrages, haben vielmehr im Auge, daß den berechtigten Eigenthümlichkeiten des hamburgischen Welthandels voll und ganz Rechnung getragen wird. Schwindet auch die Freihafenstellung, so bleibt doch der Freihafenbezirk, und er ist von überreichlich genügender Größe zur Erfüllung der Bedürfnisse des Welthandels und der hamburgischen Exportindustrie. Selbst eine allgemeine Revision der Zollregulative, speciell bezüglich ihrer Anwendung auf Hamburg, ward vereinbart. Eigene Zollverwaltung durch hamburgische Behörden und hamburgische Beamte ward zugestanden. Unter Berücksichtigung der hamburgischen örtlichen Verhältnisse (Ebbe, Fluth, Eisgang etc.) soll selbst im zollangeschlossenen Theile Hamburgs auf Erleichterung und Vereinfachung der Zollabfertigung Rücksicht genommen werden.
Die Elbe zwischen Hamburg und dem Meere ward zwar zollangeschlossen, indessen die für den Freihafen bestimmten oder denselben verlassenden Schiffe ziehen die schwarz-weiße Zollflagge oder Nachts die grün-weiße Zolllaterne auf und passiren ohne Aufenthalt durch Revision oder Controlle. Selbst die eifrigsten Vertheidiger der Freihafenstellung mußten zugeben, daß die Senatscommission weit mehr vom Reichskanzler erlangt hatte, als je erwartet worden war.
Eine naheliegende Frage möge hier beantwortet werden, diejenige, welchen Vortheil denn das deutsche Reich von der so kostspieligen Umwandlung habe?
Auf einen erhöhten Verbrauch deutscher Fabrikate in der künftig zollangeschlossenen Stadt ist nicht viel zu rechnen, derselbe beträgt jetzt schon, wie Delbrück im Reichstage betonte, siebenzig Procent des gesammten Consums, und von den verbleibenden dreißig Procent wird auch in Zukunft noch Manches dem Auslande zufallen. Auch daß die Freihafenstellung „ein Einfallsthor der englischen Industrie“ sei, wie es während des Zollkrieges hieß, ist falsch; ein solches müßte auch der Freihafenbezirk sein. Triftiger als diese Scheingründe ist die Erwägung, daß Hamburgs Handel in weit kräftigerer Weise für die Förderung des Absatzes deutscher Erzeugnisse nach dem Auslande wirken kann, wenn dieselben beim Lagern in der Hansestadt nicht mehr in die Grenzen einer Zollvereinsniederlage gebannt sind, wenn der deutschen Industrie der freie Verkehr, die unbehinderte Lagerung in der ersten Handelsstadt des europäischen Festlandes eröffnet wird.
Auf diesen Standpunkt stützte sich auch die öffentliche Meinung in Deutschland, welche der Reichskanzler vertrat; das gab selbst der Senat zu. So entstand der Friedensvertrag, ein Vergleich, welcher die gerechten Anforderungen beider Parteien erfüllte.
Dann gab es in Hamburg selbst noch einen heißen Kampf auszufechten, bei welchem zum Glück nicht Pulver und Blut, sondern nur Tinte und Druckerschwärze[WS 1] zu massenhaftem Verbrauch kamen. Es handelte sich um Abgrenzung des Freihafenbezirks, bei welchem die Reichsregierung dem eigenen Ermessen der Hamburger einen mäßigen Spielraum gelassen hatte.
Die zwei bis drei Procent des Gesammtraums, um welche es sich handelte, sind städtisch bebaut, liegen in den werthvollsten Stadttheilen, sind viele Millionen werth. Sollte man möglichst viel oder möglichst wenig abbrechen? Die Antwort wäre leicht gefunden, wenn sich das Raumbedürfniß der Kaufmannschaft hätte genau schätzen lassen; hier aber galt es, nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft zu schätzen, und die Kaufmannschaft theilte sich in zwei ziemlich gleich große Parteien. Die „Abbruchsgegner“ betonten, daß die von dem großartigsten Project geforderte Last von 83 Millionen (nach Abzug der 40 Millionen vom Reiche) viel zu schwer für die Finanzen des kleinen hamburgischen Staates sei. Die „Abbruchsfreunde“ schalten über Flickwerk und Stückwerk. Nach langem Streit kam ein Compromiß zu Stande, welcher das im Eingange dieser Zeilen erwähnte, 106 Millionen kostende Project mit großer Mehrheit Annahme finden ließ.
