Die Gartenlaube (1881)/Heft 1
[1]
No. 1. | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Amtmanns Magd.
Die alte Frau Oberforstmeisterin war schon seit länger als einem Jahr verstorben. Ein Jahr ist für die Todten, die bekanntlich schnell vergessen werden, eine lange Zeit, und die alte Dame im Hirschwinkel hatte nach landesläufigem Ausdruck keinerlei „Freundschaft“[1] hinterlassen - es war um ihretwillen weit und breit auch nicht das kleinste Stückchen Trauerband gekauft und angelegt worden. Somit wäre ihr einsames Dasein wohl ohne Weiteres spurlos verlöscht, wie ein ausgeblasenes Licht, wenn sie nicht zeitlebens den starkmarkirenden Stempel einer Sonderlingsnatur getragen hätte - solche Signatur aber verflüchtigt sich nicht so bald für die Ueberlebenden.
Die wenigen Dorfleute, die ihr Weg dann und wann am Gutshause im Hirschwinkel vorüberführte, guckten deshalb auch beharrlich nach dem Erkerfenster im oberen Stock und erwarteten steif und fest, daß der kleine Frauenkopf mit den weißen Ringellöckchen an Stirn und Schläfen und der Stahlbrille auf dem Nasenrücken beim Geräusch ihrer Schritte lebhaft herumfahre und durch die Scheiben sehe. Da hatte ja immer der scharfmusternde Blick, über die Brillengläser hinweg, jedes noch so ängstlich verheimlichte Loch im Aermel, jeden Schmutzflecken an den Schürzen und Weiberröcken, aber auch die stillste Leidensmiene sofort bemerkt, und je nachdem war ihnen ein Wort strengen Tadels, oder die Aufforderung, doch schnell einmal mit dem Armsündergesicht heraufzukommen, zugerufen worden.
Den Arbeitern im Walde aber, den Holzknechten, den Pechsiedern und Kienrußbrennern fehlte sie erst recht. Das „Waldweiblein“ war immer so pünktlich und rüstigen Schrittes dahergekommen. Die schwarze Krepphaube, das um die Schultern geschlagene große Kantentuch war ihnen so bekannt gewesen, wie die behenden Frauenfüße in weißen Strümpfen, über denen sich nach alter Mode die schwarzen Schuhbänder kreuzten, wie der grünatlassene Strickbeutel, der ihr am Arme baumelte, und der kluge, neben der greisen Herrin hertrabende weiße Pudel.
Aus dem grünen Arbeitsbeutel war immer frischgepflücktes Kräuterwerk, nach welchem sich der alte Rücken unermüdlich bückte, in dicken Büscheln gequollen, und dabei hatte dieser vorweltliche, weite Seidensack ein ganzes Arsenal von chirurgischen Instrumenten, Pflasterschachteln und Medicinfläschchen beherbergt, woneben einige grobe Seifenstücken nie fehlten; denn wie andere mildthätige Seelen warme Suppe, so hatte die Frau Oberforstmeisterin eifrig Seife im großen Waschkessel für die Armen gekocht. Der Schrecken der Schmutzigen, ein unerschrockener Arzt und Bader für die Kranken und Verunglückten, war sie aber auch ein wahrer Zank- und Sprühteufel gegenüber dem blühenden thüringer Aberglauben gewesen, und bei dem leisesten Verdacht, daß man zum „Verbüßen und Besprechen“ von Wunden und Gebrechen greife, hatte sie den Leuten den Kopf gewaschen und ihnen den Text gelesen, „nach Noten“, wie sie sagten.
Sie war eines natürlichen Todes gestorben, an einem Erkältungsfieber, das sie sich beim Kräutersuchen auf zugigem Berggipfel geholt. Weil sie jedoch von der ersten Stunde ihres Erkrankens an bis zum letzten Athemzuge stark phantasirt und die Besinnung nicht wieder erlangt hatte, so unterlag es keinem Zweifel, daß ihr die bösen Mächte, die sie zeitlebens bekämpft, schließlich selbst „an den Kragen“ gegangen waren - sie mußte durchaus „Etwas“ im Walde gesehen haben; es war ihr „angethan“ worden.
Letztwillige Verfügungen fanden sich nicht vor, und so fiel ihr vortrefflich bewirthschaftetes, im sogenannten Hirschwinkel gelegenes Gut einem Verwandten in der Mark zu, von welchem keine Menschenseele je etwas gehört hatte, kaum, daß man erfuhr, er heiße Markus und sei Besitzer einer bedeutenden Maschinenfabrik in der Nähe von Berlin.
Er schien kein Gewicht auf den neuen Besitz zu legen; die Verwaltung desselben mochte ihm nicht passen; deshalb war Alles in Bausch und Bogen verpachtet. Der Pächter wohnte im unteren Geschoß, und im oberen Stock des verwaisten Gutshauses erlustirte sich das Mäusevolk, „und die Spinnen würden ja wohl noch die Schlüssellöcher mit ihren scheußlichen, grauen Webelappen verstopfen“, pflegte die schönere Hälfte des Pächters, Frau Griebel, mit verächtlichem Achselzucken zu sagen; denn weder ihr selbst, noch dem heiligen Kehrbesen und Scheuerwisch war der Eintritt gestattet.
Auf den höhergelegenen Partien des Thüringerwaldes gediehen die Halmfrüchte nicht sonderlich; Wiesenwachs und Kartoffelbau herrschen vor. Die schmalen Thalgründe liegen oft in stundenlanger grüner Linie wie ein schimmerndes Sammetpolster zwischen den waldbewachsenen Bergen; Gras, glitzerndes Wassergerinnsel, auch wohl ein kühler Forellenbach, oder der weiße, glatte Chausseeweg wechseln mit einander ab. Der Hirschwinkel dagegen war eine selten sonnige, geschützte Waldecke, eine Art Eiland, auf welchem der Sommerwind nach Herzenslust manneshohes Halmengewoge der Kornfelder vor sich herjagen und sogar in den tiefgelben Breiten des edlen Weizens wühlen konnte.
Das hübsche Gut lag ziemlich abseits von den belebtesten Verkehrswegen, gleichsam hinter den Waldcoulissen; deshalb konnte [2] es recht wohl geschehen, daß der Fremde, der bereits seit einer vollen Stunde den Waldfahrweg beschritt, plötzlich Halt machte, um sich an frischem Quellwasser für einen vermeintlich noch längeren Marsch zu erquicken.
Der dünne Wasserstrahl, der am Abhang zwischen dem entblößten Wurzelgeflecht einer schief überhängenden Fichte hervorquoll, war kalt wie Eis und von köstlichem Wohlgeschmack; der kleine silberne Reisebecher wurde wiederholt gefüllt und geleert; dann schritt der Herr fürbaß. Ueber der linken Schulter hing ihm der Plaid und an der Seite eine Ledertasche; eine leichte Reise-Ausrüstung; sonst hätte man den schlanken Mann in der hellgrauen Joppe für einen Spaziergänger halten können, so behaglich schlendernd, ganz dem Genuß der Waldschönheit hingegeben, verfolgte er die Weglinie, die, wie gewaltsam in das Buchendüster hineingeschnitten, sich durch die Stämme drängte.
Er war bisher ein einsamer Wanderer gewesen; keine Menschenseele war ihm begegnet. Er sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast schlüpfen und die grünen Fahnen der Farren am Wege zittern, wenn sich kleines Gethier unter dem Pflanzengeschlinge tummelte, das die schaffende Kraft des Waldhumus immer wieder bis in die Fahrgeleise herübertrieb. Die leichtbewegte Luft hauchte ihm Erdbeerdüfte und für Momente auch den appetitlichen Geruch von Bratkartoffeln zu; sie trug auch das schwache Geräusch ferner Axtschläge herüber, und seit einer Viertelstunde begleitete den Gehenden zur Rechten das Murmeln fließender Gewässer, die er nicht sah. Nun aber lichtete sich das Dunkel allmählich nach dieser Seite hin, und sonnige Wiesenflächen leuchteten herein; ein rascher Bach schoß mitten durch das rasige Gelände und trieb weiter unten die Räder einer Schneidemühle. Da war im engen Rahmen dunkelnden Gehölzes der ganze Zauber einer Waldidylle eingefangen. Ein schmaler Steg führte über das Wasser, ein primitives Gefüge, durch dessen aus einander klaffende Bretter das drunten rauschende Gewässer heraufblinkte.
Der Fremde beschleunigte seine Schritte. Er betrat den Steg, jedenfalls um den vollen Anblick des hübschen Landschaftsbildes zu gewinnen, aber er kannte wohl die Heimtücke solcher sorglos über die Bäche geschlagener Holzbrückchen nicht; denn während er die Augen gefesselt auf die Mühle richtete, versank sein Fuß plötzlich und saß wie eingekeilt zwischen dem den äußersten Rand bildenden Fichtenstamm und dem nächsten Brett.
Eine Verwünschung auf den Lippen, mühte er sich unter allen Zeichen zorniger Ungeduld, den Fuß aus der Klemme zu ziehen, aber der Steg hatte kein Geländer, und dem Gefangenen stand nicht einmal ein Gehstock zur Verfügung, auf den er zu nachdrücklicher Kraftaufwendung den Oberkörper hätte stützen können. Bebend vor Aerger und Erregung hielt er inne und schaute nach irgend einem Beistande aus, der in dem einsamen Thale sehr fraglich schien.
Just in dem Moment kam eine weibliche Gestalt um die Ecke der Schneidemühle und schritt geradewegs auf den Steg zu. Sie trug ein Grasbündel auf dem Kopfe, das sie mit dem gehobenen Arm stützte. Allem Anschein nach war es eine Dienstmagd, ein junges blödes Bauernmädchen, das sich vor dem Fremden auf der Brücke fürchtete; denn ihr anfänglich sehr rascher Gang verlangsamte sich augenscheinlich bei seinem Erblicken.
„Heda, spute Dich ein wenig, mein Kind!“ rief er ihr ungeduldig zu. Nun blieb sie gar wie festgemauert stehen.
Er murmelte etwas von bodenloser Bauerndummheit zwischen den Zähnen und machte abermals einen verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Angesichts dieser Anstrengungen mochte es dem Mädchen doch wohl klar werden, daß er kein zu Fürchtender, vielmehr ein Hülfloser sei. Sie besann sich nicht länger und kam herbei.
„So, weißt Du nun, daß ich kein Menschenfresser bin?“ sagte er, ohne sie weiter anzusehen. „Sieh her, Du mußt mir aus dem Schraubstock helfen. Stelle Dich hierher, dicht neben mich, aber fest, damit ich meinen Arm auf Deine Schultern legen kann!“
Sie trat zu ihm, ohne ein Wort zu sagen, aber in dem Moment, wo er Miene machte, sich auf sie zu stützen, sah er, wie sie verstohlen in das Grasbündel hinaufgriff und einen dicken Halmbüschel zwischen ihre Schulter und seinen Arm niederzog – lächerlich! – das Bauernmädchen da war eine Prüde.
Er hielt inne und zog den Arm zurück. „Möchtest Du nicht?“ fragte er belustigt.
„Nein – eigentlich nicht! Aber der Sägemüller und sein Knecht kommen vor Abends nicht heim, und die Müllerin ist schwach und krank.“
„Ach so, da müßte ich ja wohl wie der Fuchs im Tellereisen hier verkommen, wenn Du Dich nicht erbarmtest?“
Er bog sich vor, um unter das große weiße Tuch zu blicken, das sie gegen den Sonnenbrand über den Kopf gezogen und unter dem Kinn geknüpft hatte; es ragte weit vor, wie ein umfangreicher Hutschirm, und beschattete Stirn und Nase bis zur Unkenntlichkeit; die untere Gesichtspartie verschwand noch mehr in den dicken Falten der verschlungenen Leinenzipfel – hübsch oder häßlich, das blieb unentschieden.
„Ja, meine kleine Prüde, da kann ich Dir freilich nicht helfen. Du wirst Dich herablassen müssen,“ setzte er endlich mit verhaltenem Lachen hinzu. „Denke, Du seiest eine barmherzige Schwester, und thue es um der christlichen Liebe willen!“
Sie schwieg und stemmte die Linke auf die Hüfte, um ihrer Haltung mehr Festigkeit zu geben. Sie war ein großes, schlank- und schöngebautes Mädchen und stand wie eine Mauer, als er, den Arm auf ihre Schulter pressend, mit einigen heftigen Rucken den Fuß aus der Klemme zu ziehen sich abmühte. Ein leises Aechzen, eine halbverbissene Verwünschung klangen an ihrem Ohr hin; dann sprang er plötzlich befreit mitten auf die Brücke und stampfte wiederholt auf, um sich zu vergewissern, daß das mißhandelte Glied unverletzt geblieben sei.
Das Mädchen schritt unterdessen weiter.
„Halt auf ein Wort!“ rief er ihr nach.
„Hab’ keine Zeit. Der Fisch verdirbt,“ antwortete sie, unbeirrt weitergehend. Sie zeigte ihm halb zurückgewendet, daß ihr ein Netz mit einer Forelle am rechten Arm hing.
„Ließe sich in dem Falle das Fischchen nicht ersetzen, wie?“
„Nein.“
„Nein? Also nicht … Aber mein Dank?“
„Behalten Sie ihn!“
„Oho – Du bist kurz angebunden, mein Kind,“ lachte er und steckte das seidene Taschentuch, mit welchem er die Reste der Fichtenrinde von seinem attakirten Fuße weggestäubt hatte, wieder zu sich. Gleich darauf schritt er an ihrer Seite.
„Mir scheint, unter dem häßlichen Tuche da steckt ein ganz verteufelt trotziger Kopf,“ sagte er. „Wie aber, wenn ich nun ebenso trotzig bin, wie Du, und Deine Hülfe absolut nicht geschenkt haben will?“
„Dann thun Sie wohl, an Ihren Platze auf der Brücke zurückzukehren.“
Er lachte laut auf und suchte gespannt abermals einen Blick unter das verhüllende Tuch zu werfen. Das Mädchen hatte Mutterwitz; die „Bauerndummheit“ hatte sie sicher so wenig im Gesicht, wie auf den Lippen. Sie wandte flink den Kopf nach der anderen Seite, und ihm blieb nur die Musterung ihrer Gestalt. Sie war ärmlich gekleidet. Aus dem verschossenen Kleide waren die Aermel getrennt und hatten den Hemdärmeln Platz machen müssen; sie fielen lang und schön weiß bis über die Ellenbogen herab. Busen und Rücken umhüllte plump ein zerwaschenes hinten geknüpftes Baumwollentuch, und die starren Falten der steifgestärkten blauen Schürze verhäßlichten Taille und Hüften. Sie war ohne Zweifel eine Dienende. Das Kleid, wenn auch entstellt und zum Arbeitskittel degradirt, war von städtischem Schnitt und stammte sicher aus der Garderobe der Dienstherrin.
„Nun, dann will ich Dir für Deinem Samariterdienst wenigstens die Hand drücken.“
Er streifte rasch den Handschuh von der Rechten, einer weißen, kräftigen Hand mit einem schönen Siegelring am Finger, und hielt sie ihr hin.
„Meine Hand ist hart,“ versetzte sie zurückweichend; der Arm, an welchem ihr das Netz hing, vergrub sich förmlich in den Schürzenfalten.
„Na ja, ich hätte das wissen können,“ sagte er mit Humor. „Die Thüringer Disteln stechen, wo man sie anrührt; das merkte ich schon vorhin auf der Brücke. Dienst Du in der Mühle drüben?“
Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie: „Der Sägemüller kann keine Magd halten. Er hat die Mühle nur in Pacht; sie gehört zum Gute im Hirschwinkel.“ – Dabei schritt sie in tannengerader Haltung, das Grasbündel auf dem Kopfe stützend und weder rechts noch links blickend, beschleunigten Schrittes den [3] Fahrweg entlang. Sie zeigte unverhohlen, daß sie keine Lust habe, sich weiter examiniren zu lassen.
Diese bäuerische Unnahbarkeit schien ihn höchlich zu amüsiren. Er war ein noch junger Mann, der mit seinem elastischen Gange nicht um eine Linie hinter ihr zurückblieb.
„Also die Mühle gehört zum Gut?“ wiederholte er fragend. „Sieh, sieh – nun weiß ich doch auch, wo Du zu Hause bist. Der Weg da führt doch wohl direct nach dem Gutshause im Hirschwinkel?“
„Auch nach dem Vorwerk.“
Er blieb stehen. „Aha, das ist die kleine zum Gute gehörige Pachtung, die der verkommene Amtmann widerrechtlich besetzt hält.“
Jetzt wandte sich der Kopf unter dem Grasbündel mit einer jähen Wendung nach ihm hin. Die untere Gesichtspartie hob sich dabei aus den Tuchfalten, und der Fremde sah für einen Moment einen kleinen, schönen Mund mit blaßrothen Lippen, um den der Zorn seine Linien zog.
„Ich bin beim Amtmann,“ schnitt sie ihm kurz die Rede ab. Diese arme Creatur im Joche der Dienstbarkeit drohte förmlich.
„Was der Tausend – da habe ich Dich ja wohl gar beleidigt. Hältst wohl große Stücke auf Deinen Herrn?“
Sie schwieg scheinbar trotzig.
Er lächelte verstohlen. „Du scheinst mir eine Aparte zu sein. Aber auch im Dienst beim Amtmann! Das will ’was heißen! Weißt Du aber auch, daß ich gerade deshalb Gewalt über Dich habe?“
Das Mädchen wich unwillkürlich zurück.
„Ja, ja – ernstlich! Ich kann Dir das Grasbündel da ohne Weiteres wegnehmen und Dir Dein Tuch abpfänden, wenn Du mir nicht das volle Besitzrecht Deines Herrn an der Wiese nachweisest, auf der Du gemäht hast. Er zahlt seinen Pacht nicht und zieht fortgesetzt den Nutzen aus Grundstücken, die ihm vor länger als Jahresfrist gekündigt worden sind. Was hast Du darauf zu erwidern, wie?“
Sie schien anfänglich kein Wort über die Lippen bringen zu können, dann aber sagte sie mit leiser Stimme: „Daß Sie der neue Herr im Hirschwinkel sein müssen.“
„Der bin ich. Siehst Du nun ein, daß Du alle Ursache hast, mir schön zu thun?“
„Ich – Ihnen?“ Eine grenzenlose Empörung schien ihr ganzes Wesen zu durchschüttern.
