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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[739]

No. 47.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Gasselbuben.

Geschichte aus den bairischen Vorbergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


„Nein, meine Tochter ist noch nicht in der Kirche,“ erwiderte der Feichtenbauer, „sie soll erst nachkommen; sie hat sich’s nit nehmen lassen, und will durchaus mit den Wallfahrern in der Procession gehn ... Ihr wißt ja, wie die Weiberleut’ sind!“

„Ja wohl, ja wohl,“ rief Domini mit spöttischem Lachen, „denen ist nicht gut, wenn sie nicht ein paar Stunden laufen können und Amt und Predigt im Leib haben ... aber jetzt ist es kaum acht Uhr und bis die ganze Geschichte aus ist, kann’s zehn Uhr werden – so lang’ werdet Ihr doch nicht da herstehn und warten wollen? Kommt mit hinüber – der Bergwirth hat noch rothen Tyroler, das ist ein Capital-Wein, bis dahin können wir ein Paar Flaschen auspemseln (pinseln) und sind lang wieder zurück ...“

Der Bauer konnte sich nicht entschließen. „Ich weiß doch nit,“ sagte er, „die Christel wird nit wissen, wie sie dran ist – ich hab’ ihr gesagt, daß ich auf sie warten will ...“

„Was schadet das?“ lachte Domini. „Ihr seid der Herr vom Haus, Ihr habt Euch halt anders besonnen und laßt sie auf Euch warten – kommt nur mit und thut mir den Gefallen ... ich hätt’ nit geglaubt, daß Ihr Euch so lang’ besinnen thätet, mir auch etwas zu lieb zu thun!“

„O nein,“ rief der Feichtenbauer, „ich besinne mich keinen Augenblick – Ihr sollt sehn, was ich auf Euch halte – ich gehe mit Euch in’s Bergwirthshaus hinüber! Ich weiß jetzt schon, wie ich die Geschichte einrichten kann! Ich bin der Herr vom Haus und lass’ meiner Tochter sagen, daß ich mich anders besonnen hab’, sie soll nach dem Gottesdienst auch hinüberkommen in’s Bergwirthshaus und mich abholen ...“

„So ist’s recht!“ rief Domini, während sie miteinander an der Kirche hinschritten und bei den Linden ankamen. Wendel fuhr eben aus dem Seitensträßchen heran, als habe er im Augenblick die aufgetragene Fahrt beendigt. „Aber wer soll denn Eurer Tochter ’was ausrichten? Ich sehe ja weit und breit keinen Menschen!“

„O dafür weiß ich Rath,“ entgegnete der Bauer und wendete sich dem Knechte zu. „Steig’ ab, Wendel,“ sagte er, „und Ihr, Domini, nehmt die Zügel, weil meine Hände zu so etwas doch noch immer ein böses Gesicht machen ... Na, wie lang’ besinnst Du Dich wieder?“ fuhr er auf, als Wendel dem Befehle nicht sofort nachkam. „Hast vermuthlich wieder ’was einzuwenden dagegen? Absteigen sollst Du, hab’ ich gesagt – wir fahren hinüber zum Bergwirth, Du bleibst da und wartest auf meine Tochter und sagst ihr, sie soll nachkommen, wenn der Gottesdienst aus ist, und begleitest sie hinüber ...“

„Der Wendel soll das thun?“ raunte Domini dem Alten in’s Ohr, indem er den hübschen Burschen genauer ansah und ihm aus den Augen ablas, daß ihm der Auftrag keineswegs unwillkommen und der Unmuth, der sich zuerst in seinen Mienen ausgesprochen, durch das Nachfolgende völlig verscheucht war. „Ein Knecht und Eure Tochter ... ist das ein Zusammenstand?“

Er hatte während dessen den Wagen bestiegen und Wendel die Zügel abgenommen, ohne auch nur durch einen Augenwink zu verrathen, daß sie sich kannten oder sich begegnet waren.