Eine Uebersicht des demgemäß in den nächsten Jahren zum Abbruch gelangenden Stadttheiles führt unser größeres Bild den Lesern vor. Das Ganze bildet die sogenannte Kehrwieder- und Brooksgegend nebst einem Theile der Wandrahmsgegend, es liegt fast sämmtlich im Katharinen-Viertel und macht einen großen Theil desselben aus. Das Bild gewährt zugleich einen Einblick in das rege Treiben am Hafeneingange eines der hamburgischen „Fleete“, wie die Wasserläufe, mit denen Elbe und Alster die Stadt durchziehen, genannt werden. Die vielen flachen mit Waaren beladenen Fahrzeuge,
[213][214] „Schuten“ genannt, sind eins der nützlichsten Handwerkszeuge des Handels; ein einziger Mann, der „Everführer“, kann mittelst langer Hakenstange, des „Peekhakens“, welche er auf den Grund setzt und deren Krücke am anderen Ende er gegen seine Brust stemmt, die Schute leicht vorwärts bewegen; so bietet sich eine ebenso bequeme wie billige Beförderung auf dem Wasserwege. Ist Eile vonnöthen, so spannt sich der flotte kleine Schleppdampfer vor.
Die dem Abbruch geweihte Gegend gehört zu den älteren Hamburgs: dennoch liefert eine Suche nach Alterthümlichkeiten in derselben nur ein dürftiges Ergebniß. Der historische Sinn war stets sehr gering entwickelt im Hamburger. Das Initial, welches unseren Artikel schmückt, bietet den Typus der sogenannten Fachwerksbauten (Holzgerippe mit Ziegelausfüllung), aus denen der weitaus größte Theil der älteren hamburgischen Straßen besteht, immer das höhere Stockwerk über das untere hervorspringend, die Fenster nur durch Balken getrennt.
Das abgebildete Gebäude gehört zu Hamburgs Merkwürdigkeiten insofern, als es vor manchen hundert Jahren (so erzählt die Sage) eine tugendsame Jungfrau zur Besitzerin hatte, die in einen Schiffsbauergesellen sterblich verliebt war. Der Schiffszimmermann aber ward ein Schiffer, ging zur See und kehrte nie zurück. Das Jungfräulein grämte sich und starb, nachdem es sein Haus an die ehrbare Schiffbauer-Genossenschaft vermacht hatte, unter der Bedingung, daß zum Andenken der jungfernkranzberechtigten Spenderin stets ein Kranz an dem Hause hängen müsse: gehe er verloren, so falle das Haus einer frommen Stiftung zu.
Da hingen denn die Schiffsbauer ihr Wappen an dem Hause auf, ein Schiff mit Maststumpfen, wie es auf den Helgen gebaut wird und vom Stapel läuft, und darunter hingen sie einen mächtigen Kranz. Immer nach einigen Jahren, wenn derselbe stark von Wind und Wetter mitgenommen, zieht das ganze Gewerk mit Fahnen und Musik hin und hängt einen neuen mächtigen Kranz auf, und das geschieht noch heutigen Tages – bis der Zollanschluß-Abbruch Kranz und Haus zerstören wird.
Und um diesen Abbruch wird noch manche heiße Thräne fließen. Unter den auszutreibenden 25,000 Menschen befindet sich so mancher kleine Geschäftsmann, dessen sichere Existenz auf der in der Nachbarschaft erworbenen Kundschaft beruht; so etwas ersetzt sich nicht so schnell wieder in entfernter Stadtgegend. Wohl muß der Staat die Häuser, welche er sich aneignet, bezahlen, aber auf die meisten Verluste der obenerwähnten Art trifft das hamburgische Expropriationsgesetz nicht zu. Doch die Zahl der Trauernden ist winzig gegenüber derjenigen der Jubilirenden. Die Hauswirthe Hamburgs litten in den letzten Jahren an einer durch Bauschwindel hervorgerufenen Ueberproduction; jene 25,000 aus ihren bisherigen Wohnungen auszutreibenden Menschen sollen die leeren Wohnungen füllen, die Miethen steigen lassen. Die Bauhandwerker träumen von einem Goldregen, der sich in Folge der zu beschaffenden Neubauten über sie ergießen wird; die übrigen Handwerker rechnen darauf, daß es auch ihnen gut geht, wenn so viele Millionen in Umlauf kommen. Die Kaufleute wünschen anstatt der alten Speicherbauten neue praktische Niederlagen, die ihnen der Staat dann im Interesse des Handels zu recht billigem Preise überlassen möge. Im Allgemeinen hofft man auf einen Aufschwung des Verkehrs, welcher für alle Stände reiche Früchte tragen soll. Werden diese Hoffnungen sich erfüllen? Oder werden die Stimmen derer Recht behalten, welche vor dem Tanz um’s goldene Kalb warnen, welche an den Milliardenschwindel nach 1871 erinnern und die den auf den kurzen Taumel folgenden „Krach“ prophezeien? Und wird Hamburg im Range unter den Weltmärkten steigen oder verlieren?