„Alterire Dich nicht!“ lachte er. „Ich bin kein Schlimmer; im Gegentheil – ich nehme nun die harte Hand gar nicht, die mir ‚das Kräutlein rühr’ mich nicht an‘ vorhin so schnöde verweigert hat, und wenn sie mir noch freundlich geboten würde. … Aber ein wenig höflicher möchte ich Dich sehen –“
„Gegen den Feind der Menschen, die ich lieb habe?“
„Feind? – Hm ja, Du hast ganz recht, insofern ich ein geschworener Feind der notorischen Spieler und Schlemmer bin, und Dein Amtmann ist einer, der seines Gleichen suchen soll.“
Ein Seufzer hob den Busen des Mädchens, und gepreßt stammelte sie: „Da werden Sie wohl mit meinem –“
„Mit Deinem lieben Herrn kurzen Proceß machen, willst Du sagen?“ fiel er ihr mit sehr strengem Ton und ohne eine Miene zu verziehen in’s Wort. „Versteht sich! Ich werde ihn an die Luft setzen, und zwar sofort, ohne Gnade, den Verschwender, den Prahlhans – darauf verlasse Dich! In Geschäftsangelegenheiten verstehe ich durchaus keinen Spaß. … Weißt Du nun, wen Du vor Dir hast?“
„Ach ja, einen reichen Mann, wie er schon in der Bibel steht.“
„Richtig! Einen Mann, der absolut nicht in’s Himmelreich kömmt, eben weil er ein reicher, ist – der Arme! Ja, ja, hast Recht – einen Tyrannen, einen Blutsauger, einen Menschen, der Geldfragen gegenüber ein steinhartes, oder vielmehr gar kein Herz hat, wie es einem praktischen Geschäftsmann ziemt. … Aber laufe doch nicht so, Mädchen!“
Sie war in der That in förmlichen Sturmschritt verfallen, und diesmal blieb Herr Markus zurück. Er sah ihr mit gespannter Aufmerksamkeit nach. Und wenn auch der häßliche plumpe Anzug das Mädchen entstellte, eine thüringer Edeltanne war sie doch, eine Erscheinung voll Leben und unbewußter Grazie in dem Spiel der schlanken, jugendkräftigen Glieder. … Schade um diese Gestalt, an der Sonnenbrand, Arbeit und Armuth rieben und zehrten, um sie in kurzer Zeit hart und eckig, zum frühgealterten Weibe zu machen! … Es blieb allerdings fraglich, ob nicht der Kopf den Adel, die Anmuth des schönen Leibes sofort verwischte, wenn das verhüllende Tuch fiel. Der lieblich geschwungene Mund verbürgte noch lange nicht, daß das Mädchen nicht schielte, keine gemeinen Züge hatte, und nicht sommersprossig und rothhaarig war – doch nein, unter dem weißen Tuchzipfel stahl sich ein gelöstes, glänzend dunkles Zopfende hervor – rothhaarig war sie nicht.
Das Mädchen hatte sich kaum um zwanzig Schritte entfernt, als eine kleine, dicke Frau in braunem, rundem Strohhut und weiter Jacke aus einem schräg nach dem Fahrweg mündenden Waldpfad trat. Sie schritt direct auf die Eilige zu und hielt sie an der Schürze fest.
„Hör’ mal, Mädel, habt ihr denn wirklich die theuern Speisekartoffeln so in Hülle und Fülle, daß Du Ende Juni, sage Ende Juni, den Betteljungen die ungewaschenen Mäuler damit stopfst?“ fragte sie. Das klang nicht etwa wie Schelten; die Frau sprach sehr langsam und bedächtig, aber nachdrücklich. Man hörte, daß sie gewohnt sei, in aller Gemüthlichkeit den Leuten die Köpfe zurecht zu setzen. „Ich krieche tagtäglich auf allen Vieren durch die Kellerecken, um noch ein paar feine Salatkartoffeln für unseren Tisch zu erwischen, und dort“ – sie zeigte nach der Richtung zurück, in der sie gekommen – „dort braten sie haufenweise in der Asche. Das soll Einen nicht ärgern. Wir bezahlen auf die Minute pünktlich den theuren Pacht für schlechten Boden, und Deine Amtmanns ernten die besten Aecker ab; sie leben in’s Tageslicht hinein und fragen den Kukuk danach, daß auch einmal bezahlt sein muß –“
„Lassen Sie mich gehen, Frau!“ rief das Mädchen halb gebieterisch, halb ängstlich und strebte weiterzukommem.
„Frau! Frau!“ wiederholte die kleine Dicke geärgert und ohne den Schürzenzipfel loszulassen. „Bin ich denn ein Taglöhnerweib? Und hast Du denn gar keine Lebensart, Mädchen? Wenn Du noch gesagt hättest ,Frau Verwalterin’, oder meinetwegen auch nur ,Frau Griebel’, aber schlechtweg ,Frau’! Du bist ja nicht um ein Haar besser als Deine Herrschaft. Verschenkst mir nichts dir nichts gute Sachen, die nicht bezahlt sind, und hast den Hochmuthsteufel und eitle Dinge im Kopfe. Sieht man Dich denn je ohne das Scheuleder da auf dem Acker oder beim Grafen?“ – Sie zeigte nach dem weißen Kopftuch. „Hör ’mal, wenn man dienen muß, da darf man nicht darnach fragen, ob Einem die Sonne ein Paar Sommerfleckchen mehr auf die Haut brennt oder nicht, das paßt nicht, da lachen Dich die Leute nur aus, wie sie sich auch lustig darüber machen, daß Dir der Graskorb nicht nobel genug ist. Hier zu Lande trägt man das Futter nicht auf dem Kopfe heim – das ist nicht Mode bei uns. Und laß doch mal sehen“ – sie bog sich vor – „ach herrje, Forellchen hast Du da im Netz? Guck’ Einer an, Forellchen! Ja, ja, auf dem Vorwerk wissen sie, was gut schmeckt!“
„Der Fisch ist für die Kranke.“
„Ach ja, für die Kranke wird er geholt, und der Herr Amtmann ißt ihn, die alte Naschkatze, die! Gucke, Mädchen, wüßte ich das nicht, ich schickte manchmal ein Rebhuhn, oder sonst was Gutes ’nüber, ich bin ja doch kein Unmensch und hab’ Mitleid –“
„Wir danken!“ kam es kurz und herb unter dem weißen Tuch hervor.
„,Wir danken!“ spottete die kleine Behäbige nach. „Großplatziges Ding Du! Wer ist denn ,wir’? – ’s ist ja wahr, Amtmanns haben schlimm gehaust mit ihrem großen Vermögen; das Hemd auf dem Leibe gehört ihnen kaum noch, aber deswegen sind’s doch immer vornehme Leute und noch lange nicht Deines Gleichen.“
Inzwischen war Herr Markus längst näher gekommen und stand neben der Sprechenden, ohne daß sie es bemerkte. Er verbiß mit Mühe das Lachen. Die drollige Frau hatte sich bei dem nachäffenden „Wir danken!“ ironisch knixend, tief und gravitätisch zu Boden gestaucht, und das war urkomisch gewesen. Sie hielt das Mädchen noch fest; dem Beobachtenden war es, als müsse er einen gefangenen Vogel befreien.
„Wer wird sich denn so ereifern, meine kleine Dame!“ unterbrach er die Standrede.
Die Frau fuhr wohl bei der unvermuteten Einmischung ein [4] wenig zusammen, aber außer Fassung gerieth sie nicht. Sie wandte schwerfällig den Kopf auf dem fleischigen Halse und sah den Fremden aus schmalgeschlitzten, blauen Aeuglein von oben bis unten groß an.
„Wie kommen Sie mir denn vor?“ sagte sie trocken. „Ich bin eine ehrbare Frau, und noch lange nicht ,meine kleine Dame’ für einen Jeden, der dahergeschlichen kommt wie der Ratz vom Taubenhaus.“
Er unterdrückte ein Lächeln und sagte mit empörendem Gleichmuth: „Protestiren Sie, so viel Sie wollen – es hilft Ihnen doch nichts. ,Meine kleine Dame’ wird mir in dieser Stunde noch eine Tasse Kaffee serviren und heute Abend eine gute Omelette backen; ,meine kleine Dame’ wird mir für ein anständiges Nachtquartier sorgen und mäuschenstill sein, wenn ich im Hirschwinkel thue, als sei ich zu Hause –“
„Ach herrje – der Spaß! Sie sind Herr Markus!“ lachte sie überrascht auf, aus ihrer Ruhe aber brachte sie die unerwartete Ankunft des „neuen Herrn“ trotzdem nicht. „Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? … Kommen Sie denn endlich aus Ihrer alten, märkischen Sandbüchse und sehen sich das gottgesegnete Fleckchen Erdboden an, das Ihnen der liebe Herrgott nur so in den Schooß geworfen hat? Na, und was sagen Sie denn dazu? Haben Sie solchen Wald, solche Wiesen, solche Berge schon einmal in Ihrem Leben gesehen? … ’s ist hohe Zeit, daß Sie kommen, Herr Markus, hohe Zeit! Ueber unseren Köpfen pfeifen die Mäuse in Heerschaaren und die Mottenwolken will ich sehen, die aus den Wollstrümpfen und Unterjacken der sel’gen Frau Oberforstmeisterin auffliegen, wenn das Nest endlich aufgemacht wird.“
Währenddem entfernte sich das freigelassene Mädchen in stürmischer Eile. Herr Markus sah ihr über Frau Griebel’s Kopf hinweg nach. Dort, wo sie ging, lag der Fahrweg bereits im hellen Sonnenschein. Rechts säumte ihn das Wiesengrün, und auf der entgegengesetzten Seite trat das Walddickicht weit auseinander; wie Alleebäume reihten sich die Buchen hin und warfen da und dort Schlagschatten über den Weg, der in scharfer Krümmung nach links einbog.
„Liegt in der Richtung dort der Hirschwinkel?“ fragte Herr Markus und zeigte nach einer vereinzelten Baumgruppe, hinter welcher das Mädchen eben verschwand. Noch einmal bei der Wegbiegung hatte sich ihre Gestalt in scharfer Profilstellung vom Hintergrunde abgehoben, seltsam fremdartig, weit mehr die Erscheinung einer schlanken, braunen Fellahtochter vom Nilufer, als die eines stämmigen Thüringer Waldkindes.
„O herrje, wie närrisch Sie fragen!“ lachte Frau Griebel. „Sie stehen ja mitten drin im Hirschwinkel und gehen schon seit einer reichlichen halben Stunde auf Ihrem eigenen Grunde und Boden. Und dort zwischen den Bäumen können Sie auch schon die Hintergebäude vom Gute sehen. – Von Kaffee sprachen Sie vorhin, Herr Markus? Na, Sie sollen einen Kaffee bei der Griebel trinken, der seines Gleichen sucht. Gehen Sie nur einstweilen weiter auf dem schön trockenen Wege da – immer der Nase nach! Sie können gar nicht fehl gehen. Ich schlüpfe unterdessen hinten ’rum, durch den Hof in die Küche – muß doch sehen, ob die Magd kochendes Wasser hat.“
Es war nun zwar kein „Schlüpfen“, mit welchem sich die kleine Dicke seitwärts durch die knackenden Büsche schlug, aber sie kam doch flink vorwärts und war sehr schnell den Blicken des Weiterschreitenden entschwunden.
Das Gutshaus war ein völlig schmuckloser Bau, ein altes Haus, mit hochragendem Dache, und an der Giebelwand, nach der Wetterseite hin, mit Schiefer wohlverwahrt und beschlagen. Sonst einförmig weiß angestrichen, hatte es als einzige Unterbrechung inmitten seiner casernenartigen Façade nur einen Erker, der vom Fundamente bis unter das Dach so voll und dicht mit Waldepheu bewachsen war, daß die Fenster in seinen drei Wänden vertieft wie Schießscharten erschienen. Drunten hatte das einsam gelegene Haus grüne Sicherheitsläden, im oberen Stocke aber hingen nur gleichmäßig weiße, mit groben, gehäkelten Kanten besetzte Shirtingrouleaux hinter den sichtlich verstaubten Scheiben.
In der weiten, das ganze Gehöft abschließenden Umfassungsmauer, die das Haus zu beiden Seiten flankirte, befand sich rechts der Eingang, eine schöne, massive Doppelthür mit glänzend polirtem Messinggriffe; zur Linken dagegen lief sie ohne Unterbrechung in die Ecke aus, auf welcher ein hölzerner, grünumrankter Gartenpavillon wie ein kleines, rundes Nest saß. Kirsch- und Aepfelbäume reckten dort ihre Zweige über die Mauer, und dahinter hoben sich auch Linden- und Kastanienwipfel.
Das ehemalige Heim der Frau Oberforstmeisterin machte einen überraschend freundlichen, behäbigen Eindruck. Vor den Fenstern lag grüner Rasen, so üppig und gleichmäßig, als werde er unter der Scheere gehalten, und weiter hin, in die mäßige Thalsenkung hinab, lief das Ackergelände mit seinem wogenden Halmenmeer, seinen Raps- und Runkelfeldern und den üppigen Flachsbreiten mit wehendem blauem Schleier.
Herr Markus war nach Frau Griebel’s Verschwinden langsam weiter geschlendert und stand nun angesichts „des Fleckchen Erdbodens, das ihm der liebe Herrgott in den Schooß geworfen“. – Himmlischer Waldfrieden wehte ihn an. Das betäubende Hämmern und Pochen in seiner Fabrik, das rastlose Lärmen und Hasten der Berliner Straßen, in denen er auch heimisch war, wie weit, wie weltenweit lag das Alles in diesem Augenblicke hinter ihm!
Ein paar Truthühner spazierten geräuschlos aus der Thür, die man wahrscheinlich zu seinem Empfang eiligst geöffnet hatte, und droben aus dem einen Schornstein fuhr plötzlich eine gewaltige Rauchwolke in den glänzend blauen Himmel hinein – Frau Griebel schürte jedenfalls unter dem Kaffeetopfe und heizte die Back- und Bratmaschine zu Ehren und zum Labsale des neuen Hausherrn, „Holder Friede, süße Eintracht!“ summte Herr Markus vor sich hin. „Einlullendes Stillleben!“ – Himmel! Er fuhr herum und sah nach dem offenen Fenster im Erdgeschosse, aus welchem Clavieraccorde herüberbrausten; dann schüttelte er sich lachend. „Tyrann, entsetzlicher Klimperkasten! Selbst bis hierher verfolgt er den Musikmüden mit seinen tönenden Hämmern!“ rief er mit komischem Pathos und trat schleunigst durch die Mauerthür in den Hof. Ein wüthendes Hundegebell empfing ihn.
„Sultan, Schlingel, willst Du gleich still sein! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!“ schrie Frau Griebel von den Thürstufen des Hauses herab. „Kusch! Oder ich komme mit dem Stocke.“
Sultan kroch in die Hundehütte, und „Ihren Eingang segne Gott!“ sagte Frau Griebel in umgewandeltem Tone und streckte herabkommend dem „neuen Herrn“ beide Hände entgegen.
„Das ist Herr Peter Griebel, mein guter Mann“ – damit schob sie ihren Arm in den des Mannes, der mit ihr gekommen war. „Und hören Sie’s, Herr Markus? – das ist meine Luise, die so schön spielt. Sie spielt den Marsch aus dem ,Propheten‘, Ihnen zu Ehren. Sie ist die beste Schülerin in der Pension und will Gouvernante werden. So – nun kennen Sie alle meine Hühner und Gänse.“
Adelbert von Chamisso.
„Ein Fremdling warst Du unserm deutschen Norden,
In Sitt’ und Sprache andrer Stämme Sohn,
Und wer ist heimischer als Du ihm worden?“
Dingelstedt.
Es war eine literarisch viel bewegte, höchst interessante Zeit, in welche die Anfänge der dichterischen Thätigkeit Chamisso’s fallen. Auf der Schwelle unseres Jahrhunderts, in jenen Jahren, da Goethe und Schiller in wunderbarem Zusammenwirken, einander anregend und ergänzend, ihre unsterblichen Werke schufen, trat bekanntlich mehr und mehr jene Richtung in der Literatur hervor, die unter dem Namen der „romantischen“ bekannt ist, und als deren Ziel ihre Vertreter eine der einseitig-nüchternen Aufklärung entgegengesetzte poetische Lebensauffassung bezeichneten. Während die beiden Schlegel vorwiegend wissenschaftlich-kritisch für die neue Richtung thätig waren, trat neben dem früh verstorbenen Novalis besonders der hochbegabte Ludwig Tieck poetisch für sie ein, und um diese Häupter schaarte sich eine große Zahl begeisterter Anhänger, unter ihnen besonders Brentano und Achim von Arnim. Auf allen
Gebieten, in der Theologie und Philosophie, in der Geschichts- und Rechtskunde, in Literatur und Kunst, hat diese Richtung ihren entschiedenen Einfluß geübt. Ihr Zurückgehn auf das Mittelalter, in dem sie ihr Ideal zu finden glaubte, erweckte die deutsche Sprach- und Alterthumswissenschaft; ihr verdanken wir die Kenntniß und Sammlung unserer herrlichen Volkslieder, ihr die Weckung des nationalen Sinnes in jener Zeit politischer Ohnmacht und Erschlaffung, ihr die begeisternden Klänge aus den großen Tagen der Erhebung und Befreiung unseres Volkes. Aber wie überall auf dem Gebiete des geistigen Schaffens, so steht auch im Wirken der [6] „romantischen Schule“ neben dem hellen Lichte tiefer Schatten.
Trotz all’ ihrer unleugbaren Verdienste ist der Romantik nicht mit Unrecht Mangel an Gestaltungskraft, eine gewisse nebelhafte Verschwommenheit zum Vorwurf gemacht worden, vor allem aber die mystische, mittelalterliche Weltauffassung, welche sie an die Stelle der klaren, geistig-freien der classischen Periode zu setzen suchte.
Auch der Dichter, dessen hundertsten Geburtstag die deutsche Literatur im ersten Monat dieses Jahres[2] feiert, hängt in seinen literarischen Anfängen eng zusammen mit den dichterischen Bestrebungen und geistigen Zielpunkten der romantischen Schule, aber sein gesunder Sinn hat sich frühzeitig losgesagt von den „mondbeglänzten“ Irrgärten der Tieck’s und Schlegel’s, der de la Motte Fouqué’s und Brentano’s.
War Chamisso’s um das Jahr 1813 verfaßtes, wundersam phantastisches Märchen „Peter Schlemihl“ nach Art und Anlage noch durchaus romantisch, so machte sich der Dichter von nun ab mehr und mehr von jener Richtung frei, um fortan völlig eigene Bahnen zu wandeln. Von seinen romantischen Erstlingen, auf die er später mit Lächeln zurückschaute, hat er fast nichts in seine Gedichtsammlung aufgenommen: der Chamisso, den wir kennen und lieben, zeigt wohl einzelne romantische Spuren, wie besonders in der Aneignung fremder Stoffe und Formen, in der Hauptsache aber hat er mit den Romantikern nichts gemein, ja, er steht in entschiedenem Gegensatze zu ihnen. Bei ihm ist nichts Unklares und Verschwommenes: scharf und bestimmt tritt er uns entgegen. Nicht der nebelhaften Vergangenheit, der „romantischen Zaubernacht“ ist er zugewandt, sondern dem lichten Tage, der hellen, lebendigen Gegenwart, und während Jene aus der realen Wirklichkeit gern sich hinausretten in das Reich der Poesie und ihrer erträumten Ideale, tritt er fest und mannhaft mitten hinein in den Kampf des Lebens, eine von jenen ganz verschiedene, durchaus eigenartige Dichternatur.
Adelbert von Chamisso wurde in den letzten Tagen des Januar 1781 auf Schloß Boncourt in der Champagne aus einem altfranzösischen Adelsgeschlechte geboren. Umgeben von dem Glanze, den sein Stand mit sich brachte, wuchs hier der Knabe auf, bis die Revolution eine jähe Wendung der Verhältnisse herbeiführte.
In ihren Stürmen sank das Schloß Boncourt in Trümmer; es wurde dem Boden gleich gemacht, und nur die Erinnerung blieb dem Dichter. „Nach manchen Irrfahrten durch die Niederlande, Holland, Deutschland und nach manchem erduldeten Elend“, wie seine eigenen Worte lauten, kam Chamisso, dessen Eltern gleich vielen Leidensgenossen (1790) ihr Vaterland verlassen hatten, nach Berlin. Zunächst Page bei der Königin, dann Fähnrich und später Lieutenant, blieb er auch, als seine Eltern nach der Beendigung der Revolution nach Frankreich zurückkehrten, in Berlin; das für Preußen so unglückliche Jahr 1806 gab seinem Leben eine neue Wendung.