„Warum etwa nicht?“ entgegnete der Feichtenbauer, wohl auch etwas gedämpft, aber immerhin laut genug, daß Wendel jedes Wort verstehen konnte. „Eben weil er der Knecht ist, muß er thun, was ich ihm anschaff’, und muß ihr den Bündel nachtragen, wenn ich’s haben will! Ihr werdet doch an nichts Anderes denken,“ setzte er auflachend hinzu, „für die Feichtenbauern-Christel ist ein solcher Bergler-Rothnickel gerade so, als wenn er gar nicht auf der Welt wär’ …“

Im Geräusch des hinwegrollenden Wagens verloren sich die letzten Worte, dennoch hatte das Gehörte genügt, dem zurückbleibenden Wendel das Blut in’s Gesicht zu jagen, und wäre der Bauer nicht schon weit aus dem Bereiche seiner Stimme gewesen, diesmal hätte der Unmuth in Wendel die Oberhand behalten und er hätte die treffende Antwort auf die wiederholte Beschimpfung kaum zum dritten Male niedergeschluckt; er biß die Zähne aufeinander und ging, da er die Antwort doch auf ein ander Mal verschieben mußte, der Kirche zu, die Mirakelbilder in den Gängen zu besehn und die frommen Sprüche darunter zu lesen. Dabei wurde es ruhiger in seinem Gemüth, und gelassen setzte er sich dann unter den Linden in’s Gras, an ein angenehmes Plätzchen, wo er den Blick frei hatte in das offene steinerne Gotteshaus, und über sich in das unermeßliche Haus Gottes, das rings auf den Hügelreihen und Bergen wie auf Wänden und Säulen ruhte und dessen Gewölbe hoch über den wandelnden Wolken empor stieg, ewig fest und unwandelbar. Es war still geworden ringsum; auch die Vögel waren mit der steigenden Sonne verstummt, welche für einen Frühlingstag ungewöhnlich heiß und gewitterkündend herniederstrahlte; [740] strahlte; wie zur Abkühlung und Erquickung hatte sich dafür ein Lüftchen aufgemacht, das rauschend durch die Wipfel ging und manchmal ferne halbverwehte Glockentöne heran trug, mit welchen in den benachbarten Dörfern die durchziehenden Wallfahrer begrüßt wurden. Manchmal mischten sich auch die Töne fernen Gesangs und laut betender Stimmen darein und verkündigten, daß der Feichtenbauer keinen großen Aufwand von Geduld nöthig gehabt hätte, das Eintreffen des Wallfahrtszuges abzuwarten.

Wendel saß und horchte und sah schweigend um sich.

Die erregten Wellen seines Gemüths hatten sich wieder gelegt; sie strömten ruhig dahin, friedliche Gedanken schwammen darauf wie lustig gleitende Schifflein und trugen ihn mit sich, hinweg in ferne andere Orte, zurück in langvergangene Tage. Das Rauschen der Linden gemahnte ihn an die Stimmen des Tannenbühels, der weit drüben jenseits der Berge lag, zur Seite einer kleinen hölzernen Hütte, in der einst seine Eltern gehaust; aus den Tönen klang es ihm zu wie die Stimme der Mutter, die ihm noch unvergessen in der Seele lebte. Die Jahre der Kindheit zogen an ihm vorüber und das Klingen kam ihm vor wie das Geläute seiner heimathlichen Dorfkirche, so feierlich wie damals, als er zum ersten Male an der Hand der Mutter zur Sonntagsandacht ging – so ernst, wie an jenem Tage, wo er mit ihr an dem offenen Grabe des Vaters stand, der ein Holzarbeiter gewesen und beim Fällen eines Baumes, von den stürzenden Aesten erfaßt, ein schnelles und frühes Ende gefunden. Er sah dann die Zeit kommen, wo auch die Mutter nebenan in eine Grube gelegt worden war und wo er verwaist unter fremden Menschen aufgewachsen und das harte Brod früher Dienstbarkeit gegessen – er sah die Orte wieder, in denen er eine kurze Unterkunft gefunden, bis zu dem Tage, wo er sich aus den Bergen heraus in’s Vorland verdungen hatte und auf den Feichtenhof gekommen war; er empfand es wieder, wie es ihn dort zuerst angeheimelt, wie noch nirgends, denn das stattliche Gehöft lag gerade so auf der Anhöhe in einem Hain von Obstbäumen, wie die Hütte der Eltern gelegen hatte, und wie dort lehnte es sich seitwärts an einen Bühel voll dunkelgrüner Fichten und Tannen, daß er beim ersten Anblick zweifelnd stehen blieb, als ob er irre gegangen und statt in den fremden Ort in die Heimath zurückgewandert wäre. Er sah das Jahr, das er dort zugebracht, wie einen einzigen schönen Tag an sich vorüberziehen, denn noch nirgends war ihm so wohl und heiter gewesen um Herz und Sinn, an keinem Orte war ihm die schwerste Arbeit so kinderleicht aus der Hand geflogen – dazwischen hinein schwebte ihm ein liebes, zwar ernsthaftes, aber doch freundliches Angesicht vorüber und sah ihn mit den blauen Augen so wunderbar an, als wollten sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen, und eine Stimme klang ihm im Ohr nach, aus der es ihn so eigen ansprach, wie einst aus der Stimme der Mutter, und deren Laut ihm so unvergeßlich geblieben, wie dieser. ...