Die Zukunft wird es lehren. Heutzutage kann Niemand die Folgen einer so gewaltigen Umwälzung, wie sie Hamburg bevorsteht, mit annähernder Sicherheit voraussagen. Einigen Trost gewährt es, daß der Handel anschmiegungsfähiger betreffs neuer ungewohnter Verhältnisse ist, als mancher andere Zweig des menschlichen Wirkens, und daß Hammonia, die Schutzgöttin Hamburgs, schon unter so manchem Sturm ihr Haupt tief gebeugt, sich aber immer rasch wieder muthig emporgerichtet hat. Krieg, Brand, Ueberschwemmung, Handelskrisen, Alles ward bisher von den zähen Hanseaten verhältnißmäßig schnell verschmerzt. Hoffen wir, daß auch nach der bevorstehenden Uebergangszeit Hamburg neu aufblühen möge, auf daß es nach wie vor erglänze als eine der schönsten Perlen in der Krone des deutschen Reiches!
Beamtenfängerei.
Es giebt eine Art Hazardspiel, nicht weniger schlimm, als das Kartenspiel, eine Art Glücksspiel, welches nicht bei verschlossener Thür eines feinen Restaurants und nicht an dem Tische einer Spielhölle à la Monaco, sondern offen an den Börsen unserer großen Städte getrieben wird. Der Lauf der Geschäfte, der wechselnde Ertrag der Ernten und die Fehler oder Siegestrumpfe der Diplomaten bewirken es, daß der Werth der verschiedenartigsten Actien, der verschiedensten Producte des Bodens und der Staatspapiere ewigen Schwankungen ausgesetzt ist. Auf der Actie steht z. B. ihr nomineller Werth mit 100 Mark verzeichnet, aber auf dem Geldmarkte werden für dieselbe Actie bald 105, bald nur 95 Mark bezahlt. Heute kosten, um das Beispiel zu erweitern, 1000 Kilogramm Weizen 160 Mark, aber in sechs Monaten muß man für dieselbe Waare vielleicht 180, vielleicht auch nur 140 Mark, je nach dem Ausfalle der Ernte, bezahlen. Der Kaufmann und der Banquier müssen mit diesen naturgemäßen Schwankungen rechnen, sie müssen speculiren und die Speculation in den Bereich ihrer geschäftlichen Erwägungen ziehen. Darüber ist kein Wort zu verlieren.
Nun giebt es aber Leute, welche dieses Steigen und Fallen der Preise dazu benutzen, um aus dem Kaufen und Verkaufen der Werthe ein besonderes Geschäft zu machen, welche Actien kaufen, um sie zu höherem Preise zu verkaufen und den mühelosen Gewinn in ihre Taschen zu streichen. Das müssen wohl reiche Leute sein, werden unsere Leser sagen; denn, um einige hundert Mark zu verdienen, muß man für viele Tausend Actien kaufen. So denken die Meisten und erklären wohl: was gehen uns die wenigen Herren an, die um das goldene Kalb tanzen!
Aber sie irren. Jenes Spiel auf der Börse kann in Wirklichkeit mit viel geringeren Mitteln betrieben werden. Man braucht nur eine Art Wette einzugehen, einen Vertrag abzuschließen, der etwa folgendermaßen lautet: Schulze verpflichtet sich, Kohlenactien irgend welcher bestimmten Art für 100,000 Mark, welche heute, am 1. April dieses Jahres, auf der Börse mit 105 Mark pro Stück notirt werden und also den Werth von 105,000 Mark repräsentiren, am 1. October dieses Jahres an Müller zu demselben Preise zu liefern, und Müller verpflichtet sich, am genannten Termine für die tausend Stück Actien Herrn Schulze die vereinbarten 105,000 Mark auszuzahlen. Schulze speculirt: die Actien werden inzwischen fallen und am 1. October nur mit 100 Mark pro Stück notirt werden, ich werde also bis dahin 5000 Mark verdienen, denn ich kann die Actien, wenn das Glück mir günstig bleibt, für 100,000 Mark kaufen, werde sie aber für 105,000 veräußern. So setzt Schulze auf das Sinken der Werthe seine Hoffnung, und er speculirt auf die Baisse, wie man an der Börse sagt. Müller ist dagegen der entgegengesetzten Meinung, er denkt sich: die Actien werden steigen, am 1. October wird man für das Stück 110 Mark zahlen müssen, und der gute Schulze muß sie mir für 105 Mark liefern, ich verdiene also meine 5000 Mark. So setzt Müller seine Hoffnung auf das Steigen der Werthe, er spielt à la hausse.