Nach der schmachvollen Uebergabe von Hameln, die er blutenden Herzens hatte mitmachen müssen, nahm er seinen Abschied und ging nach Frankreich zurück. Damit beginnt für ihn eine Zeit unruhigen Wanderns und Hin- und Herschwankens: ruhelos sehen wir den Dichter bald in seinem Geburtslande, bald wieder in seiner neuen Heimath; in jenem fühlte er trotz mancher verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen, zumal seit die Eltern gestorben, sich nicht mehr heimisch, doch auch in dieser fand er, so sehr sein Herz ihr und seinen dortigen Freunden entgegenschlug, „ohne Stand und Geschäft“, wie er war, noch keine rechte Befriedigung, bis er seit dem Frühjahr 1812 seinen schon in Frankreich begonnenen naturwissenschaftlichen Studien mit größtem Eifer sich zuwandte. Seine „liebe Botanik“ vor Allem half ihm auch einigermaßen über die für ihn so peinliche Zeit der begeisterten Erhebung Deutschlands gegen Frankreich hinweg, und als wahre Erlösung aus den drückenden Verhältnissen begrüßte er freudig die Gelegenheit, die von dem russischen Reichskanzler, Grafen Romanzoff, ausgerüstete Expedition „in die Südsee und um die Welt“ als Naturforscher mitzumachen.
Mit dieser drei Jahre (1815 bis 1818) dauernden Reise beschloß Chamisso seine Wanderjahre, und sein weiteres Leben floß ruhig dahin. Bald nach seiner Rückkehr fand er endlich eine sichere, ehrenvolle Anstellung als Custos des botanischen Gartens in Berlin und überdies eine liebende Gattin und ein trautes Heim; glücklich im Kreise seiner Familie und Freunde hat er seitdem, mit mancherlei Ehren und Würden bedacht, dort ruhig der Wissenschaft und der Poesie gelebt, bis er am 21. August 1837 seiner fünfzehn Monate vor ihm heimgegangenen Gattin folgte.
Auf Chamisso’s wissenschaftliche Leistungen als Natur- und Sprachforscher einzugehen ist hier nicht der Ort; es genüge zu bemerken, daß dieselben ihre gebührende Anerkennung längst gefunden. Nur auf sein höchst interessantes Reisetagebuch sei kurz hingewiesen. Von ungleich größerer Bedeutung als der Gelehrte ist für unser ganzes Volk Chamisso der Dichter.
Kraft und Zartheit reichen sich in dem poetischen Schaffen Chamisso’s die Hand. In seinen Liedern kommt besonders die weibliche Seite seines Wesens zur Geltung. Wenige Erzeugnisse ähnlicher Art in unserer ganzen reichen Literatur zeigen eine solche wunderbare Einfachheit und Innigkeit, wie Chamisso’s „Frauenliebe und Leben“; wenige gehen so zum Herzen, und gerade zum deutschen Herzen, wie sie. Welches deutsche Mädchen hätte nicht das „Seit ich ihn gesehen, glaub’ ich blind zu sein“, oder das „Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben“ mit selig pochendem Herzen nachgefühlt und nachgesprochen, welche Jungfrau nicht, gleich der Braut in jenen Gedichten, das „goldene Ringelein“ an die Lippen und an’s Herz gedrückt! Schildert uns hier der Dichter Glück und Schmerz eines liebenden Frauenherzens, so sehen wir in den „Thränen“ die Verzweiflung einer Armen, die, ihrer stillen Neigung zuwider, dem Ungeliebten die Hand reichen muß. Wie alle diese Dichtungen, wie ferner die Lieder, die der Dichter an seines Sohnes Wiege sang, so sind auch die meisten übrigen lyrischen Gedichte Chamisso’s so ganz deutsch nach Form und Inhalt, daß wahrlich Niemand in ihrem Verfasser den geborenen Franzosen vermuthen sollte. Deutsch ist ihr schwermüthiger Schmerz, der statt heiterer Blumen „vier Bretter auch nicht schlecht“ findet; deutsch ist das herzerquickende „Nur frisch, nur frisch gesungen, und Alles wird wieder gut“, echt deutsch das prächtige Lied „Der Frühling ist kommen, die Erde erwacht“, das wie fröhlicher Lerchenjubel klingt über grünenden Saaten.
Weitaus das schönste aller seiner Lieder dürfte aber „Schloß Boncourt“ sein. Es ist zugleich in mehrfacher Hinsicht für ihn selbst sehr bezeichnend. In dem „greisen“ Sänger steigt die Erinnerung auf an seine glückliche Kinderzeit: er sieht im Geiste das stolze Schloß seiner Ahnen mit seinen Thürmen und Zinnen, sieht all die lieben altbekannten Plätze –
„So stehst du, o Schloß meiner Väter,
Mir treu und fest in dem Sinn
Und bist von der Erde verschwunden –
Der Pflug geht über dich hin.“
Aber trotz der wehmüthigen Erinnerung an jene Zeit, die er mit all ihrem Glanze hat zu Grabe gehen sehen, trotz der leisen Trauer um das, was er selbst mit ihr verloren, segnet der Dichter voll Rührung und edler Milde den theuren Boden, daß er fruchtbar sein möge, segnet er zwiefach den Pflüger, der über die Stätte hin seine Furchen zieht. Hier zeigt sich so recht des Dichters großes, edles Herz; hier sehen wir auch, wie er, der gleichsam aus der alten Zeit in die neue herüberragt, dieser neuen, statt ihr zu zürnen, mit festem Blick und offenen Sinnes zugewandt ist, wie er dann sein tiefes Verständniß für das ruhige Fortschreiten der weltgeschichtlichen Entwickelung auch in seinem schönen Gedichte „Der alte Sänger“ deutlich kund giebt.
Dieses Gedicht führt uns zu den Balladen und poetischen Erzählungen. Trat uns in der Lyrik mehr Chamisso’s tiefes Gemüth und die zarte, oft fast weibliche Seite seines Wesens entgegen, so zeigt er sich hier vor Allem als ein männlich ernster, scharf ausgeprägter Charakter. Wir sehen in Chamisso einen Mann, der das Leben packt und mit besonderer Vorliebe gerade an seiner rauhen, ernsten Seite packt, seine Schattenseiten mehr als seine Lichtseiten sucht und poetisch zur Anschauung bringt. Ernst, ja fast düster sind viele seiner Gedichte. Ohne Zweifel hat Chamisso’s [7] Schicksal, das ihm schon in seiner Kindheit herbe Eindrücke die Fülle und auch in seinem späteren Leben mancherlei schmerzliche Erfahrungen gebracht, wesentlich diese Richtung mit bestimmt. Daher auch jene Herbigkeit und Bitterkeit, der scharfe, satirische Zug, den wir oft bei ihm finden, daher aber auch die tiefe psychologische Wahrheit, die erschütternde, überwältigende Kraft seiner Darstellung.
Die oft gerügte Vorliebe Chamisso’s für das Außergewöhnliche, besonders das außergewöhnlich Schreckliche, findet zudem, wie sein Biograph Hitzig hervorhebt, ihre Erklärung darin, daß er weit mehr als von „unserer europäisch-civilisirten Welt“ sich angezogen fühlte von Völkern und Kreisen, „wo es noch rohe Tugend und rohes Laster giebt“. Ueberdies, glaube ich, zeigt sich in diesem excentrisch-realistischen Zuge eine Spur von des Dichters angeborenem französischem Wesen, das auch sonst zuweilen als eigenthümlich lebendige, geist- und witzreiche Laune in seiner Poesie zu Tage tritt. Wohl ist er ein deutscher Dichter, aber wie er trotz seiner Gewandtheit im Deutschen doch zuweilen den Ausdruck suchen mußte, wie er in manchen Dingen von seiner Muttersprache nie losgekommen (so zählte er z. B. immer französisch), wie er, der sonst ohne besondere Veranlassung nie französisch sprach, in der Nacht vor seinem Tode beständig in dieser Sprache phantasirte, so verleugnet er auch in seinen Dichtungen nicht völlig sein französisches Blut. Die Behandlung solcher die Phantasie aufregenden, außergewöhnlichen Stoffe, wie sie z. B. „Die Löwenbraut“, „Der Invalide im Irrenhaus“, „Der Graf und der Leibeigene“, „Die Giftmischerin“ und andere zeigen, ist bei den Franzosen beliebt. Uebrigens zeigt, mit jenen verglichen, unser Dichter, der Deutschgewordene, fast durchweg tieferen sittlichen Gehalt. Manchmal erinnert er an Béranger, den er ja mit seinem Freunde Gaudy vortrefflich verdeutscht hat, wie denn, meine ich, z. B. das mit seinem grimmigen Proletariertrotze mächtig packende Gedicht „Der Bettler und sein Hund“, in’s Französische übersetzt, für ein Werk des berühmten chansonnier gelten könnte.
Wie unser Dichter – auch hierin den Franzosen ähnlich, aber auch hier von tieferer, edlerer Auffassung – es versteht, scheinbar der Poesie widerstrebende Stoffe aus dem täglichen Leben poetisch aufzufassen und zu verklären, zeigt das wunderschöne Gedicht von der „Alten Waschfrau“. In seinen ernsten Balladen läßt sich meist eine bestimmte sittliche Idee erkennen. Da zeigt er uns die Macht des schuldbeladenen Gewissens; da sehen wir die schändlichste Untreue und die freche Willkür des Gewaltigen; da führt er uns den schnöden Undank und die unersättliche Habsucht vor und ihre wohlverdiente Strafe. Neben solchen tiefernsten Gedichten begegnen wir in Chamisso’s Werken poetischen Fictionen, in denen des Dichters Satire in scheinbar harmlosem Gewande auftritt, wie unter Anderem in der „tragischen Geschichte“ vom Zopf, der „hinten hing“, in welchem überaus drolligen Liede das Zopf- und Philisterthum aller Art einen kräftigen Hieb erhält. Der wirklich harmlose Humor aber ist, von einigen Schnurren abgesehen, in Chamisso’s Gedichten selten. Anders in seinen zahlreichen Briefen. Da sehen wir oft den ernsten Mann harmlos lächeln und scherzen, wie denn auch nach Hitzig’s maßgebender Darstellung eine wahrhaft kindliche Unschuld und Reinheit ein Hauptgrundzug seines Wesens war.
Noch müssen wir der in Terzinen abgefaßten poetischen Erzählungen gedenken. Schaurig-düstere, ergreifende Stoffe sind es, die uns der Dichter in dieser höchst wirkungsvollen, von ihm meisterhaft behandelten Strophenform vorführt. Von allen diesen Gedichten ist das bei weitem bedeutendste „Salas y Gomez“, übrigens auch das Gedicht, welches Chamisso’s Ruhm in den weitesten Kreisen begründete. Da sehen wir auf nackter Klippe, auf die ihn aus dem vollsten Besitze irdischen Glückes heraus der Schiffbruch geworfen, einen Menschen, von aller Welt verlassen, allein mit seinem Schmerz, seiner Verzweiflung, seiner immer getäuschten und doch immer wieder auf’s Neue erwachenden Hoffnung. In die Platten des Schieferfelsens ritzt er seine Zeichen für jeden verflossenen Tag, jedes vollendete Jahr, bis er endlich, nachdem er das fünfzigste Jahreszeichen eingegraben, in müder Resignation abläßt, zu rechnen und zu hoffen. Noch einmal mit brechendem Auge sieht der Greis in ein Menschenantlitz, noch einmal hört er Menschenstimmen; er will sich noch aufrichten, will sprechen – „umsonst – er sinkt zurück; er hat gelebt“. Wo er so lange gelitten, da lassen, die ihn gefunden, seinen Leichnam liegen, mit sich aber nehmen sie, als des Todten Vermächtniß, die Schiefertafeln, auf denen er die Geschichte seines langen Lebens und Leidens verzeichnet hat. Das Grauen der Einsamkeit und des ewigen, öden Einerlei, das Ringen eines Menschenherzens zwischen Furcht und Hoffnung, das wilde Rasen der Verzweiflung und endlich die ruhige Ergebung in den unabänderlichen, höheren Willen, durch welche das Ganze einen versöhnenden Abschluß erhält – das alles ist hier in einer Darstellung voll tiefer psychologischer Wahrheit in erschütternder, großartiger Weise zum Ausdruck gebracht.
Chamisso ist eine durchaus eigenartige Erscheinung; nicht blos weil er, der Franzose, ein deutscher Nationaldichter geworden: eigenartig ist auch sein bewegtes Leben: eigenartig ist seine Poesie, in der die verschiedensten Elemente wunderbar sich mischen. Er läßt sich nicht zu anderen Dichtern gruppiren; er muß für sich betrachtet werden. Und wie sein Leben vollen Anspruch auf unsere Theilnahme hat, so müssen wir ihn selbst nicht nur hochachten als Charakter, wir müssen ihn auch lieb gewinnen, den ernsten Mann, mit den silbernen Locken und dem jugendfrischen Herzen, in dem die edelste Milde wohnt, ihn, der als Flüchtling zu uns gekommen und, Liebe mit Liebe lohnend, lebenslang mit ganzer Seele an seiner zweiten Heimath gehangen, der es verstanden, in unsere Sprache, in unser Wesen so ganz sich einzuleben, daß er uns in’s Herz hinein Weisen gesungen, die zum Schönsten gehören, was wir unser nennen.
Schule und Nervosität.
Wie geographische Lage und Klima, Lebensweise und Beschäftigung, Abstammung und Erziehung einen bestimmenden Einfluß auf die Entwickelung der Völker und des Individuums ausüben, so auch auf die Formen der Krankheiten, mit denen sie behaftet sind. Die Geschichte zeigt uns dies in schlagender Weise. Nicht allein, daß Krankheiten, welche in alten Zeiten zu einer weitverbreiteten Plage geworden, heute gar nicht mehr existiren, und umgekehrt, daß Krankheiten, welche zu unserer Zeit Verderben bringend die Länder durchziehen, in früheren Jahrhunderten, ja selbst vor Jahrzehnten völlig unbekannt waren – nein, auch der Charakter einer und derselben Krankheitsform wird im Laufe der Zeit oft genug ein ganz anderer.
Die Nervosität ist das charakteristische Merkmal unserer Zeit. Wohin wir auch blicken, in welche Länder, in welche Kreise der menschlichen Gesellschaft, überall finden wir dieselben Erscheinungen: Eile, Hast, Unruhe; überall die Anwendung derselben Mittel, den wachgewordenen Leidenschaften neue Nahrung zuzuführen, den entstandenen Kitzel durch immer neue Reize wieder zu beleben.
Es erscheint mir überflüssig, den Lesern der „Gartenlaube“ diesen Zug im Bilde der Zeit noch weiter auszumalen, ihnen an Beispielen nachzuweisen, bis zu welcher schreckenerregenden Ausdehnung die Nervosität in den letzten Decennien um sich gegriffen hat. Diese Nervosität, diese abnorme Nervenerregbarkeit und Empfindlichkeit spiegelt sich auch in den verschiedenen Formen der Krankheiten [8] des Körpers wieder; sie verleiht denselben, je nach ihrer Art, ein befonderes, schärferes oder verschwommeneres Colorit; ja noch mehr: die eigentlichen Nervenkrankheiten, denen die nervöse Constitution der Zeit das geeignete Material liefert, sind in rapider Zunahme begriffen. Die Leiden, welche hier in Frage kommen, sind die verschiedenen Formen von Neuralgien, an erster und hervorragendster Stelle der in den höheren Gesellschaftskreisen so weit verbreitete und so sehr gefürchtete Gesichtsschmerz mit oder ohne Lähmungen und Krämpfen, ferner die hysterischen und hypochondrischen Leiden, das Stottern, die Veitstanzformen, die Taubstummheit, die Epilepsie, die verschiedenen Formen der Geistesstörungen und der Idiotismus. Alle diese genannten Leiden sind Geschwister oder Geschwisterkinder, Abkömmlinge einer und derselben Stammmutter, Sprößlinge der nervösen Constitution.
Die ärztliche Wissenschaft unterscheidet nun accidentielle und sogenannte individuelle, erblich bedingte Krankheiten. Zu den ersteren rechnen wir beispielsweise die fieberhaften, die rein entzündlichen und die ansteckenden Krankheiten, zu letzteren die chronischen, wie Scrophulose, Schwindsucht und, last not least, alle jene vorhin näher bezeichneten Nervenleiden. Es giebt keine Krankheit, welche das nachfolgende Geschlecht so sehr belastet, wie gerade die Geisteskrankheiten und die mit ihr verwandten Leiden. Die nothwendige Folge davon ist, daß die Infection, je mehr diese Krankheiten sich verbreiten, in desto größere Kreise dringen wird. Und in der That, schaue ein Jeder sich einmal in seiner eigenen Familie, oder bei Eltern und Geschwistern oder den nächsten Blutsverwandten um, und er wird staunen über die Ausdehnung, welche diese oder jene Form der nervösen Schwäche gefunden hat.
Die Uebertragung der Krankheiten von Eltern auf Kinder geschieht nun aber nicht immer in der Weise, daß das Leiden der Eltern in derfelben Form bei den Kindern zur Geltung kommt. Eltern, welche an ausgeprägten Nervenkraukheiten leiden, zeugen in dem einen Falle blödsinnige Kinder, oder solche, welche später geisteskrank werden, in dem anderen Falle Kinder, bei denen sich später Veitstanz oder Epilepsie entwickelt, in dem dritten solche, von denen das eine oder das andere taubstumm ist oder stottert, in dem vierten Falle endlich scheinbar ganz normale Kinder, bei denen von allen diesen Leiden während der ganzen Lebensdauer gar nicht die Rede sein kann. Aber eine genaue Prüfung dieser Kinder oder der Männer und Frauen, zu denen diese Kinder herangewachsen sind, ergiebt überraschende Resultate. Ein Theil entwickelt sich geistig ungleich langsamer als die andern. Unaufmerksame Beobachter halten solche Kinder in der Regel für schwachbegabt, vielleicht für Halb-Idioten, aber ihr späteres Leben und ihre Leistungen beweisen häufig gerade das Gegentheil. Andere Kinder sind der Art zerstreut und sind so außerordentlich empfänglich für Eindrücke, welche sie aus der Sinnenwelt beziehen, daß sie in den Schulen von dem, was vorgetragen wird, gar nichts zu begreifen scheinen und so den Eindruck hervorrufen, als seien sie, wie die ersteren, um mich vulgär auszudrücken, mit ihrem Verstande zu kurz gekommen. Wieder bei anderen zeigt sich eine eigenthümliche Richtung im Gemüthsleben. Der eine Theil von ihnen schließt sich ab, geht seine eigenen stillen Wege, ist wenig mittheilsam, verschlossen, ernst; ein anderer ist reizbar, jähzornig, leidenschaftlich; ein dritter zeigt schon früh ganz bestimmte Gewohnheiten und Neigungen, aus denen sich später der Sonderling zusammensetzt. Ein großer Bruchtheil unserer Jugend aus den höheren Lehranstalten zeigt endlich einen bedenklichen Mangel an Gleichgewicht der einzelnen geistigen Thätigkeiten. Bei Diesen ist das Gedächtniß hervorragend entwickelt, bei Jenen wieder das Auffassungsvermögen, bei den Dritten das Productionsvermögen, während außer diesem einen die anderen geistigen Factoren, wenn auch nicht lahmgelegt, doch ungleich schwächer arbeiten. Es fehlt an der erforderlichen Harmonie.
