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Titel: Eine Lebens-Versicherung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–26, S. 309–312, 325–328, 337–340, 349–356
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[309]
Eine Lebens-Versicherung.
Aus den Papieren eines Berliner Advocaten.

Eine verwickelte Erbschaftsangelegenheit hatte mich vor einer Reihe von Jahren genöthigt, zur Einziehung nothwendiger Informationen nach London zu reisen. Mein Aufenthalt zog sich über Erwarten in die Länge, da ich zur Wahrung der gefährdeten Rechte meiner Clienten genöthigt war, bei den englischen Gerichten Sicherungsmaßregeln in Betreff der streitigen Erbmasse gegen die wenig bedenklichen Prätendenten nachzusuchen, die meinen Anspruch mit mehr Hartnäckigkeit als gutem Rechte bestritten. Wer die Schwerfälligkelt und Kostspieligkeit des englischen Civilproceßverfahrens mit seinen zeitraubenden Interlocuten und Incidenzpunkten kennt[1], wird sich sagen können, mit welchen Schwierigkeiten ich bei jedem Schritt und Tritt zu kämpfen hatte. Dazu kam, daß sich mein ganzes Arsenal von Kenntnissen des vaterländischen, römischen, gemeinen und französischen Rechts als ein ganz unnützer Apparat in dem Lande der Erbweisheit erwies, dessen Privatrecht sich nicht minder selbstständig, eigenartig und verschlungen entwickelt hat, wie der Organismus seines Staatslebens. Ich mußte es daher als eine besonders glückliche Fügung des Schicksals ansehen, daß ich durch Veranstaltung eines in London lebenden rechtsgelehrten Landsmannes einen Anwalt kennen lernte, der mir durch seine Einsicht und Kenntniß des englischen Rechtslabyrinths die erheblichsten Dienste leistete, und an den mich in der Folge nicht allein die zufällige geschäftliche Beziehung, sondern ein durch persönliche Achtung und Freundschaft geknüpftes Band fesselte, welches noch heute besteht. Diese Verbindung war auch zugleich der Anlaß, der den hier zu erzählenden Fall zu meiner Kenntniß brachte.

Es ist in London allgemein Brauch, daß die großen Geschäftshäuser sich eines ständigen rechtserfahrenen Beistandes bedienen, welche gewöhnlich das Amt der Anwälte (Attorney) bekleiden. In dieser Beziehung stand auch mein Londoner Freund, Mr. Pirrie, zu einer der neu gegründeten Lebens-Versicherungs-Gesellschaften, die auf dem Continente, namentlich in Deutschland, bereits eine namhafte Anzahl von Versicherten zählte.

Eines Tages erhielt ich von Mr. Pirrie ein Schreiben, in welchem er mich um eine Gefälligkeit ersuchte, die, wie er bemerkte, nicht dem Advocaten, sondern dem Freunde angesonnen wurde. Ein Einwohner der Hauptstadt, in der ich lebte, hatte sich mit einem Versicherungs-Antrage direct an die Gesellschafts-Direction in London gewendet. Die üblichen Certificate, so wie ein durchaus günstig lautendes Gesundheitsattest waren beigelegt worden, und die Sache war so weit in Ordnung. Nur schien die Höhe der zu gewährenden Versicherung der Gesellschaft Anlaß zu Bedenken zu geben, zumal der Versicherungnehmer, Kriegsrath von P., sich bereits in dem vorgerückten Alter von 46 Jahren befand. Die Summe sollte 6000 Pfund Sterling betragen, eventuell auf die Hälfte, jedoch auf nicht weniger ermäßigt werden.

Die Gesellschaft hatte in der letzten Zeit sehr bedeutende Summen zu zahlen gehabt, deren Höhe den Etat bei Weitem überstieg, welcher unter Zugrundelegung der Mortalitätstabellen ausgeworfen [310] worden war. Dazu kamen einige Fälle ganz eklatanter Unredlichkeit und Betruges, deren Entdeckung der Gesellschaft nur mit großer Mühe gelungen war, so daß sie nur auf diese Weise sich vor namhaftem Schaden zu bewahren vermocht hatte. Alle diese Umstände wirkten zusammen, um die Gesellschaft bei Abschließung neuer Versicherungsverträge im Auslande noch vorsichtiger zu machen, insbesondere niemals Policen zu bedeutenden Beträgen ohne genaue Kenntniß aller Verhältnisse der Versicherten zu geben.

Mein Freund ersuchte mich deshalb, mir über die Verhältnisse des Kriegsraths von P., namentlich über seine Lebensweise, seine Vermögens- und Familienverhältnisse, auf geeignet scheinende Weise Auskunft zu verschaffen und ihm das Erfahrene schleunigst mitzutheilen.

Ich beeilte mich, dem Vertrauen meines Freundes zu entsprechen, und setzte mich zu diesem Behufe mit dem Polizeicommissarius des Reviers, in welchem Herr von P. wohnte, in Verbindung. Denn was ich persönlich von dem Kriegsrath wußte, war sehr wenig. Ich erinnerte mich, ihn hin und wieder an einem öffentlichen Orte Schach spielen gesehen zu haben. Er hatte die Haltung und das Benehmen eines ehemaligen Militairs, trug sich mit der äußersten Sauberkeit, wenn auch nicht elegant, und zeigte eine gewisse Zurückhaltung in seinem Wesen, die eine Annäherung nicht leicht möglich machte. Sein Aussehen war das eines stattlichen Vierzigers; von mittlerer Statur; die Gesichtsfarbe war nicht eben blühend, aber das volle, dunkle Haupthaar und eine Reihe schöner Zähne deuteten auf rüstige Gesundheit.

Dem Polizeicommissar theilte ich den Anlaß meiner Erkundigung mit; er besaß Tact und Erfahrung und versprach mir, sich aus den ihm zugänglichen Quellen zu informiren, und mich von dem Resultat der angestellten Ermittelungen baldigst in Kenntniß zu setzen.

Folgendes theilte er mir kurz darauf als das Ergebniß seiner Erkundigungen mit:

Herr von P. war Officier gewesen und hatte längere Zeit in Luxemburg und Mainz in Garnison gestanden. Als Premier-Lieutenant nahm er seinen Abschied, verheirathete sich mit der Tochter eines höheren Beamten der Militair-Verwaltung, und trat selbst durch Verwendung seines Schwiegervaters in eine ansehnliche Stellung bei der Intendantur des nämlichen Armeecorps ein, welchem er bis dahin angehört hatte. Er avancirte rasch und wurde vor etwa 8 Jahren nach der Hauptstadt versetzt. Vor einigen Jahren hatte er seine Entlassung nachgesucht, welche ihm unter Gewährung einer anständigen Pension bewilligt wurde. Von seiner Frau lebte er, aus nicht bekannt gewordenen Gründen, seit einer Reihe von Jahren getrennt. Sie wohnte vor einem der östlich gelegenen Thore, während er selbst die zweite Etage eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der B…-Straße inne hatte[2]. Die Ehe war kinderlos. Der Kriegsrath führte einen einfachen, anständigen Haushalt, hielt keinen Diener, sondern nur eine in dem Nachbarhause wohnende Aufwärterin und speiste in einem Gasthofe, in welchem vorzugsweise ehemalige Militairs und pensionirte Beamte zu verkehren pflegten. Seine Lebensweise war äußerst regelmäßig und solide. Außer einigen älteren Beamten sah er niemals Gesellschaft bei sich. Er hatte nur zwei, und zwar sehr unverfängliche Passionen: das Schachspiel und den Gebrauch des kalten Wassers. Seine Zeit theilte er zwischen mathematischen Studien, ausgedehnten Spaziergängen und dem Schachspiel. Was seine Vermögensverhältnisse betraf, so konnte nur vermuthet werden, daß er außer seiner Pension noch eigenthümliches Vermögen besitzen mußte, denn die Pension allein würde nicht hingereicht haben, die getrennten Wirthschaften der beiden Eheleute auf so anständigem Fuße zu erhalten.

Diese Auskunft lautete befriedigend genug, und ich säumte nicht, sie meinem Freunde mit allen Details, so wie mit den geringen persönlichen Wahrnehmungen, die ich selbst zu machen Gelegenheit gehabt, mitzutheilen.

Wider Erwarten erklärte die Londoner Gesellschaftsdirection damit ihre Bedenken noch nicht für vollkommen erledigt. Der am Orte wohnhafte Agent, welcher erst vor Kurzem die Geschäfte übernommen hatte, setzte sich mit mir in Verbindung und theilte mir den Wunsch der Direction mit, noch einige nähere Aufschlüsse über die Familienverhältnisse des Kriegsraths zu erhalten, namentlich über sein Verhältniß zu denjenigen Personen, welche als seine präsumtiven Erben zunächst bei der Versicherungsnahme betheiligt sein möchten. Ich gab dem Agenten den Rath, sich deshalb direct und mit aller Offenheit an den Kriegsrath selbst zu wenden. Er befolgte meinen Rath und erhielt von dem Kriegsrath die Auskunft, daß er keine erbberechtigten Verwandten außer seiner Frau besitze, daß er sich mit derselben bereits wegen ihrer künftigen Erbansprüche vollständig abgefunden habe, und die Versicherungssumme nach seinem Tode an andere Personen zu zahlen sein würde, welche er in einem bereits errichteten Testamente namhaft gemacht habe. Das Benehmen des Herrn von P. machte auf den erfahrenen Agenten in einem solchen Maße den Eindruck der Ehrenhaftigkeit und schlichten Gradheit, daß er selbst die Direction über alle etwa noch vorhandenen Bedenken beruhigte, und nachdem der für die Geschäfte der Gesellschäft speciell angestellte Arzt den Versicherungsnehmer auf das Sorgfältigste untersucht und den Gesundheitszustand desselben vollkommen zufriedenstellend gefunden hatte, wurde die Versicherung schließlich zum Betrage von 4000 Pfund (etwa 26,000 Thlr.) abgeschlossen. Bei Einhändigung der Police zahlte Herr von P. gleichzeitig den ersten Jahresbetrag der Prämie mit nahe an 2000 Thlr.

Es war natürlich, daß seit dieser Zeit die Person des Kriegsraths an Interesse für mich gewann. Der Frühling hatte begonnen, und ein bekanntes Etablissement vor einem der westlich gelegenen Thore bildete, wie immer vom Beginn der wärmeren Jahreszeit an, den Sammelplatz eines gebildeten Publicums, welches Nachmittags im Freien bei einer Partie Domino oder Schach seinen Kaffee trank. Dort sah ich den Kriegsrath häufig, in immer gleicher, gemessener Haltung mit einem ältern Herrn, dessen Habitus und Ordensband im Knopfloch den gewesenen Militair verrieth, seine Partie Schach ziehen, ohne daß ich näher mit ihm bekannt wurde. Er schien überhaupt niemals von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, auch sah ich ihn niemals im Gespräch mit anderen Personen. Nichtsdestoweniger machte er auf mich den Eindruck, als wäre es nicht die Schachpartie allein, die ihn beschäftigte, denn wenn er, zwar ohne Hast, aber doch mit einer gewissen ruhigen Bestimmtheit gezogen hatte, so stützte er das Haupt in die Hand und wartete, ohne jemals eine Spur von Ungeduld zu verrathen, bis sein zaudernder Partner sich zu einem Zuge resolvirt hatte. In der Zwischenzeit schien er mir in Gedanken versunken, welche nicht die Partie allein zum Gegenstande haben konnten.

Mehrere Wochen lang war ich durch überhäufte Geschäfte abgehalten gewesen, meinen gewöhnlichen Nachmittagsspaziergang zu machen, und hatte während dieser Zeit den Kriegsrath nicht gesehen. Als ich zum ersten Male wieder nach …hof hinauskam, suchte ich unwillkürlich zunächst meinen alten Bekannten zu entdecken. Ich fand ihn nicht an dem gewohnten Platze. Auch am nächsten Tage war er nicht erschienen. Ohne ein näheres Interesse an dem Manne zu haben, war ich an sein regelmäßiges Erscheinen doch so gewöhnt, daß mir seine Abwesenheit auffiel. Zufällig begegnete ich am Abend desselben Tages dem Agenten und fragte ihn, ob der Kriegsrath vielleicht verreist, oder krank sei, da ich ihn nicht mehr auf seinem gewohnten Nachmittagsspaziergange sähe.

„Keins von Beiden,“ antwortete er mir, „ich war erst gestern bei ihm und habe eine Partie Schach mit ihm gezogen, wozu er mich schon längst eingeladen hatte.“

Am Tage darauf sah ich ihn wieder an seinem gewöhnlichen Platze, aber sein Begleiter fehlte. War es das Ausbleiben seines pünktlichen Gefährten, oder wirkte eine andere Ursache mit, – der Kriegsrath kam mir verstimmt, niedergedrückt vor. Ueberhaupt glaubte ich in seinem Wesen eine Veränderung zu bemerken. Sein Anzug schien mir weniger sauber als sonst, seine Haltung zusammengefallener.

Das Gartenetablissement wird an der einen Längenseite von einem schmalen, mit Weidenpflanzungen eingefaßten Wassergraben begränzt, welcher häufig zu Gondelpartien, nicht selten auch von Lebensüberdrüssigen dazu benutzt wird, die Last des Daseins mit einem jähen Sprunge in die sonst nicht allzu sehr verlockenden trüben Fluthen abzuschütteln. In einer der Nischen, welche das Weidengeflecht des Wassergrabens nach dem Garten zu bildete, saß der Kriegsrath, in sich gekehrt, und blickte unverwandt auf den grünlich schillernden Wasserspiegel. Der Stock, den er in der linken Hand hielt, war fest gegen den sandigen Boden gestemmt, der rechte Arm ruhte auf der Stuhllehne, die Hand stützte das leicht [311] gesenkte Haupt und verdeckte zum Theil gleichzeitig das Gesicht. Ich saß seitwärts und konnte ihn beobachten, ohne bemerkt zu werden. Der Ernst meines eigenen Lebensganges, vielfache Einblicke in verworrene, trübe, verzweifelte Lebensverhältnisse, haben mich gleichsam daran gewöhnt, hinter oft ganz geringfügigen Anzeichen in dem äußeren Wesen der Menschen mancherlei traurige Räthsel zu ahnen, und ich habe mich niemals enthalten können, solchen scheinbar unverfänglichen Aeußerungen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In dem Wesen des Kriegsraths lag eine freudlose Resignation ausgedrückt, welche eine lange Geschichte von Enttäuschungen, Sorgen und Schmerzen ahnen ließ. Unbeweglich saß er da, selbst der Winkel, den das in den Boden gestemmte spanische Rohr mit der Bodenfläche bildete, verrückte sich nicht.

Plötzlich, wie auf ein inneres Commandoworl, erhob er sich und wandte sich in raschem Schritte nach dem Hintergrunde des Gartens. Zweimal machte er die Runde um denselben, dann setzte er sich wieder in der nämlichen Stellung auf seinen Platz. Hier verweilte er noch einige Zeit. Dann erhob er sich, – diesmal langsam, fast zögernd. Er ließ einen Blick über den Garten schweifen, einen langen, langen Blick, – ich konnte mich nicht enthalten, zu denken, daß dies ein Abschiedsblick sei. Dann wendete er sich zum Ausgange und verließ langsam, in gewohntem gleichmäßigem Schritt den Garten.

Ich blieb noch einige Zeit allein, und blickte dem Fortgehenden nach. Immer wieder fiel mir der Blick ein, mit welchem er aus dem Garten geschieden war. Ich beschloß, mich auf alle Fälle am nächsten Tage einzufinden und, wenn auch er sich einstellte, auf die Gefahr einer Indiscretion hin, seine Bekanntschaft zu suchen. Es war keine Neugier, die mich dazu trieb, die Bekanntschaft eines mir bis dahin Fremden suchen zu wollen, sondern das dunkle Bewußtsein, daß ich Gelegenheit haben könnte, einen gesunkenen Lebensmuth durch Trost und Zuspruch, vielleicht auch noch auf andere Weise, wieder aufzurichten. Denn nur wer selbst Stimmungen dieser trüben und trostesarmen Verlassenheit und Vereinsamung erlebt hat, vermag zu empfinden, welche Heilkraft für gebeugte Gemüther in dem rückhaltslosen Entgegenkommen und Vertrauen einer wohlwollenden Menschenbrust liegt.

Mein Aufmerksamkeit wurde bald wieder auf andere Gegenstände gelenkt. Mehrere Collegen waren in den Garten eingetreten und hatten an einem Tische Platz genommen. Das Gespräch drehte sich um die Tagesereignisse, um Processe aller Art und um die Praxis. Ich war nicht in der Stimmung, diesen Unterhaltungen ein lebhaftes Interesse abzugewinnen, und verabschiedete mich in der Absicht, nach Hause zurückzukehren. Der Abend war allmählich hereingebrochen, und ohne es zu merken, hatte ich, meinen Gedanken nachhängend, gerade die dem Heimwege entgegengesetzte Straße eingeschlagen, und war bis in die Nähe des etwa eine Stunde von der Stadt entfernten Dorfes S. gelangt. Hier besann ich mich noch rechtzeitig, daß es Zeit sei, umzukehren, denn der Himmel hatte sich umdüstert und schwere Gewitterwolken zogen von der Mitternachtseite herauf. Ich war in leichter Sommerkleidung und ohne Regenschirm; kein einziges Fuhrwerk war in der Nähe zu sehen, eine Omnibusverbindung mit der Stadt bestand damals noch nicht. Ich entschloß mich daher zu dem Versuche, dem Ausbruche des Gewitters den Vorsprung abzugewinnen, und begann rüstig zu marschiren. Mein Entschluß war etwas zu spät gefaßt. Schon wirbelte der Staub der Chaussee in dichten Säulen vor mir auf, falbe Blitze zuckten durch die Luft, und pfeilschnell schossen die Schwalben dicht am Boden hin, um der Gewalt des Windes zu entgehen. Ich beschleunigte meinen Schritt noch mehr, um wenigstens eine bedachte Behausung zu erreichen, denn bereits fielen die ersten schweren Regentropfen. Glücklich genug erreichte ich endlich ein noch leer stehendes einzelnes Gebäude, welches eben im Rohbau vollendet war. Hier hinein flüchtete ich, und wartete so das Gewitter ab, welches jetzt mit voller Heftigkeit unter rauschenden Regenströmen ausbrach.

Ich sollte indessen in dem schirmenden Asyl nicht lange allein bleiben, denn bald vernahm ich die Stimmen zweier Männer, welche gleich mir im Erdgeschoß des Rohbaues Schutz vor dem Unwetter suchten. Die Stimme des Einen klang gemessen, ruhig, gebildet; die des Andern, Jüngern, lauter und roher. Der Aeltere schien seine Abneigung gegen das Aufsuchen eines Zufluchtsortes zu äußern. Der Jüngere wies auf das Unwetter und die Gefahr einer tödtlichen Erkältung hin. Der Aeltere schien nachzugeben. Sie begaben sich in einen nach hinten gelegenen Raum, ziemlich entfernt von mir, so daß ich wohl den Klang ihrer im Zwiegespräch laut werdenden Stimmen, nicht aber ihre Worte vernehmen konnte.

So heftig das Gewitter gewesen war, so schnell ging es auch vorüber. Ich trat wieder aus meinem Schlupfwinkel heraus. Als ich mich zum Fortgehen anschicke, höre ich auch die Schritte der Genossen meiner improvisirten Herberge hinter mir. Jetzt kann ich deutlich vernehmen, was sie sprechen.

„Du hast Alles?“ sagte der Aeltere.

„Alles!“ antwortete der Jüngere.

„Du weißt, was Du geschworen hast!“

„Verlassen Sie sich auf mich.“

„Nicht früher und nicht später: Du richtest Dich nach der Domkirche.“

„Auf die Minute!“

„Bleib jetzt hinter mir zurück. Denk’ an Deine Belohnung. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Unwillkürlich drückte ich mich gegen den Vorsprung des Kellerhalses, um den älteren der beiden Männer unbemerkt sehen zu können, wenn er an mir vorbeiging. Er kam um die Ecke; der Himmel war wieder klar – hatte ich recht gesehen, oder war es eine Täuschung meiner Sinne – ich glaubte den Kriegsrath zu erkennen. Er ging in beschleunigtem Schritt an mir vorüber, und ehe ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, war er meinen Augen entschwunden. Ich blickte nach der Seitenfront des Gebäudes, ob sein Begleiter vielleicht noch zu sehen wäre – aber auch dieser war fort. Von neuen Gedanken über dieses sonderbare Zusammentreffen bewegt, trat auch ich den Heimweg an.