Er war so tief in’s Träumen versunken, daß er wie erschrocken auffuhr, als mit einem Mal hoch über ihm die Glocken der Kirche zu läuten begannen, um die Wallfahrer zu begrüßen, deren Zug bereits nahe heran schritt – ein lieblicher Anblick, denn zwischen den grünen Baumwipfeln wehten die rothen Fahnen mit den goldblitzenden Knäufen und Kreuzen gar schön hervor und der unabsehbare Zug geschmückter Menschen schritt feierlich heran, jetzt durch eine Reihe nickender Gebüsche versteckt, jetzt sich hindurch schlängelnd zwischen den grünen Saaten, die sich beugten und weithin wallten wie grünes Gewässer. Auch in der Kirche hatte es begonnen sich zu regen; der Meßner war geschäftig daran, die Kerzen auf dem Hochaltare zu entzünden, und ein leise gehauchter schwebender Ton zitterte durch die heilige Halle und verkündete, daß auch der Lehrer bereits auf dem Chore seinen Platz eingenommen hatte, um die Ankommenden mit den Feierklängen der Orgel zu empfangen.

Es währte nicht lange, so schritt der Zug an Wendel vorüber, der seinen Platz hart am Eingange der Kirche gewählt hatte, zuerst die Musiker und Fahnenträger, die ihre rothen Standarten den Linden in die grünen gastlichen Arme legten, der Pfarrer im weißen Chorrock, die Ministranten mit den rothen Kutten darunter, emsig die Klingeln handhabend oder das Weihrauchfaß schwingend, daß der Duft in ringelnden Wölkchen emporstieg zu denen des Himmels, die oben lustig vorüber zogen. Mächtig und voll erklangen die Glocken in das laute vielstimmige Gebet, von drinnen aber brauste majestätisch die Orgel heraus und auch ein minder fromm geartetes Gemüth hätte sich erhoben gefühlt und mit eingestimmt, wenn es in feierlichen Absätzen erscholl: „Heilig – heilig – heilig ist der Herr Gott Zebaoth; Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll!“

Der Wallfahrer waren viele und vielerlei Männer und Fraien, Kinder und Greise – vornehm und niedrig, arm und reich, manch’ ein Angesicht durchleuchtet von andächtiger Erhebung, manches gleichgültig, ohne Ausdruck und Gedanken den gewohnten Brauch übend und die lange gelernten Worte wiederholend. Zu den Ersteren gehörte ein Mädchen, das unter mehreren Altersgenossinnen einherschritt, durch nichts vor ihnen ausgezeichnet und doch die Bedeutsamste von Allen. Sie hatte die schönen blauen Augen nicht kopfhängerisch zu Boden gesenkt, sie hielt nicht die gefalteten Hände nonnenhaft empor, und doch stand es in jedem Zug ihres Angesichts zu lesen, daß sie vollkommen ergriffen war von der Feier des Augenblicks, daß ihre ganze Seele die Worte mitbetete, die sie sprach. Ihr Mieder war nicht anders, das Silbergeschnür daran nicht reicher als das der Uebrigen; sie trug denselben niedrigen und breitrandigen Hut, der damals noch in der ganzen Umgegend üblich war, seitdem aber von dem häßlichen Kopftuch verdrängt wurde, dennoch fiel sie unter Allen auf wegen der eigenthümlich ernsten Anmuth ihrer Züge, wegen ihres freudig entschiedenen Wesens, das sich an ihr kund gab und das ahnen ließ, es müsse auch in ihrem Innern Alles hell und klar sein wie ein Bergwasser, dem man sicher trauen darf, weil man ihm bis auf den Grund sehen kann.

Wendel, der sie schon von ferne gewahr geworden, erging es nicht anders; er fühlte, wie ihm das Blut mächtig zum Herzen und glühend zur Stirn drängte, und hätte er jetzt gleich vor sie treten müssen – der sonst so gewandte Bursche wäre ihr wohl ohne Rath und Wort gegenüber gestanden; es war recht gut, daß das Gedränge am Eingange den Zug etwas stocken machte, er gewann dadurch Zeit, die Sprache und sich selbst wiederzufinden.