Ich sagte vorhin, daß Eltern, welche nervös constituirt sind, immer zu befürchten haben daß das eine oder andere ihrer Kinder, oder mehrere, oder gar alle dem einen oder anderen dieser Leiden zum Opfer fallen. Was von nervösen Eltern gesagt ist, das gilt noch in viel höherem Grade von solchen, welche wirklich geisteskrank waren, oder noch werden, welche epileptisch sind, an Veitstanz leiden u. dergl. m.
Auf diese Weise verbreitet sich die nervöse Constitution in rasender Geschwindigkeit über die besten Kreise der menschlichen Gesellschaft, ganz abgesehen von den Insulten des Lebens, welche erst später selbst kräftige und gesunde Naturen in diesen Strudel des Verderbens hinabzuziehen geeignet sind, ganz abgesehen von den anderen Schädlichkeiten der heutigen Zeit, welche vorzugsweise unser Nervensystem in Mitleidenschaft ziehen.
So kann es denn auch nicht ausbleiben, daß die psychopathische Belastung (das heißt die angeborene Anlage zu Geisteskrankheiten) unserer Jugend, in welcher der vorhin erwähnten Formen sie sich auch zeigen möge, und die dadurch bedingte verminderte Leistungsfähigkeit immer weiter an Ausdehnung gewinnt.
Es wäre wunderschön, könnte man zur Beseitigung dieses Uebels Radicalcuren vornehmen, könnte man die Zeit, wie sie ist, die Verhältnisse, wie sie liegen, neu gestalten; ja, es wäre wirklich wunderschön, könnte man das Spiritustrinken aus der Welt schaffen, den Gaumen für Porter und Ale, Nürnberger Bier und kühle Blonde abstumpfen. Wunderschön wäre es, könnte der Familienvater, anstatt mit acht, zehn oder zwölf Stunden Arbeit am Tage mit deren vier oder sechs fertig werden, – kurz, es wäre herrlich, könnte die Genußsucht und die Eitelkeit der Welt, das Hetzen und Jagen nach Gold und Gütern, nach Aufregung in immer neuer Art und leider immer niedrigerer und gemeinerer Qualität mit einem Schlage beseitigt werden. Ein großes Stück Arbeit, vielleicht das größte, wäre damit für uns gethan. Es wäre wunderschön und herrlich, aber es ist ein Ideal, unerreichbar, wie alle Ideale, und so kann es nicht anders sein, wie es ist: die psychopathische Belastung unserer Jugend befindet sich gleichmäßig mit der Zunahme der nervösen Constitution, speciell der Geistesstörungen, in schnellem Wachsen. So haben wir es in unseren Schulen nicht mehr mit normalen Verhältnissen, sondern mit von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Generation zu Generation steigenden abnormen Zuständen zu thun, welche uns die ernste Pflicht auferlegen, keinen Augenblick zu zögern, der so bedenklichen Gefahr, welche der Blüthe unseres Volkes mit dem Niedergange seiner geistigen Kraft droht, mit Entschlossenheit und mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln entgegen zu treten.
Lassen wir nicht nach in Ermahnungen an die Eltern, Vormünder und Pfleger, welchen die kostbarsten aller Güter, die Kinder, anvertraut sind, daß sie sie hüten und wahren in jeglicher Beziehung, daß sie bemüht sind, in gleichmäßiger Weise nicht nur für ihre sittliche und geistige, sondern auch für ihre körperliche Entwickelung zu sorgen! Dazu gehört, daß sie sich selbst so viel wie möglich mit ihnen beschäftigen und durch gutes Beispiel sittlichend und belehrend auf sie einwirken.
Ein großer Fehler in der Erziehung der Jugend unserer Tage ist das Dulden und Geschehenlassen, daß sie mehr sein will, als ihr zukommt. Eine schwere Versündigung an ihrem geistigen wie körperlichen Wohle ist das thörichte und verwerfliche Bestreben der Eltern, sie, so bald es nur angeht, als Herren und Damen erscheinen und sie an Genüssen Theil nehmen zu lassen, welche sie noch nicht würdigen und verstehen können und die nur geeignet sind, sie aufzuregen.
Ich komme jetzt zu einem Capitel, welches ursprünglich die Veranlassung zu diesem Artikel gegeben hat. Es betrifft die Ueberbürdung unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten mit Arbeit in ihrem Zusammenhange mit der Entstehung von Geistesstörungen.
Wer meine obigen Auseinandersetzungen mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem sollte die Erkenntniß nicht schwer fallen, daß, wo überhaupt Schädlichkeiten auf die geistige Gesundheit einwirken, dieselben, wie sie alle möglichen Nervenleiden zu Folge haben, ebenso gut auch wirklich ausgesprochene Formen von Geistesstörung erzeugen können. Daß dies nicht häufiger beobachtet wird, liegt wesentlich in dem Umstande, daß Geistesstörungen verhältnißmäßig selten Kinder und Halberwachsene befallen und ihre Opfer fast ausschließlich sich unter den in der Entwickelung vollendeten Gehirnen suchen. Wenn nun trotzdem die Erscheinungen beginnender psychischer Affectionen unter der Jugend auf den höheren Lehranstalten sich gemehrt haben, so beweist dies, welche Bösartigkeit in dieser Schädlichkeit liegt.
Mehr, als die Irrenärzte, oder ich will lieber sagen als die Irrenanstaltsärzte, vor denen das Publicum eine gewaltige und heilige Scheu hat, deren Besuch sehr häufig im Wahne des Vorurtheils als eine Verdächtigung der Familienehre angesehen wird, sind die gewöhnlichen praktischen Aerzte in der Lage, über die [9] Ausdehnung der psychopathischen Constitution, aber die bereits erfolgte Inficirung unserer Jugend Aufschluß zu ertheilen. In den meisten dieser Fälle kommt ja die Krankheit aus den bereits angegebenen Gründen während der Schulzeit nicht zum Ausbruch. Die gegebene Schädlichkeit hat dann aber doch die Bedeutung, daß sie den Boden für die volle Wirkung späterer Schädlichkeiten, anderer nachtheiligen Einflüsse auf die geistige Gesundheit in den späteren Lebensjahren ebnet.
Daß nun auf den höheren Lehranstalten wirklich eine Ueberbürdung unserer Jugend stattfindet, ist wohl kaum zu bestreiten.
Die Stundenpläne der norddeutschen höheren Lehranstalten weisen nach, daß beispielsweise der Gymnasiast in Secunda und Prima sechsunddreißig Stunden dem eigentlichen Schulunterrichte, und vier Stunden pro Tag, ausgenommen den Sonntag, der häuslichen Arbeit zu widmen hat. Dies beträgt pro Woche sechszig Arbeitsstunden, und da behauptet man, von einer Ueberbürdung könne keine Rede sein. Wo bleibt denn die ebenso nothwendige Zeit für die körperliche Entwickelung? Geben etwa die Viertelstunden Pause zwischen den einzelnen Stunden und die Wege von und nach der Schule den nöthigen Ersatz?
So oft hört man in der täglichen Unterhaltung über die Ueberbürdungsfrage von gegnerischer Seite erwidern, daß wir, die Eltern, in unserer Jugend ebenso viel gearbeitet hätten und ebenso viel angestrengt worden wären, wie die heutige Jugend, und doch gesund geblieben wären. Die, welche dies behaupten, befinden sich in einem gewaltigen Irrthume. Einmal war damals die Controlle des Lehrers über den Schüler eine weniger scharfe als heute, wo der Junge aus dem Versetzungsfieber von Halbjahr zu Halbjahr gar nicht herauskommt; ferner war die Zahl der eigentlichen Fachlehrer, meist in der Pädagogik noch unerfahrener junger Leute, die das Maß ihrer Aufgaben zu unterschätzen geneigt sind, zu jener Zeit eine viel geringere. Die Fortschritte auf allen Gebieten des Wissens haben selbstverständlich auch vermehrte Anforderungen an die Jugend gestellt. Doch zugegeben, wir hätten dieselben Aufgaben zu lösen und dieselben Anstrengungen zu machen gehabt, ein Unterschied ist da, und dieser allein ist ausschlaggebend für die behauptete Ueberbürdung. Wir bildeten zu jener Zeit eine von gesunden und kräftigen Eltern erzeugte, an Geist und Körper frische Schaar, die erst in späteren Jahren, den Einflüssen einer über Alles aufgeregten Zeit weichend, diese ihre ursprüngliche Frische und Widerstandsfähigkeit zum Theil eingebüßt hat. Heutzutage aber ergehen dieselben Anforderungen an eine Generation, welche jenes schöne Erbtheil nicht mitgebracht hat, im Gegentheil psychopathisch belastet ist.
Ein weiterer Beweis für die Ueberbürdung liegt in der Zunahme der Kurzsichtigkeit unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten. Diese Zunahme steht in geradem Verhältnisse zu der Mehrforderung in Prima und Secunda gegen die Anforderungen in den unteren Classen.
Gegen eine solche Gefahr der Ueberbürdung muß mit radical wirkenden Mitteln vorgegangen werden. Und eine volle Wirkung scheint mir nur dann möglich, wenn die Arbeit getheilt, wenn mit Rücksicht auf die krankhafte Disposition unserer Jugend, auf den Mangel an Gleichgewicht der verschiedenen geistigen Factoren dieser Einseitigkeit Rechnung getragen wird und durch Gewährung gleichen Lichtes, gleicher Luft und Wärme in verschiedenen Schulen, mit verschiedenen Lehrzielen, aber selbstverständlich mit gleicher Berechtigung, die einzelnen Anlagen und Fähigkeiten zur Entwickelung und Geltung gelangen können.
Es erscheint mir zweitens dringend geboten, daß die einzelnen Lehrziele aus unseren Gymnasien, überhaupt allen höheren Lehranstalten, nicht unwesentlich herabgedrückt werden, und daß endlich drittens auf allen diesen Anstalten eine größere Sorgfalt auf die körperliche Entwickelung durch Einführung obligatorischer, regelmäßiger und unter Aufsicht stehender Spiele und gymnastischer Uebungen verwandt werde.
Ob es rathsam erscheint, die Erziehung zur Arbeit in ähnlicher Weise, wie sie von dem bekannten Rittmeister a. D. Elauson Kaas zu Kopenhagen in Gestalt von „Hausfleißgesellschaften“ oder von „Lern- und Arbeitsschulen“ zur Vorbildung der niederen und mittleren Volksclassen (siehe „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 4, „Die Erziehung zur Arbeit, eine Forderung des Lebens an die Schule“ von Karl Biedermann) eingeführt ist, auch auf die Gymnasien und höheren Mädchenschulen in Anwendung zu bringen, um durch zweckmäßige Abwechselung zwischen der einseitigen Anstrengung des Gehirns und einer Uebung der änßeren Organe die vorzeitige geistige Ermüdung der Kinder zu verhüten, darüber läßt sich zur Zeit wegen Mangels an Erfahrung nichts Bestimmtes sagen.
Daß eine zweckmäßige Uebung der äußeren Organe an und für sich als Gegengewicht gegen die einseitige Anstrengung des Gehirns Vorzügliches leisten muß, liegt auf der Hand. Selbstverständlich ließe sich denn auch annehmen, daß die Einführung derartiger Handarbeiten, wie Tischlerei, Drechslerei, Laubsägen u. dergl. m., in hohem Grade entlastend auf die hier so sehr in Anspruch genommene Jugend wirken müsse und in dieser in ungleich höherem Maße, als in den Elementar-, den Volks- und Bürgerschulen, wo die Ansprüche an die geistige Leistungsfähigkeit viel geringer sind, viel kürzere Zeit dauern und meist schon zu einer Zeit aufhören, wo der schädliche Einfluß einer allzu einseitigen geistigen Arbeit auf das Gehirn sich erst zu äußern beginnt, also mit dem vierzehnten, fünfzehnten und sechszehnten Lebensjahre.
Die Heranziehung unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten zu körperlich mechanischen Arbeiten obengenannter Art würde auch den großen Vortheil für sich haben, daß die jungen Leute, welche erfahrungsgemäß im späteren Leben sich größtentheils als sehr unpraktisch erweisen, zunächst den Werth solcher Arbeiten bei Zeiten beurtheilen lernen, dann aber auch eine Fertigkeit in Handarbeiten sich aneignen, welche nicht allein materiell nützlich, sondern auch bildend, erziehend und läuternd auf die Richtung ihrer geistigen Bestrebungen einwirkt.
Sodann darf aber auch, abgesehen von Bedenken anderer Art, nicht vergessen werden, daß es sich bei der Jugend auf den höheren Lehranstalten in erster Linie um einen Ausgleich im Körperlichen handelt, welcher nicht in dem Grade bei der Hobelbank zu finden ist, wie beim Spiel in frischer, freier Lust.
Die vielfach laut gewordene Befürchtung, daß, wenn alle vorhin genannten Bedingungen erfüllt würden, das ganze Niveau unserer Bildung um eine Stufe niedriger zu liegen käme, scheint mir eine unberechtigte. Im Gegentheil würde begründete Aussicht vorhanden sein, daß das Leistungsniveau unserer Jugend sich wieder höbe. Ich will die humanistischen Gymnasien erhalten wissen, so, wie sie sind, unter der Voraussetzung, daß zur Entlastung von Arbeit ein Unterrichtsgegenstand, aber nicht eine der alten Sprachen fallen gelassen und auf die naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer kein besonderer Nachdruck gelegt wird. Auf der andern Seite soll aber auch den jungen Leuten, welche mehr Begabung und Neigung zu den naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern zeigen, Gelegenheit gegeben werden, durch richtige Anordnung des Lehrstoffes dieselbe geistige Bildung zu erreichen, wie auf den humanistischen Gymnasien. Dies kann meiner Ansicht nach dadurch erreicht werden, daß die heute bestehenden Realschulen erster Ordnung, wie dies schon der Fall, eine alte Sprache, und zwar die griechische, vollständig ausschließen, im Uebrigen aber ihren Accent auf die naturwissenschaftlichen Fächer und die neueren Sprachen legen. Das Wissen würde allerdings an Breite verlieren, aber an Tiefe gewinnen, an Tiefe, die allein Freudigkeit zur Arbeit schafft. Die Jugend würde mehr geschont und ihre Leistung im Leben eine größere werden.
Als ich vor etwa vierzig Jahren die Universität Göttingen bezog, war dort noch Allen der Verfassungsbruch, welchen der König Ernst August am 1. November 1837 begangen, in lebhaftem Gedächtniß. Das Schicksal der sieben Professoren, welche gegen den Verfassungsbruch protestirt, in Folge dessen ihre akademischen Aemter verloren hatten und aus der Stadt getrieben worden [10] waren, hielt noch immer die Gemüther in Erregung und Spannung, und unter den Sieben waren bei den Studenten am populärsten die Gebrüder Wilhelm und Jacob Grimm, welche erst acht Jahre vorher von Kassel herüber gekommen waren und in der kurzen Zeit alle Herzen erobert hatten, Jacob durch seine tiefe und ausgebreitete Gelehrsamkeit, welche das gesammte germanistische Wissen umfaßte, Wilhelm durch seine milde und liebenswürdige Persönlichkeit. Selbst solche Studenten, welche, wie das in dem damaligen Göttingen fast die Regel war, sich sonst strenge auf ihr Fachstudium beschränkten, pflegten doch wenigstens bei Jacob Grimm ein germanistisches Collegium zu hören, und der Abgang der beliebten und berühmten Gebrüder hatte der Hochschule sehr an Frequenz und Ansehen geschadet. König Ernst August freilich wußte sich darüber zu trösten mit der leichtfertigen Phrase: „Professoren und Courtisanen sind immer wieder zu haben.“
Alle jene Erinnerungen werden in mir lebhaft wieder wachgerufen durch den vor einigen Wochen erschienenen, von dem verdienten Gelehrten Dr. Camillus Wendeler herausgegebenen „Briefwechsel des Freiherrn Carl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm“ (Heilbronn, Gebr. Henniger, 1880), welcher uns namentlich über die Berufung der Grimm nach Göttingen (1829), über deren Vertreibung von da (1937) und über deren Wiederanstellung durch König Friedrich Wilhelm den Vierten (1840) neue durch Correspondenzen und Actenstücke unterstützte Auskunft giebt. Das Buch Wendeler’s wird seiner Natur nach nicht weit über die Kreise der Gelehrten hinausdringen. Dagegen darf ich wohl mit Grund annehmen, daß das gesammte deutsche Volk sich sowohl für seine Lieblinge, für das durch Wissenschaft und politische Ueberzeugungstreue so leuchtend hervorragende Brüder-Paar, für deren persönliche Schicksale interessirt und daher einer Darstellung mit Aufmerksamkeit folgen wird, welche den Zweck hat, aus den Meusebach’schen Papieren das Allgemein-Interessante zusammenzustellen und durch eigene Erinnerungen zu ergänzen.
Vorausschicken will ich nur einige Notizen über die Persönlichkeit des Herrn von Meusebach.
Derselbe war in den ersten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Nassauischen geboren und befand sich am Anfang des neunzehnten in Diensten des Fürsten von Oranien-Nassau und dann des von Napoleon aufgerichteten Großherzogthums Berg, welches der Cavallerie-General Murat unter dem Namen Joachim der Erste zum Geschenk erhielt. Als es im Jahre 1813 mit dem französischen Großherzogthum Berg zu Ende ging und die der Fremdherrschaft wieder entrissenen Länder im Namen der hohen Alliirten von dem Generalgouverneur Justus von Gruner verwaltet wurden, übertrug man Meusebach die Leitung der Justizverwaltung in Trier und ernannte ihn später zum Vorsitzenden des Revisionshofes in Coblenz. So ist er in preußische Dienste gekommen, in welchen er, da er sich während der Fremdherrschaft eine gründliche Kenntniß des französischen Rechtes angeeignet hatte, vorzugsweise auf dem Gebiete des rheinischen Rechtes verwendet und schließlich als Geheimer Ober-Revisionsrath Mitglied des später, im Jahre 1853, mit dem Obertribunal verschmolzenen rheinischen Revisions- und Cassations-Hofes in Berlin ward. Die letzten Tage seines Lebens brachte Meusebach auf seinem schönen Landsitze bei Berlin zu, von wo er seine Briefe datirt: „Zwischen Potsdam und Baumgartenbrück, wo der Thurm auf dem Hause steht“. Da ist er denn auch am 22. August 1847 an Gehirnerweichung im siebenundsechszigsten Jahre seines Lebens gestorben, mit Hinterlassung einer sehr reichen und werthvollen Sammlung von Büchern und Manuscripten, welche die königliche Bibliothek in Berlin von seinen Erben erworben hat.
Der officielle Meusebach war französischer, oder wie man später sagte, „rheinischer“ Jurist, der nicht officielle, der Privat-Meusebach, war deutscher Romantiker und literarischer Forscher, als welcher er vorzugsweise den höchst eigenthümlichen Schriften des etwas grotesken Humoristen Fischart, des deutschen Rabelais, seine Aufmerksamkeit zuwandte. Vielleicht war er mehr Sammler als Forscher. Aber jedenfalls hat er Verdienste um die germanistische Wissenschaft, und sein Briefwechsel bietet uns einen ebenso klaren wie charakteristischen Einblick in die Werkstätte dieser damals noch jungen Wissenschaft; seine Briefe zeigen uns, wie dieselbe aus kleinen Anfängen zu einem mächtigen Baume emporwuchs.