Am andern Morgen war ich schon in aller Frühe mit dringenden Arbeiten beschäftigt, und hatte Anweisung gegeben, Niemanden vorzulassen. Gegen neun Uhr hörte ich laute Stimmen im Vorzimmer, mein Schreiber schien einen dringenden Clienten bedeuten zu wollen, daß ich für Niemanden zu sprechen sei. Der Besuch wollte sich nicht abweisen lassen.

„Ich muß den Herrn durchaus sprechen, nennen Sie ihm meinen Namen!“

Ich erkannte die Stimme des Agenten und trat hinaus.

„Verzeihen Sie meine Unbescheidenheit,“ rief er mir in sichtlicher Erregtheit zu, „aber die Sache ist von größter Wichtigkeit – gönnen Sie mir zehn Minuten!“

Ich nöthigte ihn, einzutreten.

„Was ist Ihnen zugestoßen, Herr Wichert, hoffentlich kein Unglück? Sammeln Sie sich!“

„Ich muß es allerdings ein Unglück nennen,“ entgegnete er mir in gleicher Aufregung, „wenn auch mehr für Andere, als für mich!“

„Sprechen Sie,“ drängte ich, „was ist es?“

„Es betrifft den Kriegsrath von P–.“

„Nun, was ist es mit ihm?“ rief ich, gleichfalls lebhaft erregt.

„Er ist heute früh todt in seinem Bette gefunden worden – eben habe ich seine Leiche gesehen.“ –

Obgleich an mancherlei erschütternde Katastrophen durch eine an den unerwartetsten Scenen reiche Praxis gewöhnt, machte dennoch die Mittheilung des Agenten einen fast betäubenden Eindruck auf mich. Ich brauchte einige Zeit, um mich zu fassen. Herr Wichert ging unruhig im Zimmer auf und ab. Vor allen Dingen mußte man eine klare Uebersicht über die Lage der Sache zu gewinnen suchen und Alles mit der größtmöglichsten Ruhe erwägen, um Nichts durch Hast zu verabsäumen oder durch Uebereilung zu verderben. Ich nöthigte den Agenten, sich zu setzen.

„Lassen Sie uns die nothwendige Ruhe nicht verlieren; nur so allein vermögen wir zu übersehen, was wir in Ihrem Interesse, im Interesse der Gesellschaft zu thun haben. Erzählen Sie mir in genauer historischer Zeitfolge, was Sie erfahren haben und auf welche Weise.“

„Sie haben Recht,“ erwiderte er, „verzeihen Sie meine Fassungslosigkeit, aber Sie können selbst ermessen, wie hart es mich treffen muß, daß gerade ich zum Abschluß eines so unseligen Geschäfts beigetragen habe.“

„Ich verstehe Ihre Situation vollkommen, aber desto nothwendiger ist es, daß wir uns schleunigst nach allen Seiten hin zu orientiren suchen. Sie sollen später erfahren, was ich über die Sache denke. Zunächst erzählen Sie: Wann haben Sie den Kriegsrath gesehen?“

[312] „Ich komme direct von ihm.“

„Wie erhielten Sie die erste Nachricht von seinem Tode?“

„Der Revier-Commissarius des Kriegsraths – wir wohnen in demselben Viertel – schickte schon vor acht Uhr zu mir, und ließ mich zu sich bitten, er habe mir etwas Wichtiges mitzutheilen. Ich erzählte Ihnen wohl schon, daß der Commissarius ein Landsmann von mir ist, und mir jede erlaubte Gefälligkeit erweist. Ich begab mich zu ihm. In seinem Zimmer fand ich eine mir nicht bekannte ältliche Frau vor, welche meine Ankunft abzuwarten schien.“

„Dies ist die Aufwärterin des Kriegsraths,“ sagte der Commissarius zu mir, „sie hat mir eben eine auffallende Mittheilung gemacht. Erzählen Sie dem Herrn, was Sie mir gemeldet haben, Frau Uschert,“ sprach er, zu der Frau gewendet. Ich erschrak, noch ehe ich Näheres vernommen hatte, denn Sie begreifen, eine Summe – doch entschuldigen Sie, das gehört nicht zur Sache – kurz die Frau erzählte, sie habe heute zur gewöhnlichen Stunde, Morgens um sieben Uhr, bei dem Kriegsrath geklingelt, ohne daß ihr geöffnet worden wäre. Sie habe darauf geklopft, wiederholentlich geklingelt, aber ebenso erfolglos. Ausgegangen könne der Herr nicht sein, denn er gehe niemals so zeitig aus. Etwas Außergewöhnliches müsse passirt sein, denn die Abendzeitung des vorigen Tages habe noch unter der Thürschwelle gelegen, obgleich der Herr jedenfalls des Abends nach Hause gekommen sein müsse.“

Der Commissar wandte sich an mich.

„Die Sache ist allerdings so angethan, daß ein polizeiliches Einschreiten gerechtfertigt erscheint. Ich weiß, wie sehr Sie bei diesem Todesfalle interessirt sind, und stelle Ihnen anheim, uns zu begleiten.“

„Natürlich nahm ich das Anerbieten an, ich zitterte vor Aufregung. Ein Schlosser wurde mitgenommen. Wir kamen, der Commissarius, ein anderer Polizeibeamter und die Aufwärterin mit dem Schlosser, in der Wohnung an; wir klingelten, Alles blieb still. Der Commissarius ließ die Thür zur Wohnung, welche nur mit einem einfachen Drückerschloß verschlossen war, öffnen. Von einem schmalen Corridor gelangten wir in ein unverschlossenes Wohnzimmer, nebenan liegt das Schlafzimmer; es war gleichfalls unverschlossen. Wir traten ein – der Kriegsrath lag in seinem Bette ohne ein Zeichen des Lebens.“

„Bemerkten Sie irgend etwas Auffälliges?“ fragte ich den Agenten hastig.

„Nicht das Mindeste.“

„Und der Commissarius?“

„Eben so wenig.“

„Was sagte der Commissarius?“

„Seine ersten Worte waren: Der Schlag hat ihn gerührt! Sonderbare Idee, bei geöffneten Fenstern zu schlafen!“

„Sie sagen, die Fenster waren geöffnet?“

„Allerdings!“

„Die des Schlafzimmers allein, oder auch die Fenster der übrigen Zimmer?“

„Nur die Fenster des Schlafzimmers.“

„War irgend eine Unordnung im Zimmer zu bemerken?“

„Nicht die geringste. Am Kopfende des niedrigen Feldbettes lag auf einem Nachttischchen die goldene Uhr und die Geldbörse des Kriegsraths. Ueberall im Zimmer herrschte die größte Ordnung und Sauberkeit.“

„Haben Sie oder der Commissarius irgend welche Wiederbelebungsversuche angestellt?“

„Das wäre vollkommen nutzlos gewesen.“

„Auf welche Weise überzeugten Sie sich davon?“

„Wir hoben seinen herabhangenden rechten Arm in die Höhe – er war kalt und starr; der Commissarius hob das Augenlid in die Höhe – die durchsichtige Hornhaut des Auges war glanzlos und runzlig.“

„Und der Hals –“

„Ich weiß, was Sie sagen wollen. Nicht das mindeste Zeichen, das zu einem positiven Verdacht Anlaß geben könnte.“

„Wie lag der Körper?“

„Wie ein vollkommen ruhig Schlafender zu liegen pflegt.“

„Der Gesichtsausdruck?“

„Eben so ruhig, von dem Ausdruck des Schlafes nur durch eine gewisse Schlaffheit der Züge und einen leisen Anflug mattbläulicher Färbung des Gesichts unterschieden.“

„Und was thaten Sie ferner?“

„Ich war eben so rathlos als bestürzt. Der Commissarius bemerkte, es sei in der Sache nichts weiter zu thun, als dem Gericht schleunigst Anzeige zu machen, und inzwischen Alles unverändert zu lassen. Er verschloß die Wohnung wieder, versiegelte sie und hat eine Wache vor die Thür gestellt. In einer Stunde glaubte er mit dem Staatsanwalt und dem gerichtlichen Physicus wieder in der Wohnung sein zu können. Ich bin zu Ihnen geeilt, um von Ihnen Rath zu erbitten, was ich in der Sache noch thun kann.“

Was sollte ich rathen? Was sollte ich vermuthen? Sollte ich ohne irgend einen nähern Anhalt an ein begangenes Verbrechen, an einen Selbstmord glauben? Und wenn jener trübe Abschiedsblick mich auch wirklich nicht getäuscht hatte, berechtigte er zu weiteren Schlußfolgerungen, als zu der, daß der Verstorbene, wie so viele plötzlich von einem Nervenschlage Dahingeraffte, sein bevorstehendes Ende geahnt habe? Oder war ich berechtigt, mit voller Ueberzeugung anzunehmen, daß es der Verstorbene wirklich war, mit dem ich am Abend vorher unter dem nämlichen Obdach Schutz vor dem Unwetter gesucht hatte? Und wenn es wirklich der Fall gewesen, was folgte mit einiger Wahrscheinlichkeit daraus für die Annahme, daß die Todesart des Verstorbenen eine unnatürliche gewesen, das heißt zunächst eine selbstmördische? Denn dieser Punkt war es, der die Gesellschaft zunächst und am lebhaftesten interessirte. War ein Selbstmord als Todesursache erweislich, so war damit nach den Statuten die Police erloschen und die gezahlte Prämie verfallen.

Welche andere Gedanken mich auch sonst noch bei diesem unerwarteten Todesfalle bewegen mochten, ich war verpflichtet, ihn zunächst aus dem Gesichtspunkte eines Ereignisses zu betrachten, welches der Lebensversicherungsgesellschaft, die mir ihr Vertrauen zugewendet hatte, einen unmittelbaren und sehr erheblichen Geldverlust zu bereiten drohte. Ich hatte daher als Geschäftsmann alle meine Aufmerksamkeit darauf zu richten, ob eine der Bedingungen eingetreten war, mit welchen nach ziemlich allgemein übereinstimmenden Grundsätzen der Versicherungsverträge die Versicherung selbst steht und fällt. Dazu gehört insbesondere, außer dem Falle des Selbstmordes und des versuchten Selbstmordes, auch der, wenn der Versicherte durch einen ausschweifenden Lebenswandel, durch muthwillige oder mit augenscheinlicher Gefahr verknüpfte Handlungen seinen Tod herbeiführt oder beschleunigt. Es gehört ferner dazu, daß bei der sehr speciell gehaltenen Declaration in Betreff des Gesundheitszustandes, alle früheren Krankheitsfälle und alle etwaigen organischen Gebrechen mit größter Genauigkeit angegeben werden, damit die Versicherungsgesellschaft, zum Behufe der Wahrscheinlichkeitsberechnung über die präsumtive Lebensdauer, auch die kleinsten, oft gerade bestimmenden Details zu übersehen vermag.

Alles das sagte ich mir selbst nach kurzer Ueberlegung und kleidete mich schnell an, um den Agenten zu begleiten. Auch dieser hatte sich inzwischen gefaßt und schrieb, während ich mich ankleidete, einen vorläufigen Bericht über den Eintritt des Todesfalles an die Direction nach London.

[325] Es war ein heißer Augusttag, und die Sonne brannte trotz der frühen Morgenstunde und ungeachtet des gestrigen Gewitters mit jener Intensität, die den schnell vorüber fliehenden Sommern der nördlichen Breitengrade eigen ist. Die Wohnung des Kriegsraths lag ziemlich entfernt von der meinigen. Es war etwa zehn Uhr, als wir ankamen. Im Hausflur trafen wir bereits die amtlichen Personen, welche eben angekommen waren. Es hatten sich außer dem Polizei-Commissarius der Untersuchungsrichter mit einem Protokollführer, der Staatsanwalt und das gerichtsärztliche Personal (der Physicus mit seinem Assistenten) eingefunden. Wir schlossen uns ihnen an, und betraten gemeinschaftlich den Flur der zweiten Etage, in welchem die Wohnung des Kriegsraths lag. Die vor die Eingangsthür postirte Wache hatte ihren Posten nicht einen Augenblick verlassen, die angelegten Siegel waren unverletzt.

Wir traten in einen kleinen schmalen Corridor, in welchem nach vorn heraus eine zweifenstrige Wohnstube und ein einfenstriges Schlafzimmer lagen; nach dem Hofe gelegen befand sich ein von dem Kriegsrath zum Studiren und zur Aufstellung seiner ansehnlichen Büchersammlung benutztes Arbeitszimmer; dahinter eine kleine Küche nebst einem kleinen Verschlage. Eine zweite Treppe führte nicht zur Wohnung. Vom Corridor aus führten zwei Eingänge zu den geschilderten Wohnungsräumen; eine Thür ging nach dem zweifenstrigen Vorderzimmer, die zweite nach der Hinterstube. Die einzelnen Wohnungsräume communicirten unter sich durchgängig durch Thüren. – Im Erdgeschoß des Hauses befand sich ein Laden und die Werkstatt eines Korbmachers; den ersten Stock bewohnte eine ältliche unverheirathete kranke Dame mit ihrem Dienstmädchen; eine kleine Dachwohnung über dem Kriegsrath hatte eine Arbeitsfrau mit ihrem halberwachsenen Knaben inne, der jedoch vor Kurzem gestorben war. Das Haus wurde regelmäßig vom Wächter um zehn Uhr Abends, und nur in den beiden Sommermonaten Juni und Juli um elf Uhr verschlossen, und der Verschluß allstündlich revidirt.

Ich schicke diese Details voran, um den weiteren Gang der Erzählung nicht später wieder zu unterbrechen, denn über die mitgetheilten Einzelnheiten informirten wir uns später, nach Besichtigung der Leiche.

Wir traten durch das Wohnzimmer in das Schlafgemach des Kriegsraths, ein. Wie der Agent erzählt hatte, fanden wir ihn in der Lage und mit dem Ausdruck eines ruhig Schlafenden in seinem Feldbette liegend.

Die erste Frage des Physicus war:

„Wer hat das Fenster geöffnet?“

„Es war geöffnet, als wir die Wohnung betraten,“ antwortete der Commissarius.

Das Fenster wurde genau besichtigt, ebenso das Fensterbret, die äußere und innere Mauerbekleidung, welche jedoch nirgends etwas Auffälliges erkennen ließen. Der Physicus hatte sich inzwischen mit der Leiche beschäftigt; der äußere Befund entsprach vollkommen der Schilderung, welche der Agent gemacht hatte. Nicht das Mindeste deutete darauf hin, daß die Einwirkung einer äußern Gewalt den Tod herbeigeführt haben könne. Der Hals war frei und zeigte keine Spuren irgend einer Sagillation oder Hautverletzung. Ebenso verhielt es sich mit dem ganzen übrigen Körper. Der Mund war geschlossen, die Zungenspitze lag hinter den Zähnen, die Augäpfel waren nicht aus ihrer Höhle hervorgetreten. Die bläuliche Färbung des Gesichts war deutlich wahrzunehmen.

„Der Tod ist unzweifelhaft erfolgt,“ erklärte der Physicus, nachdem er die genaueste Untersuchung des Leichnams vorgenommen hatte, „und zwar mindestens bereits vor mehreren Stunden. Es fragt sich, ob wir sofort zur Section des Leichnams schreiten?“

Der Untersuchungsrichter sann einen Augenblick nach.

„Haben Sie die Aufwärterin bestellt?“ fragte er den Commissarius.

„Sie ist unten,“ antwortete der Polizeibeamte.

„Ist zur Frau des Verstorbenen geschickt?“

„Unmittelbar, nachdem ich die Anweisung erhalten hatte. Ich habe den Secretair angewiesen, sich eines Wagens zu bedienen, er muß mit der Frau bald erscheinen.“

In dem nämlichen Augenblick hörten wir einen Wagen vorfahren.

„Das ist sie!“ rief der Commissar, der an’s Fenster gegangen war.

Der Untersuchungsrichter trat aus dem Schlafzimmer, in welchem die Leiche lag, in das anstoßende, nach vorn gelegene Gemach und trat von hier aus der Frau des Verstorbenen entgegen. Ich hatte sie bereits vom Fenster aus betrachtet. Eine zarte schmächtige Frauengestalt mit feinen leidenden Gesichtszügen, trotz des vorgerückten Alters und des mit Grau untermischten Haupthaares Spuren früherer Schönheit verrathend. Sie stieg schwankend aus dem Wagen und mußte sich einen Augenblick am Wagenschlage festhalten; dann schritt sie hastig in das Haus.

Der Untersuchungsrichter hatte die Thür zu dem Zimmer, in welchem wir uns befanden, nur angelehnt; ich stand so, daß ich Frau von P. sehen und das ganze Gespräch mit anhören konnte.

[326] „Wir haben Sie um eines traurigen Anlasses willen hierher bemühen müssen, gnädige Frau,“ redete der Richter sie an, „ich bitte, fassen Sie sich und suchen Sie das Unabänderliche mit Geduld zu tragen.“

Sie hatte die Hände in einander gefaltet und stand im starren Ausdruck schmerzlicher Betäubung vor ihm, ohne zu sprechen. Er schob ihr einen Armsessel hin und nöthigte sie, sich niederzulassen.

„Sie leben schon seit längerer Zeit von Ihrem verstorbenen Gemahl getrennt?“ fragte er.

Sie antwortete mit einem leisen Stöhnen.

„Wie lange ist es her, daß Sie einander zuletzt sahen?“

Ein Thränenstrom brach unaufhaltsam hervor, ihre Antwort wurde durch heftiges Schluchzen erstickt.

Der Richter trat, selbst ergriffen von dem Ausdruck des unbezwingbaren Schmerzes, zurück, um ihr Zeit zur Sammlung zu gönnen. Sie suchte sich zu bezwingen, das Schluchzen hörte auf, aber ihre Thränen flossen leise die blassen Wangen hinunter, auf die schmalen feinen Hände, welche gefaltet in ihrem Schoße lagen.

Aber die Zeit drängte und der Richter trat wieder zu ihr.

„Vermögen Sie uns, gnädige Frau, irgend welche Auskunft über die letzten Lebenstage des Verstorbenen zu geben?“

„Ich habe ihn seit sechs Jahren nicht gesprochen,“ antwortete sie mit gebrochener Stimme.

Der Richter stand von weiteren Fragen ab.

„Wünschen Sie Ihren Gatten zu sehen, so bitte ich Sie, einzutreten.“

Sie erhob sich, blieb aber unschlüssig stehen.

„Wir werden genöthigt sein, zur Section zu schreiten, und der Anblick möchte später allzu schmerzlich für Ihr Gefühl werden.“

Ihren Körper durchzuckte ein leises Frösteln, sie zitterte – trat mit einer raschen Bewegung in das Schlafzimmer und direct auf die Leiche zu. Zu Häupten des Bettes sank sie auf die Kniee, ohne die Leiche zu berühren, und weinte still, während der innere Schmerz sichtlich ihren Körper durchzuckte. Wir waren an das Fenster getreten, um den letzten Abschied der Ehegatten nicht zu stören. Der Physicus näherte sich dem Richter.

„Ich muß ihr einige Fragen vorlegen,“ sagte er leise.

Der Richter nickte zustimmend. Der Arzt trat zur Wittwe.

„Hat Ihr verstorbener Gemahl früher jemals einen Schlaganfall gehabt?“

„Niemals.“

„Hat er an Schwindel, heftigem Blutandrang nach dem Kopf gelitten?“

„Ich habe es niemals wahrgenommen; er war nie krank.“

„So hat er wohl auch keinen Arzt gehabt?“

„Nein.“

„Hatte der Verstorbene Neigung zu geistigen Getränken, zu starkem Kaffee?“

„Er trank fast ausschließlich Wasser; nur einmal des Tages, am Nachmittag, trank er eine Tasse schwarzen Kaffee.“

Der Arzt trat wieder zum Richter; beide sprachen leise mit einander.

„Ich werde Sie bitten müssen, gnädige Frau,“ wandte der Richter sich wieder zur Wittwe, „im Nebenzimmer zu verweilen und, so schmerzlich es auch für Sie sein mag, uns vorläufig nicht zu verlassen, damit ich, im Falle es erforderlich werden sollte, mir noch einige anderweite Auskunft von Ihnen erbitten kann.“

Sie hatte sich schon während des Gesprächs mit dem Arzte erhoben. Sie warf einen Blick trostlosen Schmerzes auf die Leiche, machte eine Bewegung, als wollte sie die an der Seite herabhängende Hand fassen – trat aber sogleich wieder zurück, und verließ mit verhülltem Antlitz das Zimmer.