„Grüß Gott!“ flüsterte er halblaut der Vorüberschreitenden zu. „Der Bauer schickt mich, daß ich Euch sagen soll, er sei voraus in’s Bergwirthshaus. Ihr sollt ...“

Er wollte noch mehr hinzufügen, aber das Mädchen ließ ihn nicht zu Ende kommen; so ruhig und freundlich ihre Augen eben geblickt hatten wie ein wolkenlos blauer Himmel, so gewitterhaft verfinsterten sie sich plötzlich und was ihm aus denselben entgegen kam, hatte vollständig die Wirkung des Blitzes. „Das hat wohl Zeit!“ rief sie in strengem Tone. „Ihr solltet Euch schämen, eine Störung zu machen in einem solchen Augenblick.“ ...

Wendel hatte vor Ueberraschung noch kaum recht verstanden, was er gehört, als die Zürnende schon innerhalb der Kirchthür verschwunden war – halb betäubt starrte er ihr nach; er sah die nach ihr Kommenden nicht mehr, er stand unbeweglich, bis drinnen vom Chore herab Trompetenruf und Paukenwirbel erscholl; der Priester war zum Beginn der Feier an den Altar getreten. Das schmetterte auch ihn aus seiner Betäubung auf und jagte ihn von der Kirche weg, in heftigem Kampfe mit sich selbst, was er beginnen solle. Er fühlte die Kränkung um so bitterer, als sie ihm offen vor der ganzen Menschenmenge angethan worden, als er, seines guten Willens bewußt, wie Alle, die ihren Weg durch sich selbst gemacht haben, einen erhöhten Grad von Selbstgefühl in sich trug, der jedes erfahrene Unrecht doppelt schmerzlich machte. Aber hatte Christel denn nicht das volle Recht, so zu handeln, wie sie gethan? War sie doch die Tochter, die einzige Tochter und darum bald selbst die Herrin des Hauses – was war es also, weshalb das schroffe Benehmen des Mädchens ihn so besonders empfindlich berührte?

Zum ersten Male hatte Wendel Anlaß, sich eine solche Frage zu stellen, und je schärfer und schärfer er zu ihrer Beantwortung in die Tiefen seines Herzens blickte, desto heller leuchtete ihm ein verborgener Funke gleich einer glimmenden Kohle entgegen, desto weniger konnte er es vor sich selbst verbergen, daß das Mädchen für ihn nicht die Herrin und die Tochter des Hauses und seine Ergebenheit für sie eine ganz andere war, als die eines treuen Dienstboten. Er erschrak vor sich selbst bei der unerwarteten Entdeckung und war rasch entschlossen, einen andern Dienst zu suchen und ein Haus zu verlassen, wo ihn, den armen Dienstknecht, doch nichts erwartete als stete stumme und hoffnungslos Qual, oder wenn sein Geheimniß jemals entdeckt würde, zu allem Leid noch ein aufgehäuftes Maß von Schmach und übermüthigem Spott.

[741] In diesen Gedanken schritt er wieder der Kirche zu, wo er der Botschaft halber das Mädchen noch abwarten wollte, und es gelang ihm, durch eine der halboffenstehenden Seitenthüren noch hineinzuschlüpfen und ein Plätzchen zu finden, als eben der Geistliche in Mitte des Hochamts den Altar verlassen und die Kanzel bestiegen hatte, und nun in erhebender Rede den Segen und das Glück des Christen pries, der keine Ursache habe zu bangen vor irgend einem Leid oder Geschick der Erde, denn über ihm walte der dreieinige Gott, ein Gott unendlicher Macht, denn „Himmel und Erde seien seiner Herrlichkeit voll“!