Mit den Gebrüdern Grimm ist Meusebach wahrscheinlich durch den großen Juristen von Savigny bekannt geworden, der damals Professor in Marburg war, von welcher kleinen Universität so viele große Geister ausgegangen. Meusebach besuchte die Grimm’s 1819 in Kassel. Seitdem entspinnt sich die Correspondenz, welche von da ab über ein Vierteljahrhundert, allerdings mit zeitweiligen Unterbrechungen, mehr oder weniger lebhaft fortgedauert hat. Der letzte Brief von Wilhelm Grimm datirt von einem Jahre vor Meusebachs Tod. Meusebach ist aus anderem Holze geschnitten als die beiden großen Gelehrten. Ein knorriger, seltsamer und schwer zu behandelnder Charakter, cultivirt er mehr seine „Eigenheiten“ als seine „Eigenschaften“, im Gegensatze zu dem Rathschlage Goethe’s, welcher lautet:
„Cultivirt eure Eigenschaften!
Eigenheiten werden von selber haften.“
Bei ihm ist Alles mehr Liebhaberei als Studium. Deshalb kommt er in der Regel zu keinem Abschluß, sondern bleibt im Sammeln kleben. Dabei steckt er voll bureaukratischer Marotten und koboldartiger Tücken. Es macht ihm ein „spitzbübisches“ Vergnügen, den guten Lachmann und andere Gelehrte zu mystificiren und mit allerlei Schabernack in die Irre zu führen. Bekanntlich hat jeder Mensch das Bedürfniß, zur Zeit aus seiner Haut zu fahren, oder wenigstens sich ein Steckenpferd zu halten, welches mit seinem officiellen Paraderoß wenigst möglich Verwandtschaft hat. Friedrich der Große blies die Flöte, und der preußische Finanzminister Bitter schreibt musikalische Bücher. Meusebach hatte seinen Fischart.
Wie Meusebach in großherzoglich Bergischen so war auch Jacob Grimm vormals in Königlich Westfälischen Diensten. Er war Privatbibliothekar des Königs Jérome und genoß, da der Faschings-König von literarischen Bedürfnissen ziemlich frei war, hinreichende Muße für seine Studien. Nach der Rückkehr des alten Kurfürsten, welcher die Zöpfe wieder herstellte, die Generale zu Fähnrichs zurückavanciren und sich von seiner Schildwache auf der Löwenburg 1814 rapportiren ließ, es sei seit der letzten Ronde von 1809 „Nichts Neues vorgefallen“, wurde das anders. Grimm mußte – sehr gegen seinen Geschmack, der ihn an seine Bücher fesselte – kurfürstlicher Legationssecretär im Hauptquartier der Verbündeten werden, und später wurde er zwar wieder Bibliothekar in Kassel, aber nur Unterbibliothekar, während Wilhelm Grimm nur Bibliotheksecretär war. Im Jahre 1829 schreibt Jacob Grimm an Meusebach:
„Hier in Kassel habe ich es nach dreiundzwanzig Dienstjahren bis auf sechshundert Thaler und mein Bruder Wilhelm hat es bis auf die Dreihundert gebracht. Letztes Frühjahr bekam Jeder von uns hundert Thaler Zulage, allein gleichzeitig bezeichnet man diesen Gehalt als den äußersten Punkt, über welchen hinaus wir es hier zu Lande niemals bringen würden, und darin liegt etwas Hartes; denn wir brauchen jährlich zwei- bis dreihundert Thaler mehr, und wir müssen diese sonst woher schaffen, entweder durch andern Erwerb oder durch Aufopfern der Ueberreste unseres Vermögens.“
Dies war die Lage zweier großer Gelehrten, welche die Vierzig schon seit einigen Jahren hinter sich hatten.
Gleichwohl hätten sie in ihrem bescheidenen Sinne nicht daran gedacht, ihre Lage zu verbessern, wenn nicht persönliche Kränkungen hinzugekommen wären, worüber wir aus dem Briefe von Jacob Grimm an C. von Meusebach, datirt Kassel den 15. November 1829, Folgendes vernehmen:
Oberbibliothekar, also Vorgesetzter der Gebrüder Grimm, war bis 1829 Herr Völkel. Dieser interessirte sich mehr für Antiken und Münzen und widmete sich ganz dem Museum, indem er die Bibliothek den Gebrüdern Grimm zur selbstständigen Verwaltung überließ. Nach dem Tode Völkel’s glaubte Jacob Grimm einen Anspruch darauf zu haben, daß man ihm die Stelle eines Oberbibliothekars, welche er schon seit zehn Jahren hinsichtlich der Pflichten ausgefüllt hatte, auch hinsichtlich des Titels, der Rechte und der Besoldung übertrage. Allein man überging ihn und machte den Professor Rommel zum Oberbibliothekar, obwohl dieser schon Archivdirector war. Es ist wahrhaft rührend, die Klagen Jacob Grimm’s über diese Mißhandlung zu hören, welche ihn zwang, sein geliebtes Kassel zu verlassen.
„Ein ehemaliger Professor aus Marburg,“ schreibt er, „der sich hierher als kurfürstlicher Historiograph hat versetzen lassen, weil er dort als Professor keinen Beifall fand, und der später auch Archivdirector geworden, obwohl er bis zur Stunde noch keine Urkunde ordentlich lesen kann – ein reichlich besoldeter wohlhabender [11] Mann – kurz, Herr Rommel, oder etwas weitläufiger: „Herr von Rommel“ genannt (weil er sich, mir auch ein Greul, vor einigen Jahren adeln ließ), warb um die Stellen, zu deren keiner er durch Kenntnisse befähigt war, und erlangte sie, mit Beibehaltung seiner früheren, weil er keinen der hier üblichen Wege verschmähte. Wir (die beiden Grimm) wurden mit einer schnöden Zulage abgespeist. Das war mir doch zu arg. Wir haben seitdem bis heute vor vierzehn Tagen diesem Oberbibliothekarn alle Bücher, deren er nicht wenige für seine „Geschichte“ forderte, suchen und herausgeben müssen, da er sie selber nicht finden kann.“
Kurz, die beiden Grimm, bisher wirkliche Bibliothekare, wurden zu Amanuenses und Expedienten heruntergedrückt von einem Manne, welchem sie wissenschaftlich weit überlegen waren. Bei dem Minister von Meysenbug fanden sie kein Gehör. Der Name des Herrn war eigentlich Rivalier. Er war mit „Roi Jérome“ in das Land gekommen und mit einem hessischen Rittergute Meysenbug beschenkt worden. Er spielte à deux mains. War es Deutsch, dann war er der Baron Meysenbug. War es Französisch, dann war er wieder der Chevalier Rivalier.
Da entschlossen sich denn die Brüder, einem Rufe nach Göttingen Folge zu leisten, obgleich die ihnen von dorther angetragene Stellung auch nicht gerade sehr glänzend war; Jacob wurde ordentlicher Professor und Bibliothekar mit tausend, Wilhelm Bibliothekar mit fünfhundert Thalern.
„Dieser Ausgang und diese neue Einrichtung sind mir fatal,“ schreibt Jacob Grimm an Meusebach. „Ich hänge mit allen Geschwistern von Kindheit auf gewaltig an Hessen. Wir hatten das so von Eltern und Großeltern geerbt. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen, einem ‚abtrünnigen Nassauer‘, das so recht fühlbar machen kann. Wir betrachteten noch als Jungen die benachbarten Fuldaer, Mainzer und Ysenburger wie wildfremde Menschen, mit denen wir keine Gemeinschaft haben mochten. Ferdinand copirte sich die Landkarte der Gegend und vergrößerte sichtbar alle hessischen Flüsse und Städte, damit sie mächtiger erschienen. Später ist mir noch lange ganz undenkbar vorgekommen, in einem anderen Lande zu leben, und meine Eltern hätten es nie zugegeben. Den größten Theil meines Lebens habe ich hier zugebracht, und alle meine Phantasie und Erinnerung bleibt in Hessen zurück.
Unsere gute Schwester Lotte (damals schon verheirathet) hat, seitdem sie wußte, daß etwas im Werke war, mir, ohne dabei etwas zu sagen, alte Halstücher und Ueberreste von wohlbekannten Kleidungsstücken unserer seligen, über Alles geliebten Mutter, die hier begraben liegt, gleichsam heimlich abmahnend vorgelegt. Aber auch sie muß aufgegeben werden. Es ist nun einmal unabänderlich. Der Ende des vorigen Monats geforderte Abschied wurde uns auf der Stelle verwilligt. Man eilte sich damit so, damit die Besoldung schon vom 1. November an aufhören könne. Montag den 2. dieses, auf Allerseelen-Tag, habe ich alle Schlüssel und Siegel – darunter auch eins, das ich mit besonderer Genugthuung abgab, nämlich das eines zwölf Jahre lang umsonst bekleideten Censor-Amtes – ausgehändigt und gedenke ich, nun nie wieder den langen Saal (der Bibliothek) zu betreten, dessen viele Fenster mich wie wehmüthige Augen ansehen, wenn ich vorüber gehe, und zwischen denen ich selbst von außen her die Bücher weiß, wie sie stehen.
Diese Woche reisen wir, drei Mann hoch, nämlich Dortchen (die Frau Wilhelm Grimm’s), Wilhelm und ich, über den Lütternberg (nach Göttingen), um uns dort ein Haus (Wohnung) zu suchen, kehren nach einigen Tagen zurück und werden gegen Neujahr endlich mit Sack und Pack abziehen. Dies ist also mein letzter Brief aus Kassel an Sie.
Der ‚Professor‘ gemahnt mich immer noch seltsam. Aber die Dienstmädchen Lieschen und Lisbeth, die Beide mitziehen, werfen schon ganz fertig damit herum, und meine Schwägerin Dortchen kommt mir ordentlich wie meine Frau vor, weil ich nach der ‚Frau Bibliothekarin‘ und nicht mehr nach der ‚Frau Secretärin‘ fragen höre. Hermännchen (Wilhelm’s Sohn, jetzt Professor an der Berliner Universität) gedeiht vortrefflich und macht uns alle Tage Freude mit seinem Geschwätz.“
Soweit Jacob Grimm in seinem Briefe vom 15. November 1829. (Bekanntlich ist Jacob Grimm Junggeselle geblieben, hat aber mit seinem verheiratheten Bruder Wilhelm stets einen gemeinsamen Haushalt geführt.) Kann man ein besseres Bild geben von dem selbstlosen, arbeitsfreudigen, bescheidenen deutschen Gelehrten?
Von Kassel nach Göttingen war damals allerdings noch eine Art von Tagereise, heute ist es eine Nachmittagsspazierfahrt von einer Stunde. Und wie schwer ist es dem guten Manne geworden, diese kleine Strecke zurückzulegen und seinen theueren kattischen Boden mit niedersächsischem zu vertauschen! Was ihn an jenen fesselt, das ist durchaus nicht politischer Particularismus, gegen den er sich noch in der Widmungsvorrede zu seiner „Geschichte der deutschen Sprache“, datirt „Frankfurt am Main (Paulskirche), den 11. Juni 1848“, mit der größten Entschiedenheit ausspricht, indem er „jene Gesinnungslosen“ verdammt, „welchen es im höchsten Grade einerlei ist, ob vor hundert Jahren Friedrich der Große Preußen erhoben habe, und welche jetzt eben dieses Preußen mit allen Mitteln erniedrigen möchten, da doch unsere Stärke und Hoffnung nur auf ihm beruht“.
Also nicht der politische Particularismus, welcher willkürliche Grenzen zieht und, wie dies Jacob Grimm an dem angeführten Orte gerade an dem hessischen Volksstamme so überzeugend und so schön nachweist, die deutschen Stämme theilt und nicht zusammenfaßt und vereinigt – sondern die Liebe zur Heimath ist es, was ihm die Trennung von dem kattischen Boden so schwer macht – die Trennung von dem schönen Kassel, welches damals noch, seiner Schönheit unbewußt, schlief, wie die Prinzessin Dornröslein im Märchen, und das erst in unseren tiefbewegten und geräuschvollen Tagen zum vollen Leben und zu reichster Blüthe erwacht ist.
Gerade aber diese Liebe zu seiner Heimath, an welcher er mit der ganzen Kraft seines kindlich-reinen und doch so männlich-tapferen Herzens hing, hat ihn zu einzelnen seiner besten Leistungen befähigt. Nur bei diesem innigen Zusammenhang mit dem Land und den Leuten des Bodens, dem er entsprossen, war es ihm möglich, z. B. ein so bewundernswerthes Werk zu vollbringen, wie die „Kinder- und Hausmärchen“, welche er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm gesammelt, ein Werk, um welches uns die übrigen Nationen Europas beneiden.
Selbst die Anhänglichkeit an seine Kasseler Bibliothek, die es ihm mit ihren „schönen Augen“ angethan hat, hat etwas Rührendes. Das Rührendste aber ist die Anhänglichkeit an seine Schwester Lotte und an seine selige Mutter.
Es ist dieselbe Schwester, welcher er in Gemeinschaft mit seinem Bruder Wilhelm während der Zeit ihres Aufenthaltes in Berlin auf dem alten Friedhof in Kassel ein Denkmal gesetzt hat.
Die Inschrift, welche die eherne Tafel trägt, enthält ein Stück deutscher Geschichte. Sie ist ebenso vielsagend wie einfach. Sie lautet:
Unserer hier in Gott ruhenden lieben Schwester |
Ich habe diesen Leichenstein, der nur Wenigen bekannt ist,
noch vor einigen Jahren auf dem alten Kasseler Friedhofe aufgesucht
und die Inschrift so, wie sie oben steht, abgeschrieben. Sie
sind nun Alle todt, die darauf genannt sind: sowohl die Gebrüder
Grimm, die ihn gesetzt haben, wie auch Hassenpflug, der ihn hätte
setzen sollen. Denn die Schwester Lotte war die erste Gemahlin
dieses Ludwig Hassenpflug, oder mit vollem Namen Hans Daniel
Ludwig Hassenpflug, des bösen Genius des letzten Kurfürsten von
Hessen, welcher Letztere – und das ist vorzugsweise Hassenpflug’s
Werk – zugleich der Letzte aller Kurfürsten der Welt wurde.
Heute „kürt“ man nicht mehr den deutschen Kaiser. Es giebt
wohl noch Fürsten, aber keine Kurfürsten.
Ueber diesen Leichenstein will ich dem Leser in meinem nächsten und letzten Artikel über die Gebrüder Grimm berichten.
[12]
[13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[14]
In unseren Tagen hat sich zu der Wichtigkeit, Werthmesser der Bildung, des Wohlstandes und der sittlichen Kraft eines Volkes zu sein, neben einer Reihe anderer Culturfactoren auch das Versicherungswesen und insbesondere das Institut der Lebensversicherung emporgeschwungen. Für diese volkswirthschaftliche Bedeutung derselben in allen Culturstaaten spricht nicht nur die ungeheure Capitalsumme, welche von dem allgemeinen Vermögen in ihrer Hand liegt, sondern ebenso die Thatsache, daß ihre Quecksilbersäule für alle Störungen und Förderungen im Erwerbsleben der Nation die feinste Empfindlichkeit zeigt, ja, daß sie selbst die dem Blick der Oeffentlichkeit nicht preisgegebene Noth ebenso mit deutlichen Zahlen verräth, wie sie die Grade des steigenden Vertrauens in den Industriekreisen mit untrüglicher Gewißheit mißt.
Dennoch würden wir auf der culturellen Stufenleiter der Nationen gerade unser Deutschland zu tief stellen, wenn wir der Lebensversicherungs-Statistik, also einfachen Zahlen-Vergleichen, die Schätzung unseres dermaligen Werthes im Weltverkehr überlassen wollten. Hier muß die politische Geschichte dem Werthmesser zu Hülfe kommen, um eine Differenz der auftretenden Ziffern zu erklären, welche ohne eine solche Erklärung für uns beschämend sein müßte, während sie in der That das Gegentheil ist.
Halten wir uns nämlich das Gesammtbild des Lebensversicherungsstandes der größten Culturstaaten am Ende des Jahres 1879 nach den Gesellschaften, deren Beobachtung möglich war, in einer Zahlenreihe vor Augen, so steht vor uns:
Staaten | Gesell- schaften |
Versicherte | Versicherungs-Capital | Durchschnitts- Summe für eine Versicherung |
England | 108 | 1,044,025 | 8,300,000,000 ℳ. | 7950 ℳ. |
Nord-Amerika, Ge- sellschaften, welche im Staate New-York zugelassen sind |
31 | 595,486 | 5,759,844,660 „ | 9673 „ |
Deutsches Reich | 39 | 596,979 | 2,031,962,634 „ | 3425 „ |
Frankreich | 16 | 193,673 | 1,564,045,600 „ | 8076 „ |
Deutsch-Oesterreich mit der deutschen Schweiz |
14 | 209,771 | 507,282,532 „ | 2418 „ |
Zusammen | 208 | 2,639,934 | 18,163,035,426 ℳ. | 6880 ℳ. |
Auf den ersten Blick ergiebt sich der sprunghaft tiefe Abstand zwischen der englischen und nordamerikanischen Lebensversicherungs-Höhe und der um Tausende von Millionen geringeren Deutschlands. Stehen wir wirklich an Bildung, sittlicher Kraft und Wohlstand so weit unter jenen Staaten, wie dieses Zahlenverhältniß andeutet? An ersteren gewiß nicht, an dem letzteren allerdings – und das ist, unsere Vergangenheit im Auge, nicht im Geringsten zu verwundern. – Während von jenen beiden Staaten die nordamerikanische Union auf jungfräulichem Boden aufblüht, gerade aus Deutschland die thatkräftigsten Arme und mit ihnen zugleich Millionen unseres Vermögens an sich zieht, frei von übermächtigen Nachbarn und deshalb von jedem Militärdruck, nur dem Erwerbe leben kann und durch die Politik ihrer Regierung jeden Handels- und Erwerbsvortheil nach außen sorgfältig gewahrt sieht, – und während England, durch den Wallgraben des Meeres vor jedem fremden Feind auf eigenem Boden sicher, seit Jahrhunderten ungefährdet an seinem Wohlstand baut, und seine stets nur nationaldenkende Staatsleitung den eigenen Vortheil in allen Theilen der Erde wie daheim rücksichtslos sucht und mächtig beschützt, – war von alledem bei uns das Gegentheil der Fall.
Im Herzen Europas nach allen Seiten offen daliegend und von eroberungslustigen Feinden rings umgeben, ist Deutschland seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges fast zweihundert Jahre lang das Schlachtfeld für alle europäischen Kriege gewesen. Der Westfälische Friede, nach welchem weite Länderstrecken das Bild von „Deutschland im Elend“ darboten – das ich von einem kleinen Theil desselben den Lesern der „Gartenlaube“ (1865) gemalt – legte das aus tausend Wunden blutende „Deutsche Reich“ auf das Krankenbett, auf welchem es von einer Ohnmacht in die andere fiel, bis Napoleon der Erste es gar todt schlug. Kein oberster Gedanke hielt das Volk aufrecht, keine höchste Macht verbunden. Zertheilt an eine Menge Souverainetäten von allen Größen, von lächerlich kleinen bis zu großmachtähnlichen, die, vor Allem auf die Wahrung der Würde ihrer Eigenherrlichkeit bedacht, sich gegenseitig anfeindeten und zu beschränken suchten, mußte es selbst nach und nach im Denken und Wollen schwächer, sein Gesichtskreis ein immer engerer werden; es mußte, den Verhältnissen, die es einengten, angemessen, sich an Kleines und Kleinliches gewöhnen.