Der Untersuchungsrichter vernahm die Aufwärterin; sie wußte nichts Mehreres zu bekunden, als was sie bereits vor dem Commissarius ausgesagt hatte. Seit fünf Jahren besorgte sie die Aufwartung des Verstorbenen, niemals war er krank gewesen. Er hatte bald nach seinem Einzuge in die Wohnung einen Klingelzug von seinem Schlafzimmer nach der Wohnstube der Aufwärterin anbringen lassen. Dieser Drahtzug ging längs der Hinterwand des Hauses über den Hof zu dem Nachbargrundstücke, in welchem die Frau wohnte. Der Verstorbene hatte diesen Klingelzug niemals anders als am Tage benutzt, um seine Bedienung zu irgend einer Dienstleistung herbeizurufen, welche gewöhnlich nur in dem Besorgen frischen Wassers bestand. Die Zuverlässigkeit der Frau unterlag nicht dem mindesten Bedenken; sie machte den Eindruck einer durchaus rechtschaffenen Person, welcher der plötzliche Tod ihres Herrn, wie sie ihn nannte, zu aufrichtiger Betrübniß gereichte.

Ihr Mann war der Nachtwächter des Reviers; auch dieser wurde vernommen, und vermochte nichts Verdächtiges zu bekunden. Er hatte das Haus wie gewöhnlich um zehn Uhr geschlossen, und den Verschluß während der ganzen Nacht in Ordnung gefunden. Um zehn Uhr, erinnerte er sich, in dem Schlafzimmer des Kriegsraths noch Licht gesehen zu haben; später jedoch nicht mehr. Die Hausbewohner vermochten nichts zu bekunden, was einen Anhalt zu Verdachtsgründen gab. Das Dienstmädchen der kranken Dame im ersten Stock hatte den Kriegsrath Abends nach neun Uhr die Treppe heraufkommen sehen; es war ihr keine Veränderung an ihm aufgefallen, nur habe es ihr geschienen, als ginge er langsamer wie sost. Die Dame, eine Person von großer nervöser Reizbarkeit, welche in dem unter dem Hinterzimmer des Kriegsraths liegenden Zimmer schlief, wollte in der Frühe des Morgens, etwa zwischen drei und vier Uhr, ein Geräusch in der Wohnung über ihr gehört haben, etwa wie das geräuschvolle Oeffnen oder Zuschlagen einer Thür oder eines Fensters.

Das war Alles.

Der Untersuchungsrichter befragte die Aufwärterin, ob sie irgend etwas von den Sachen des Verstorbenen vermisse. Sie verneinte die Frage. Ob sie aus irgend einer Spur zu erkennen vermöge, daß während der Nacht eine fremde Person im Zimmer gewesen sei? – Sie ließ ihre Augen mit dem Blicke einer auf ihre Sauberkeit stolzen Dienerin überall im Zimmer umhergleiten, – es war Alles blank und rein; die Scheiben blitzten spiegelhell, die Messinggriffe an Fenster und Thür funkelten in tadelloser Reinheit – aber, wie kommt dieser unsaubere Fleck auf die eine der sonst so weißen Ofenkacheln? Sie betrachtete ihn stutzend, – das sei sie vom Herrn sonst nicht gewöhnt, bemerkte sie, der Fleck sehe aus, als rühre er von einer rußigen Hand her, und niemals habe sie auch nur den kleinsten Schmutzfleck an den Händen ihres Herrn bemerkt.

Auch wir betrachteten den Fleck aufmerksamer. Es war aber für uns nichts besonders Auffallendes darin zu finden. Die Messingthür des Ofens stand auf, eben so war die Klappe geöffnet, im Ofen selbst waren weder Kohlen noch Asche. Die Frau wurde befragt, ob die Ofenthür gewöhnlich offen stehe. Sie antwortete, daß sie dies mitunter bemerkt habe, wenn der Kriegsrath zur Abkühlung der heißen Temperatur Luftzug habe machen wollen. Aber, fügte sie hinzu, niemals ist es mir vorgekommen, daß er die Ofenkacheln schmutzig gemacht hätte, das lag gar nicht in ihm. Ebenso bejahte sie die Frage, ob der Verstorbene mitunter bei offenen Fenstern geschlafen habe, doch bemerkte sie auch jetzt Spuren von Unsauberkeit an dem Messingknopf des einen Fensterwirbels und auf der einen Scheibe daneben.

„Werden wir die Obduction auf die bloße äußere Besichtigung beschränken, oder wird die Section erforderlich sein?“ fragte der Physicus den Untersuchungsrichter.

Dieser schien unschlüssig.

„Ich muß bekennen,“ erwiderte er, „daß ich von meinem Standpunkte die Section nicht für nothwendig erachten kann, da kein noch so entfernter Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß dieser Fall ein weiteres strafrechtliches Verfahren zur Folge haben wird. Sind Sie anderer Meinung?“

„Es ist schwierig für mich, darauf zu antworten. Um mich des banalen technischen Ausdrucks zu bedienen, „fehlen Spuren äußerer Gewalt“, indessen ist damit noch kein Beweis dafür gewonnen, daß der Tod nicht dennoch ein unnatürlicher, beispielsweise durch Vergiftung herbeigeführter gewesen ist.“

Der Staatsanwalt, der sich bisher schweigend verhalten hatte, wandte sich seinerseits zum Physicus.

„Was würden Sie unter gewöhnlichen Verhältnissen, d. h. ohne daß der Fall gerade zu Ihrer gerichtsärztlichen Cognition gekommen wäre, für die wahrscheinliche Todesursache halten?“

„Wenn ich davon ausgehe,“ antwortete der Arzt, „daß kein Anlaß vorliegt, eine gewaltsame Todesart zu vermuthen, so würde ich annehmen, daß der Tod in dem vorliegenden Falle ein neuroparalytischer oder hyperämischer war; oder um mich verständlicher auszudrücken, daß die Todesursache entweder ein Nervenschlag oder ein Schlagfluß gewesen ist.“

Der Staatsanwalt wandte sich jetzt an den Agenten.

[327] „Sie sind erheblich bei der Constatirung der Todesursache interessirt?“

„In hohem Grade,“ erwiderte dieser. „Ich maße mir nicht an, Ihrem Urtheil vorgreifen zu wollen, aber ich kann nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, daß der Todesfall doch manches Verdächtige hat, Was meine Gesellschaftsverwaltung in jedem Falle bestimmen muß, die Sache bis zur vollkommensten Evidenz zu verfolgen. Ich spreche nicht von den sonderbaren Flecken am Ofen und dem Fenster, auf welche die Aufwärterin aufmerksam machte, obgleich sie doch immer beachtenswerthe Anzeichen bleiben, eben so wie das Geräusch, welches die Bewohnerin des ersten Stockwerks gehört hat. Aber daß ein bis zum letzten Tage kerngesunder, mäßig und eingezogen lebender Mann, vier Monate nachdem er sein Leben zu einem Betrage von mehr als 20,000 Thaler versichert hat, plötzlich am Schlagfluß stirbt, ohne auch nur den geringsten apoplektischen Habitus verrathen zu haben, das ist jedenfalls so befremdlich, daß ich mich, nach den mancherlei seltsamen Erfahrungen, die wir gemacht haben, der Ueberzeugung nicht erwehren kann, es liege hier ein Fall der Selbstentleibung vor.“

Der Staatsanwalt conferirte leise mit dem Untersuchungsrichter. Beide traten in das Wohnzimmer zur Wittwe. Das Gespräch betraf die Vermögens- und Erbschaftsverhältnisse. Frau von P. erklärte, daß sie sich mit ihrem verstorbenen Gatten in Betreff aller vermögensrechtlichen Beziehungen auseinander gesetzt habe, daß sie keinen Erbanspruch geltend machen werde, eben so wenig wie einen Anspruch auf den Betrag der Lebensversicherung, von der ihr die Herren Mittheilung gemacht hätten. Ob der Verstorbene ein Testament errichtet habe, wisse sie nicht. Keinesfalls sei dies zu ihren Gunsten geschehen, und in jedem Falle würde sie eine solche Zuwendung von Todeswegen ausschlagen.

Sie sprach das Alles im Tone einer eben so bestimmten als schmerzlichen Resignation.

Die beiden Herren waren wieder eingetreten.

„Wir werden uns jedenfalls für heute auf die bloße äußere Besichtigung beschränken müssen,“ sprach der Untersuchungsrichter zum Physicus, „da die gesetzliche Frist von 24 Stunden, nach welchen erst zur Section geschritten werden darf, jedenfalls noch nicht abgelaufen ist. Inzwischen wird Zeit genug zur Erwägung bleiben, ob die Section morgen vorzunehmen ist oder nicht. Wir werden, glaube ich, Frau von P. entlassen können, da es auf ihre fernere Vernehmung wohl nicht mehr ankommen wird,“ bemerkte der Untersuchungsrichter zum Staatsanwalt gewendet.

Der Staatsanwalt hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Actuar hatte über den bisherigen Gang der Verhandlung inzwischen das Protokoll aufgenommen; er las die betreffende Stelle, welche sich auf die Vernehmung der Wittwe bezog, derselben vor, und sie unterzeichnete, ohne daß sie die Kraft zu haben schien, dem ihr Vorgelesenen aufmerksam zu folgen. Wieder ging das leise Zittern durch ihren Körper, als die eintönige und klanglose Stimme des Actuars ihr die schmerzliche Geschichte ihrer Entfremdung zum Ehegatten vorlas, es lag eine ganze Welt voll Schmerzen hinter diesem unausgesprochenen Weh.

Der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt geleiteten sie mit achtungsvoller Rücksicht – sie lehnte es ab, bei der Inventur und Siegelung des Nachlasses zugegen zu sein, sie bemerkte nur, daß ein vertrauter Freund des Verstorbenen, den sie benachrichtigen wolle, für das Leichenbegängniß Sorge tragen werde. Man hatte einen Miethswagen für sie holen lassen, sie dankte mit kaum merkbarem Neigen des Hauptes und verließ mit schwankenden Schritten die Behausung des Todes.

Ich war lange mit mir uneins gewesen, ob ich mein gestriges Begegniß mit dem Verstorbenen dem Richter mittheilen sollte oder nicht. Von Erheblichkeit konnte meine Aussage in keinem Falle sein, und rücksichtlich des Zusammentreffens während des Gewitters vermochte ich übrigens nur eine Vermuthung, keine Gewißheit zu bekunden. Dennoch hielt ich es für das Richtigere, dem Untersuchungsrichter alles, was ich wußte, mitzutheilen. Er hörte mir aufmerksam zu, noch aufmerksamer der Agent. Aber ich konnte weder mit Bestimmtheit behaupten, den Kriegsrath wirklich erkannt zu haben, noch wußte ich irgend etwas Näheres über die Person zu bekunden, mit welcher der Kriegsrath, wenn er es wirklich gewesen, das Gespräch geführt hatte.

Damit schloß die Verhandlung. Das Resultat der stattgehabten Erörterungen hatte Niemanden befriedigt. Die zur Sprache gekommenen Einzelheiten waren alle nicht gewichtig genug, einen bestimmten Verdacht zu begründen, andererseits ließen sie Zweifel über die Unverfänglichkeit des ganzen Vorfalls zurück, welche beim Mangel jedes positiven Anhalts vielleicht niemals aufgeklärt werden konnten. Für den Criminalrichter hatte die Frage, ob der Fall einer Selbstentleibung vorliege, ein nur untergeordnetes Interesse, für den Agenten concentrirte sich grade in dieser Frage sein ganzer Antheil an der Untersuchung. Wie aber die Sache lag, kam es zunächst auf die Feststellung der Todesursache des Verstorbenen an, sodann, falls eine unnatürliche Todesart vorlag, mußten die weiteren Nachforschungen von dem Gesichtspunkte aus geleitet werden, wem aus der Tödtung oder Selbstentleibung ein Vortheil erwuchs.

Zu diesem Behufe wurde die legale Section für den folgenden Tag angeordnet und die Thätigkeit des Gerichtspersonals beschränkte sich für heute nur noch darauf, eine allgemeine Uebersicht über die Gegenstände des Nachlasses zu gewinnen, und den Bestand desselben vorläufig festzustellen. Die auf dem Nachttischchen befindliche Börse enthielt nur einige Goldstücke, darunter einen Napoleond’or; außerdem wurde kein Geld gefunden, eben so wenig geldwerthe Papiere. Ein kleiner Kasten von Rosenholz enthielt die Aufschrift: „Documente“. Es fanden sich darunter die auf die persönlichen und Amtsverhältnisse des Verstorbenen bezüglichen Papiere, jedoch keine Notiz über ein etwa errichtetes Testament noch weniger ein Recognitionsschein über die Niederlegung desselben. Alle Papiere waren in der größten Ordnung, sorgfältig gesichtet und in besondern Fächern mit Etiquetten aufbewahrt. Meist waren es Manuscripte mathematischen Inhalts; ein größerer Band enthielt Materialien zu einer „allgemeinen Kriegsgeschichte“, ein anderes Manuscript bezog sich auf die Kunst des Schachspiels. Von Correspondenzen wurde nichts vorgefunden. Die Bibliothek bestand größtentheils aus kriegswissenschaftlichen, mathemathischen und einer kleinen Sammlung schönwissenschaftlicher Werke. Eine große Mappe enthielt Schlachtenpläne. Das Wirthschaftsgeräth war sehr einfach, von Silbergeschirr nur sehr wenig vorhanden. Eben so bescheiden war die Garderobe des Verstorbenen.

Die Aufwärterin war bei dem Gange durch die Wohnungsräume mit zugegen gewesen. Als wir wieder in das Schlafzimmer kamen, trat sie nochmals zum Bette des Verstorbenen und stutzte plötzlich.

„Haben Sie etwas Auffallendes bemerkt?“ fragte sie der Staatsanwalt.

„Ich weiß nicht,“ erwiderte sie, „was die Herren davon denken werden, allein wenn Sie, wie ich, den seligen Herrn Kriegsrath gekannt hätten, so würden Sie sich am Ende auch wundern wie ich. Er war in allen Dingen so pünktlich und regelmäßig…“

„Sprechen Sie,“ drängte der Staatsanwalt, „es ist mitunter auch das Kleinste von Wichtigkeit.“

„Ja, sehen Sie, meine Herren,“ sagte die gute Frau zögernd, „ich habe seit fünf Jahren immer die Wäsche des seligen Herrn besorgt und ihm immer Alles herausgelegt, was er brauchte. Alle Sonnabend Abend legte ich ihm frische Nachtwäsche auf sein Bett; das war so regelmäßig, wie Amen in der Kirche, und nie hat er mitten in der Woche welche verlangt, oder selbst genommen, Und jetzt sehe ich, daß er gestern, als wie Dienstag, ein frisches Nachthemd angezogen hat, obgleich ich ihm, wie immer, am vergangener Sonntag ein reines Herausgelegt hatte.“

Es war richtig, wie die Aufwärterin sagte, denn ein wenig benutztes Nachthemde fand sich am Kopfende des Bettes vor. Aber auch dieser Umstand warf kein weiteres Licht auf die Sache und schien nur geeignet, die Spannung der Betheiligten in Athem zu erhalten.

Wir verließen die Wohnung, nachdem auf Anordnung des Physicus Vorsorge getroffen war, durch geeignete Mittel der weiteren Zerstörung der Leiche vorzubeugen. Die Wohnungsräume wurden wieder versiegelt und unter Bewachung gestellt.

Am folgenden Tage fand die Section des Leichnams statt. Keines der inneren Organe zeigte die mindeste Verletzung. Das rechte Herz war ziemlich stark mit dunkelfarbigem Blute gefüllt das linke dagegen fast leer; die Luftröhre hatte bereits die braun-rothe Farbe des Verwesungsstadiums angenommen, welches den angewendeten Maßregeln ungeachtet nicht aufzuhalten gewesen war. Der übrige Befund war vollkommen normal, der Magen fast ganz leer, die Magenfläche selbst zeigte ebenfalls nichts Abnormes. Es [328] fand sich somit kein Anhalt für eine andere Vermuthung, als die, daß der Tod des Kriegsraths die Folge einer Lungenlähmung gewesen sei, und der Physicus faßte sein in negativer Form abgegebenes vorläufiges Gutachten dahin ab, daß kein Grund vorhanden sei, eine ausgeübte Gewalt als Todesursache anzunehmen, daß auch nichts für die Annahme einer Selbstentleibung spräche. Nichts desto weniger wurden der Magen, die Speiseröhre u. s. w. den Gerichtsärzten unter Beobachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten zur chemischen Untersuchung eingehändigt, ob vielleicht eine Vergiftung stattgefunden habe.

Von der Gerichtsbehörde war gleichzeitig die amtliche Auskunft ertheilt worden, daß der Verstorbene kein Testament bei dem Gerichte niedergelegt habe.

Zu wessen Gunsten war demnach sein Leben versichert worden, da seine Ehefrau einen Anspruch auf diese Summe weder haben sollte noch wollte, und ein Testament, wie der Verstorbene gegen den Agenten bemerkt hatte, nicht errichtet war? Die Police lautete ausdrücklich „zahlbar an die in meinem nach Landesgesetzen rechtsgültig errichteten Testamente benannte Person oder deren gesetzliche Erben.“

Als die Deputation des Gerichts mit dem ärztlichen Personal die Sterbewohnung eben verlassen wollte, trat ein Herr ein, den ich sofort als den früheren Begleiter des Verstorbenen bei dessen Spaziergängen und Schachpartien erkannte. Er stellte sich dem Beamten in sichtlicher Bewegung als einen Freund und ehemaligen Kameraden des Verstorbenen vor und bezog sich auf einen Brief der Wittwe, Inhalts dessen er um den Liebesdienst ersucht wurde, sich den Anordnungen für ein angemessenes Leichenbegängniß zu unterziehen. Der Staatsanwalt, welcher gleichfalls zugegen war, begrüßte den Eingetretenen als einen Bekannten und stellte ihn als den Major von Sebald vor.

Man trat wieder in das Schlafzimmer. Der alte Soldat ging auf die Leiche seines verstorbenen Kameraden zu, an welchen, die Spuren der vorgenommenen Section kunstgerecht beseitigt waren. Er faßte seine rechte Hand, legte die eigene Linke auf das Haupt des Entschlafenen, und zwei große Thränen rannen die gebräunte Wange hinab in den grauen Schnurrbart.

„Er war mein einziger wahrer Freund,“ sprach er, zu uns gewendet, „ich war ihm um ein Dutzend Jahre in der Anciennetät überlegen, und nun ist er heimlich vor mir zur großen Armee ausgerückt!“

Wir waren alle von dem treuherzigen Ausdruck soldatischen Schmerzes ergriffen. Der Staatsanwalt entfernte den Major von der Leiche, und setzte ihm die Lage der Sache auseinander, die einzelnen Verdachtsmomente, die Höhe der genommenen Lebensversicherung, den Mangel einer letztwilligen Verordnung. Er schloß mit der Frage, ob der Major irgend eine Vermuthung über den Zusammenhang dieser Dinge habe.

Der Major war betroffen, konnte aber keine Auskunft geben. In ihrem langjährigen persönlichen Verkehr sei niemals die Rede auf die häuslichen und noch weniger die Vermögensverhältnisse gekommen. Er habe gewußt, daß die Erörterung derartiger Angelegenheiten seinem Freunde peinlich sei, und es sich deshalb zum unverbrüchlichen Grundsatz gemacht, in diesen Punkten die äußerste Discretion zu beobachten. Er wisse heute noch nicht, ob sein verstorbener Kamerad arm oder reich gewesen sei, ihr beiderseitiger Verkehr habe auf einer andern Grundlage beruht, als auf äußerlichen Beziehungen.

Also auch von dieser Seite her war keine Aufklärung zu hoffen. Man schickte sich an, das Haus zusammen zu verlassen.

„Darf ich mir eine Bitte gestatten?“ fragte der Major, bereits an der Thür.

Der Untersuchungsrichter erklärte seine Bereitwilligkeit.

„Ich wünsche das silberne Schachspiel des Verewigten aus der Nachlaßmasse zu erwerben,“ bemerkte der Major, „es knüpfen sich daran Erinnerungen an viele gemeinsam verlebte Stunden, und ich möchte nicht, daß es in fremde, gleichgültige Hände kommt.“

„Hat der Verstorbene ein silbernes Schachspiel besessen?“ fragte der Richter, aufmerksam geworden.

„Allerdings,“ lautete die Antwort, „ich habe es noch am Tage vor seinem Tode bei ihm gesehen.“

„Wo pflegte er es aufzubewahren?“

„Es stand regelmäßig auf diesem kleinen Tischchen hier, dessen untere Klappe, wie Sie bemerken werden, aufzuschlagen geht, und so ein Schachbret bildet.“

Die Beamten sahen sich stutzig an.