Aber die Herren denken nicht daran, die 1000 Stück Actien wirklich zu kaufen: denn keiner von Beiden besitzt ein Vermögen von 100,000 Mark. Sie verpflichten sich nur gegenseitig am 1. October den Gewinn oder den Verlust, das heißt die Differenz, auszuzahlen und legen zu diesem Zwecke bei einem Banquier eine Caution von ein paar Tausend Mark nieder. Die Caution kann natürlich verloren gehen, sie kann aber auch, wenn der Spieler richtig speculirt hat, das Dreifache und Vierfache der deponirten Summe einbringen. In der That, ein verlockendes Geschäft! Aber es ist nur ein Hazardspiel, das wir, freilich ohne auf alle Finessen desselben einzugehen, nur in großen Zügen hier schildern konnten.
[215] Geht nun ein Familienvater in eine Gesellschaft, wo hoch gespielt wird, und setzt er seine Ersparnisse auf die Karte, so verdammen wir seine Handlung mit Recht, denn sie ist unsittlich. Spielt er aber an der Börse, so begeht er ein gleiches Vergehen, das muß jeder billig denkende Mensch zugeben. Lange war die Börse für den schlichten Mann aus dem Volke unzugänglich, und das war ein Segen. In neuester Zeit aber haben sich Leute an den hauptstädtischen Börsen etablirt, welche sich als Banquiers dem Volke vorstellen, diejenigen, die sich ein kleines Vermögen erspart haben, zum Börsenspiel einladen, und dabei den Unerfahrenen vorspiegeln, diese Art Speculation sei die sicherste Kapitalanlage!
Umsonst thun das die Herren freilich nicht. Wer sollte auch von ihnen diese Menschenfreundlichkeit verlangen! Für ihre Mühe berechnen sie sich von jedem Geschäftchen eine kleine Provision, und da die Masse es bringt und der Vermittler nichts riskirt, so ist dieses Spiel für ihn in der That eine sichere und lucrative Erwerbsquelle.
Es ist daher die höchste Zeit, das Volk vor derartigen Verlockungen, wie wir ihnen fast täglich in den Annoncen größerer und kleiner Blatter begegnen und wie sie uns auf gedruckten Circularen in’s Haus geschickt werden, auf das Entschiedenste zu warnen. Namentlich scheinen es die biederen Vermittler „der sichersten Capitalsanlage“ gegenwärtig auf den Beamtenstand abgesehen zu haben, und wir veröffentlichen deshalb die uns aus den betheiligten Kreisen zugegangene nachfolgende Zuschrift:
„In jüngster Zeit werde ich, ein Beamter, zum Glück ohne Vermögen, daher vergeblich, von Zeit zu Zeit mit mechanisch vervielfältigten Zuschriften eines hauptstädtischen ‚Banquiers‘ beehrt, worin mir in reizvoller Abwechselung heute die Anschaffung, das nächste Mal die Abschaffung und dann wieder der Ankauf immer wieder derselben Speculationspapiere, selbstverständlich zu bewirken durch Vermittelung des wohlwollenden Briefschreibers, mit vielen und süßen Worten anempfohlen wird.
Als Gründe für den Ankauf erscheinen bald ein überraschender Geldüberfluß an der Berliner Börse, bald – die derzeitige Baisse, welche von den treibenden Kräften nur erzeugt worden sei, um desto rapider in ihr Gegentheil verkehrt zu werden. Dazwischen wird, jedenfalls der Abwechselung halber, ein Alarmartikel der ‚Vossischen Zeitung‘ über die russischen Rüstungen wörtlich zum Abdruck gebracht, um mich zum schleunigen Verkauf der kaum erworbenen Papiere zu ermuthigen. Drei Wochen später dagegen ‚glaubt‘ der gute Freund bereits wieder, mir ‚jetzt eine Speculation à la hausse mit Ruhe empfehlen zu können‘. Dieselben Papiere werden heute als ‚sehr festliegend und steigerungsfähig‘, in vierzehn Tagen als ‚gefährdet‘ und abermals in drei Wochen als ‚besonders gesund und steigerungsfähig‘ angepriesen oder verdächtigt. Immer aber erscheint im Hintergrunde die ‚haute finance‘ als die mystische, indessen vom Briefschreiber vollständig durchschaute Gottheit, deren verschlungenen Wegen ich nur andächtig nachzuwandeln brauche, um schnell und sicher reich zu werden.