Wagte sich ein kühner Geist mit einem großen Unternehmen über diese Miniatur-Vaterlands-Grenzen hinaus, so stieß er überall an chinesische Mauern; das war ja noch in unseren Vierziger Jahren möglich, wie man ebenfalls in der „Gartenlaube“ (1857: „Ein Pionnier des Geistes“, S. 633[WS 2]) nachlesen kann. – Nationale Politik gab es für ein deutsches Volk nicht mehr, und wenn einzelne Fürsten besonders dadurch vor den anderen hervorragten, daß sie, zur Befestigung und Ausbreitung ihrer Macht, an etwas Besseres, als den französischen Hofprunk, dachten, so war es doch auch ihnen nicht unmöglich, die von den „Unterthanen“ mühevoll aufgefundenen auswärtigen Erwerbswege aus politischen oder rein dynastischen Rücksichten nach Belieben wieder zu versperren. Dazu Krieg auf Krieg, bald da, bald dort, und nach jeder Zerstörung, Plünderung und Verarmung von Tausenden wieder die einzige Sorge, neu zu bauen, neu zu erwerben, immer wieder von vorne anzufangen. Der Glaube an öffentliche Sicherheit und Beständigkeit der gesetzlichen Regelung unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse war so dahin, daß viele Gemeinden es als ein Unglück bejammerten, wenn eine Chaussee ihr Dorf berühren sollte, weil sie die sonst dem Handelsverkehr vornehmlich dienenden Heerstraßen nur als Verheerungsstraßen kennen gelernt hatten. Woher sollte bei einem so darniedergedrückten Volke das Vertrauen kommen, ohne welches keine große Unternehmung möglich ist?
Wenn wir das deutsche Volk in diesem Zustande bis zu den Befreiungskriegen und in manchen Gegenden noch weit darüber hinaus – uns vor Augen halten und nun neben die Lebensversicherungssummen Englands und Nordamerikas die von Deutschland stellen, so wird uns nicht Beschämung, sondern ein gerechter Stolz erfüllen über die sittliche Kraft und Bildung, die trotz des so oft ruinirten Wohlstandes allein eine solche Höhe möglich machten.
Je schwerer aber die Arbeit war, die zur Erringung solcher Ziele bewältigt werden mußte, um so mehr sind wir zu dankbarer
[15] Anerkennung denen gegenüber verpflichtet, welche alle ihnen durch Zeitumstände und Vorurtheil des Volkes entgegengestemmten Schwierigkeiten und Hemmnisse mit Muth, Energie und Ausdauer zu überwinden vermochten und diese Anerkennung gebührt auch in hohem Maße der drittältesten deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft, der sogenannten „alten“ Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig, die am ersten Januar 1881 das fünfzigste Jahr ihres Bestehens feiert. Wenn wir, um den Geist, der dieses Institut in’s Leben rief und groß zog, kennen zu lernen, einen Gang durch die Geschichte desselben machen, so geschieht dies nicht etwa in der Absicht, diese eine Anstalt vor allen anderen hervorzuheben – das wäre eine plumpe Reclamemacherei – sondern weil wir damit den hindernißreichen Entwickelungsgang auch der anderen, namentlich älteren Lebensversicherungs-Gesellschaften zugleich mit dargestellt zu haben glauben. Ueberdies feiert die Leipziger Anstalt ihre Geschichte durch eine eigene Festschrift.[4]
Wer in unserem Jahrhundert auf „ruhige Zeiten“ zum Beginn eines größeren Unternehmens hätte warten wollen, der würde nie dazu gekommen sein. Auch die Gründung der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft wurde nicht durch „ruhige Zeiten“ in’s Dasein gerufen. Die Nachwehen der Franzosenkriege waren noch nicht verwunden, und mit den politischen Zuständen (man denke an das Congreßjahr 1819!) sah es trostlos aus; dennoch schöpfte man frischen Muth, weil im Verlaufe der zwanziger Jahre die alles Verkehrsleben so schwer drückenden Zollschranken im Innern der deutschen Bundesstaaten sich lockerten, besonders aber weil die glücklichen Speculationen des Auslandes, hauptsächlich der Engländer, in Deutschland endlich zur Nacheiferung reizen mußten. Nachdem nun die 1822[WS 1] in Leipzig gegründete „Feuerversicherungs-Anstalt“ guten Bestand gezeigt hatte und die fünf[WS 1] Jahre später begründeten Lebensversicherungs-Unternehmen in Gotha und Lübeck rasch aufgeblüht waren, fanden sich auch in Leipzig die rechten Männer zu einer gleichen Gründung zusammen.
An ihrer Spitze stand, als Anreger, ein Mann, wie er zu einer solchen Gründer-Arbeit nicht geeigneter hätte gefunden werden können, ein Mann aus der altpreußischen Charakterschule, „knapp“ und „stramm“, unermüdlich in der Arbeit, gewissenhaft bis in’s Kleinlichste, von zähester Ausdauer und bewundernswürdiger Selbstlosigkeit: der Kaufmann Johann Friedrich August Olearius. Am 28. Februar 1789 in Magdeburg geboren, war er in Leipzig kaufmännisch gebildet worden und hatte dann mehrere Jahre in einem großen Geschäfte in Bordeaux gedient, das zugleich die Vertretung einer englischen Lebensversicherungs-Anstalt führte. In das ganze innere Getriebe der letzteren eingeweiht, kam er nach Leipzig zurück und erkannte nun sofort, daß diese Stadt mit ihren großartigen Geschäfts-Beziehungen geeignet sei, wie wenige, zum Sitze einer solchen Anstalt. Auf seine Aufforderung schlossen sich diesem Leipziger „Arnoldi“ aus dem Kreise des Handelsstandes und der Wissenschaft Männer von angesehenem Namen an, die sich, nachdem die von ihnen entworfenen Statuten von der Staatsregierung genehmigt worden waren, am 26. März 1830, als das Directorium der neuen Lebensversicherungs-Gesellschaft auf Gegenseitigkeit constituirten.
Den Statuten hatte man die Gothaischen zu Grunde gelegt, namentlich nahm man dieselben Prämiensätze für einfache Versicherungen auf den Todesfall an, rückte jedoch das Aufhören der Prämien-Zahlungsverpflichtung vom neunzigsten auf das fünfundachtzigste Lebensjahr zurück und setzte die bisherige niedrigste Versicherungssumme von 500, um Unbemittelten leichter zugänglich zu sein, auf 300 Thaler herab. – Zum fungirenden Director ernannte das Directorium Herrn Olearius mit einem Jahresgehalt von 600[WS 1] Thalern, gab ihm auch einen Gehülfen, schärfte ihm jedoch sorgfältigste Sparsamkeit ein. Nach neun Monaten betrugen sämmtliche Gründungskosten 4725 Thaler, die mit 315 Thaler jährlich in 15 Jahren abgetragen werden sollten; „falls jedoch die Gesellschaft nicht in Wirksamkeit treten könne“, – lautete wörtlich der Beschluß, „so seien die erwachsenen Ausgaben von sämmtlichen sieben Mitgliedern des Directoriums oder deren Erben zu gleichem Antheil zu decken“. Das waren auch „Gründer“. Die berüchtigten Herren dieses Titels im verflossenen Jahrzehnt haben sich an ihnen natürlich kein Beispiel genommen.
Wie dem Gothaischen und Lübecker Unternehmen stemmte sich auch dem Leipziger manches Hemmniß entgegen: zunächst der Mangel an Vertrauen auf die Verheißungen, mächtig unterstützt von dem Mangel an Verständniß des Wesens der Lebensversicherung und verbunden mit der herrschenden Volksscheu vor dieser neuen Art „Testamentmacherei“; dann der Umstand, daß gerade in den Kreisen, für welche das Institut das dringendste Bedürfniß hätte sein müssen, in den Kreisen der mittleren Beamtenwelt, die Mittel und in denen der Gewerbtreibenden, die mit ihren Sterbecassen damals noch vollständig zufrieden waren, das Bedürfniß darnach fehlte; endlich drittens das alte Erbübel der Bevorzugung des Fremden, denn diejenigen, welchen die Mittel zum Aufwand für eine Lebensversicherung zu Gebote standen, zogen noch in großer Zahl die längst eingeführten englischen Anstalten den deutschen vor.
Trotz alledem beschloß die Direction der Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft, am 1. Januar 1831 mit der Ausfertigung der Versicherungsscheine zu beginnen, und zwar eröffnete sie ihr Geschäft mit 184 Personen und einem Versicherungsbetrag von 256,900 Thaler. Am Schlusse des ersten Geschäftsjahres zählte man schon 454 Personen mit einer Versicherungssumme von 668,500 Thaler. Das Wachsthum hatte demnach mit Glück begonnen. Aber auch die erste eigene Erfahrung stellte sich ein: die Cholera drohte der Versicherungscasse mit einem schweren Schlage. Die Leipziger Anstalt beschränkte ihre Abwehrmaßregeln darauf, daß sie vor der Hand aus Cholera-Gegenden keine neuen Versicherungen aufnahm. Die damit bewiesene Vorsicht schien das öffentliche Vertrauen gehoben zu haben; denn im dritten Geschäftsjahre stieg die Personenzahl auf mehr als 1000 und die Versicherungssumme betrug über anderthalb Millionen Thaler.
Im vierten Jahre mußte das Directorium daran denken, daß der Paragraph 20 der Statuten ihm vorschrieb, mit Anfang des sechsten Versicherungsjahres den entbehrlich zu erachtenden Theil des angesammelten Ueberschusses zu vertheilen. Dieser Ueberschuß ergab sich dadurch, daß die durch Todesfälle zahlbar gewordene Versicherungssumme erheblich geringer gewesen war, als nach der in England und auch in Gotha am bewährtesten gefundenen und deshalb auch in Leipzig den Berechnungen zu Grunde gelegten Sterblichkeitstafel der Londoner „Equitable Society“ erwartet werden durfte. Der technische Ausdruck für letztere Erscheinung ist „Untersterblichkeit“, während man das Gegentheil mit „Uebersterblichkeit“ bezeichnet. Nachdem vor Allem nach Maßgabe der reinen Prämien (Nettoprämien) Reservetafeln aufgestellt und darnach die Reserven selbst bestimmt waren, konnte das Directorium mit Zustimmung des Gesellschafts-Ausschusses die erste Vertheilung einer Dividende von 25 Procent der im Jahre 1831 eingezahlten Jahresbeiträge beschließen.
Dieser Erfolg des Unternehmens vermehrte das Wachsthum der Anstalt erheblich, und auch die Sterblichkeit gestaltete sich in den nächsten Jahren günstig, bis 1839 und 1840 plötzlich eine Uebersterblichkeit eintrat, welche alle Ersparungen der Vorjahre aufzehrte und noch Mehrausgaben erforderte.
Um die Lebensversicherung möglichst gemeinnützig zu machen, hatte man die Aufnahme in dieselbe thunlich erleichtert, namentlich die erforderlichen ärztlichen Untersuchungen den Hausärzten der betreffenden Personen überlassen. Man hatte nicht bedacht, daß dies zu betrügerischen Speculationen förmlich einlud, und so haben denn diese auch bei der Leichtigkeit der Ausführung in Folge der – Gefälligkeit einiger Aerzte gegen ihre Clienten in einzelnen Gegenden, namentlich in den Ostseeprovinzen und ganz besonders in Königsberg, mit den zunehmenden Erfolgen bald Dimensionen angenommen, welche der Gesellschaft mit großen Verlusten drohten. In Königsberg hatte sich ein förmliches Geschäft mit dem betrügerischen Ankauf und Abschluß von Lebensversicherungs-Policen entwickelt. Die Speculanten dort fanden nicht nur allezeit Personen, deren Körperbeschaffenheit oder Lebensweise einen frühen Tod versprach, sondern auch Aerzte, welche sich an einer solchen Ausbeutung der Lebensversicherungen betheiligten oder sie wenigstens [16] begünstigten. Kam doch in Königsberg sogar der Fall vor, daß ein Beamter seine Haushälterin dazu vermocht hatte, sich versichern zu lassen, und daß er sie dann vergiftete, um die Versicherungssumme zu erheben. Dort führte die Energie der Volksstimme zur Wiederausgrabung der Leiche, zur Enthüllung des falschen Todtenscheins und zur Verurtheilung des Mörders.
Die Leipziger Anstalt hatte berechnet, daß in der Königsberger Agentur allein von 1836 bis 1839 zwölf Personen mehr gestorben und 32,700 Thaler mehr für Todesfälle verausgabt worden waren, als bei ordnungsgemäßen Versicherungen möglich sein durfte. Dieselben bitteren Erfahrungen machten die Gothaer Bank und die englischen Gesellschaften. Olearius reiste im Herbst 1839 zur Untersuchung dieser Mißverhältnisse nach Königsberg und traf dort einen Dr. Swaine aus London mit demselben Auftrag. Die Anwesenheit der Beiden erschreckte die verbrecherischen Speculanten nicht wenig, und die Bestellung eines bestimmten Vertrauensarztes, einiger besonderen Vertrauenspersonen zur Berathung in zweifelhaften Fällen und strengere Wahrung des Gesellschaftsinteresses von Seiten der Agenten genügten, um dem Uebel für die Zukunft Einhalt zu thun.
Niágara.
Von Friedrich Bodenstedt.
Trüb war der Himmel, als ich zuerst dich sah
In deiner wilden Größe, Niágara.
Wie fernes Donnern schlug mir dein Schall in’s Ohr,
Als mein Blick sich im Suchen nach dir verlor
Im flachen, verödeten Wintergefilde,
Verdüstert durch bleierne Wolkengebilde …
Doch näher und näher stets hört’ ich es schallen,
Wie wenn Wasserberge an Felsen zerprallen,
Im unendlichen Meer vom Orkane gehoben.
Mit unsichtbaren Händen geschleudert nach oben.
Da plötzlich erhebt sich vor mir ein Geflimmer
Von versprühendem Schaum, der in eigenem Schimmer
Aus der Tiefe aufsteigt und ein Wolkengewimmel
Erzeugt, weit glänzender noch als das am Himmel.
Und ich folge dem Glanz, und jählings thut
Sich ein Abgrund auf voll demantener Gluth,
Wo die mächtig stürzenden Wasser von oben
Tiefunten zerstieben mit donnerndem Toben.
Da wühlt es und bäumt sich und wirbelt und gährt
In verwirrender Wuth, doch lieblich verklärt
Durch verschleiernd Gewölk aus versprühendem Schaum,
Das sich schimmernd erhebt, leicht schwebend wie Flaum.
Nun, als trüg’ er dem Glanze der Tiefe Neid,
Zerreißt auch der Himmel sein Wolkenkleid,
Und die Sonne gießt ihre ganze Gluth
Hinab in die tosende Wasserfluth,
Um in schwindenden Bildern noch Schön’res zu zeigen,
Als an ewigem Glanze ihr selber zu eigen.
Die Sturzfluthen trinken den sonnigen Glanz
Und strahlen ihn wieder, gesättigt ganz.
Und wie Künstler mit gottverlieh’nen Gewalten
Aus sich selbst die erhabensten Bilder gestalten,
So scheint nun in des Niágara Borden
Jede Welle, jeder Tropfen zum Künstler geworden,
Und Schöneres kommt durch sie an den Tag,
Als menschliches Schaffen zu bilden vermag.
Die Wogen glühen, von Schönheit trunken,
Aus den Schaumkronen springen blitzende Funken;
Es leuchtet in allen Formen und Farben.
Hier erheben sich schimmernde Strahlengarben;
Dort, über die Irisinsel gezogen,
Schwebt hoch ein durchsichtiger Regenbogen,
Und darunter die Felswand stemmt auf den Wegen
Des gewaltigen Stroms sich ihm breit entgegen,
Daß die Wasser getheilt das Eiland umwinden,
Bis sie unten sich wieder zusammenfinden
Nach tiefem Sprung von getrenntem Hang
In donnerndem Triumphgesang.
Nie erschien mir ein Strombild an Wundern so reich,
So stürmisch im Wechsel, doch immer sich gleich
In bezaubernder Macht urgewaltigen Seins
Und hehrer Gebilde des Schalles und Scheins.
Trüb war der Himmel, als ich zuerst dich sah
In deiner wilden Größe, Niágara,
Und die Sonne war schon im Untergehn,
Als ich kam, dich zum letzten Male zu sehn.
Und du hießest mich, selbst tief hinunterzusteigen,
Um dich mir in voller Größe zu zeigen
Im tiefen, gewundenen Felsenbette.
Dich umragt keine schimmernde Bergeskette;
Deine Ufer sind flach und öde ganz,
Doch du brauchst keines prangenden Rahmens Glanz:
Deine eigene Gluth, deiner Wellen Klang
Wird mir leuchten und klingen mein Lebenlang.
Als Alexander der Große auf seinem Siegeszuge gegen Indien vordrang, führten die Völker des Südens gegen die griechischen Phalangen riesige Ungeheuer in’s Feld, die auf ihren Rücken Thürme trugen und mit ihren schweren Füßen die Reihen erzgepanzerter Krieger wie Strohhalme niederstampften. Wohl kannten schon damals die Griechen das kostbare Elfenbein und hatten früher von den merkwürdig gestalteten Rüsselthieren gehört, aber erst in der Schlacht von Arbela, wo Darius gegen Alexander fünfzehn Elephanten verwendete, machten sie mit ihnen zum ersten Male nähere Bekanntschaft. Die Barbaren wurden geschlagen, und das griechische Heer erbeutete die feindlichen Kriegselephanten, nach welchen Aristoteles, der gelehrte Begleiter des große Macedoniers, für die europäischen Völker die erste naturgetreue Beschreibung dieses Thieres lieferte. Später spielten in den Kämpfen, welche Rom um die Weltherrschaft mit den Völkern Afrikas und Asiens führte, die Elephanten eine wichtige Rolle, bis die Tapferkeit der Legionen und die Kriegskunst der Consuln über das Erdenrund den endlichen Sieg davontrugen. Von nun an mußten diese klugen Thiere nicht auf Schlachtfeldern, sondern auf dem Sande des römischen Circus mit den Tigern der Wüste auf Leben und Tod kämpfen oder zur Belustigung des Volkes allerlei komische Kunststücke verrichten. So wurden die Europäer mit gezähmten Elephanten wohlvertraut, und noch heute sind diese Dickhäuter in den zoologischen Gärten größerer Städte bevorzugte Lieblinge der Menge.
Wiewohl man aber täglich die Gelegenheit hatte, das kluge Benehmen und die Gutmüthigkeit der Thiere zu beobachten, wurden dennoch über ihre Lebensgewohnheiten in der Wildniß vielfache irrthümliche Vorstellungen im Volke verbreitet, bis zuletzt in diesem Jahrhundert gelehrte Reisende durch glaubwürdige Berichte und fesselnde Beschreibungen einer neuen wahrheitsgemäßen Anschauung zum Siege verhalfen.
Alle Elephanten, sowohl die afrikanischen wie die ostindischen, deren naturgeschichtliche Merkmale unseren Lesern aus den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ bekannt sind, leben in Heerden oder Familien, welche unter sich geschlossene Verbände bilden. Die Kopfzahl einer solchen Familie schwankt zwischen zehn bis über fünfhundert. Kirk behauptet sogar, am Sambese einer Heerde von achthundert Stück begegnet zu sein, welche einen über eine englische Meile langen Zug auf ihrem Marsche bildete. In diese natürlichen Verbände werden Thiere aus einer fremden Familie niemals aufgenommen, und Elephanten, welche durch irgend einen Zufall von ihrer Heerde getrennt wurden, müssen ein förmliches Einsiedlerleben führen.