„Können Sie uns die Stunde mit Gewißheit angeben, zu welcher Sie das Schachspiel zuletzt gesehen haben?“

„Ganz genau. Wir haben am Dienstag Mittag, also an seinem Todestage, bis ein Uhr noch damit Schach gezogen.“

„Halten Sie es für unwahrscheinlich, daß der Verstorbene das Schachspiel – vielleicht in einer momentanen Verlegenheit – veräußert oder verpfändet habe?“

„Meine Herren, ich halte es geradezu für undenkbar; außerdem besaß der Kriegsrath an seinem Todestage noch eine ansehnliche Geldsumme, die ich selbst in seiner Börse gesehen habe.“

„Können Sie uns den ungefähren Betrag angeben?“

„Es mögen zehn bis zwölf Louisd’or, und eben so viel Ein- und Zweithalerstücke nebst mancherlei Kleingeld gewesen sein.“

„Es ist durchaus keine Silbermünze im Nachlaß des Verstorbenen vorgefunden worden, am allerwenigsten in seiner Geldbörse.“

„Auch nicht der durchlöcherte brabanter Kronthaler und der Sterbethaler mit dem Datum des Todestages Friedrichs des Großen?“

„Auch dieser nicht.“

Der Major stand von höchstem Erstaunen ergriffen da. Auch der Gerichtspersonen hatte sich eine lebhafte Spannung bemächtigt.

„Wollen die Herren mir gestatten, eine Meinung zu äußern?“ nahm nach einer Pause der Major wieder das Wort.

„Bitte, sagen Sie uns unumwunden Alles, was Sie vermuthen.“

„Nun denn, was ich vermuthe,“ sprach der Major mit Nachdruck, „ist, daß mein verstorbener Kamerad sich freiwillig weder des silbernen Schachspiels, noch der beiden Silbermünzen entäußert hat, sondern –“

„Nun?“

„– daß er beraubt worden ist.“

Hatten schon die bisher zur Sprache gekommenen mancherlei Anzeichen die Beamten bedenklich gemacht, so war die bestimmte und mit überzeugender Klarheit abgegebene Erklärung des Majors vollends geeignet, dem einmal angeregten Verdacht neue Nahrung zu geben. Hier lag endlich ein positiver Anhaltspunkt vor, an den weitere Nachforschungen geknüpft werden konnten. Diese mußten sodann zu weiteren Entdeckungen führen, durch welche allein es möglich wurde, alles Geheimnißvolle in dem ganzen Vorgänge aufzuklären.

Der Major gab seine Aussage zu Protokoll, wiederholte alle einzelnen Umstände seiner Wahrnehmungen mit der größten Genauigkeit und beschwor seine Aussage. Jetzt ging man auch darauf zurück, in welchem Zustande man die Börse des Kriegsraths vorgefunden hatte. Von dem Polizeibeamten war sie nicht angerührt worden, derselbe hatte sich nur durch den äußern Anschein überzeugt, daß sie Geld enthielt. Die erste Person, welche sie in die Hand genommen, war der Untersuchungsrichter gewesen. Die Börse war von grüner Seide gehäkelt und mit zwei stählernen Ringen versehen. Das eine Ende der Börse war leer, der Ring weit zurückgeschoben; auf der andern Seite befanden sich sechs Goldstücke; auch hier war der Ring, wenn auch nicht so weit als der andere, zurückgeschoben. Auch diese an sich geringfügigen Umstände trugen, in Verbindung mit der überall hervorleuchtenden peinlichen Ordnungsliebe des Verstorbenen, zur Verstärkung der Annahme bei, daß eine fremde Hand die Börse zuletzt geöffnet habe. Das Gesammtergebniß aller dieser Wahrnehmungen war schließlich, daß als objectiver Thatbestand ein begangener Diebstahl an Gegenständen vorlag, welche unzweifelhaft dem Verstorbenen gehört und sich mit höchster Wahrscheinlichkeit bis zum Moment seines Todes in seinem Besitz befunden hatten.

Ein detaillirtes Verzeichniß der vermißten Gegenstände wurde zum Behufe der anzustellenden Recherchen an die verschiedenen Polizeireviere gesandt; eine Anzahl bestrafter, unter polizeilicher Aufsicht stehender Subjecte wurde unter besonders genaue Controlle gestellt, Haussuchungen wurden bei verschiedenen Personen vorgenommen, welche der Diebshehlerei verdächtig waren. Alle diese Schritte führten zu keinem Resultate.

[337] Die Vermuthung lag nahe, daß das silberne Schachspiel eingeschmolzen und auf diese Weise die Möglichkeit der Entdeckung vereitelt war. Vielleicht verhielt es sich in ähnlicher Weise mit dem brabanter Kronthaler. Was den sogenannten Sterbethaler anlangte, so konnte derselbe längst verausgabt sein und sich in zehnter Hand befinden, ohne bei einem der zeitigen Besitzer eine besondere Aufmerksamkeit zu erregen, wenn derselbe nicht zufällig ein Numismatiker war. Diese Thaler haben nämlich die Besonderheit, daß sie in einer Abbreviatur der Jahreszahl und der Münzstätte Berlin (für welche das Zeichen A. üblich ist) das Datum des Sterbetages Friedrich des Großen enthalten, nämlich in dieser Form: 17. A. 86. (17. August 1786).

Inzwischen hatten die gerichtlichen Medicinalbeamten die chemische Analyse bewirkt, und sich in einem umständlichen Gutachten, welches den Gang des beobachteten Verfahrens mit größter Genauigkeit angab, übereinstimmend dahin erklärt, daß die chemische Untersuchung keine Spuren eines im Körper vorhandenen Giftstoffes nachgewiesen habe.

So waren drei Wochen nach dem Tode des Kriegsraths verflossen, ohne daß es gelungen war, der Sache durch neue Ermittellungen näher zu treten.

Eines Sonntags saß der Agent niedergeschlagen bei mir, um mir die Erfolglosigkeit seiner Anstrengungen zu berichten, als die Thür aufging und mein alter Freund, Mr. Pirrie, zu meiner freudigen Ueberraschung in Person eintrat. Nachdem er mir mit Herzlichkeit die Hand geschüttelt, begann er sogleich, zu mir und dem Agenten gewendet:

„Es ist nichts ermittelt worden?“

Wir zuckten mit den Achseln.

„Ich kann es mir denken,“ fuhr er in seiner gelassenen Weise fort, „der alte Bursche hat die Sache fein genug eingefädelt.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte ich, einigermaßen von dieser Auffassung überrascht. Der Agent hörte mit Spannung zu.

„Die Sache ist die,“ entgegnete Mr. Pirrie mit immer gleicher Gelassenheit, „daß man nicht wie ich zwanzigjährige Erfahrungen auf diesem Gebiete gemacht haben muß, um nicht instinctmäßig zu fühlen, was für eine Bewandtniß es mit diesem Todesfalle hat.“

„Sie sind also überzeugt –?“ warf der Agent ein.

„Ueberzeugt –? Never mind – was ist da zu sagen! Wir werden sehen. Hat sich ein Prätendent zur Versicherungssumme gemeldet?“

„Niemand.“

„Giebt es nicht mehrere Gerichtsbehörden am Orte, bei denen Testamente niedergelegt werden können?“

„Allerdings; aber nirgends befindet sich ein Testament des Verstorbenen.“

„Es ist nach Ihren Landesgesetzen unverwehrt, bei jeder Gerichtsbehörde des Landes sein Testament niederzulegen?“

„Allerdings.“

Mein Freund hatte sich erhoben, und war eine Zeit lang überlegend im Zimmer auf- und abgegangen.

„Ist es Ihnen recht,“ begann er wieder, „uns nach der Wohnung des Kriegsraths zu begleiten?“

Ich erklärte mich sofort bereit, bemerkte jedoch, daß der mit den Recherchen in dieser Sache speciell betraute Polizeibeamte die Schlüssel zur Wohnung besitze.

„Er erwartet uns schon,“ lautete die Antwort, „gehen wir!“

Mr. Pirrie hatte sich sofort nach seiner Ankunft zu dem betreffenden Polizeibeamten begeben, mit diesem bereits ausführlich verhandelt und den Eifer desselben durch die Aussicht auf eine bedeutende Belohnung auf’s Neue belebt. Wir trafen ihn, unser harrend, vor dem Hause, und begaben uns gemeinschaftlich in die Sterbewohnung. Mit einer Genauigkeit, deren Tendenz uns nicht ganz klar wurde, nahm der englische Anwalt alle Einzelnheiten der Wohnungsräume, in denen nichts verändert worden war, in Augenschein, untersuchte mit besonderer Sorgfalt die Dielen, den Ofen und den Kamin in der Küche, und ließ sich nochmals genau beschreiben, in welcher Lage der Todte gefunden worden war. Mit einem mitgebrachten Zollstabe maß er sodann die Entfernung des Bettes vom Boden.

„Sie sind von dem Resultat der chemischen Analyse unterrichtet?“ fragte ich, zu ihm tretend.

„Dies Resultat war vorherzusehen,“ antwortete er.

„Zweifeln Sie an der Richtigkeit desselben?“

„Das will ich nicht sagen. Aber ich war sicher, daß er sich nicht vergiftet hat. Wenigstens,“ setzte er hinzu, „was man so vergiften nennt. Verdammt schlauer Bursche das!“

„Ich fürchte,“ begann der Agent, „es wird uns nur ein Mittel übrig bleiben.“

„Und das wäre?“

„Die Frist abzuwarten, innerhalb deren der Anspruch auf die Versicherungssumme erlischt, wenn die rechtzeitige Meldung nicht erfolgt.“

„I beg pardon, Mr. Wichert,“ fiel der Anwalt ein, „Sie [338] sind verteufelt unschuldig in solchen Dingen, wenn Sie einen Augenblick daran zweifeln, daß sich vor Ablauf der Frist, und sei es eine Stunde vorher, der wohllegitimirte Erbe einstellen wird, um seine viertausend Pfund in guten blanken Sovereigns zu erheben. Doch – was sind das für Tritte – ?“

Wir horchten, vernahmen aber nichts.

Der Polizei-Beamte nahm das Wort: „Was glauben Sie, daß in der Sache noch gethan werden kann? Denn ich muß bekennen, daß ich ziemlich rathlos bin.“

„Die Sache ist die,“ begann Mr. Pirrie, „daß ich von vornherein gegen den Abschluß dieser Versicherung gewesen, aber im Verwaltungscomité überstimmt worden bin. Nun steht die Angelegenheit ganz einfach so, daß wir entweder beweisen müssen, der Versicherte habe durch Selbstmord seinen Tod gefunden, oder daß wir zahlen müssen. Der Fall, daß der Verstorbene durch gewaltsamen Tod von der Hand Anderer – ohne sein Verschulden – um’s Leben gekommen, ist für die Gesellschaft gleichgültig, wenn nicht erwiesen wird, daß der oder die Mörder identisch mit denjenigen Personen sind, an welche die Versicherungssumme zu zahlen ist. Daran ist nicht zu denken; man läßt sich nicht freiwillig von den nämlichen Personen den Hals umdrehen, denen man eine große Summe Geldes für einen solchen Liebesdienst zuwendet. Auch ist es noch nicht vorgekommen, daß alsdann ein solches Geschäft so glatt abläuft, wie es hier der Fall ist. Ich wiederhole es: die Sache ist viel zu glatt, um in Ordnung zu sein. Der Verstorbene besaß durchaus nicht die Mittel, die Police auf die Dauer zu entrichten. Sie haben mir selbst gesagt, wie gering der Werth seines ganzen Nachlasses ist. Wir haben es mit einem verdammt schlauen Burschen zu thun. Er hat seinen Plan lange vorbereitet, Alles auf’s Feinste durchdacht – aber dabei eben fassen wir ihn: er hat die Sache allzu fein präparirt. Man stirbt nicht von Ungefähr so parademäßig, wenngleich ich weiß, wie weit der Tic des ehemaligen Officiers gehen kann. Und damit ich Ihnen rundweg meine Meinung sage, mit was für einem Falle wir es hier zu thun haben: wir haben hier den Fall eines Selbstmordes mit Beihülfe einer anderen Person, welche entweder dazu gedient hat, den Selbstmord auszuführen, oder die Spuren desselben zu beseitigen.“

Der Polizeibeamte hatte mit achtungsvoller Aufmerksamkeit zugehört.

„Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, die Spuren dieser Person zu ermitteln,“ begann er, „aber alle Nachforschungen sind fruchtlos gewesen, und ich verzweifle fast an der Möglichkeit –“

„Man muß an Nichts verzweifeln,“ fiel der Engländer ein, „haben Sie alle Hausbewohner vernommen?“

„Alle.“

„Wer wohnt hier oben, in der Dachwohnung?“

„Eine arme, unbescholtene Arbeiterfrau, die sich durch Waschen ernährt.“

„Ist diese auch vernommen?“

„Diese nicht. Sie liegt schon seit längerer Zeit in einer öffentlichen Heilanstalt.“

„Seit wann?“

„Seit dem Tage vor dem Todesfalle.“

„Und sie ist jetzt noch dort?“

„Ja.“

„Wissen Sie das bestimmt?“

„Gewiß.“

„Aber sie ist zu Hause –“

Der Polizeibeamte sah den Anwalt fragend an.

„Sie ist oben,“ fuhr dieser unbeirrt fort, „ich höre sie.“

„Das wäre seltsam!“ sprach der Beamte verwundert.

Wir horchten alle mit gespannter Aufmerksamkeit, vernahmen aber nicht das mindeste Geräusch.

„Verlieren wir nicht unnütz die Zeit,“ sagte Mr. Pirrie, „es ist Jemand oben in der Wohnung – entweder diese Frau, oder eine andere. Ueberzeugen Sie sich, und lassen Sie uns die alte Frau hier sehen.“

Der Polizeibeamte, entfernte sich, durch den bestimmten Ton des Engländers irre gemacht, und begab sich in die Dachwohnung. Wir harrten in schweigender Spannung; – nach wenigen Minuten trat er wirklich mit einer bejahrten, ärmlich gekleideten Frau in’s Zimmer, welche die Spuren einer kaum überstandenen schweren Krankheit an sich trug.

„Sie hatten Recht,“ sagte der Beamte überrascht, „sie ist heute Mittag aus der Kranken-Anstalt entlassen worden – die Meldung war bei mir noch nicht erfolgt.“

Mein Freund betrachtete die alte Frau aufmerksam und nöthigte sie, sich zu setzen. „Suchen Sie ganz genau festzustellen, seit wann sie ihre Wohnung verlassen hat,“ sprach er leise zum Beamten.

„Können Sie uns ganz genau sagen,“ begann dieser, „wann Sie zuletzt in Ihrer Wohnung waren, ehe Sie in’s Krankenhaus kamen?“

„Zuletzt war ich in meiner Wohnung in der nämlichen Nacht, in der der Herr hier – (sie wies in die Ecke, wo das Feldbett stand) – gestorben ist.“

Die alte Frau hatte das mit vollkommenster Harmlosigkeit ausgesprochen, ohne zu ahnen, wie überraschend diese Neuigkeit auf uns Alle wirken mußte. Der Polizeibeamte wurde roth vor Erstaunen; der Agent rieb sich aufgeregt die Hände, – Mr. Pirrie nickte nur ein paar Mal mit dem Kopfe.

Die Sache hing einfach genug zusammen. Das arme Weib gehörte zu jener beklagenswerthen Classe weiblicher Proletarier, welche ihren Lebensunterhalt als Wäscherinnen erwerben. Dieselben sind genöthigt, mitunter eine ganze Reihe von Nächten hintereinander am Waschtroge zu stehen, um einen Arbeitslohn zu gewinnen, welcher an sich noch immer kümmerlich genug, jedenfalls aber im Verhältniß zu anderen Beschäftigungen für erheblich gilt.

Die Waschfrau aus dem Hause des Kriegsrathes ernährte sich auf diese Weise, und da sie die meisten Nächte außerhalb des Hauses zubrachte, so waren die Hausgenossen gewöhnt, sie in der Regel als abwesend zu betrachten. Am Abend vor dem Tode des Kriegsraths war sie gegen zehn Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sich schlafen gelegt, da sie am andern Morgen um zwei Uhr wieder bei der Wäsche sein mußte. Sie war bereits zwei Tage fort gewesen, Niemand hatte sie zurückkehren sehen, und so glaubte man, als man in der Frühe des nächsten Morgens ihre Wohnung verschlossen fand, sie sei noch auf ihrer letzten Arbeitsstelle. – So gut sollte es aber der Aermsten nicht ergehen. Wie sie erzählte, war sie fest eingeschlafen und in Folge der Anstrengung des vorhergehenden Tages erst gegen drei Uhr des Morgens wieder erwacht. Eilig habe sie sich angekleidet und zu der neuen Arbeit auf den Weg begeben. Unterweges sei sie von heftigen Brustkrämpfen befallen worden und außer Stande gewesen, an die Arbeit zu gehen, so daß sie durch mitleidige Vorübergehende nach der Polizeiwache getragen und von dort nach der Krankenanstalt befördert worden sei. Von dort habe man sie heute entlassen.

„Und woher wissen Sie, daß der Kriegsrath in derselben Nacht gestorben ist, in der Sie das Haus verließen?“ fragte sie der Polizeibeamte.

„Die Wärterin des Krankenhauses von meiner Station ist mit dem Dienstmädchen der Herrschaft in der ersten Etage bekannt; sie hatte es von dieser erfahren, und erzählte es mir. Ich war ordentlich erschrocken darüber und erinnerte mich gleich daran, was mir aufgefallen war, als ich das Haus verließ.“

Der Polizeibeamte hatte seine Ruhe vollkommen wieder gewonnen, und verrieth durch keine Miene, welches Interesse die Mittheilung der Waschfrau in uns erregte.

„Erzählen Sie doch!“ sprach er im gleichgültigen Tone.

Und die alte Frau erzählte. Als sie gegen drei Uhr des Morgens das Haus verlassen gewollt, sei es ihr vorgekommen, als ginge Jemand über den Hausflur und als würde die Hausthür zugeklinkt. Sie habe denn auch wirklich gefunden, daß die Hausthür nicht zugeschlossen gewesen sei, und als sie auf die Straße hinausgetreten, habe sie in der Mitte des Straßendammes einen Menschen stehen sehen, der nach den Fenstern des Hauses hinauf blickte. Wie der Mensch ihrer ansichtig geworden, habe er sich – erst langsam, dann in schnellerem Schritt – entfernt, und sei ihr aus dem Gesicht gekommen. Ob dieser Mensch im Hause gewesen, wisse sie nicht, wiedererkennen würde sie ihn schwerlich, da sie seine Gesichtszüge wegen der Dunkelheit nicht zu unterscheiden vermocht; wohl aber sei ihr seine Gestalt erinnerlich. Dem Anscheine nach wäre es ein junger, dem Arbeiterstande angehörender Mensch gewesen; darauf habe wenigstens seine Bekleidung: Mütze und Arbeitsjacke von dunklem Stoffe, hingedeutet.

Somit war in der Aussage der alten Wäscherin ein neuer Bestärkungsgrund für die Vermuthung gewonnen, daß in der Todesnacht eine fremde Person in der Wohnung des Kriegsrathes gewesen [339] sei. Der Hausschlüssel des Kriegsrathes fand sich am gewöhnlichen Platze vor; war der Fremde vermittelst dieses Schlüssels in das Haus gelangt? War ihm dasselbe von innen geöffnet worden? Das war nicht zu ermitteln. Von den Hausbewohnern hatte Niemand in jener Nacht nach zehn Uhr das Haus verlassen.

Aber als sollten alle weiteren Ermittelungen sich an das persönliche Erscheinen des englischen Anwalts knüpfen, so folgte der ersten Entdeckung bald eine zweite, wichtigere.

Der Sohn des Polizeibeamten, ein lebhafter Knabe von zwölf Jahren, hatte von den entwendeten Münzen reden hören, und sich von seinem Vater auseinander setzen lassen, wie ein solcher „Sterbethaler“ aussehe. Am Tage nach der Vernehmung der Waschfrau erzählte er seinem Vater bei Tische, er habe heute in der Schule einen solchen Sterbethaler gesehen, und zwar bei dem Sohne eines Subalternbeamten des Gerichts, der eine kleine Münzsammlung besitze. So zweifelhaft es auch schien, daß dieser Thaler eben der entwendete sein könne, so ließ es sich der eifrige Beamte doch nicht verdrießen, sofort in der Behausung des Knaben über den Ursprung des Geldstückes weitere Nachfrage zu halten. Der Knabe gab an, er habe diesen Thaler von dem Dienstmädchen seiner Eltern gegen anderes Geld aus seiner Sparbüchse eingetauscht, um das seltenere Geldstück seiner Sammlung einzuverleiben. Das Dienstmädchen mußte sich eine geraume Zeit besinnen, ehe es anzugeben vermochte, woher es den Thaler erhalten. Endlich erinnerte sie sich, daß sie diesen Thaler mit noch mehreren anderen Geldstücken in einem sogenannten Victualienladen herausbekommen habe, als sie mehrere Wirthschaftseinkäufe besorgt und mit einer Cassenanweisung von fünf Thalern bezahlt hatte.