Schnell und sicher! Der geschäftskundige Leser wird keinen Augenblick im Zweifel sein, daß der in eignen Angelegenheiten zumeist am wenigsten geschäftskundige Beamte, auf den es der gute Freund in erster Linie abgesehen hat, zwar nicht immer schnell, aber ganz sicher seine kleinen sauer zurückgelegten Ersparnisse vermindert und aufgerieben sehen wird. Der Briefwechsel zweier Liebenden ist freilich eine Schneckenpost gegen die Correspondenz, welche sich aus der ‚Geschäftsverbindung‘ zwischen dem guten Freunde und dir, du guter, harmloser, aber schnell reichwerdenwollender Beamter, entwickelt. Ein Brief jagt den andern; die dringliche Depesche überholt beide. Nur schade, daß auch die letztere regelmäßig zu spät kommt, denn ehe man den Auftrag, die Papiere zu verkaufen, geben kann, hat sich ihr Werth an der Börse bereits zu Ungunsten des Adressaten geändert. Der Rath des guten Freundes mag im gegebenen Falle ehrlich, er mag golden sein. Aber er hätte, als er erteilt wurde, auch schon befolgt sein müssen. Denn die ‚haute finance‘ wartet nicht, bis die Kaufs- oder Verkaufsordres des kleinen Kapitalisten aus der Provinz schweißtriefend am Börsenort angelangt und befolgt sind. Schon hat sie, ach, in ihrer unerforschlichen Weisheit einen neuen Feldzugsplan gefaßt und verwirklicht, und merkwürdiger Weise gerade das Gegentheil von dem bisherigen!
So wird der kleine Kapitalist nicht blos nervös gemacht, sondern auch ausgehöhlt durch die tropfenförmigen Porti, Telegrammgebühren, Provisionen, Depositalgebühren und Auslagen des guten Freundes, der doch auch leben will, schlimmer freilich noch durch die gießbachartigen Zinsverluste, Coursweichungen und Zubußen bei Zeitgeschäften. Der arme Mann führt sehr drastisch an sich selbst die schöne Geschichte von Hans im Glück auf, und mag zusehen, was er für seinen kleinen, aber gediegenen Goldklumpen (gelbe Doppelkronen oder biedere Staatspapiere) dereinst vom guten Freunde zurückerhalten wird.
Aber, sagt hier der gütige Leser, warum soll nicht ein Jeder mit seinem Pfunde wuchern oder es vergeuden dürfen, wie es ihm gefällt? Was kümmert’s uns, wenn und wie ein Beamter reich oder arm wird?
Gestatte man mir nur soviel Worte, als man Seiten darüber schreiben könnte, wie sehr das allgemeine Wohl und darum auch du, lieber Leser, bei diesem Dinge betheiligt ist.
Zuerst giebt’s nicht zum Spaße einen ‚landesüblichen Zinsfuß‘, eine Grenze des Gewinns, über welche hinaus normal und auf die Dauer das bloße Wuchernlassen von Capital – vom Kaufmann, der mit seinem Gelde arbeitet, ist hier keine Rede – nicht führen kann und daher, meine ich, auch nicht führen darf; am wenigsten in der Hand des Beamten, der sich das öffentliche Vertrauen durch strengste und meinetwegen philiströse Rechtschaffenheit tagtäglich neu verdienen muß. Sucht dieser, anstatt bei sicherster Anlage vier, durch Börsenspeculation acht oder zwölf Procent aus seinem Pfunde herauszuschlagen, so ist er noch lange kein Wucherer. Aber, ohne es zu ahnen, steht er auf der ersten Stufe der Leiter, die in den Sumpf und die moralische Verderbniß des Wuchers hinabführt.
Nimmt nun die Sache den üblen Verlauf, wie wir oben sahen, so haben wir Beamte, die in ihrem Alter nichts haben und bei ihrem Tode nichts hinterlassen, als den Gnadengehalt, den der Staat ihnen oder den Ihrigen verheißen hat, das heißt: zu viel zum Verhungern, zu wenig zum anständigen Leben und gerade genug, daß das fatale Beamtenproletariat um eine neue Sippe vermehrt wird. Und doch gehören diese noch zu den Glücklichen, die den Ihrigen als bestes Erbtheil einen unbefleckten Namen zurücklassen.
Aber kennt ihr nicht die zahllosen Fälle aus Gerichtsverhandlungen und mehr noch aus eurer eigenen Umgebung, wo ein Beamter durch die Aufregung und Mühelosigkeit des Speculirens die Lust an ernster und strenger Berufs- und Geistesarbeit verloren, den schnell errafften Börsengewinn noch schneller in gemeinem Hazardspiele oder in Luxus über seine Kräfte hinaus vergeudet und, wenn dann die Verluste kamen und der klaffende Spalt wieder aufzufüllen war, in Angst und Bedrängniß die anvertraute Casse erst vorübergehend und dann gründlich angegriffen oder sonst sich zu Mißbrauch des Amtes oder gar zu Fälschung hat hinreißen lassen? Und er war doch ein rechtschaffener, von liebevollster Sorge für die Seinen erfüllter, nur leider nicht ein geschäftskundiger Hausvater!
Daß die Zahl solcher Beamtencarrièren nicht vermehrt und daß die Unantastbarkeit des deutschen Beamtenstandes erhalten werde, ist eine Angelegenheit des ganzen Volkes. Und wenn diese Zeilen in Etwas dazu beitragen, einen oder den andern Empfänger jener Briefe stark und kalt zu machen gegen die Lockungen des guten Freundes, dann ist ihr ganzer Zweck erfüllt.