Freilich suchen sie, dem angeborenen Gesellschaftstriebe folgend, sich den Heerden, denen sie begegnen, anzuschließen, aber stets werden sie auf wenig zuvorkommende Weise aus denselben ausgestoßen und weiden dann allein in einer respectablen Entfernung von der Familie. Dieses einsame Leben übt auf ihren Charakter einen merklichen Einfluß. Während die Elephanten im allgemeinen sich
[17][18] durch ihre Gutmüthigkeit auszeichnen, Menschen und Thieren friedlich aus dem Wege gehen, sind die einzeln sich umhertreibenden Thiere, von den Indiern Gundâs oder auch Rogues genannt, wegen ihrer Wuth gefürchtet. Auf sie veranstaltet man daher besondere Jagden, und da sie auch in der Gefangenschaft die wilde Natur nicht unterdrücken können, so werden sie ohne Rücksicht niedergeschossen.
Die klugen großen Elephanten huldigen nicht – wie die kleinen fleißigen Ameisen – republikanischen Grundsätzen in der Anordnung ihrer Verbände; sie sind auf der patriarchalisch-monarchischen Entwickelungsstufe stehen geblieben. Nur ist ihre Monarchie nicht erblich, sondern Derjenige unter ihnen darf allein auf die Führerschaft Anspruch erheben, der gerade der klügste von Allen ist. Seine Pflicht ist es nun, für die Sicherheit seiner Untergebenen Sorge zu tragen; er untersucht die Gegend, wählt Weideplätze aus, achtet auf Gefahren. Sein Amt ist ein ununterbrochenes Wittern und Spähen, und nicht eine Reihe von Vergnügungen und Genüssen bringt dieses Amt mit sich, sondern es bildet eine lange Kette mühevoller Arbeiten. Treu ist dafür das Volk seinem Führer ergeben; mit blindem Gehorsam folgt ihm die Heerde, mag er sie retten oder in’s Verderben stürzen. – Und welche Feinheit der Sinne dazu gehören muß, um Elephantenkönig zu sein, das kann nur derjenige begreifen, der es mit eigenen Augen gesehen hat, wie schlau und vorsichtig diese Dickhäuter sind.
So wollen wir auch hier einen Augenzeugen, den Major Skinner, über den Gang der Elephanten zur Tränke berichten lassen, wie er ihn in einer der hellen tropischen Vollmondsnächte, in den Zweigen eines Waldriesen versteckt, beobachtet hatte.
„Endlich,“ schreibt unser Gewährsmann, „schlüpfte, etwa dreihundert Schritte vom Teiche entfernt, ein großer Elephant aus dem dunklen Walde, ging mit höchster Vorsicht beiläufig zweihundert Schritte vor und stand still, um zu lauschen. Er war so ruhig gekommen, daß nicht das leiseste Geräusch gehört werden konnte, und blieb mehrere Minuten stehen, bewegunglos wie ein Felsblock. Dann erst rückte er in drei Absätzen weiter und weiter vor, zwischen jedem Vorrücken mehrere Minuten lang anhaltend und die mächtigen Ohren nach vorwärts öffnend, um auch das leiseste Geräusch aufzufangen. So bewegte er sich langsam bis an das Wasserbecken. Er dachte nicht daran, seinen Durst zu löschen, obgleich er dem Wasser so nahe stand, daß seine gewaltige Gestalt in ihm sich widerspiegelte. Minutenlang verweilte er lauschend, ohne ein Glied zu rühren. Dann drehte er sich vorsichtig und leise um, und ging nach derselben Stelle des Waldes zurück, von woher er gekommen war. Nach einer kleinen Weile zeigte er sich wieder nebst fünf anderen, mit denen er wiederum ebenso vorsichtig, aber weniger lautlos als früher, auf das Wasser losging. Die Fünf wurden als Wächter aufgestellt. Er kehrte in den Wald zurück und erschien nochmals, umgeben von der ganzen aus etwa achtzig bis hundert Stück bestehenden Heerde, und führte diese über die Blöße mit solcher Stille, daß ich trotz der Nähe die Thiere nur sich bewegen sah, nicht aber auch bewegen hörte. In der Mitte der Blöße blieb die Heerde stehen. Der Leitelephant ging von Neuem vor, verkehrte mit den Wächtern, untersuchte Alles, überzeugte sich von der vollständigen Sicherheit, kehrte zurück und gab nun Befehl zum Vorrücken. In demselben Augenblicke stürzte die Heerde gegen das Wasser los und warf sich ohne jede Scheu und ohne an Gefahr zu denken, mit aller Wollust in die Fluthen. Von Schüchternheit und Furchtsamkeit war keine Spur zu bemerken. Alle vertrauten ihrem Führer so vollkommen, daß sie sich um nichts mehr zu kümmern schienen. Nachdem die verschmachteten Thiere den Teich eingenommen hatten, und als auch der letzte, der Leitelephant, eingetreten war, überließen sie sich gleichsam frohlockend der Wonne, ihren Durst zu stillen, sowie der Wohlthat des Badens. Niemals hatte ich solche Menge von thierischem Leben in einem so engen Raume gesehen. Es wollte mir scheinen, als tränken die Elephanten den ganzen Teich trocken. Nur einen kleinen Zweig brauchte ich zu brechen, und die ganze feste Masse kam augenblicklich in Aufruhr und floh dahin, wie eine Heerde aufgescheuchten Wildes in toller Hast und Eile.“
Nicht weniger interessant als die Tränke ist die Mahlzeit dieser Thiere anzusehen und anzuhören. Ueberrascht man sie bei solcher Mahlzeit, während sie sich in Sicherheit wähnen, so bemerkt man, wie sie Zweige von Bäumen brechen, um gemüthlich das frische Laub zu verzehren, mit ihren mächtigen Ohren klatschen, die Erde mit den plumpen Füßen stampfen und schmetternd in die Lüfte brüllen, einen ohrbetäubenden Höllenlärm erzeugend, wie ein anderer Augenzeuge, Heuglin, berichtet.
Ihr Lieblingsfutter bilden frisches Laub und kleinere Baumzweige, wiewohl sie öfters auch armstarke Aeste verschlingen. Seltener verzehren sie saftiges Gras, indem sie ganze Büschel aus der Erde herausreißen und diese alsdann an einen Baumstamm klopfen, um sie von Sand und Erde zu reinigen, bevor sie mit dem Rüssel in das Maul gestopft werden. Von Zeit zu Zeit dringen die Elephanten in Reisfelder ein und – merkwürdig genug! – verschonen sie in der Regel die schwachen Rohrzäune, mit welchen die Indier ihre Felder umgeben, als ob sie diese von der Menschenhand errichteten Grenzen achteten. Schon eine Vogelscheuche reicht übrigens hin, um eine ganze Elephantenheerde von bebauten Feldern fernzuhalten. Das wissen die schlauen Priester des Propheten aus Mekka und verkaufen den Gläubigen Schutzbriefe, welche auf den Feldern ausgehängt werden, und vor denen die „Fihls“, das heißt die afrikanischen Elephanten, eine so heilige Scheu empfinden sollen, daß sie solche „versicherte Aecker“ niemals zu betreten wagen. Unter welchen verschiedenartigen Vorwänden versteht nicht das theokratische Raffinement in allen Ländern und Völkern die gläubige Dummheit dazu zu benutzen, um den leichten Beutel der großen Menge noch leichter zu machen! Wenn die Noth sie dazu zwingt, so kümmern sich die Elephanten freilich herzlich wenig um die Schutzbriefe des gottgesandten Mannes, und plündern die Felder und decken selbst das Dach der im Walde einsam stehenden Negerhütte auf, um nachzusehen, ob in ihr Getreide oder Futter vorhanden ist.
Der griechische Arzt Ktesias, der noch vor der Schlacht bei Arbela in Babylon einen Elephanten gesehen, behauptete, das Thier habe keine Gelenke an den Beinen und könne sich nur schwerfällig und langsam vorwärts bewegen, niemals aber niederlegen. Bald wurde dieser Irrthum widerlegt, aber noch heute haben Viele von der Geschwindigkeit der Elephanten eine falsche Vorstellung. Was würden sie wohl zu der verbürgten Nachricht sagen, daß diese Rüsselthiere, wenn sie einen andern Theil ihres unermeßlichen Weidegebietes aufsuchen, so rasch wandern, „daß sie heute hier, morgen zweihundert Kilometer weiter sein können“? Und bei diesen Märschen, auf welchen sie stets in langen Colonnen geordnet erscheinen, giebt es für sie keine Bodenhindernisse. Sie durchschwimmen Flüsse und Seen, klimmen felsige, steile Höhen hinauf und steigen auf abschüssigen Bahnen in das Thal hinab. Sö wird der Elephant geradezu zum kletternden Thiere.
„An einem Gefangenen, welchen ich pflegte,“ berichtet Brehm in seinem „Thierleben“, „habe ich mit wahrem Vergnügen gesehen, wie geschickt er es anfängt, schroffe Gehänge zu überwinden. Er biegt zunächst sehr klug seine Vorderläufe in den Handgelenken ein, erniedrigt also den Vorderleib und bringt den Schwerpunkt nach vorn; dann rutscht er auf den umgeknickten Beinen vorwärts, während er hinten mit gerade ausgestreckten Beinen geht. Bergauf also fördert die Wanderung ziemlich gut; bergab hat dagegen das schwere Thier selbstverständlich wegen seines ungeheueren Gewichtes größere Schwierigkeiten zu überwinden. Wollte der Elephant in seiner gewöhnlichen Weise fortgehen, so würde er unbedingt das Gleichgewicht verlieren, nach vorn sich überschlagen und solchen Sturz vielleicht mit seinem Leben bezahlen. Das kluge Geschöpf thut dies jedoch nicht, kniet vielmehr am Rande des Abhanges nieder, sodaß seine Brust auf den Boden zu liegen kommt, und schiebt seine Vorderbeine höchst bedächtig vor sich her, bis sie irgend wieder Halt gewonnen haben, zieht hierauf die Hinterbeine nach und gelangt so, gleitend und rutschend, nach und nach in die Tiefe hinab.“
Mit weniger Mühe bahnt sich die Heerde durch den Urwald ihren Weg. Ruhig und langsam schreitet das leitende Thier an der Spitze der Seinigen; das Unterholz bricht unter seinen schweren dröhnenden Tritten zusammen; Aeste, die den Weg versperren, werden mit dem Rüssel abgeknickt, starke Bäume entwurzelt oder gebrochen. Ein breiter Pfad bleibt hinter der Heerde offen, während sich die schwarze Masse unter dem Krachen der Bäume und dem Dröhnen des Erdbodens unaufhaltsam vorwärts wälzt. So wandert der Riese der Thierwelt durch das undurchdringliche Dickicht des tropischen Urwaldes mit einer majestätischen Gewalt, welche das Wort des Erzählers oder der Pinsel des Künstlers nur in schwacher Nachahmung wiederzugeben vermag. In den Urwäldern des Blauen Nils ziehen sich solche Wege oft meilenlang hin, und dort waren [19] die Elephanten förmliche Straßenbauer, auf deren Spur es dem Afrikareisenden Brehm allein möglich wurde, tief in den „dunklen Welttheil“ einzudringen.
Früher sah man oft phantastische Bilder und las grausenerregende Erzählungen, auf welchen und in welchen Elephanten in tödtlichem Kampfe mit Löwen, Tigern und Leoparden dargestellt wurden. Nach übereinstimmenden Berichten der Reisenden sind alle die Erzählungen von den Kämpfen der Elephanten mit wilden Thieren in das Reich der Fabel zu verweisen. Raubthiere greifen nie Elephanten an, und diese gehen wiederum jedem, selbst dem kleinsten Geschöpfe aus dem Wege. Ihr ärgster Feind ist die Fliege. Daraus erklärt sich auch die Freundschaft, welche die afrikanischen „Fihls“ mit dem Kuhreiher zu schließen pflegen. Oft sitzt ein Dutzend dieser weißen kleinen Vögel auf dem Rücken des schwarzen Kolosses, geschäftig die Falten seiner Haut untersuchend, um dort nach verschiedenen Kerbthieren Jagd zu machen.
Ruht die Heerde am schattigen Platze des Waldes, so bieten vor Allem die spielend munter umherlaufenden Jungen ein anmuthiges Bild der fröhlichen Unschuld. Charakteristisch ist es, daß die Liebe der Mutter zu ihrem Kinde bei diesen sonst doch so gutmüthigen Thieren nicht besonders groß ist, während alle weiblichen Elephanten sich der Jungen mit gleicher Zärtlichkeit annehmen und ohne Rücksicht auf ihre Abstammung allen das Euter bieten.
Ueber das Alter, welches der Elephant in der Wildniß zu erreichen pflegt, lauten die Ansichten verschieden. In der Regel wächst er zwanzig bis vierundzwanzig Jahre, ist aber schon mit sechszehn Jahren fortpflanzungsfähig. Man behauptet zwar, daß einige Elephanten in der Gefangenschaft über hundert Jahre gelebt haben, wiewohl die Erfahrungen, welche die englische Regierung mit ihren gezähmten Thieren gemacht hat, dagegen zu sprechen scheinen; denn von allen diesen Elephanten, über welche genaue Listen geführt wurden, lebte nach zwanzig Jahren nur ein einziger. Dennoch wird es im Allgemeinen angenommen, daß wilde Elephanten das beneidenswerthe Alter von anderthalb Jahrhundert erreichen können. Freilich ist dabei ihre Vermehrung eine äußerst langsame, da das Weibchen zwanzig bis einundzwanzig Monate trägt und gewöhnlich nur ein Junges wirft. Immer enger wird auch das Gebiet, auf dem der Elephant ungestört weiden kann, seine Zucht bringt wenig Nutzen, da zum Ackerbau Pferde und Rinder stets passender sind, während seine glänzenden Stoßzähne, welche das Elfenbein liefern, die beutelustigen Jäger zur Vertilgung der Art anspornen. So hat, wie für den nordischen Auerochsen, auch für den Elephanten die Stunde seines Unterganges geschlagen.
Wohl liefern noch die Jagd und die Zähmung der Elephanten Stoff genug zu unterhaltender und belehrender Erzählung, aber wir schließen hiermit, denn es lag nicht in unserer Absicht, die Qualen des besiegten und durch die Knechtschaft erniedrigten Thieres zu schildern, sondern vor den Augen der Leser ein, wenn auch unvollkommenes Bild seines Treibens in der ungebundenen
Freiheit zu entrollen.
Luther’s Einzug in Worms. (Zur Abbildung auf S. 12 und 13.)
Große Augenblicke im Leben der Völker und der Einzelnen können,
wenn sie für den Griffel des Künstlers faßbar sind, nicht oft genug dem
Volke in Bildern vor Augen gestellt werden. Der Blick des denkenden
Künstlers muß es nur verstehen, den rechten Augenblick zu finden. Für
die vorliegende Illustration ist derselbe sehr glücklich gefunden worden.
Martin Luther’s Schicksal stand an einer Wende, als er in den ersten Tagen des April 1521 „das Rollwäglein“ bestieg, welches der Magistrat von Wittenberg ihm zur Reise gen Worms gegeben hatte. In jenen Tagen war es noch sein Schicksal, sein Wagniß und die Folgen schienen ihn allein zu treffen. Als aber die Reformation vollendet war, stand mit des einzelnen Mannes Schicksal das der deutschen Nation vor Worms an einer Wende. Denn hätte Luther nicht den Muth gehabt, vor dem Reichstag zu erscheinen, hätte er der Warnung seines besorgten Kurfürsten nachgegeben, so würde damals der Strom der Reformation vielleicht im Sande verlaufen sein. In diesem Augenblick war es von Bedeutung, daß die große Sache durch den großartigsten Mannesmuth im Auge der Nation die höchste Weihe erhielt.
Als die Ladung an Luther nach Worms ergangen war und der Kurfürst ihn fragte, ob er derselben wirklich folgen wolle, sprach er: „Versehet Euch zu mir Alles, nur nicht, daß ich fliehen oder widerrufen werde.“
So begann denn die Fahrt, zu welcher Herzog Johann das Reisegeld hergegeben. Da Luther im Bann war und des kaiserlichen Schutzgeleits bedurfte, so ritt vor dem Wagen ein kaiserlicher Herold. Als Begleiter gesellten sich ihm seine auch später treu gebliebenen Kampfgenossen Justus Jonas, Nikolaus Amsdorf, Peter Suaven und Hieronymus Schurf. Als sie nach Naumburg kamen, überreichte ein Priester Luthern das Bildniß von Savonarola sammt einer Mahnung zur Standhaftigkeit. Desto häufiger wurden die Bitten seiner Freunde, dem Worte des Kaisers nicht zu trauen, sondern an Huß zu denken, dessen Schicksal in Worms seiner harre.
Da sprach er. „Wenn sie gleich ein Feuer anmachten zwischen Wittenberg und Worms bis an den Himmel hinan, will ich doch im Namen des Herrn erscheinen und dem Behemoth in sein Maul zwischen die großen Zähne treten und Christum bekennen.“ – Neue Anfechtungen erwarteten ihn in Weimar, wo ihn Spalatin’s Warnung traf. Luther’s Antwort lautete: „Wir kommen, obgleich der Satan mich mit mehr als einer Krankheit zu hindern gesucht, denn den ganzen Weg bis hierher bin ich unpaß gewesen, und auch jetzt noch auf eine mir unbekannte Weise.“ Trotz alles Unwohlseins predigte er in Weimar und auch in Erfurt, wo die Universität ihn feierlich eingeholt hatte.
Weiterhin fand Luther überall das kaiserliche Verbot seiner Bücher vor, sodaß selbst der kaiserliche Herold den Sinn der Vorladung Luther’s durchschaute und ihn fragte. „Herr Doctor, wollet Ihr weiter ziehen?“ Er blieb bei seinem Entschluß, ließ sich weder von Sickingen auf die Ebernburg verlocken noch schließlich in Oppenheim von den Boten zurückscheuchen, welche seine Freunde von Worms aus ihm mit ihren warnenden Bitten entgegengesandt hatten. Ihnen entgegnete er das weltbekannte: „Und wenn so viele Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern, ich wollte doch hinein.“
So kam er vor Worms an. Vor dem Thore war er noch frei, konnte dem ihm drohenden Schicksal noch ausweichen. Auch mochte ihm dort Spalatin’s Mahnung vor Augen treten; denn noch kurz vor seinem Tode gedachte er jenes Moments und sagte dazu: „Ich war unerschrocken und fürchtete mich nicht.“
Und so zog er denn durch das Thor in die Stadt, in welcher des Kaisers und des Papstes vereinte Gewalt dem armen Mönch gegenüber stand; das ist die Größe des Augenblicks: der wunderbare Muth des einfachen Mannes auf dem Wittenberger Rollwägelein rettete die Ehre der großen Bewegung und bestimmte durch den Triumph der Ueberzeugung vor Kaiser und Reich, durch das unvergängliche und unvergleichliche: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders – Gott helfe mir! Amen“, die nächsten Wege und den ferneren Gang des Schicksals der deutschen Nation.
Luther selbst erzählt: „Ich fuhr in einem offenen Wägelein, in einer Kutte in Worms ein, da kamen alle Leute auf die Gassen und wollten den Mönch Doctor Martin sehen, und fuhr also in Herzog Friedrich’s Herberg, und war auch Herzog Friedrich dabei bange gewesen, daß ich gen Worms kam.“ Das war Luther’s Wormsfahrt.