Zum Inhaber dieses Victualienladens begab sich der Beamte zunächst und befragte ihn unter Vorzeigung der Münze, ob er anzugeben vermöge, von wem er dieses Geldstück erhalten habe.

„Es ist doch nicht falsch?“ war die erste Frage des ängstlichen Mannes.

Man beruhigte ihn und suchte sich zunächst zu vergewissern, daß dieser Thaler ihm auf irgend eine Weise kenntlich geworden sei. Er kannte ihn ganz genau.

„Denn,“ sagte er, „sehen Sie, weil mir der Thaler ein bischen fremd vorkam, hab’ ich ihn erst auf den Ladentisch auffallen lassen, um zu hören, ob es nicht etwa Blei wäre; und dann, hier ist auch noch das Zeichen, wo ich mit meinem Daumennagel eine kleine Schramme gekratzt habe.“

Die Wahrnehmung war richtig. Aber von wem hatte er das Geldstück erhalten? Er kannte den Mann nicht näher und bezeichnete ihn als einen Professionisten oder Arbeitsmann; möglicher Weise sei es ein Tischler gewesen, wenigstens hätten die Hände deutliche Spuren der braunen Möbelpolitur an sich getragen, deren sich die Tischler zum Poliren bedienen. Der Mann habe verschiedene Speisen und Getränke, die er in dem Victualienladen genossen gehabt, mit jenem Thaler bezahlt und, nachdem er den Restbetrag des Geldes erhalten, sich nicht wieder sehen lassen. Verdächtiges sei ihm an ihm nicht aufgefallen.

Damit waren die weiteren Spuren zunächst wieder erschöpft, und es war schwer, auf diese Andeutungen hin den Gesuchten ausfindig zu machen. Als der Polizeibeamte sich eben entfernen wollte, trat ein dem Arbeiterstande angehöriger ältlicher Mann ein und begann, nachdem er das geforderte Getränk empfangen, sich mit dem Wirth zu unterhalten. Der etwas einfältige Wirth schien sich plötzlich zu besinnen, blickte bald seinen Gast, bald den Beamten an, so daß dieser stehen blieb und seinerseits fragend auf den Wirth blickte. Es stellte sich heraus, daß der eben Eingetretene – ein Schiffer – zugegen gewesen war, als der in Rede stehende Thaler gewechselt wurde, und daß er sich mit dem Unbekannten geraume Zeit unterhalten hatte. Die Beschreibung, welche er von dem Fremden entwarf, schien auf den Menschen zu passen, der in der Todesnacht vor dem Hause des Kriegsraths gestanden hatte. Der Fremde hatte sich gegen den Schiffer unter andern dahin geäußert, daß er beabsichtige, die Stadt zu verlassen, und bei einer der damals noch nicht vollendeten, östlich gelegenen Eisenbahnen Arbeit zu suchen, da es mit seiner Profession – die er nicht nannte – nicht mehr gehe. Der Schiffer getraute sich, den Fremden mit Bestimmtheit wieder zu erkennen; der Wirth war seiner Sache nicht sicher.

Das Nächste war jetzt, die Register aller derjenigen Personen zu durchsuchen, welche als Arbeiter auf Kosten des Staates nach den verschiedenen Stationsorten der im Bau begriffenen Eisenbahn befördert worden waren. Deren Zahl war Legion; auf mehr als hundert konnte die Beschreibung des Schiffers passen. Dennoch entschloß sich der Polizeibeamte, die Reise in Begleitung des Schiffers zu unternehmen, und die einzelnen Stationsorte der Eisenbahn zu revidiren.

In sein Büreau zurückkehrend, fand er mehrere Personen vor, welche sich zur Erledigung der verschiedenen Angelegenheiten eingestellt hatten, die in einem Polizeibureau vorzukommen pflegen. Hierzu gehören namentlich die schriftlichen An- und Abmeldungen, die Ertheilung von Paßcertificaten u. dergl. mehr. Ein solches bereits von dem Schreiber ausgefülltes Paßcertificat wurde dem Commissarius zur Unterschrift vorgelegt; es enthielt in der Rubrik: Zweck der Reise – die Angabe, „Arbeit bei der Eisenbahn zu suchen.“

„Für wen ist dieser Schein?“ fragte der Beamte, sich zu den Anwesenden wendend.

„Hier,“ antwortete ein junger Mann von schmächtiger Natur und blasser Gesichtsfarbe.

Der Commissarius machte eine Bewegung, als wollte er ihm das Papier einhändigen, der junge Mensch streckte die Hand aus – ein Blick des erfahrenen Beamten genügte – diese Hand trug noch deutlich Spuren des Gebrauchs der Möbelpolitur an sich.

„Wo haben Sie das silberne Schachspiel und das übrige Geld gelassen?“

Ein Blitzstrahl aus heiterer Luft konnte nicht erschütternder wirken, als diese einfachen Worte aus dem Munde des Polizeibeamten. Der Angeredete schrak heftig zusammen, wurde glühend roth und gleich darauf wieder todtenbleich. Ehe er sich noch zu sammeln vermocht, hatte der Commissarius ihn in das Nebenzimmer geschoben; ein Schreiber war mit hinein getreten. Man sah sofort, daß dem Menschen klar wurde, in welcher Situation er sich befand; er rang nach Fassung – leugnete mit stockender Stimme, er wisse von nichts. Er sei nur erschrocken, weil man ihm plötzlich Dinge vorgehalten habe, von denen er keine Ahnung habe. Dabei blieb er, trotzdem ihm der verausgabte Thaler vorgehalten wurde, obgleich man ihn eindringlich darauf aufmerksam machte, daß er nur durch ein unumwundenes Geständniß den Verdacht eines noch weit schwereren Verbrechens von sich abzuwenden vermöge.

Durch die Confrontation mit dem Schiffer und dem Victualienhändler wurde festgestellt, daß er es gewesen, der den Thaler verausgabt hatte. So viel gab er auch schließlich zu, nachdem er anfänglich auch diesen Umstand abgeleugnet hatte. Ueber den Erwerb des Thalers befragt, bediente er sich der allgemeinen Ausflucht, daß er ihn von seinem früheren Arbeitslohn gespart habe. Seine persönlichen Verhältnisse sprachen durchaus nicht für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Erklärungsgrundes.

Ludwig *** war als Kunstdrechslergehülfe polizeilich gemeldet, befand sich aber schon seit geraumer Zeit ohne Arbeit und ohne erweislichen anderweiten Erwerb. Aus den Polizeilisten ging sogar hervor, daß er vor nicht langer Zeit wegen Obdachslosigkeit zur Haft gebracht worden war. Inzwischen hatte er allerdings hier und da durch das Aufpoliren von Möbeln in verschiedenen Häusern einiges Geld verdient; dasselbe war jedoch nicht ausreichend gewesen, seine dringendsten Lebensbedürfnisse zu bestreiten. Denn wie aus dem Schritte hervorging, der seine Ermittelung zur Folge hatte, war es sogar dahin mit ihm gekommen, daß er sich zu der unwillkommenen letzten Ausflucht bequemte, seinen Unterhalt als gewöhnlicher Tagearbeiter zu erwerben.

Er wurde verhaftet und sofort dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

„Sie sind dringend verdächtig,“ begann der Untersuchungsrichter das Verhör, „verschiedene werthvolle Gegenstände bei Nachtzeit und vermittelst Einbruchs aus der Wohnung des Kriegsraths von P. entwendet zu haben!“

Der Schrecken, welcher den Angeschuldigten bei der ersten Vorhaltung durch den Polizeibeamten ergriffen hatte, war nichts im Vergleiche zu dem Entsetzen, das ihn jetzt bei Nennung des Namens des Verstorbenen packte.

Er starrte den Richter einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an, wechselte ein paar Mal die Farbe, und rief mit ungeberdiger Heftigkeit, fast schreiend: „Ich kenne keinen Kriegsrath von P., ich habe ihn in meinem Leben nicht gesehen, wie kann man mir solche Nichtswürdigkeiten in’s Gesicht sagen –“

Der Untersuchungsrichter ließ ihn austoben.

[340] „Sie werden wohl thun,“ fuhr er dann fort, „Ihrer Sache nicht durch Heftigkeit zu schaden. Sie leugnen also, in der B… -Straße Nr. … gewesen zu sein?“

Der Angeredete wußte augenscheinlich nicht, was er sagen sollte; er starrte den Richter mit offenem Munde an, und brach dann nach Art trotziger Kinder in unmäßiges Weinen und Schluchzen aus. Er wisse von nichts, er habe auch nichts zu bekennen, man möge ihm nur gleich den Kopf abschlagen, das wäre das Beste für ihn, denn das sehe er wohl, man wolle ihm an’s Leben.

Dabei blieb er im Wesentlichen. Man versuchte gütiges Zureden, ernste Vorhaltungen, man ließ ihm eine Zeit lang Ruhe – aber es war nichts aus ihm heraus zu bekommen. War diese hartnäckige Verstocktheit die Folge eines unbändigen Naturells, oder das Resultat schlauer Ueberlegung – es stand fest, daß die Taktik, sich auf gar keine Erörterungen einzulassen, allen Fragen ein consequentes Leugnen oder verstocktes Schweigen entgegenzusetzen, dem Angeschuldigten für den Augenblick jedenfalls zu Statten kam.

Einem dieser Verhöre war ich veranlaßt worden, von einem Nebenzimmer aus beizuwohnen, um fest zu stellen, ob zwischen der Stimme des Angeklagten und der des jungen Mannes am Gewitterabende eine Aehnlichkeit herauszufinden sei. Ich vermochte indessen darüber nichts Positives zu bekunden.

Die in der Wohnung des Angeklagten vorgenommene Haussuchung war ohne Resultat für die Untersuchung geblieben. Die Waschfrau erklärte, daß der Angeklagte der Figur nach der nämliche Mensch sein könne, den sie in der Nacht vor dem Hause habe stehen sehen. Weitere Indicien waren nicht zu ermitteln gewesen, und der Staatsanwalt mußte sich, bei dem Mangel sonstiger Verdachtsgründe für eine Mitwirkung bei dem Tode des Kriegsraths, darauf beschränken, die Anklage wegen schweren Diebstahls gegen Ludwig *** zu erheben. Sonderbarer Weise verlangte der Angeklagte, durch mich vertheidigt zu werden, und ich nahm keinen Anstand, mit Genehmigung des Gerichts, seinem Verlangen zu willfahren. Wahrscheinlich war er zu der Wahl durch den günstigen Ausgang der Untersuchung eines Mitgefangenen veranlaßt worden, dessen Vertheidigung ich gleichfalls geführt hatte.

Ludwig *** war eben einundzwanzig Jahre alt geworden. Er war von schmächtigem Körperbau; seine an sich schon nicht blühende Gesichtsfarbe war durch die Kerkerhaft noch bleicher geworden. Die fein geschnittenen Züge des Gesichts trugen die Spuren frühzeitiger Ausschweifungen an sich, die Wangen waren eingefallen, die Augen blickten unstät aus tiefen, blaugeränderten Höhlen. Ich besuchte ihn im Gefängniß, um zu hören, was er zu seiner Vertheidigung noch anzuführen gedenke. Er schien einen Augenblick zu schwanken, ob er mir mit offenem Vertrauen entgegenkommen solle –, aber sein Mißtrauen siegte und er blieb verschlossen gegen mich, wie er es im Laufe der ganzen Untersuchung gewesen war. – Ob es wahrscheinlich sei, daß er verurtheilt werde? – fragte er mich. Ich mußte es ablehnen, darauf eine bestimmte Antwort zu geben, Dann fragte er nach der Höhe des Strafmaßes, welches bei Bejahung der Schuldfrage gegen ihn zur Anwendung käme. Ich antwortete: Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren. Er zuckte zusammen, sagte aber nichts. Darauf beschränkte sich die ganze Unterredung; ich hatte nicht das Herz, ihn mit weiteren Fragen zu bedrängen, und verließ ihn mit dem Versprechen, für ihn zu thun, was in meinen Kräften stände.

Mr. Pirrie war bald nach der Verhaftung des Angeklagten durch dringende Briefe nach England gerufen worden. Er entschloß sich nur mit Widerstreben zur Rückreise, da er gern das Resultat der öffentlichen Verhandlung abgewartet hätte. Vor seiner Abreise hatte er noch häufige Conferenzen mit dem Staatsanwalt und dem Polizeibeamten.

Der Tag der öffentlichen und mündlichen Verhandlung war erschienen. Der Angeklagte hatte in den Kleidern auf der Anklagebank Platz genommen, in welchen er verhaftet worden war. Ein feines weißes Hemde stach sonderbar gegen die grobe Jacke ab; das Haar war sorgfältig gescheitelt, die gefaßte Haltung des jungen Menschen mit den feinen Gesichtszügen erschien beinahe vornehm, und machte einen günstigen Eindruck auf die Geschworenen.

Die Anklage hatte eine ziemlich schwere Stellung. Es lag subjektiv gegen den Angeklagten nichts vor, als der Besitz eines höchst wahrscheinlich entwendeten Geldstückes, seine Vermögenslosigkeit, die Wahrscheinlichkeit seiner Anwesenheit am Orte der That und einige andere Indicien von nicht erheblicherem Belange, wozu insbesondere das Ableugnen erwiesener Momente zu rechnen war.

Das Geschworenengericht war gebildet und die Verhandlung nahm ihren regelrechten Verlauf. Der Angeklagte bewahrte seine vollkommen ruhige Haltung. Als die vorgeladenen Belastungs-Zeugen aufgerufen wurden, um im Allgemeinen auf ihre Zeugenpflicht hingewiesen zu werden, bemerkte man das Fehlen des Majors. Die Bescheinigung über die erfolgte Vorladung befand sich ordnungsmäßig bei den Acten. Es mußte Wunder nehmen, daß ein an strenge Regelmäßigkeit gewöhnter Mann, ein alter Militair, seine Pflicht, als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, so lässig sollte genommen haben, noch dazu in einer Sache, die seinen verstorbenen Freund betraf. Man stellte sofort Recherchen in seiner Wohnung an, fand aber nur einen alten Diener vor, welcher erklärte, sein Herr sei vor zwei Tagen verreist, und zwar, wie derselbe angegeben, auf längere Zeit. Im Laufe der Verhandlung ging von der Polizeibehörde die Anzeige ein, der Major habe vor etwa 8 Tagen um einen Auslandspaß – nach Frankreich und England – nachgesucht und erhalten.

Für alle Diejenigen, welche mit dem bisherigen Gange der Untersuchung vertraut waren, lag in diesem Zwischenfall ein neues Geheimniß, welches das ohnehin so verworrene Räthsel noch unlösbarer zu machen drohte. Diese plötzliche Abreise sah fast einer Flucht ähnlich, und doch deutete nicht das allergeringste Anzeichen darauf hin, daß der Zeuge irgend einen positiven Anlaß gehabt haben könne, seine Vernehmung zu scheuen.

Da der Major seine bereits abgegebene Aussage beeidet hatte, und es ungewiß schien, ob es überhaupt möglich sein würde, sein persönliches Erscheinen zu einem anderweit anzuberaumenden Termin zu bewerkstelligen, so beschloß das Gericht, mit der Verhandlung fortzufahren. Der Angeklagte schien sichtlich erleichtert. Er neigte sich von seinem etwas erhöhten Sitze über die schmale Balustrade zu mir herunter, und flüsterte nur in’s Ohr:

„Es ist unmöglich, daß ich verurtheilt werde – es liegt zu wenig gegen mich vor und ich bin noch niemals bestraft.“

In diesem Sinne ließ er sich auf die Anklage aus, welche die bereits hervorgehobenen Momente zu dem Schlüsse zusammenfaßte, daß der Angeklagte in der Todesnacht sich Eingang in die Wohnung des Kriegsraths zu verschaffen gewußt und die vermißten Sachen entwendet habe. Er leugnete Alles, bis auf den Besitz des Thalers, den er seit Jahr und Tag für den Fall der äußersten Noth aufbewahrt zu haben behauptete. Wer sollte es glauben –? Dieser unscheinbare junge Mensch in der groben Arbeiterjacke drückte sich mit einer Eleganz aus, welche allgemeine Verwunderung erregte. Noch mehr, es lag in seinem Tone etwas von so trauriger Resignation, daß man unwillkürlich Interesse und Mitleiden mit ihm fühlte. Er schien den günstigen Eindruck zu bemerken, den er hervorgebracht hatte, und sein Wesen gewann an Zuversicht.

Das Zeugenverhör war im Wesenlichen nur eine Recapitulation des Resultates, welches die Voruntersuchung ergeben hatte. Am meisten fiel die Aussage des Polizeibeamten in’s Gewicht, welcher den Angeklagten verhaftet hatte. Das heftige Erschrecken desselben, die langandauernde Gemüthsbewegung mußte nothwendig als der Ausdruck des Schuldbewußtseins gedeutet werden. Der Angeklagte erklärte, er habe bei der ersten barschen Anrede des Beamten, der ihm einen Diebstahl auf den Kopf zugesagt, alles klare Bewußtsein verloren; und er konnte immerhin hoffen, für diesen Erklärungsgrund Glauben zu finden.

Die Beweisesaufnahme war, bis auf die Vernehmung des Victualienhändlers, geschlossen. Derselbe bekundete das Nämliche, was er bereits vor dem Polizeibeamten ausgesagt hatte. Nachdem der Angeklagte die Verausgabung des „Sterbethalers“ einmal eingeräumt hatte, war auch die Bezüchtigung dieses Zeugen nicht mehr von besonderem Gewicht, denn es stand immer nicht absolut fest, daß dieser Thaler wirklich mit dem im Besitze des Kriegsraths gewesenen identisch sei. Selbst der Major hatte bei seiner in der Voruntersuchung bewirkten Vernehmung rücksichtlich dieses Punktes nur einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, keine Gewißheit zu behaupten vermocht. Das Zeugenverhör war geschlossen. Der Angeklagte athmete erleichtert auf.

[349] Der Vorsitzende ertheilte dem Staatsanwalt das Wort zur Begründung der Anklage.

„Ich habe,“ begann dieser, „zuvor noch eine Frage an den zuletzt vernommenen Zeugen richten wollen.“

Man ließ den Victualienhändler eintreten.

„Haben Sie noch anderweites Geld bei dem Angeklagten bemerkt, als er bezahlte?“

Der Zeuge besann sich geraume Zeit.

„Allerdings,“ antwortete er endlich, „ich weiß aber nicht genau, was für Geld es war.“

„Beschreiben Sie es uns!“

„Es war eine große Silbermünze, ich konnte nicht unterscheiden, was es gewesen ist, ich sah nur, daß das Geldstück durchlöchert war –“

Ich hörte, wie das Geländer, das mich von dem Angeklagten trennte, unter dem krampfhaften Griff seiner Hände knackte, so fest mußte er sich daran halten, um nicht zu schwanken. Der Zeuge beschrieb das Geldstück noch näher, die Beschreibung paßte genau auf den im Besitze des Kriegsraths gewesenen durchlöcherten Kronthaler. So günstig sich die Sache im Laufe der Verhandlung gestaltet hatte, so mißlich lag sie jetzt für den Angeklagten. Dieser fühlte die Wendung seiner Lage vollkommen; er leugnete; dicke Schweißtropfen perlten von seiner Stirn auf die fieberhaft gerötheten Wangen.

„Herr Präsident,“ sprach er – hastig mit stotternder Stimme, „ich habe mein Alibi bewiesen –“

„Ihr Wirth hat allerdings eidlich erhärtet, daß Sie am Morgen nach jener Nacht Ihre Wohnung vor sieben Uhr Morgens nicht verlassen haben, aber er hat Sie erst um ein Uhr Abends, wahrscheinlich sogar noch später gesehen, und es ist daher sehr gut möglich, daß der Diebstahl um diese Zeit bereits ausgeführt war. Etwas Anderes wäre es, wenn Sie nachweisen könnten, daß Sie auch in der Zeit von zehn Uhr Abends bis zum Eintreffen in Ihrer Wohnung nicht am Orte der That gewesen sind.“

„Ich will es beweisen,“ sagte der Angeklagte, und das Wort stockte ihm in der Kehle.

„Und wie wollen Sie das beweisen?“ fragte der Präsident.