„Auch mit deinen Ersparnissen bleibe im Lande, Beamter, und nähre Dich redlich!“
Blätter und Blüthen.
Zur Kaiser Joseph-Verehrung in Oesterreich. Die Deutschen Oesterreichs haben sich unbezweifelt in ihrem gegenwärtigen harten Kampfe um die Wahrung ihrer Nationalität die Sympathien Deutschlands zu erringen gewußt – Beweis dessen die kräftige Unterstützung, deren sich der Deutsche Schulverein „draußen im Reiche“ zu erfreuen hat.
Es ist ein mannhaftes Werk und gereicht den Deutschen Oesterreichs zur größten Ehre, daß sie ihren politischen Gegnern nicht durch schnöde Denuncirung zu Leibe rücken, also Gleiches mit Gleichen bezahlen, sondern sich darauf beschränken, lediglich auf ihre deutsche Kultur und auf ihre deutschen Ideale zu pochen, wenn es gilt, den Gegner mundtodt zu machen.
[216] Die Machterkennung der deutschen Cultur war es, welche einigen wackeren Deutschen in Wien Veranlassung zur Gründung des Deutschen Schulvereins gab, und deutsche Ideale sind es wiederum, welche das deutsch-österreichische Volk veranlaßt, den Manen des größten Fürsten, der jemals auf Habsburgs Thron saß, – Kaiser Joseph des Zweiten – allüberall Denknäler zu errichten.
„Ich bin ein Deutscher, freue mich darüber und bin stolz darauf, ein Deutscher zu heißen!“ Diese Worte jenes unvergeßlichen Volkskaisers sollen die Denkmäler eben ehren.
Es ist nun unschwer zu errathen, warum die vielen Kaiser Joseph-Denkmäler, die namentlich in Deutsch-Böhmen jetzt überall errichtet werden, dem Slaventhum, das gegenwärtig im Hause Oesterreich die Primgeige spielt, so ungelegen kommen. Man hat in der Denuncirungswuth selbst davor nicht zurückgeschreckt, dies geradezu als eine – Demonstration gegen das österreichische Herrscherhaus zu deuten, als wenn Kaiser Joseph kein Habsburger gewesen wäre!
Wie sonderbar da oft selbst von den österreichischen Behörden vorgegangen wird, um ja das Deutschthum in den Hintergrund zu drängen, davon ein Beispiel aus jüngster Zeit:
In Pilsen war’s und Elmar’s Volksstück „Kaiser Joseph im Volke“ sollte zur Aufführung gelangen. Am Schlusse des zweiten Bildes, welches eine Episode aus der Zeit der Hungersnoth darstellt, legt Elmar dem Kaiser die Worte in den Mund: „Vergesset es nie und mögen eure Nachkommen sich dessen stets erinnern, daß ein deutscher Fürst es war, der Böhmen Hülfe brachte.“ Statt „deutscher Fürst“ mußte nun „ein Habsburger“ gesetzt werden – so entschied die weise Censur zu Pilsen und dabei blieb’s. – –
Die Deutsch-Oesterreicher werden sich durch solchen Chauvinismus gewiß niemals ihr Deutschthum rauben lassen, und je größer der Druck von oben, desto größer der Gegendruck nach außen, bis man hohen Orts zur Einsicht gelangen wird, daß das Deutschthum – der Träger der Cultur in Oesterreich – denn doch ein Factor sei, mit dem man rechnen müsse und der sich nicht auf so leichte Weise, nachdem er seine Schuldigkeit gethan, beseitigen lasse.
Und weil nun die Deutschen Oesterreichs in dieser für sie bedrängten politischen Lage so patriotisch dankbar sind, die großen Männer ihres Vaterlandes, die für das Deutschthum und das Wohl Oesterreichs gestritten und gelitten, zu ehren, müssen wir die Kaiser Joseph-Denkmäler als die Versinnlichung ihrer Ideale, freudigst begrüßen.