Eine amerikanische Strandheldin. Auf den sogenannten Lime-Rocks
im Hafen von Newport im Staate Rhode-Island, diesem Ostende der
Amerikaner, steht einer der vielen kleinen Leuchtthürme dieses klippenreichen
Hafens, er leuchtet auch bei Tag durch seine weißgetünchten
Wände weit hinaus. Der Wächter dieses Thurmes starb vor einigen
Jahren, und die Wittwe und die Tochter behielten den Wächterdienst.
Diese Tochter nun, Ida Lewis, ist durch ihren Muth, durch ihre Thatkraft
ein Liebling des amerikanischen Volkes geworden. Das zarte Mädchen
hat schon mehr als ein Dutzend Leben gerettet. Wenn der Schaum der
Wellen bis zur Lampe emporsprühte, und der Sturm beinahe den Felsen,
auf welchem der Leuchtturm steht, erschütterte, band sie doch unverzagt
ihr Lebensrettungsboot los, um umgeschlagenen Booten zu Hülfe zu eilen
und die Insassen zu retten, was ihr bis jetzt auch immer gelang. Als sie
vor einigen Jahren zwei Seesoldaten, deren Boot umgeschlagen war, rettete,
hatte der Enthusiasmus seinen Höhepunkt erreicht, und außer Danksagungen
erhielt sie auch bei öffentlicher Ansprache und Uebergabe von
der Stadt ein reizend ausgestattetes Lebensrettungsboot zum Geschenk
nebst verschiedenen Medaillen der Vereinigten Staaten, in demselben
Sommer wurde sie von beinahe 10,000 Menschen besucht.
Es interessirte mich, diese Heldin kennen zu lernen, und ich fuhr hin. An der Felsentreppe, an welcher wir unser Boot anlegten, empfing uns ein riesiger Neufundländer mit mächtigem Bellen, was unsern Besuch ankündigte. Gleich an der offen stehenden Thür des Hauses empfing uns Ida Lewis, eine einfache sympathische Erscheinung mit von Wind und Wetter gebranntem Gesichte in sehr netter, bescheidener Kleidung.
Sie führte uns in dem ganz geräumigen, fast peinlich sauberen Hause herum, zeigte uns ohne jedwede Eitelkeit alle ihre Medaillen und Erinnerungszeichen und auf meine Fragen, diese Lebensrettungen betreffend, antwortete sie ganz natürlich und als ob es sich um etwas ganz Alltägliches handle. Sie führte uns auch zur Lampe mit den riesigen Linsen und erklärte uns den Dienst, welcher ihr allein oblag, da die Mutter schon ältlich und schwächlich geworden war. – Auf die Frage, ob ihr denn nie bangte, wenn sie sich so in die tobenden Elemente stürze, antwortete sie:
„Wenn kein Sturm ist, denke ich immer, ich könnte es nie wieder wagen, wenn es aber um mich braust und tobt und ich gar Hülferufe höre, da hält mich nichts mehr, der Drang zu helfen ist stärker, als ich selbst, und wenn ich selbst wüßte, daß ich zu Grunde gehen würde, ich müßte doch hinaus, meine Pflicht zu thun.“
Auf die Frage, ob sie sich nicht sehr einsam auf ihrem Felsen fühle,
[20] erwiderte sie: daß das wohl so sei, jedoch käme so viel Besuch, daß sie oft sich freue, wieder allein zu sein, auch habe sie Spaß an ihrem Neufundländer, dem es aber viel langweiliger wäre, als seiner Herrin, sodaß er manchmal einen kühnen Sprung von der Klippe thue und gegen das feste Land schwimme; um das Thier zur Rückkehr zu bewegen, feuert sie ihren Revolver ab und zielt so, daß die Kugel dicht vor dem Hunde einschlägt, was ihn jedes Mal gedemüthigt nach Hause bringt.
Vor kurzer Zeit wurde der Wächterdienst ganz an Ida Lewis übertragen und ihr vom General-Secretär, General Sherman, der Dienst mit einem jährlichen Gehalt von 750 Dollars förmlich übergeben mit den Worten. „Als ein Zeichen meiner Anerkennung Ihrer edlen und heroischen Bemühungen in Anbetracht von Lebensrettungen.“
Spottmünzen Beißender Spott und bittere Satire geboten in dem Geisteskampfe der Reformationszeit bekanntlich zu den häufigst gebrauchten Waffen. Zu derselben Zeit, da Lucas Kranach unter dem Titel „das Passionat Christi und Antichristi“ ein geistreich ausgearbeitetes, von unerhörtem Erfolge gekröntes Kupferwerk herausgab, welches auf der einen Seite den Glanz und die Pracht des Papstes, auf der andern die Demüthigung und die Leiden Christi darstellte, und zu welchem Luther selbst die Unterschriften lieferte, gingen auch plötzlich seltsam dreinschauende Geldstücke von Hand zu Hand, bei deren Betrachtung der Jesuit Joubert sich veranlaßt fühlte: „daran zu erinnern daß man mit den echten Münzen der römischen Päpste diejenigen nicht vermengen möge, welche die Feinde des römischen Stuhls, damit sie demselben Schimpf erweisen oder wehe thun möchten, erdichtet haben.“
Von diesen „Spottmünzen“, wie sie genannt wurden, schrieb auch der Jesuit Grether in seinem Buche „De Cruce“ folgendermaßen „Wiewohl man gar viele Wege und Gelegenheiten hat, etwas unter die Leute zu bringen, so ist doch die Manier, solches durch Münzen zu thun, die bequemste, darum vornehmlich, weil das Geld bei Jedermann angenehm ist und also auch die innersten Winkel durchkreucht. Das haben die Ketzer unserer Zeiten sich wohl zu Nutze gemacht, und nicht allein mit Büchern, Gemälden und Statuen die Päpste, Cardinäle, Bischöfe, Priester, Mönche, Nonnen und insgemein alle unsere geistliche Orden auf’s Schmählichste durchgezogen und aller Welt zum Spott gesetzet, sondern auch dieses ihr unverschämtes Wesen durch Münzen allenthalben um so viel leichter ausgebreitet, je weiter das Geld zu gehen pfleget. Ich erschrecke, wenn ich der Bilder gedenke, die ich gesehen habe, und schäme mich, daß unsere Zeiten mit dergleichen schandbaren Erfindungen verunehret werden.“
Er beschreibt nunmehr eine solche Münze, deren Umschrift gelautet habe. „Falsche Lehr gilt nit mehr“, und äußert sich dann weiter. „Mit dieser Schrift hat es seine gute Richtigkeit, wenn man nur einen einzigen Buchstaben verändert, nämlich auf diese Art: ‚Falsche Lehr gilt nie mehr‘. Inmassen die falsche Lehr niemals in größerem Werthe und Hochachtung gewesen als nachdem die Abtrünnigen eine neue Lehre und neue Münze ausgehecket haben. Eine andere Münze zeiget einen Cardinal, welcher umgekehret einen Narren (das ist: einen Lutheraner oder Calvinisten!) präsentiret, mit dem Spruche des Königs David. ‚Et stulti aliquando sapite.‘ das ist: ‚Wann wollt ihr Narren doch klug werden.‘ Der Revers aber stellet vor den Römischen Papst in seiner dreifachen Krone, umgekehrt kriechet der Teufel aus einem Ey, das ist derjenige, so diese Münze verfertigt hat; und hat sich selbiger einen ihm bequemen Lobspruch beigesetzet. ‚Mali corvi malum ovum‘, das ist: ‚Ein böser Rabe legt ein böses Ey.‘ Das ist wahr. Aber du eben bist so ein grundböses Raben-Ey, und werth, daß dich die Raben fressen, ist auch Zweifel, wenn du nicht Buße gethan hast, du werdest nun den höllischen Raben zur Speise dienen.“
Wie sehr die Urheber dieser Münzen ihren Zweck erreicht, und welches Aussehen und Aergerniß dieselben im papistischen Lager gaben, beweist ferner der Umstand, daß der Herzog von Braunschweig dem Kurfürsten Friedrich von Sachsen neben der Einnahme des Bisthums Naumburg in bittersten Worten auch die Verwegenheit des Nicolaus von Amsdorf vorhielt, welcher eine Münze habe prägen lassen, deren Avers einen Cardinalskopf und an demselben umgekehrt einen Narrenkopf gezeigt habe, mit den Umschriften. „Effigies cardinum mundi“ („Bildniß der Thürangeln der Welt oder der Cardinäle“) und „Effoeminati dominabuntur eis“ („Weibische Männer werden über sie herrschen“).
Wir führen heute unseren Lesern das Bild der berühmtesten aller Spottmünzen vor, deren Original in Luther’s Geburtshause zu Eisleben aufbewahrt wird. Haben wir die Umschrift derselben in „Die verkehrte Kirche trägt das Gesicht des Teufels“ und „Weise sind zuweilen Narren ähnlich“ verdeutscht, so bedarf die Münze eines weiteren Commentars nicht, und haben wir nur noch hinzuzufügen, daß dieselbe auch mit dem Kopfe des Herzogs Alba (statt des Cardinals), wie auch ferner mit den Sprüchen: „DES . BAPST . GEBOT . IST . WIDER . GOT . MDXLIII . - DER . DVCK . D . ALBA . DVRCH . SEIN . NARHEIT . HAT . NICHTS . AVSGEBRICHT . DAN . BOSHEIT .“ in Umlauf war.
Dieselbe Erfindung mit den umgekehrten Gesichtern ward übrigens später auch mit Bezug auf Cromwell und Fairfax, zur Zeit des preußisch- österreichischen Krieges auf Gablenz und Benedeck, 1870 auf Leboeuf, Napoleon und Andere angewandt. Zur Erheiterung unserer Leser geben wir ferner noch eine kleine Auswahl anderer satirischer Münzen.
Daß Actienschwindel und Krach nicht eine Erfindung unserer Tage, zeigt auf einer kupfernen Medaille ein Mann mit einem Vergrößerungsglase, der vor sich auf einem Tische Actienbillets mit der Zahl 100 liegen hat. Eins derselben besieht er durch das Glas und die 100 vergrößert sich in 1000. Die Umschrift lautet: „Vergrösrungs Glas thuts hier und an so vielen Enden, das sich die Klugsten auch durch Geldsucht lassen blenden.“ Ernster ist die Kehrseite des Stückes. An rauschendem Flusse steht ein dürrer Baum, an dem sich ein Mann erhängt. Perrücke, Hut und Degen liegen zu Fuße des Stammes. In dem Flusse hat ein zweiter den Tod gesucht: ein Anderer steht im Begriffe, hineinzuspringen: ein Vierter läuft davon. Die Umschrift lautet. „Das Spiel ist nun entdeckt, das Blatt hat sich gewend, so machet der Betrug ein schreckenvolles End.“ Im Abschnitt stehen die Worte: „Der Actien Betrug und List, der ganzen Welt ein Denkmal ist. 1720“
„Selten wird ein Jud ein Christ, er hab denn was begangen, auch thut ers meist umb Geldt, dass er nicht hängen darff, denn wenn er anders stiehl, so strafft man in zu scharf.“ So erzählt eine Medaille, die einen Geistlichen zeigt, der am Meere einen Juden tauft. Der dabeistehende Küster will den Juden, dem ein Mühlstein am Halse hängt, in’s Meer stoßen, denn „So bleibt er am beständigsten“, wie die Unterschrift lautet. Die Randschrift heißt. „Wenn die Maus die Katze frisst, dann wird ein Jud ein wahrer Christ.“
Ueber einer ein Geldstück haltenden Hand einer anderen Münze stehen die Worte: „Kömmstu mir also“ - Revers. „So komm ich dir so“ über einem durch die Finger sehenden Brustbilde.
Ein kleines Stück in Zinn ist ein „Denk an das schreckliche Heuschreck-Heer“, auf dessen Vorderseite zwei Heuschrecken auf der Erde sitzen, während in der Ferne eine ganze Wolke heranzieht. Das sind, wie der Revers besagt. „Morgenlands Heuschrecken, welche aus Türckey kommende, im Augusto v. September 1693. durch Ungarn, Ostreich, Schlesien, Böhmen, Voigtland und Osterland in Thüringen gezogen, allda sie erfrohrn und dem Vieh zur Speise worden.“
Eine ganze Menge ähnlicher Münzen erschien zur Erinnerung an Wassersnöthe, Kometen, Friedensschlüsse, gute und böse Jahre, auf naturgeschichtliche Ereignisse etc.; selbst die Vorführung außereuropäischer Thiere im vorigen Jahrhundert war wichtig genug, die Grabstichel der Stempelschneider in Bewegung zu setzen, wie die Inschrift einer zu Nürnberg gefertigten, ein von der Sonne beschienenes Nashorn zeigenden Münze beweist: „Dieser Rhinoceros ist 1741 durch den Capitain David Hout von der Meer aus Bengalen in Europa gebracht und ist im Jahr 1747 als es 8 1/2 Jahr alt war 12 Schuh lang und 12 Schuh dick und 5 Schuh 7 Z. hoch gewest. Es frist täglich 60 Pf. Heu 20 Pf. Brod und sauft 14 Eimer Wasser 1748. “
Vermißt! Die Wittwe Frau E. Beck, geb. Petri, in Bern vermißt seit dem 16. October 1879 ihren nunmehr vierzehnjährigen Sohn, Karl August Benedict Beck, der, in Wiesbaden geboren, in Bern Zögling der Lerber’schen Schule war. Der junge Mensch hat eine Größe von etwa 153 Centimeter, schlanke Gestalt, blonde Haare, blaue Augen hohe und flache Stirn, feingeschnittenen Mund, spitzes, etwas vorstehendes Kinn, ovale Gesichtsform und sogenannte Mitesser im Gesicht, er war mit Geld versehen und trug außerdem eine werthvolle, aus zwei Reihen schwerer Glieder zusammengesetzte goldene Uhrkette, eine Korallenkette und zwei aus je einem Fünfdollarstücke bestehende Hemdknöpfe bei sich. Die beklagenswerthe Mutter bittet Alle, die etwa eine Spur ihres Kindes finden oder bereits gefunden haben sollten, um Mittheilung darüber an die Redaction der „Gartenlaube“.
G. B. in Freiberg. Den Beinamen „Vater der Gasbeleuchtung“ hat man Samuel Clegg deshalb gegeben, weil er für die Vervollkommnung der Gasindustrie außerordentliches leistete und zum ersten Male (1. April 1814) mit durchschlagendem Erfolg die Straßenbeleuchtung mittelst Gas in London eingeführt hat. Walter Scott verspottete Clegg’s Idee mit den Worten: man wolle jetzt London in der Nacht mit dem Kohlenrauch beleuchten, der sonst dort den Tag in Nacht verwandelt. Der Magistrat weigerte sich auch anfangs, seine Zustimmung zu der Eröffnung des Unternehmens zu geben, da, wie „Gelehrte“ behaupteten, das von Clegg erbaute Gasometer im Falle einer Explosion ganz Middlesex in die Luft sprengen würde. Da lud Clegg die Väter der Stadt zu einem Besuch seiner Gasanstalt ein, ließ, als alle Gäste versammelt waren, sämmtliche Thüren schließen, ergriff eine Axt und hieb mit ihr ein Loch in das gefüllte Gasometer. Und ehe die hohe Versammlung sich vom Schreck erholen konnte, zündete er das ausströmende Gas mit einer bereitgehaltenen Fackel an. Ohne zu explodiren, brannte das Gas ruhig in heller Flamme aus, bis das Gasometer völlig niedergesunken war. So wußte einst ein Mann aus der Schule Watt’s Menschen vom Vorurtheil zu befreien.
Elfriede Sch. in Leipzig. In Nr. 47 von 1869.
W. S. in F. Wir rathen ab.
Paul R. In Berlin!
K. in W. Haben Sie die Güte, uns Ihre Adresse anzugeben! Die Beantwortung von Fragen solchen Inhalts gehört nicht in unser Blatt, sondern kann nur brieflich geschehen. Durch solche ganz unnöthige, ja sogar verletzende Geheimthuerei uns gegenüber verzögern Sie die Beantwortung Ihrer Fragen und, im Glücksfall, die Erlösung einer Familie aus sorgenvoller Lage um vier bis fünf Wochen oder länger.
- ↑ Verwandtschaft.
- ↑ Mit völliger Gewißheit läßt sich der Geburtstag nicht feststellen; am meisten Wahrscheinlichkeit hat der 30. für sich, welches Datum auch des Dichters Grabstein trägt. Nach einer Mittheilung seines in Berlin lebenden Sohnes, der mit dankenswerther Freundlichkeit dem Verfasser auf einige Anfragen Bescheid ertheilte, giebt Chamisso selbst in einem französischen Briefe an seine Verwandten in Paris den 20. Januar als seinen Geburtstag an, während er in seinem Reisetagebuche erwähnt, daß am 31. (1816) an Bord des „Rurik“ sein „Geburtstag oder vielmehr Tauftag“ gefeiert worden sei, und dazu die humoristische Bemerkung macht: „Wann und ob ich überhaupt geboren, ist im Documente nicht verzeichnet; Zeugen sind nicht mehr zu beschaffen, und es streitet nur die Wahrscheinlichkeit dafür.“ – (Wie Karl Fulda in seinem soeben erschienenen sehr beachtenswerthen Buche: „Chamisso und seine Zeit“ (Leipzig 1881) berichtet, war der genannte Brief an Adelbert’s Bruder Hippolyt gerichtet, in welchem Werke sich überdies höchst interessante neue Mittheilungen aus dem Leben Chamisso’s befinden. D. Red.)
- ↑ Medicinalrath Dr. Fr. Paul Hasse in Königslutter hat bekanntlich auf der letzten Versammlung der Irrenärzte zu Eisenach einen neuen Anstoß zur Prüfung dieser Frage gegeben, welche er auch in seiner vor Kurzem erschienenen Broschüre: „Ueberbürdung unserer Jugend etc.“ (Braunschweig, Vieweg) behandelte. Auch in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 13. December 1879 wurde die Ueberbürdungsfrage in die Debatte hineingezogen. Der preußische Cultusminister von Puttkamer glaubte auf Grund der von den Directoren preußischer Irrenanstalten abgegebenen Gutachten gegen die in Eisenach ausgesprochenen Schlußfolgerungen Einwand erheben zu müssen, während andere Abgeordnete sich auf den Standpunkt unseres Verfassers stellten. Im Ganzen wurde aber die Gefahr der Ueberbürdung für das geistige und leibliche Wohl der Schüler anerkannt, welcher Ansicht sich die denkenden Beobachter unter unseren Lesern ohne Zweifel anschließen werden. D. Red.
- ↑ „Die Begründung und fünfzigjährige Wirksamkeit der Lebensversicherungs-Gesellschaft in Leipzig“. – In der „Gartenlaube“ ist das Lebensversicherungswesen in folgenden Artikeln behandelt worden: „Eine Lebensversicherung. Erzählung, aus den Papieren eines Berliner Advocaten“, 1857, S. 309 ff.; – „Die Gothaische Lebensversicherungs-Bank.“ Von Walesrode, 1865, S. 12, 123 und 152; – „Die Lebensversicherung auf der ganzen Erde“, 1869, S. 176, und in drei Artikeln von F. W. Gallus: „Eine Bitte an die deutschen Frauen“, 1875, „Abgelehnt“, das., S. 843, und „Mißbrauch der Lebensversicherung“, 1876, S. 92.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ a b c vergl. Berichtigung auf S. 40