„Durch die Person, in deren Wohnung ich bis nach eilf Uhr gewesen bin –.“

„So geben Sie also zu, daß es unwahr ist, wenn Sie behauptet haben, bereits vor zehn Uhr Abends in Ihre Behausung zurückgekehrt zu sein –?“

Der Angeklagte schwieg, was ging in ihm vor? Auf seiner Stirn stand der helle Angstschweiß, seine trockenen Lippen zuckten, aber sprachen nicht.

„Nennen Sie diese Person!“ rief der Vorsitzende mit stärkerer Stimme, „oder ich schließe die Verhandlung und gebe dem Herrn Staatsanwalt das Wort.“

Der Angeklagte raffte sich zusammen. „Es ist die Frau von P.,“ sprach er kaum hörbar.

„Die Frau des verstorbenen Kriegsraths von P.? die Gattin des Bestohlenen?“ fragte der Vorsitzende erstaunt.

„Ja,“ antwortete der Angeklagte, und indem er sich zu mir neigte: „Um Gotteswillen, einen Tropfen Wasser!“

Ich winkte dem Gerichtsdiener, der das Verlangte brachte.

„Und was hatten Sie so spät in der Wohnung dieser Dame zu thun?“ fragte der Präsioent von Neuem.

„Ich habe bisweilen kleine häusliche Arbeiten dort verrichtet, Möbel aufpolirt und dergleichen.“

Der Gerichtshof trat in Berathung und beschloß, Frau von P. sofort vorzuladen und die Verhandlung so lange auszusetzen.

Nach weniger als einer Stunde wurde dem Präsidenten das Eintreffen der Zeugin gemeldet. Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen. Die Aufmerksamkeit wandte sich der Frau von P. zu. Sie war in tiefer Trauer, welche die Blässe ihres Antlitzes noch mehr hervortreten ließ. Ich erinnerte mich nicht, jemals ein so marmorbleiches Antlitz gesehen zu haben. Als der Gerichtshof eintrat, wollte sie sich vom Stuhl erheben, auf dem sie Platz genommen hatte; sie vermochte es aber nicht.

„Wenn Sie sich angegriffen fühlen, Frau von P.,“ sprach der Präsident des Gerichtshofes zu ihr gewendet, „so wollen wir Sie nicht zum Stehen nöthigen.“ Sie hatte sich inzwischen zusammengerafft und trat an den Zeugentisch. Nachdem sie die Frage nach Namen, Stand und Alter leise, aber vernehmlich beantwortet hatte, befragte sie der Vorsitzende, ob ihr der Angeklagte bekannt sei. Sie bejahte. Ich hatte indessen genau beobachtet, daß sie den Angeklagten nicht angeblickt hatte. Es war zunächst festzustellen, ob der Angeklagte, wie er angegeben, an dem gedachten Abend bis nach eilf Uhr in der Behausung der Zeugin gewesen sei. Sie bejahte diese Frage.

„Zu welchem Behufe hatte er sich an dem gedachten Abend eingefunden?“

„Er sei,“ so lautete die Antwort, „ab und zu gekommen, um zu hören, ob irgend etwas für ihn zu thun sei, hin und wieder [350] auch, um eine Unterstützung zu erhalten oder einen Rath zu begehren. Dieses wäre der Anlaß seines letzten Besuches gewesen; er habe die Absicht gehabt, auszuwandern, dazu hätten ihm jedoch die Mittel gefehlt. Sie selbst,“ fuhr Frau von P. fort, „habe mehr den Wunsch und die Neigung, als ausreichende Mittel besessen, ihm so zu helfen, daß er vor weiterer Lebenssorge bewahrt würde.“

Alles, was Frau von P. sagte, machte den Eindruck der vollsten Wahrheit; die tiefe Bewegung, mit der sie sprach, und welche sie vergeblich zu bemeistern suchte, verstärkte diesen Eindruck noch. Das Verhältniß einer von der Welt zurückgezogenen, mildthätigen Dame zu einem etwas verwahrlosten und manchen Versuchungen ausgesetzten jungen Proletarier hatte an sich nichts Befremdliches.

„Ich wünsche noch von Ihnen zu wissen, gnädige Frau,“ nahm der Staatsanwalt das Wort, „ob der Angeklagte vielleicht durch Sie, oder mittelbar durch die Anwesenheit in Ihrem Hause, von den Verhältnissen und der häuslichen Einrichtung Ihres Gemahls in Kenntniß gesetzt wurde?“

„In keiner Weise,“ lautete die Antwort, „niemals war von der Person oder den Verhältnissen meines verstorbenen Mannes die Rede.“

„Und Sie haben keine Vermuthung darüber, daß der Angeklagte mit Ihrem verstorbenen Gemahl bekannt gewesen sei?“

„Ich bin vom Gegentheil überzeugt.“

Der Staatsanwalt wandte sich zum Angeklagten: „Weshalb sind Sie erst im letzten Augenblicke mit der Angabe hervorgetreten, daß Sie bis nach eilf Uhr in der Behausung der Frau von P. waren?“

„Ich wollte der Dame, die immer sehr gütig gegen mich war …“

Er wollte offenbar sagen, daß er ihr die Behelligung, für ihn gerichtliches Zeugniß abzulegen, habe ersparen wollen; aber er konnte den Satz nicht vollenden, er mußte schluchzen, wie ein Kind. Und Frau von P.? Wieder ging das leise Zittern durch ihren Körper, das ich bei der ersten Begegnung in der Sterbewohnung bemerkt hatte, sie legte ihre Hände auf den Rand des vor ihr stehenden Tisches, aber die zitternde Bewegung war dennoch sichtbar.

Der Vorsitzende erhob sich. „Ich werde zu Ihrer Vereidigung schreiten,“ sprach er zu Frau von P.; „sind Sie bereit, die Richtigkeit Ihrer Aussage durch einen Eid zu bekräftigen?“

„Ich bin bereit!“ antwortete sie, und schien ihre Fassung wiedergewonnen zu haben.

Noch im letzten Augenblick nahm der Staatsanwalt das Wort.

„Ich erlaube mir, den Herrn Präsidenten darauf aufmerksam zu machen, daß vergessen worden ist, der Zeugin die allgemeinen Zeugenfragen vorzulegen und sie darauf hinzuweisen, daß auch die Antworten auf diese Fragen eidlich bekräftigt werden müssen.“

„Der Herr Staatsanwalt hat vollkommen Recht, ich habe dies übersehen,“ sprach der Vorsitzende. „Frau von P., Sie haben zunächst die folgenden Generalfragen zu beantworten; die wissentlich unrichtige Beantwortung einer dieser Fragen zieht gleichfalls die Meineidsstrafen nach sich. – Sie haben mich doch verstanden?“

Frau von P. hatte der Eröffnung, die ihr gemacht wurde, mit einem so fremdartigen Ausdrucke des Gesichts zugehört, daß die Frage des Präsidenten nur zu natürlich war. Er wiederholte seine Frage. Sie schien den Kopf zum Zeichen der Bejahung zu neigen.

„Sind Sie verwandt oder verschwägert mit dem Angeklagten?“

Eine flammende Röthe zog über das todtenbleiche Antlitz – verschwand aber eben so schnell, um einer Blässe zu weichen, welche schon an die erdfahle Todtenfarbe erinnerte. Sie neigte sich nach vorn über, bewegte etliche Male schnell hintereinander die Lippen, ohne einen Laut hervorzubringen, blieb dann mit geöffnetem Munde stehen, und ehe noch Jemand zu ihrem Beistände herzueilen konnte, war sie mit einer zuckenden Bewegung der Hände nach ihrem Herzen hinten über gestürzt, und lag leblos am Boden.

Man hob sie sofort auf, Alles beeiferte sich, ihr beizustehen. Frau von P. wurde von zwei Frauen in ein Nebenzimmer getragen, ein Arzt herbeigerufen und die Sitzung abermals auf eine Stunde unterbrochen. Der Präsident ordnete die Zurückführung des Angeklagten an –, dieser schien kaum zu wissen, was um ihn vorging.

Nach einer Stunde begann die Verhandlung wieder. Der Angeklagte wurde herbeigeführt. Er war in einen, bejammernswerthen Zustande, zwei Gerichtsdiener mußten ihn führen, so schüttelte ihn das Fieber. Der Arzt, welcher zum Beistände der Frau von P. herbeigerufen worden war, trat ein.

„Hat sich Frau von P. so weit gefaßt,“ fragte der Präsident, „daß ihre Vereidigung nunmehr ohne Gefahr für ihre Gesundheit erfolgen kann, oder hat sie sich von ihrer Ohnmacht noch nicht hinlänglich erholt?“

„Ich bedauere, Herr Präsident, darauf antworten zu müssen,“ erwiderte der Arzt, „daß von dem Erscheinen der Frau von P. überhaupt nicht die Rede sein kann, geschweige denn von ihrer Vereidigung. Die Dame ist von einem Nervenschlage getroffen, und wird vielleicht niemals wieder des Gebrauchs der Sprache mächtig werden. Ich bitte, mich sofort zu entlassen, denn meine Anwesenheit bei der Kranken ist dringend erforderlich.“

Ohne eine weitere Frage abzuwarten, entfernte er sich nach dem Zimmer, in welches man Frau von P. getragen hatte.

„Es bleibt uns sonach nichts übrig,“ sprach der Vorsitzende, „falls nicht der Herr Staatsanwalt anderweite Anträge stellt, als die heutige Sitzung aufzuheben, und den Beschluß über die Verhandlung vorzubehalten.“

„Ich bin damit einverstanden,“ bemerkte der Staatsanwalt, „aber ich will noch eine Frage an den Angeklagten richten.“

Der Staatswalt trat zu ihm, er legte die Hand auf seine Schulter und sprach mit ernstem, eindringlichem Tone: „Ludwig, geben Sie der Wahrheit die Ehre, sagen Sie uns, in welchem näheren Verhältnisse stehen Sie zur Zeugin?“

Der unglückliche Mensch konnte die Last, die auf seinem Herzen lag und ihn zu ersticken drohte, nicht länger ertragen, mit dem Jammergeschrei des verzweifelnden Schmerzes brach er zusammen und schrie, während er von Fieberschauern geschüttelt wurde: „Meine Mutter! Meine Mutter! Ich habe sie umgebracht!“


Die Sitzung war aufgehoben und Frau von P. nach ihrer Behausung gebracht worden. Auch der Angeklagte war so bedeutend erkrankt, daß er aus dem gerichtlichen Gefängniß nach einer Krankenanstalt geschafft werden mußte.

Die Staatsanwaltschaft hielt es für ihre Pflicht, das Verhältniß zwischen dem Angeklagten und der Wittwe aufzuklären. Zwar führte Ludwig *** einen andern Familiennamen, als den der Frau von P., auch wiesen die polizeilichen Acten nach, daß derselbe der Sohn einer armen Uhrmachersfrau aus einem thüringischen Städtchen sei, – indessen diese Angaben konnten absichtlich und zur Verdunkelung der wahren Sachlage gemacht worden sein. Der mit der ganzen Untersuchung vertraute Polizeibeamte begab sich an Ort und Stelle, und es gelang ihm, vollständigen Aufschluß zu erhalten. Folgendes ist die Geschichte der Wittwe des Kriegsraths.

Louise von P. war, um eine standesmäßige Ausbildung zu erhalten, wie man sie für Töchter höherer und adeliger Beamten für nothwendig erachtet, nach einer kleinen mitteldeutschen Residenz geschickt worden, in welcher sich damals die Pensions- und Erziehungsanstalt zweier ältlichen Schwestern eines besondern Rufes erfreute. Louise hatte die Schulen ihrer Vaterstadt besucht und bei guten Anlagen mehr als gewöhnliche Kenntnisse erworben. Sie sollte sich in der höhern Anstalt noch den „feineren Schliff“ und die für unentbehrlich gehaltenen Sprachkünste aneignen. So war sie beinahe fünfzehn Jahre alt, als sie in die Pension eintrat. Von Natur zur Schwärmerei geneigt und in sich gekehrt, blieb sie im Institut gänzlich auf sich angewiesen, da die übrigen Zöglinge fast sämmtlich jünger waren, als sie, und sich schwer an das scheue, einsilbige Mädchen anschlossen, welches immer etwas „Apartes“ hatte, wodurch sich die jüngeren Genossinnen abgestoßen fühlten. Die Anstalt war nach dem herkömmlichen Maßstabe, mit dem man solche Institute zu beurtheilen pflegt, eine vorzügliche, das heißt, sie leistete alles Dasjenige, was für die Dressur äußerlicher Bildung irgend verlangt werden konnte. Alles Uebrige gehörte nicht zum Pensum der Anstalt. An die Stelle einer auf die Kräftigung und Veredelung des Gemüthslebens zielenden Einwirkung war die Begünstigung des Hanges zur Romantik getreten, welche damals Mode war. In dieser Umgebung, unter diesen Einflüssen hatte Louise fast ein Jahr lang gelebt. In den Unterrichtsstunden kam sie allen Anforderungen der Lehrerinnen pünktlich nach. Im Uebrigen wußte sie sich eine ziemlich große Freiheit zu bewahren, welche ihr selbst so weit nachgesehen wurde, daß sie Stunden lang allein in der Umgegend umherstreifen konnte. Ihre körperliche Entwicklung [351] war indessen unerwartet schnell vorgeschritten; zwar immer von zartem Gliederbau, hatte ihre Gestalt doch das volle Ebenmaß des zur Jungfrau herangereiften Kindes gewonnen. –

Um diese Zeit präsentirte sich bei den Vorsteherinnen ein mit Empfehlungen versehener Künstler, welcher ehemals ein berühmter Schauspieler gewesen war, und der jetzt Declamationen und rhetorische Vorträge in Lehranstalten und geschlossenen Gesellschaften hielt. Ludwig M… war seiner Zeit nicht nur ein begabter Künstler, sondern auch ein durch Persönlichkeit ausgezeichneter Mann gewesen. Die Leichtigkeit, mit welcher er Liebesverhältnisse knüpfte und löste, war in den künstlerischen Kreisen sprüchwörtlich geworden. Diese Zeiten waren nun vorbei. Ein chronisches Leiden des Halses hatte ihm die Bühnen verschlossen; die Stimme reichte eben nur noch zum Lesen in kleineren Räumen; die Einnahmen derartiger Productionen waren nicht bedeutend genug, um die gewohnte bequeme, fast üppige Lebensweise fortsetzen zu können; mit dem Lüstre der Theaterlampen erlosch zugleich der Lüstre der persönlichen Erscheinung. Er hatte gegenwärtig die Mitte der vierziger Jahre erreicht, aber die vollendete Kunst, mit der er sich kleidete und ajustirte, ließ ihn höchstens für einen Dreißiger halten. Eine Mischung von künstlerischer Eleganz und genialer Nachlässigkeit erhöhte die Anmuth seiner Haltung, seine Unterhaltung war, wenn auch ein wenig süßlich, dennoch lebendig, immer verbindlich und voller Galanterie gegen Damen. So trat M. in dem Institute auf, bezauberte die Vorsteherinnen, entzückte die Zöglinge und ging mit Bereitwilligkeit auf den Vorschlag ein, längere Zeit am Orte zu verweilen, und den jungen Damen des Instituts einen Lehrcursus der „Declamation und Rhetorik“ zu ertheilen. Aus den Declamationen wurden Leseabende mit vertheilten Rollen; bald legte man die Bücher bei Seite und schritt zur Action der Stücke selbst; endlich ging man zu wirklichen theatralischen Vorstellungen über, bei denen selbst die jüngere der beiden Vorsteherinnen mitzuwirken nicht verschmähte. Eine wahre Leidenschaft für theatralische Aufführungen bemächtigte sich des Städtchens, und die Theatervorstellungen im Institut, unter Leitung und Mitwirkung des berühmten M., bildeten den Gegenstand des ausschließlichen Interesses für Alt und Jung.

Louise war augenscheinlich die befähigtste von allen Zöglingen des Instituts; sie entwickelte auch das hervorragendste Talent für die Darstellung, so daß sie die bedeutendsten Rollen erhielt und am meisten mit M. in Berührung kam. Mit dem jungen Mädchen war eine große Veränderung vorgegangen. Sie, sonst so scheu und zurückhaltend, war oft einer ausgelassenen Lebendigkeit hingegeben; dann kamen wieder Stunden tiefer Niedergeschlagenheit, in denen sie sich in ihr Zimmer verschloß, das sie um keinen Preis verlassen mochte. Man entschloß sich, den Arzt zu consultiren, und dieser verbot ihr die fernere Theilnahme an den theatralischen Schaustellungen unbedingt. Sie war außer sich darüber – aber die Vorsteherinnen wagten es nicht, dem peremtorisch ausgesprochenen Willen des berühmten Arztes entgegen zu treten; fürchteten sie doch selbst, schon zu weit gegangen zu sein. Mit der Betheiligung Louisen’s hörte auch der Eifer des Dirigenten auf, die Vorstellungen erreichten ihr Ende und der Künstler verabschiedete sich.

Louise hatte bei ihrem Vater und der Stiefmutter die Erlaubniß nachgesucht und erhalten, noch ein Jahr in der Anstalt zu bleiben, theils zu ihrer weiteren Ausbildung, theils um den Vorsteherinnen im Unterrichte beizustehen und ihre Kräfte in Anwendung des Erlernten zu versuchen. In der That wendete sie sich dieser neuen Thätigkeit mit einem fast krankhaften Eifer zu, mußte aber bald davon abstehen; ihre Gesundheit begann zu leiden, die Vorsteherinnen wurden ängstlich, der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, empfahl Schonung und Gemüthsruhe. Eines Mittags rief man sie vergeblich zu Tisch. Man glaubte, sie habe sich eingeschlossen, und ließ sie gewähren; als es aber Abend wurde, ohne daß sie sichtbar ward, öffnete man die Thür mit Gewalt und fand das Zimmer leer. Das unheimliche Wesen ihres Zöglings hatte schon längst beängstigend auf die beiden Damen gewirkt. Sie griffen zu einem Zufluchtsmittel, welches an sich seltsam, aber für ein weibliches Gemüth in ähnlicher Lage naheliegend genug ist. Sie öffneten den Schreibtisch Louisen’s, – ihre Ahnung hatte sie nicht betrogen – da lag das Unglück mit Händen greifbar vor ihnen: eine Anzahl Liebesbriefe des Schändlichen, dem sie selbst in thörichter Verblendung ihr Haus geöffnet, dem sie das Werk des Verderbens erleichtert hatten! Und sie lasen und lasen in steigender Angst, – schüchterne Erklärungen, feurige Schwüre, dringende Bitten, Gewährung einer Zusammenkunft – immer glühender wurde die Sprache, immer vertraulicher der Ton – sie brauchten nicht weiter zu lesen – sie wußten Alles.

Und wenn sie es noch nicht gewußt hätten, der gellende Schrei hätte es ihnen gesagt, mit dem Louise, in’s Zimmer tretend, ohnmächtig zusammensank, als sie die Briefe in den Händen der Schwestern erblickte.

Was war zu thun? Wie war das Unglück zu verheimlichen, die unauslöschliche Schande von dem Institut, von der Familie des unglücklichen Mädchens abzuwenden?

Als Louise zu sich gekommen war, sprach sie mit einer Ruhe von ihrer Lage, die Entsetzen erregte.

„Das sicherste Mittel, Ihnen und den Meinigen die Schande zu ersparen, welche das Bekanntwerden meines Fehltrittes nach sich ziehen muß, ist, daß Sie mich nicht hindern zu fliehen, daß Sie mir einen hinreichenden Vorsprung lassen. Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals wiederkehre, daß Niemand von mir hören soll wenigstens nicht als von einer Lebenden.“

Die Schwestern waren außer sich. Dies sei der sicherste Weg zu ihrem Verderben, diese Flucht wälze erst recht unauslöschliche Schande auf ihre Anstalt. Sie weinten, schluchzten, beschworen Louise, an nichts Gewaltsames zu denken, ihnen zu vertrauen. Louise hatte Mitleiden mit ihren Lehrerinnen, sie gab nach. Sie öffnete den beiden alten Mädchen ihr Herz und alle Drei weinten zusammen herzliche Thränen über die Bosheit des leichsinnigen Verführers, über das geknickte junge Lebensglück. Keine Hoffnung war Louisen geblieben, keine trostreiche Täuschung – sie wußte Alles. Sie wußte, daß sie bethört war, wie man ein junges, unerfahrenes, schwärmerisches Herz bethört, aus Laune, aus flüchtiger Lust, aus Reiz an der zuckenden Bewegung eines gebrochenen Herzens. Sie kannte ihn jetzt, der ihr das Ideal männlicher Vollkommenheit gewesen. Sie hatte seine niedrige Seele durch die gleißende Hülle hindurch erkannt. Zur nämlichen Zeit, als er ihr ewige Liebe schwor, die Flucht mit ihr vorbereitete, unterhielt er Liebeshändel mit noch einem Dutzend Anderer, die er mit den nämlichen Schwüren hinterging. Sie verachtete ihn – aber sie verabscheute sich. Sie verabscheute und verfluchte sich, sie verfluchte das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, und schwor, daß sie es niemals sehen wolle.