Es ist bezeichnend, daß die Kaiser Joseph-Bilder gerade jetzt in
Deutsch-Oesterreich wie Heiligenbilder verehrt werden und fast in jedem Hause
anzutreffen sind.[1] – d –
- ↑ Da hat auch unlängst so ein wackeres Comité zur Errichtung eines Kaiser Joseph-Denkmals einen löblichen Entschluß gefaßt. In dem durch seine Glasindustrie weltberühmten Gablonzer Bezirke liegen die drei blühenden, in raschem Aufschwunge begriffenen, mit einander zusammenhängenden Ortschaften Maxdorf–Josephsthal-Antonienwald. Das dortige Comité zur Errichtung eines Kaiser Joseph-Monumentes kam – eingedenk seines Wahlspruches: „In jedes deutsche Haus ein Kaiser Joseph-Monument!“ – auf den Gedanken, kleine Standbilder aus Glas, jenen populären Kaiser darstellend, anzufertigen, und will diese durch Vereine und Gesinnungsgenossen in ganz Oesterreich verbreiten lassen. Im Hinblicke auf den patriotischen Zweck werden die meisterhaft ausgeführten, circa zwanzig Centimeter hohen Standbilder zu sehr mäßigem Preise (einen Gulden per Stück) geliefert und fällt der Reingewinn dem dortigen Denkmalfonds zu. Hoffentlich wird kein deutscher Verein „drinnen und draußen im Reich“ es unterlassen, die Weiterverbreitung dieser Standbilder, als Symbol des Deutschthums, sich zur Ehrenpflicht zu machen und sich mit dem Comité (Post Maxdorf in Böhmen) in’s Einvernehmen zu setzen.
Der Handfertigkeitsunterricht in Sachsen. Seit dem Unterrichtscursus
zur Heranbildung von Lehrkräften für Handfertigkeit im Sommer
1882 zu Dresden ist man im ganzen Lande in erfreulichster Weise dieser
hochwichtigen Volkserziehungsfrage näher getreten. Die „Gartenlaube“
brachte in Nr. 33 des vorigen Jahrganges einen größeren illustrirten
Artikel über jenen Cursus, und kommt es den Lesern desselben wie allen
Freunden der Bewegung gewiß nicht unerwünscht, wenn wir über die
angedeuteten Fortschritte seit jener Zeit kurzen Bericht erstatten.
Vor Allem darf man mit Genugthuung erklären, daß die sächsische Regierung die wahren Interessen eines so hervorragenden Industriestaates wie Sachsen richtig erkannte und dieser praktischen Erziehungsreform weit mehr als bloße Aufmerksamkeit zuwendete. Hand in Hand mit den Gemeinden errichtete dieselbe zunächst in Pirna und Schandau Handfertigkeitsschulen unter Clauson von Kaas, die, abgesehen von dem erziehlichen Zweck, darauf hinsteuern, der Steinbrecherjugend in den dortigen Gegenden neue Erwerbsquellen zu erschließen. Die Steinbrecherei im Elbsandsteingebirge liegt darnieder, die Verdienste sind bei schwerer Arbeit auf ein unleidliches Minimum herabgedrückt, doch das Schlimmste ist der lungenertödtende Staub in den Brüchen, der einen erschrecklichen Procentsatz aller jungen Männer schwindsüchtig macht. Man will nun durch den Handfertigkeitsuntericht die Jugend von zu frühem Eintritte in den Steinbrecherberuf zurückhalten; denn erfahrungsgemäß verfällt die reifere Jugend wie das Mannesalter viel seltener dieser unheimlichen Krankheit, die hier den Charakter einer Gewerbekrankheit angenommen, und zu diesem Zwecke sollen vorwiegend Holzindustrien eingeführt werden, welche durch die ausgedehnten Waldungen der Gegend auch am besten gesichert erscheinen.
Dem Ministerium des Innern hat sich auch das Ministerium des Cultus sympathisch angeschlossen; es öffnete der Handfertigkeitsbestrebung die Pforten der königlichen Seminare, und so konnte bereits am 3. Februar Clauson von Kaas im Seminar zu Dresden-Friedrichstadt einen Unterrichtscursus in Scene setzen. Den Zöglingen war die Theilnahme völlig freigestellt worden, doch hat sich auch nicht ein Einziger ausgeschlossen. Besonders segensreich verspricht der Unterricht Clausun’s, des ehemaligen dänischen Rittmeisters, in der königlichen Blindenanstalt zu Dresden zu werden; der Verfasser sah von blinden Knaben in Thon modellirte Thiere von wirklich künstlerischer Auffassung; wir haben keine andere Bezeichnung dafür als das Wort „Unbegreiflich“ in Anbetracht der Blindheit der jungen Künstler.
Etwas langsamer, aber doch unaufhaltsam, greift diese natürliche Reaction gegen geistige Ueberbürdung und krankhafte Spitzfindigkeit in den Gemeinden um sich. Merkwürdig ist das Verhalten der Gewerbevereine – hier die wärmste Zuneigung und Aufnahme, dort das frostigste Mißtrauen; ähnlich steht es auch bei Behörden und in der Lehrerwelt, doch wir wollen den gegnerischen Gründen nicht nachspüren, das führte zum Polemisiren und wir wollen uns heute nur an Thatsachen halten.