Wendel war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, als daß die Worte des Predigers für den Augenblick tiefer zu dringen vermocht hätten, als in sein Ohr – seine Seele war bei anderen Dingen und saß ihm bald völlig in den Augen, denn an der Säule vorüber gegen die Kanzel blickend gewahrte er bald, daß er gerade so stand und des Gedränges wegen stehen bleiben mußte, daß er Derjenigen, die er fortan zu meiden entschlossen war, gerade in’s Angesicht sah. Sie hatte sich bei Beginn der Predigt in den Kirchstuhl gesetzt und saß nun, den Kopf nach der Kanzel gewendet, ernst aufmerkend mit unverwandtem Antlitz und voll aufgeschlagenen Augen vor ihm da. Und je mehr er das liebe, holde Antlitz betrachtete, desto unbegreiflicher dünkte ihm, was ihm kurz vorher begegnet war – dieselben Augen, die ihn so zürnend angeblitzt hatten; und die jetzt so ruhig nach oben gerichtet waren wie ein sanfter Stern der Sommernacht, hatten ihn schon manchmal mit Blicken gegrüßt, aus denen es ihn anschien wie ein freundliches Morgenroth, wie der erste lichtbringende Sonnenstrahl eines schönen Tages. Als er ihr unlängst die verlaufene schwarzscheckige Kalbin, die sie so gern hatte, wiederbrachte in der finstern Nacht, da Alle schon das Suchen und die Hoffnung des Findens aufgegeben, hatte sie ihm da nicht mit einem Blick gedankt, in dem mehr zu liegen schien als die Zufriedenheit der Herrin und der Dank der Hausgenossin? Und als er neulich vom Rosenheimer Markt ihr das Lied vom schönen Tegernsee, das sie so gerne hörte und sang, gedruckt mitbrachte, war es nicht gewesen, als ob sie es schon auf der Zunge gehabt, ihn „lieber Wendel“ zu nennen und ihm zum Danke gar die Hand zu reichen? So hoch und weit die Hallen der Kirche emporstiegen, sö erfrischend kühl die Mailuft durch die offene Pforte säuselte – es war ihm zu eng und zu heiß und trieb ihn wieder hinaus in’s Freie, wo er hochaufathmend zwischen den Saatfeldern dahinschritt und so tiefsinnig in die Halme des eben in Aehren schießenden Weizens und die rothen Kleeblumen hinein sah, als wolle er das geheime Gesetz ihres Werdens und Wachsens ergründen oder als suche er das vierfache Kleeblatt, welches der Sage nach an seinen Träger das Glück zu bannen vermag.

Der Wiederbeginn des Geläuts erinnerte ihn an das Ende des Gottesdienstes und daß es Zeit sei zur Kirche zurückzukehren; unfern des Hauptthors unter den Linden blieb er stehn, weil er von dort die Wege nach allen Richtungen überblicken konnte. Bei den letzten volltönenden Cadenzen der Orgel drängte bald das strömende Volk in’s Freie und so einmüthig wie vorher zu Gebet und geistiger Erhebung eilten jetzt die Schaaren der leiblichen Erquickung im nahen Wirthshause zu. Rasch hatte die Kirche sich entleert; bald kamen an dem Harrenden nur noch verspätete Einzelne vorüber, und nicht lange, so stand Wendel wieder ganz allein unter den Linden, ohne die Erwartete erblickt zu haben: sie mußte entweder noch allein in der Kirche geblieben sein, oder er hatte, trotz seiner Aufmerksamkeit, sie dennoch im Gedränge übersehen.

Eben wollte er zur Thür um hineinzublicken, als er leichte Schritte hinter sich vernahm und, rasch sich umwendend, der Gesuchten hart gegenüber stand.

Es war wirklich Christel – aber nicht mehr streng und herrisch wie vorher; sie war sichtbar befangen, fast wie bittend sah sie ihn mit den schönen blauen Augen an und streckte ihm zu Gruß und Versöhnung die Hand entgegen.

„Ich bin vorhin recht schiech (garstig) mit Euch gewesen, Wendelin,“ sagte sie mit sanfter, leicht bebender Stimme, und des Burschen ganze Seele zitterte nach, „ich hab’ gemeint, es wär’ nur so eine übermüthige Art, daß Ihr mich während des Umgangs angeredet habt … jetzt weiß ich es freilich besser! Ich weiß es von der alten Bäckni – die hat mir drinnen beim Herausgehn Alles erzählt – wie der Vater wieder so ungut gewesen ist mit Euch, und wie Ihr so geduldig gewesen seid mit dem kranken Mann, der oft selber nit weiß, was er will … Ihr habt ihm geholfen und seid sogar weg von ihm, bloß damit er’s nicht sehen sollt’ und Ihr ihm einen Verdruß erspart … Ihr seid ein guter Mensch, Wendelin … drum thut mir’s leid, daß ich so schlecht umgegangen bin mit Euch, und drum müßt Ihr mir nit bös sein und müßt mir verzeihn, wenn ich Euch sag’, daß es mich reut…“

Wendel wußte nicht, wie ihm geschah; es war ihm zu Muthe wie einem Halbschlafenden, der sich zu regen scheut, weil er mit dem Schlummer das Paradies zu verscheuchen fürchtet, das ihm ein holder Traum vor die Seele gezaubert. …