Sie war nicht zu beruhigen, denn sie war bei alledem eigentlich äußerlich ruhig; es war die Resignation der Verzweiflung, die aus ihr sprach. Es blieb nichts übrig, als den Arzt zu Rathe zu ziehen. Man traf die nöthige Abrede mit einer jungen Frau, welche in einem kleinen Walddorfe in einem abgelegenen Häuschen wohnte, und deren Niederkunft gleichfalls bevorstand. Zu dieser begab sich Louise, und genas hier in aller Stille eines Knaben, welcher auf den Namen der armen Uhrmachersfrau getauft wurde. Das Kind, welches sie selbst zur Welt brachte, war ein todtgeborenes; der Knabe Louisens galt für das ihre. Die Vorsteherinnen sorgten für die Bedürfnisse des Kindes reichlich, zumal der Mann der armen Frau bald darauf starb, ohne ihr etwas Mehreres als das kleine Häuschen zu hinterlassen. Louise leerte ihre Sparbüchse in die Schürze ihrer Pflegerin und versprach, sie niemals zu vergessen, wenn sie ihr Versprechen halte, dem Kinde niemals zu sagen, wer seine Mutter sei.

Ihre Absicht war, nicht in das elterliche Haus zurückzukehren, sondern im fernen Auslande eine Stelle als Lehrerin oder Erzieherin zu suchen. Wider Erwarten verweigerte der Vater seine Zustimmung, – auch die Stiefmutter war entschieden dagegen. So kehrte sie wieder in das Elternhaus zurück. Sie war angegriffen bleich, ein Zug unverwischbaren Schmerzes lag auf ihrer weißen Stirn, auf den fein gewölbten Brauen. Wer sie sah, mußte sich von der zarten, leidenden Gestalt angezogen fühlen. Selbst die Stiefmutter empfand diesen Eindruck. Es erbarmte sie des traurigen, mutterlosen jungen Geschöpfs; sie schloß sich inniger an Louise an, sie lernte sie lieben und so wurde sie, die Unglückliche, Gebeugte, der Mittelpunkt des ganzen Familienkreises, in welchem sich jeder beeiferte, dem kranken Kinde Liebe und Freundlichkeit zu erweisen.

Dieses allgemeine Entgegenkommen drückte sie nieder und that ihr zugleich wohl. Sie war von unvergleichlicher Sanftmuth, nie kam ein unfreundliches Wort über ihre Lippen; aber dieselben Lippen hatten auch das fröhliche Lachen verlernt. So lernte sie den Kriegsrath kennen. Ihr Wesen zog ihn an, fesselte ihn um so [352] mehr, je zurückhaltender sie trotz aller Milde gegen ihn war. Er war nie ein Mann von vielen modischen Worten gewesen, und glaubte, sich ihr schweigendes Dulden seiner Aufmerksamkeiten günstig deuten zu dürfen. Er wandte sich mit seinem Antrage an die Eltern, diesen konnte Niemand als Schwiegersohn erwünschter sein. Louise selbst gerieth durch den Antrag des Mannes, dessen ehrenhafte Geradheit ihr erst Achtung, dann Neigung abgezwungen hatte, in die peinvollste Bedrängniß. Konnte sie den Mann täuschen, der ihr sein ganzes Herz, seinen unbefleckten Namen entgegenbrachte? Aber was sollte sie sagen? Mit welchen Gründen sollte sie einem Antrage ausweichen, der nach der Meinung Aller ihr Lebensglück sicherte? Die Eltern, welche überzeugt waren, daß ihre Tochter an der Seite eines liebenden Gatten zu neuem Leben genesen würde, boten alle Gründe der Ueberredung auf – ihr eigenes Herz sprach nur zu laut dafür! Und Er redete selbst mit ihr. Und wie klang es so rührend, als der ernst und treu blickende Mann sie bat, Vertrauen zu ihm zu haben, als er gelobte, ihrem jungen Herzen und ihrer noch nicht befestigten Neigung kein Opfer zuzumuthen, zu dem sie sich nicht freiwillig bereit finden würde; als er davon sprach, daß, wenn noch eine liebe Erinnerung zwischen ihm und ihrem Herzen stände, er geduldig warten wolle, bis die Stunde seines Glückes geschlagen haben werde. Es war ihr, als müßte sie ihre Seele ausweinen vor Schmerz über den Jammer, den ihr thörichtes unerfahrenes Herz über ihr Leben gebracht. Er saß neben ihr, schweigend, selbst von Rührung ergriffen, nicht wagend, ihre Bewegung für sich zu nutzen. Aber er hatte ihre Hand gefaßt und hielt sie in der seinen. So saßen sie lange nebeneinander und sprachen nicht, aber eine Welt von Gefühlen zog durch Beider Herzen. Daß ein Gott in dieser Stunde das Wort des Vertrauens auf ihre Lippen gelegt hätte! daß sie dem Manne, der ihre Seele mit unbegrenzter Achtung und scheuer Liebe erfüllte, zu Füßen gesunken wäre, ihn zum Vertrauten ihres Unglückes gemacht hätte! Es sollte nicht sein. So oft sie die Lippen zu dem traurigen Bekenntnisse öffnen wollte, trat das Gespenst des Verführers vor ihre Seele, mit den maskenhaft geschminkten Wangen, dem künstlich verwilderten Haupthaar, und drohte ihr mit zornfunkelnden Augen, – und das Wort erstarrte ihr im Munde. Sie konnte das Schreckliche nicht sagen – ihm nicht sagen, und sollte sie darüber zu Grunde gehen.

Ein Brief der Uhrmachersfrau, der durch eine vertraute Freundin (die einzige, die sie besaß) eingetroffen war, ließ sie endlich nachgeben. Diese schrieb, daß sie auf dem Wege nach Amerika sei, sie wandere aus zu Verwandten, welche sich in Ohio angesiedelt hatten und nach ihr schrieben. Sie nahm Abschied für immer und dankte für alle erwiesenen Wohlthaten. Des Knaben erwähnte sie nicht, – es war ihr zum Gesetz gemacht worden, seiner niemals vor Louisen zu gedenken. Lebte er – war er gestorben? Das letztere schien das Wahrscheinliche und Louise glaubte es.

So ward sie des Kriegsraths Gattin. Ihrem Wunsche gemäß wurden sie in einer entfernten kleinen Dorfkirche getraut. Die Ehe war keine glückliche. Der Dämon des Geheimnisses, das unausgesprochen zwischen ihnen lag, trennte die Gatten von einander, ehe sie sich recht zusammengefunden hatten. Kein fröhliches Kindergesicht trat als Friedensengel zu ihnen; sie wurde immer demuthsvoller, ergebener, scheuer; er fühlte sich zurückgestoßen, sein Gefühl wurde verstimmt, das Bewußtsein, ihr durch jahrelange Hingebung kein Vertrauen, kein unbefangenes Entgegenkommen abgewonnen zu haben, lastete auf seiner Seele und entfremdete ihn dem Gedanken an eheliches Glück. Die Kluft zwischen ihnen wurde immer größer, sie gingen nur noch neben einander her, zwei gedrückte, unglückliche Menschen. Jede Gemeinschaft hatte zwischen ihnen aufgehört. Er verschloß sich in sich selbst, sie härmte sich ab und hoffte Erlösung durch den Tod. – Die einzige Bedienung in der Haushaltung des Ehepaares war ein junges Mädchen, welches die Mutter Louisens ihnen zugesandt hatte, und das in dem Hause der Schwiegereltern mit den jüngeren Geschwistern herangewachsen war. Die „blonde Marie“ – so hieß sie wegen ihrer blonden Haarflechten von seltener Schönheit – vermittelte den Verkehr zwischen den Ehegatten. Mit dem scharfen Blicke des Weibes hatte sie das Zerwürfniß zwischen den Gatten erblickt. Obgleich sie in keinem Punkte der strengsten Pflichterfüllung etwas vergab, so zeigte sie der Frau gegenüber nur die gemessene Ehrerbietung die sie der Herrin schuldete, während sie in allem, was den Herrn betraf, die theilnehmendste Sorgfalt verrieth. Es war, als trauere sie mit ihm um sein trübes Eheleben, obgleich niemals eine Sylbe über ihre Lippen kam, welche ihren innern Antheil verrieth. –

Eines Tages hatte ein bedenklich aussehender Mann den Kriegsrath zu sprechen verlangt, ohne seinen Namen nennen zu wollen. Er war eine geraume Zeit bei ihm geblieben und hatte sich dann entfernt. Der Kriegsrath hatte sich den Tag über eingeschlossen. Gegen Abend öffnete er die Thür seines Arbeitszimmers, – er brauchte nicht zu rufen, die treue Dienerin harrte schon seit Stunden mit Angst auf den Ruf des Herrn. Er war noch ernster, blasser als sonst.

„Marie,“ sprach er, „ich kann Dir vertrauen –.“ Sie ahnte ein Unheil und rang die Hände. Er schüttelte mißbilligend mit dem Kopfe – sie schwieg. „Dies Packet übergibst Du morgen meiner Frau – ich verlasse das Haus für immer. Ich beziehe eine andere Wohnung, die Sachen, die ich bezeichnet habe, werden abgeholt werden. Bleibe bei meiner Frau, sei ihr treu – ich vertraue Dir. Für Deine Zukunft werde ich sorgen.“

Er übergab ihr ein Packet Briefe, versiegelt und an Frau von P. adressirt. Das treue Geschöpf sah ihn mit dem Ausdruck ungeheuchelten Schmerzes aus den in Thränen schwimmenden blauen Augen an und konnte kein Wort sprechen.

„Marie – es muß sein!“ Weiter sagte er nichts. Er berührte leise ihr Haupt mit der Hand und ging, um nicht zurückzukehren.

Das Packet enthielt die Briefe, die Louise in der Pensions-Anstalt an den Schauspieler geschrieben hatte, es ging Alles daraus hervor. Der Kriegsrath selbst hatte nur wenige Worte hinzugefügt. Sie enthielten die Bitte, ihn als gestorben zu betrachten und ihn womöglich zu vergessen. Er verzeihe ihr, aber sie müßten fortan für einander todt sein. Das Uebrige waren Dispositionen über ihre Vermögensangelegenheit und die Sicherstellung eines ausreichenden Einkommens für die Lebenszeit.

Wie sie den letzten Schlag ertrug, war äußerlich schwer zu erkennen. Die Briefe an ihre Jugendfreundin, welche bisher den Wegweiser für ihre Geschichte bildeten, hörten in dieser Epoche auf. Nur wenige Zeilen schienen aus dieser Zeit herzurühren, ein Streifen Papier, mit unsicheren Schriftzügen die Worte enthaltend:

„Ich bin erlöst von der Verdammniß der marternden Angst und erdulde die sichere Qual der ewigen Verdammniß. Ich kann nicht mehr weinen. Ich harre auf die Nacht, der kein Morgen mehr folgt.“

Die weiteren Nachforschungen über den Verbleib der Uhrmachersfrau ergaben, daß dieselbe in der That nach Amerika ausgewandert sei, und zwar allein, ohne Begleitung eines Kindes. Ihre Absicht war es ursprünglich gewesen, den Knaben mitzunehmen; auf dringendes Zureden eines bejahrten kinderlosen Verwandten, welcher versprach, für den Knaben zu sorgen, entschloß sie sich jedoch, ihn zurückzulassen. Ludwig sollte bei seinem neuen Pflegevater die Kunstdrechsler-Profession erlernen und, wenn er seine Selbstständigkeit erreicht haben würde, nachfolgen. Der alte Mann starb jedoch schon im zweiten Jahre nach der Abreise der Uhrmachersfrau, Ludwig vollendete bei einem andern Meister seine Lehrzeit und führte seitdem das unstäte Leben eines wandernden Handwerksburschen. Wie es ihm gelungen war, seine Mutter ausfindig zu machen, konnte nicht ermittelt werden. Frau v. P. lebte in tiefster Zurückgezogenheit, die blonde Marie hatte sie bald nach der Trennung von dem Gatten verlassen, der Aufenthalt des Mädchens war unbekannt.

Nachdem diese Verhältnisse so weit aufgeklärt waren, konnte man hoffen, von dem Angeklagten ein offenes Geständniß desjenigen zu erhalten, was bis jetzt anderweit nicht ermittelt werden konnte.

Aber es schien, als sollte Alles, was mit dieser Untersuchung zusammenhing, sich auf unerwartete Weise gestalten. Wieder war es Herr Wichert, der Agent, der mich an einem frühen Morgen mit der Neuigkeit überraschte, daß Ludwig *** in der Nacht vor seiner Zurücklieferung in das Gefängniß in der Bekleidung des Krankenwärters seiner Station entsprungen sei.

Sofort erlassene Steckbriefe, die eifrigsten Nachforschungen der Polizeibehörde erwiesen sich als gänzlich fruchtlos. Der Zustand der Wittwe war ein solcher, daß die Möglichkeit, durch sie weiteres Licht in der Sache zu erhalten, gänzlich ausgeschlossen war. Sie sprach kein Wort mehr und saß den Tag über regungslos, mit gefalteten Händen in ihrem Lehnstuhl. Ihre Wärterin ging [353] ihr nicht mehr von der Seite und pflegte sie mit rührender Hingebung. Ich hatte Gelegenheit, sie in ihrem leidenden Zustande zu sehen, und war betroffen von dem Ausdruck friedlicher Ergebung, der, fast wie ein Schimmer der Verklärung, die Züge des bleichen Antlitzes durchhaucht hatte.

So waren drei Wochen vergangen, seitdem der Angeklagte entsprungen war, als mir der Postbote eines Abends einen seltsam geformten Brief einhändigte, der mit den verschiedenartigsten Poststempeln bedeckt war. Mit Mühe waren einzelne Namen zu erkennen, darunter: Calais, Ostende, Aachen u. s. w. Eine Ahnung sagte mir, daß dieser seltsame Brief die Lösung des ganzen Räthsels bringen mußte, – und ich hatte mich nicht getäuscht.

Der Brief, ohne Datum und Unterschrift, lautete folgendermaßen:

„Wenn es Gottes Wille ist, daß dieser Brief in Ihre Hände kommt, so bitte ich sie kniefällig, meiner Bitte zu willfahren und sich meiner zu erbarmen, da sich Gott meiner erbarmt hat. Ich bin es, der Ihnen schreibt, der Ihnen und den Herren vom Gericht so viele Mühe und Noth gemacht hat. Aber Sie brauchen sich darum vor mir nicht, wie vor einem Mörder zu entsetzen, ich schwöre es Ihnen, daß ich unschuldig am Tode des Mannes bin. Ich wäre nicht entflohen, sondern hätte ruhig meine Strafe angenommen als eine gerechte Buße, aber ich wollte nicht, daß sie die Schande haben sollte, mich in der Zuchthausjacke zu sehen. Darum bin ich entsprungen und habe zu meinen anderen Schlechtigkeiten auch noch zuletzt den Diebstahl an den Kleidern des Krankenwärters begehen müssen, für alles Gute, was er mir erwiesen. Aber ich mußte es thun, es wäre sonst mein Tod und ihr Tod gewesen. Ich habe ein Unterkommen auf einem Schiffe gefunden, das nach einem fernen Lande geht. Wir sind jetzt im Canal und hoffen, daß ein Kohlenschiff nahe genug an uns herankommen wird, um diesen Brief mitnehmen zu können. Ich will nicht, daß unschuldige Menschen in Verdacht kommen sollen, und will, wie ich es vor Gott in meiner letzten Stunde verantworten kann, Alles gestehen, wie es sich wirklich und wahrhaftig zugetragen hat. Darum habe ich früher schon Alles aufgesetzt, wie es sich verhalten hat, und habe es an einen Ort niedergelegt, wo Sie es finden können, wenn Sie meinen Wunsch erfüllen. Denn wenn ich an sie denke, und wie sie für todt zusammenstürzte, so ist es mir nur immer so, als fahren mir tausend zweischneidige Messer in mein Herz, und ich möchte am liebsten meinem Leben ein Ende machen, wenn ich nicht eingesehen hätte, daß der Tod eine Wohlthat für mich ist, und ich erst suchen muß, meine Sünden abzubüßen. Das hat mir auch der Capitain unseres Schiffes gesagt, der sonst für einen harten Mann gilt, der aber als ein wahrer Freund und Bruder an mir handelt und mir Trost einspricht, wenn es mir manchmal vor Verzweiflung ganz schwarz vor den Augen wird. Dann sagt er: Muth, mein Junge, wirf Deinen Jammer über Bord für die Haifische, wir sind allesammt Sünder; thu’ von jetzt ab einen rechtschaffenen Menschen aus Dir machen, und es wird Alles gut werden. Dann ist auch noch ein junger Geistlicher an Bord, ein Schottländer, der aber in Deutschland studirt hat, der redet mir auch zu, auf Gottes Barmherzigkeit zu vertrauen, und Christum, den Mittler und Fürsprecher aller Reuigen. Ihm habe ich Alles erzählt und er hat keinen Abscheu vor mir gehabt, sondern er hat mit mir geweint und mich getröstet. Darum bitte ich Sie, daß Sie in der ersten Queerallee des Gartens hinter dem Krankenhause, unter dem dritten Birkenbaume von der Mauer an, da wo ein Herz in die Rinde eingeschnitten ist, zwischen den Wurzeln ungefähr eine Spanne tief in der Erde einen kleinen blechernen Napf herausnehmen, in welchem eine kleine Rolle enthalten ist, welche Alles aufrichtig und getreu anzeigt, wie es sich verhalten hat. Der Capitain ruft, es kommt ein Kohlenschiff nahe heran. Leben Sie wohl, vergelt es Ihnen Gott.“

Noch am nämlichen Abend begab ich mich gemeinschaftlich mit dem Staatsanwalt an den bezeichneten Ort, und fand an der angegebenen Stelle einen alten schadhaften Blechnapf, der eine ganz kleine Rolle von grauem Cattun, in der Stärke eines Daumens enthielt. Nachdem wir die mit einem Zwirnsfaden umwundene Rolle geöffnet hatten, gewahrten wir, daß dieselbe in der Ausdehnung von etlichen Spannen Breite und einem Finger Höhe mit einzelnen gedruckten Buchstaben und Sylben zu zusammenhängenden Worten beklebt war, deren Inhalt also lautete:

„Endlich ist es mir gelungen, auch eine Beschäftigung zu erhalten, und ich darf helfen, für die Knopffabrik mit Zeitungspapier Knöpfe blank zu putzen, wie die übrigen Kranken, die in der Besserung [354] sind. Ein Stückchen Futtercattun habe ich aus meiner alten Arbeitsjacke ausgeschnitten und klebe die einzelnen Worte und Buchstaben mit Brodpappe darauf. So wird es mir endlich möglich, meinem Gewissen Ruhe zu schaffen und die ganze Sache aufzusetzen, damit, wenn es mir gelingt, was ich im Sinne habe, die Wahrheit an den Tag kommt. Ich bin unschuldig an dem Tode des Kriegsrathes, so wahr mir Gott helfe. Ich habe ihn nur zwei Mal in meinem Leben gesehen; als ich ihn das dritte Mal sah, lebte er nicht mehr, wie ich nicht anders weiß. Als ich ihn das erste Mal sah, hat er mich aus einer großen Gefahr gerettet, in die ich durch meinen Leichtsinn gekommen war. Ich war mit noch zwei Cameraden im Rausch über den Zaun eines Gartens gestiegen und dort hatten wir verschiedenes Obst von den Bäumen geschüttelt und abgebrochen. Daß es ein königlicher Garten war, wußten wir nicht. Ein Wächter kam und wollte uns verhaften, wir ergriffen die Flucht, meine Cameraden entkamen, mich hielt er fest. Ich riß mich los, er war hinter mir her, da trat mir ein groß gewachsener Mann entgegen und sagte: steh’, Bursche! Ich sagte in meiner Angst: um Gotteswillen, lassen Sie mich los, ich habe nichts Schlechtes gethan, es war nur ein Uebermuth – machen Sie mich nicht unglücklich –! Wir sahen uns einen Augenblick an, und er ließ mich vorbei. Seitdem war mehr als ein halbes Jahr vergangen, da traf ich ihn in der Abenddämmerung vor dem Thore. Er erkannte mich gleich, ich ihn auch. Er blieb vor mir stehen und sagte: was treibst Du? Ich erzählte ihm, daß ich ohne Arbeit sei und am liebsten auswanderte, wenn ich die Mittel zur Ueberfahrt und zur Anschaffung guten Handwerkszeuges besäße. Er fragte, ob ich keine Eltern hätte; ich sagte nein, denn ich habe zu keinem Menschen von ihr gesprochen. Er ließ mich eine Weile neben sich hergehen. Dann sagte er: willst Du schwören, zu schweigen über das, was ich Dir sage, und zu thun, was ich Dich heiße, so will ich Dir helfen, soviel ich vermag. Ich gab ihm meine Hand darauf, Alles zu thun, wenn es nichts Schlechtes wäre. Er sagte, es sei nichts Schlechtes und ich könne es thun. Wer er war und wie er heiße, sagte er nicht. Er gab mir einen Schlüssel und sagte mir, mit dem sollte ich zwanzig Minuten nach drei Uhr Nachts das Haus in der B… Straße Nr. … aufschließen, leise zwei Treppen hoch hinaufsteigen, die unverschlossene Thür öffnen und in die rechte Vorderstube eintreten. Hier sollte ich augenblicklich das Fenster öffnen, eben so die Ofenklappe; sodann sollte ich behutsam ein Kohlenbecken, welches vor seinem Bette stehen würde, fortnehmen, ohne Asche zu verstreuen und mich mit diesem Becken eben so geräuschlos entfernen, wie ich gekommen wäre. Ich sollte ihn nicht anreden, noch weniger ihn oder irgend etwas von den Gegenständen in der Wohnung berühren. Das Kohlenbecken sollte ich sofort in das Wasser werfen und niemals wieder in das Haus zurückkehren. Eben so sollte ich auch den Schlüssel, aber an einer anderen Stelle, in’s Wasser werfen. Wenn ich dies Alles gethan haben würde, so sollte ich nach S. gehen, zu einer Person, deren Namen er mir auf einen Zettel aufschrieb, aber versiegelte, weil ich ihn erst am Orte selbst lesen sollte, und dort würde ich das Reisegeld zur Ueberfahrt bekommen.“