In Zittau soll gegenwärtig in zwei Localen mit dem Unterricht begonnen werden, ebenso sind Anfänge zu vermelden von Pausa und Bischofswerda. In Rochlitz fanden sich 33 Theilnehmer zu einem Cursus zusammen. In Meerane hat der Rath die Angelegenheit in die Hand genommen, zunächst um Lehrkräfte heranzubilden; in Thum und in Markneukirchen sind „Schnitzelschulen“, wie man sie dort nennt, in voller Thätigkeit. In Gottleuba lehrt man besonders die bessere Strohflechterei, was auf den weiten Strohflechterbezirk des östlichen Erzgebirges von höchstem Vortheil werden kann, da hier die feineren und lucrativeren Flechtereien bisher nicht gefertigt werden konnten. In Schöneck richtete sich das gesammte Lehrerpersonal selbst eine Lehrwerkstätte ein, in Plauen hat man wenigstens im Waisenhaus mit dem Unterricht begonnen, ebenso in Auerbach in der landwirthschaftlichen Schule.
Obenan stehen die Städte Leipzig und Dresden, insbesondere haben Mitglieder im Dresdener Rath die ganze Idee eifrig gefördert. So konnte Director Kunath, ebenfalls ein warmer Freund der Sache, in der siebenten Bürgerschule zu Dresden einen permanenten Handfertigkeitunterricht einführen, und wer sich aus eigener Anschauung unterrichten will, der besuche diese Schulwerkstätte, bewundere die sauberen und höchst gefälligen Arbeiten und freue sich an den vergnügten Gesichtern der Knaben, die zum Theil den höheren Ständen angehören, also voraussichtlich gar nicht beabsichtigen Handwerke zu erlernen, aber in geschickter Handhabung der Werkzeuge „Niemandem etwas hinausgeben“.
Wir möchten allen Gegnern dringend anrathen, in die erste beste gutgeleitete Schulwerkstätte zu gehen; wer sich hier nur einmal ordentlich umgethan und das Vergnügen und die helle Lust der freiwilligen Arbeit beobachtet, der kann kein Feind der Sache mehr sein; der muß ein Paulus werden und sei er ein noch so grimmiger Saulus gewesen. Scheint es uns doch, die ganze Gegnerschaft stütze sich viel weniger auf Gründe als auf – Mißtrauen.
Zum Schluß wollen wir noch verrathen, daß in Dresden ein Centralverein
für Hendfertigkeit in der Bildung begriffen ist, der, nach den
Vorversammlungen und nach den Männern, die zur Leitung berufen sind,
zu schließen, zur kräftigsten Initiative übergehen wird; doch behalten wir
uns den Bericht hierüber für später vor. Th. G.
Kleiner Briefkasten.
Abonnentin M. in Riga. Wenden Sie sich, mit genauer Angabe Ihrer Adresse, an die Verlagshandlung der „Gartenlaube“, dieselbe wird Ihnen über die Sache die gewünschten Mittheilungen machen.
F. F. T. in „7-bürgen“. Ihr Manuscript ist, hinsichtlich eines Theils des Inhalts, benutzt, wie Sie in Nr. 12 der „Gartenlaube“ sehen. Was aber Ihre Anfrage in Bezug auf einen „Specialarzt“ betrifft, so müssen Sie unbedingt einen Arzt, der den Kranken persönlich untersucht, zu Rathe ziehen, niemals aber einen wählen, welcher „brieflich heilt“. Briefliche Curen sind zum größten Theil Schwindel und können nie als gewissenhaft gelten.
O. S. in M. Es sank hinab zu vielen stillen Genossen.
J. A. Solches Buch ist uns nicht bekannt. Die Postverwaltung hat genaue Bestimmungen erlassen, welche an jedem Postschalter käuflich sind.
Elsa und Martha in Kappel 12 M.; Möhlmann in Finkenwärder 3 M.; gesammelt durch Lehrer O. Metze in Friedrichshöhe 12,30 M.; fernerer Ertrag einer Sammlung durch den Vorstand des deutschen Vereins „Concordia“ in Kopenhagen 50 M.; eine Deutsche in Maidenhead bei Windsor 5,10 M.; die Herrmann-Loge Nr. 133 des Ordens der Odd Fellows in Boston 460 M.; Ertrag einer Theatervorstellung des South Bend Männerchors in South Bend, Ind., 575 M.; Sammlung des Boylston Schulvereins in Boston, Mass., 1000 M.; Sammlung im deutschen Verein „Liedertafel von 1867“ in Kopenhagen 360 M.; der deutsche Hülfsverein in Oshkosh, Wis., 1389 M.; Sammlung in Ogden, Utah, 1350 M., Sammlung der Gesellschaft „Teutonia“ in San Francisco, Cal., 562,50 M.; Sammlung im „Thalia-Verein“ in San Francisco, Cal., 1041,75 M. (Summa der 1. und 2. Quittung 10.585 Mark 59 Pfennig.)
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Druckerschärze.