„Ich versprach Alles zu thun, denn ich hatte keinen Gedanken, daß es etwas Schlechtes sein könne, und er sprach so, als mußte man Alles thun, wie er sagte. Vielleicht hätte ich es aber doch nicht gethan, wenn ich nicht an sie gedacht hätte. Denn als mir mein verstorbener erster Lehrmeister sagte, daß, wenn ich mich jemals in großer Noth befinden sollte und keinen Menschen hätte, der mir mit Rath und That beistände, so sollte ich nach B. gehen, eine Frau von P. aufsuchen und ihr meinen Taufschein zeigen, da ahnte ich nichts. Als ich aber zu ihr kam und ihr meinen Taufschein gab und sie in Ohnmacht fiel, daß ich gleich glaubte, sie wäre todt, da war mir es, als wäre ich der unglücklichste Mensch unter der Sonne und ich wäre am liebsten gestorben. Denn ich merkte es wohl, aber ich sah, daß sie sich vor mir entsetzte und doch nichts dafür konnte. Als sie wieder zu sich kam, wollte ich gehen, aber sie hieß mich bleiben und sprach: „Du bist in Deinem Recht“. Ich sagte, sie möchte mir verzeihen, ich wollte ihr niemals wieder lästig fallen. Aber sie winkte mir blos mit der Hand und ich mußte gehorchen. Ich sollte ihr von meinem Leben erzählen, aber ich konnte nicht viel reden, es schnürte mir die Kehle zu. Als ich ging, befahl sie mir, nach einiger Zeit wieder zu kommen, und reichte mir zum Abschied die Hand: ich wollte ihre Hand küssen, da fiel sie vor mir nieder auf die Kniee, und legte ihre Stirn auf die Erde, und schluchzte, daß es einen Stein in der Erde erbarmen mußte. Und ich kniete auch nieder und bat sie, was ich konnte, nicht böse auf mich zu sein, und ich weinte mit ihr, und immer, wenn ich sie vom Boden aufheben wollte, wehrte sie mit der Hand und ich wagte nicht, sie zu berühren. Und zuletzt stieß es mir fast das Herz ab, ihren Jammer zu sehen und nicht zu wissen, was ich thun sollte, und ich küßte den Zipfel von ihrem Kleide und ging still davon. Ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder zu kommen, aber es zog mich immer wieder hin, und wenn ich vor das Haus kam, so griff es mir doch wieder wie mit Krallen ins Herz, daß ich nicht den Muth hatte, hinauf zu gehen. Aber ich hatte Tag und Nacht keine Ruhe und ging wieder zu ihr, und es war immer wieder schrecklich für mich, zu sehen, wie unglücklich sie war, und wie sie sich zwang, gut gegen mich zu sein. Ich hätte mit Freuden mein Leben für sie hingegeben, aber ich sagte nichts, und sie ahnte nicht, wie mir zu Muthe war. Manchmal sah ich, wie sie ansetzte, mit mir über etwas zu reden, aber da ich merkte, daß es Sachen waren, die ihr Schmerz machten, so bat ich sie immer, mir nichts zu sagen, ich wollte weiter nichts, als daß sie nicht traurig sein sollte. Und wie ich mir Alles so überlegte, so dachte ich, es wäre das Beste, ich ginge weit fort in die Fremde und versuchte mein Glück zu machen. Denn sie lebte sehr kümmerlich und gab fast Alles an die Armen, ich hätte nichts von ihr angenommen, aber sie wollte es, und ich wußte, daß es sie kränken würde, wenn ich es ausschlüge. Wie ich nun an dem Abend den unbekannten Mann getroffen hatte, und Aussicht hatte, auswandern zu können, da trieb es mich, spät Abends noch zu ihr hinzugehen und ihr zu sagen, daß ich Aussicht hätte auszuwandern und mein Glück zu versuchen. Sie war wieder sehr traurig und verlangte zu wissen, woher ich die Mittel zur Reise nehmen wolle: ich sagte, ich wüßte es noch nicht, ich hätte Hoffnung, mit einem wohlhabenden Cameraden die Reise zusammen zu machen. Sie verlangte, daß ich noch nichts beschließen, sondern noch warten sollte. Ich hatte mir aber vorgenommen, nicht länger zu warten, weil ich hoffte, es würde so besser für sie sein. Und so ging ich nach Hause und stand nach zwei Uhr auf, um in die Wohnung des fremden Mannes zu gehen. Mein Wirth schlief so fest, daß er mich nicht weggehen und nicht wieder kommen hörte, so daß er wirklich geglaubt hat, ich wäre die ganze Nacht über zu Hause geblieben. Ich that Alles so, wie es mir der Unbekannte gesagt hatte. Als ich in die kleine Vorderstube eintrat, war ein schwerer Dunst darin, als wenn stark geheizt und die Ofenklappe zu früh zugemacht worden wäre. Mir wurde beinahe schwindlig, und ich machte schnell das Fenster und die Ofenklappe auf. Der Mann lag ruhig in seinem Bett und schlief, wenigstens rührte er sich nicht. Da kam die Versuchung über mich, ich dachte, wer weiß ob ich die Person finde, die mir das Reisegeld geben soll – und ich griff nach der Börse, die auf dem Tischchen lag, und nahm in der Hast, ohne zu zählen, eine Anzahl Geldstücke heraus. Ein silbernes Schachspiel habe ich nicht gesehen und außer dem Gelde nichts genommen, das schwöre ich vor Gott. Ich ging, wie ich gekommen war, vergaß aber das Haus wieder zuzuschließen, denn es war mir unheimlich zu Muthe. Schlüssel und Kohlenbecken warf ich an verschiedenen Stellen in’s Wasser und ging nach Hause, ohne daß mich Jemand gewahr wurde. Wie ich am andern Morgen nachsah, hatte ich den versiegelten Zettel, den mir der Fremde gegeben, verloren, und er war nicht wieder zu finden. Das wenige Geld reichte nicht einmal zur Reise nach Hamburg; einen durchlöcherten fremden Thaler habe ich gehabt, aber ich habe ihn in’s Wasser geworfen, weil ich fürchtete, daß er Verdacht auf mich lenken würde. Ich war so erschrocken, als der Name des Fremden genannt wurde, weil ich keine Ahnung davon hatte, daß es ihr Mann sein könne und ich überhaupt gar nicht wußte, daß ihr Mann lebe. Dieses ist die reine Wahrheit, mögen es alle guten und gerechten Menschen glauben. So wahr mir Gott helfe.“

So war denn endlich der Schlüssel zu diesem verworrenen Räthsel gefunden. War hiermit aber auch das Interesse des Criminalrichters an der Sache erschöpft, so blieb doch für den Psychologen Vieles unerklärt, und insbesondere war damit die geschäftliche Seite der Angelegenheit nicht erledigt. Es fragte sich noch immer: zu wessen Gunsten war die Lebensversicherung genommen? Was hatte den Kriegsrath bewogen, seinem Leben freiwillig ein Ende zu machen?

[355] Inzwischen war die Frist beinahe abgelaufen, innerhalb deren bei Vermeidung der Präclusion der Anspruch auf die Versicherungssumme erhoben werden mußte; es fehlten noch fünf Tage, und der Agent, welcher eben bei mir war, erwog, welche Chancen dafür sprächen, daß die Voraussagung Mr. Pirrie’s sich nicht erfüllen möchte. Da trat unerwartet und unangemeldet der Major ein.

„Haben die Herren von der Justiz gedacht,“ sagte er in halb mürrischem, halb spöttischem Tone, „daß ich alter Haudegen vor Ihrem grünen Tisch retirirt sei? Ich hatte Besseres zu thun, als dort Rede und Antwort zu stehen; – es galt, die Ehre meines verstorbenen Freundes zu retten. Gottlob, ich kann es vor aller Welt beweisen, daß er sie unbefleckt erhalten hat bis zum letzten Athemzuge.“

Der Agent wußte nicht, was er sagen sollte. Ich fragte den Major, ob er von den bisherigen Ermittelungen unterrichtet sei? Er wußte Alles.

„Und nun haben die klugen Herren Geldmänner geglaubt,“ fuhr er zum Agenten gewendet fort, „daß der arme, unglückliche Bursche, der sein ganzes Leben lang treu und lauter war wie Gold, daß er zu guter Letzt eine Komödie mit seinem Tode aufführen würde, um die Herren von der Gesellschaft um ihr Geld zu betrügen? daß auch Dieser und Jener –! doch nein – ich will mich nicht ärgern! Wissen Sie,“ sagte er, seinen Stuhl dicht an den des Agenten heranrückend, „wer der Eigenthümer der Versicherungssumme ist, wenn Ihr feiner Calcul stimmte? – Hier! Sehen Sie her! Ich, der Major von Sebald!“ Damit langte er in seine Tasche und präsentirte dem Agenten mit der einen Hand eine Testamentsausfertigung, mit der andern die Police. Inhalts des Testaments war die Versicherungssumme an den Major zahlbar. „Und hier,“ fuhr der immer eifriger werdende alte Soldat fort, „mache ich meinen Anspruch geltend passen Sie wohl auf: so! – und so! – und so!“ Und bei jedem „so!“ riß er die Police und deren Bruchstücke mitten durch und warf sie dem verblüfften Geschäftsmanne vor die Füße.

Endlich wurde er ruhiger und begann im Zusammenhange zu erzählen, das heißt, so weit er bei seiner noch immer erregten Gemüthsstimmung im Stande war, den Sachverhalt zusammenhängend vorzutragen. Folgendes war die schließliche Lösung des ganzen Geheimnisses, wie es sich aus dem umständlichen Bericht des Majors ergab.

Der Fremde, welcher dem Kriegsrath das Packet Briefe ausgehändigt hatte, war Niemand anders, als der Verführer Louisens, der ehemalige Schauspieler und Rhetor M…, gewesen. Er war im Laufe der Zeit auf der untersten Stufe der Verkommenheit angelangt und beutete seine letzten Hülfsquellen gewerbsmäßig aus: er brandschatzte alle diejenigen, von deren Hand er aus früherer Zeit Briefe discreten Inhalts besaß. Der Kriegsrath hatte ihm die Briefe Louisens für eine ansehnliche Summe abgekauft und der Elende hatte gelobt, niemals mehr lästig zu fallen. Es war voraus zu sehen, wie wenig er dies Versprechen halten würde, und er sah seinen Vortheil nur zu gut, da er sofort erkannt hatte, wie überaus peinlich der Kriegsrath in Allem war, was die Ehre seines Namens betraf. Immer von Neuem kam der wüste Mensch mit Forderungen aller Art, er drohte zuletzt mit scandalösen Enthüllungen und der Veröffentlichung seiner früheren Beziehung zur Gattin des Kriegsraths. Dieser war einem solchen Subject gegenüber wehrlos, die Hülfe der Justiz oder der Polizei mochte er nicht anrufen, denn damit hätte er zugleich seine Familienschande Preis gegeben. Die immer dringender werdende Rücksicht, für den Fall seines unerwarteten Todes die Existenz seiner Gattin sicher zu stellen und das Versprechen zu halten, das er der blonden Marie gegeben, bestimmte den Kriegsrath, sein Leben mit dem Rest seines vorhandenen Baarvermögens zu einem hohen Betrage zu versichern. Die laufenden Policenbeträge hoffte er von seiner Pension entrichten zu können, da er Willens war, sich nach einem kleinen Orte zurückzuziehen und seinen Lebensunterhalt mit der Feder zu erwerben. M… war eine Zeit lang verschwunden und der Kriegsrath hoffte für immer von ihm erlöst zu sein, – aber der Nichtswürdige hatte sich an ihm festgesogen und beschloß, ihn nicht mehr los zu lassen. Es war ihm gelungen, auszuforschen, daß die Frucht seines Umganges mit Louisen noch lebte, daß der Knabe in eine fremde Familie eingeschmuggelt worden war und sich hier am Orte aufhielt, ja, daß er eine der Polizei anrüchige Person sei und im Verdacht stehe, an einem jüngst entdeckten Verbrechen Theil genommen zu haben. Mit diesen Entdeckungen trat er aufs Neuee vor den Kriegsrath und stellte Forderungen, welche jener zu gewähren gänzlich außer Stande war. Der Gauner drohte mit dem Schlimmsten: er drohte Frau von P. in eine Criminaluntersuchung wegen Unterschiebung eines Kindes zu verwickeln, wenn man ihn nicht mit einer bedeutenden Summe abfände. Und hätte man sie ihm gegeben, er würde immer von Neuem gefordert haben, denn mit einer Art wahnsinniger Hast vergeudete er Alles in Gesellschaft gefährlicher Subjecte in wüsten Orgien. Die Kraft des Kriegsraths war gebrochen: er sah seinen mit Ehren getragenen Namen beschmutzt, in den Staub gezogen, er sah mit Fingern auf sich gewiesen, und fand keinen Ausweg als den Tod. Denn er wußte, daß der böse Feind nur durch die Aussicht auf Gewinn zur Fortsetzung seiner Schändlichkeiten bewogen wurde, die, einmal ruchbar geworden, ihm selbst verderblich werden mußten. Hatte er vom Kriegsrath nichts mehr zu hoffen, so konnte man sicher sein, daß er alle weiteren Behelligungen aufgeben würde. Daß er sich niemals an Frau von P. selbst gewendet hatte, ließ schließen, daß er diesen Weg überhaupt nicht einzuschlagen gedenke. Denn er verhandelte in allen diesen Angelegenheiten regelmäßig nicht mit den Frauen, sondern mit deren Männern oder sonstigen männlichen Angehörigen. So reifte der Entschluß in dem Kriegsrath, sein Leben freiwillig zu enden.

Seit Marie das Haus seiner Gattin auf deren Wunsch verlassen hatte, war sie nach Westphalen gezogen und hatte sich dort verheirathet. Sie, ihr Mann (ein Forstmann) und ihre Kinder hingen an dem Kriegsrath mit unbegrenzter Liebe und Verehrung; er pflegte sie in jedem Jahre zu besuchen und einige Tage in dem einsamen Försterhause, unter den blühenden Kindern zu verleben, die dem ernsthaften Herrn Vetter nicht von der Seite gingen. Hier pflegte er Kraft und Trost zu sammeln, sein vereinsamtes Leben mit Geduld zu ertragen. Der Mann Marien’s, diese selbst hatten ihn mit Thränen gebeten, nach Westphalen, in ihre Nähe oder gar zu ihnen selbst zu ziehen, sie wollten ihn auf den Händen tragen, ihm jeden Wunsch an den Augen absehen – er hatte nur traurig mit dem Kopfe geschüttelt und sie hatten ihn verstanden.

Marie kannte die ganze Geschichte seines Familienunglücks, sie hatte sie mehr mit dem Instinct eines treuen weiblichen Herzens, als durch Fragen und Antworten errathen. Als das Unerwartete geschehen war, trieb es den Major zunächst bei ihr Aufschluß zu suchen, denn er sagte sich, daß der Kriegsrath nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein würde, ohne ein Wort des Abschiedes an sie zu richten. Und so war es in der That. Als Marie den Major eintreten sah, wußte sie bereits, aus welchem Anlaß er kam; es war ein Jammer, bei dessen Erzählung der alte Soldat Thränen vergießen mußte, und der den Agenten und mich nicht weniger rührte. Der Kriegsrath hatte ihr geschrieben, daß sie einander nicht mehr sehen würden, er scheide, ohne das Versprechen erfüllen zu können, das er ihr gegeben. Für seine Frau sei zur Noth gesorgt; aber Marie möge sie nicht verlassen, wenn sie ihrer bedürfe; das solle sein Vermächtniß sein. Dem Major solle sie nach drei Monaten das beigefügte Kästchen übersenden und ihm, wenn er es verlange, das Nähere mittheilen. Das Kästchen enthielt das verhängnißvolle Schachspiel. Außerdem übergab sie ihm zwei Papiere: einen Recognitionsschein über ein bei der Gerichtsbehörde zu S. niedergelegtes Testament, und die Lebensversicherungspolice. Ein Schreiben des Verstorbenen, augenscheinlich am Todestage geschrieben, lautete:

„Ich scheide ohne Abschied, alter Camerad, ich weiß, Du vergibst mir und gedenkest meiner in Treuen. In meinem Testament hatte ich Dich zu meinem Erben eingesetzt, damit Du die Summe, zu welcher ich mein Leben versichert hatte, empfangest und zwischen meine unglückliche Frau und Mariens Familie vertheilest. Das ist nun eine vergebene Mühe gewesen – ich habe keinen Anspruch auf diese Summe, und Deine Mühe wird gering sein. Suche alle Nachforschungen über die Art meines Todes zu vermeiden – ich wollte ohne Lärm und Aufsehen aus dem Leben scheiden. Mein Tod kränkt Niemanden, als die in Treuen zu mir standen, und diese werden mir verzeihen.“




Ich habe zum Schlusse nur noch wenig hinzuzufügen. Der Major hatte es sich angelegen sein lassen, den Aufenthaltsort des ehemaligen Komödianten zu ermitteln. Er war zu ihm gegangen und hatte ihm zwei blank geputzte kleine Terzerole gezeigt und in [356] seiner bündigen Weise zu ihm gesprochen: „Seh’ Er sich diese kleinen Dinger an, Herr Erzhallunke, und merke Er sich, was ich Ihm auf das Ehrenwort eines alten Soldaten sage: Wagt Er es, den Namen des Kriegsraths von P., oder sonst Jemandes, der diesen Namen trägt, nur noch einmal auszusprechen, so jage ich Ihm diese beiden Kugeln so gewiß durch Seinen schurkischen Schädel, als ich noch niemals mein Wort gebrochen habe.“

Es bedurfte dieser Drohung kaum, denn die Polizei war auf den Gauner bereits aufmerksam gemacht worden, und er wurde unmittelbar darauf in ein Arbeitshaus gesteckt, in welchem er bald darauf an den Folgen der Trunksucht im besinnungslosen Zustande gestorben ist.

Die englische Lebensversicherungsgesellschaft sandte, als sie von dem wahren Sachverhalt unterrichtet war, dem Major den Betrag des von dem Kriegsrath eingezahlten Policenbetrages zurück und erbot sich zur Zahlung einer jährlichen Rente an die Wittwe. Der Major nahm das Geld zur Verwendung für die Bedürfnisse der Wittwe an, lehnte jedoch die Rente ab.

Von den Schicksalen Ludwig’s werde ich meinen Lesern noch an einem andern Orte zu berichten haben.



  1. Wir erinnern an die treffliche Schilderung, welche Boz in seinem „Bleakhouse“ von dem englischen Proceßwesen und Unwesen entworfen hat.
  2. Das Haus existirt nicht mehr, eben so wenig die Nachbargrundstücke. Ein elegantes Hôtel und ein Modemagazin nehmen jetzt diesen Platz ein.