„Wollt Ihr mir nit verzeihn, Wendelin?“ fragte sie wieder, da er noch immer wortlos vor ihr stand. „Gebt mir die Hand darauf, daß Ihr mir’s nicht nachtragen wollt.“ …

„Ja, ist es denn wahr?“ rief Wendel, welchem das Entzücken endlich den Bann der Zunge löste. „Seid Ihr es denn wirklich, Christel? Ihr kommt zu mir und redet mit mir, so lieb und freundlich wie noch nie? Redet mir doch nit vom Verzeihn … ein einziges solches Wort thät ja Alles gut machen, und wenn Ihr mir das Aergste angethan hättet! Wie könnt’ ich Euch bös’ sein wegen einer einzigen Red’. … Ich wollt’ nur, Ihr verlangtet etwas von mir: etwas recht Hartes und Schweres, das ich für Euch thun könnte, blos damit ich Euch zeigen könnte …“

Er stockte mitten im Fluß seiner Rede über dem, was er auszusprechen im Begriffe war. Verwirrung überkam ihn und theilte sich auch dem Mädchen mit, dessen Rechte er im Feuer ergriffen hatte und mit beiden Händen gefaßt hielt, als ob er sie nie wieder loslassen wollte.

Beklommen und schweigend standen Beide einige Augenblicke sich gegenüber – was sie fühlten, war so viel und groß, sie fanden die Worte nicht, die es zu fassen vermochten.

„Ihr sollt mir ja wohl etwas vom Vater ausrichten,“ sagte dann Christel schüchtern. „Wo ist er denn?“

„Drüben im Bergwirthshaus,“ erwiderte Wendel erleichtert, aber mit einem Nachdruck und Feuer, als spräche er die zärtlichste Betheuerung aus. „Ihr sollt auch nachkommen und ich …“

„Und Ihr?“

„Ich … ich soll Euch hinüber führen …“ setzte er zögernd hinzu.

„Führen?“ rief Christel, die nach Mädchenart die Befangenheit rascher überwand, mit munterem Lachen, und dies Lachen hörte sich an, wie heller Vogelruf. „Das wird’s nit brauchen – ich bin wohl groß genug, daß ich auf dem Stück Weg auch ohne Führer nicht verloren gehen thät’! Aber Ihr habt wohl was Andres vor und geht nicht gern mit ...“

„Ich?“ rief Wendel entgegen. „Ach Gott – ich wüßt’ mir ja auf dem ganzen Erdboden nichts Lieberes, als bei Euch sein ... ich wollt’, ich könnt’ nicht blos das Stündel da hinüber mit Euch gehn, sondern den ganzen Tag, und immer fort, bis wo die Welt ein End’ hat und der Himmel anfangt.“

„Das wär’ mir doch zu lang,“ sagte Christel mit freundlichem Lächeln, „ich bin das Gehen nit so gewohnt – da thät’ ich allzumüd’ werden, fürcht’ ich …“

„O dafür wollt’ ich schon sorgen!“ rief Wendel eifrig, indem sie den Weg einschlugen, der in das nahe Dorf und von dort hügelauf zum Bergwirthshause führte. „Wir wollten fein langsam gehn, daß es Euch nit so hart ankommen sollt’ … ich thät’ die besten Weg’ aussuchen, und wo ein schönes Plätzel wär’, da müßtet Ihr ausrasten, und ich thät’ Euch von weit und breit das Beste holen, was es nur geben thät! ...“

Sie waren an einer Stelle angelangt, wo die Enge des Weges es unmöglich machte, nebeneinander zu gehn; Wendel blieb seitwärts stehn, um Christel vorangehn zu lassen – aber sie ging nicht; sie blieb vor ihm stehn, sichtbar entschlossen und doch ob’ des eigenen Entschlusses in holder Verwirrung erglühend.

„So gut könnt Ihr’s ja wohl haben, Wendel,“ sagte sie leise, „Ihr dürft ja nur nicht mehr fortgehn von dem Feichtenhof …“

„O mein’ – das geht doch nit!“ erwiderte er betrübt. „Wie lang’ wird’s anstehn, so übergiebt Euch der Vater das Gut … Ihr werdet Feichtenhof-Bäurin … ein anderer Bauer zieht auf und das … seht, Christel, so gern ich bei Euch bin, das könnt’ ich nicht mit anschau’n … ich ging’ zu Grund’ darüber … also ist’s doch das Gescheidere, ich gehe schon vorher …“

„Auf dem Feichtenhof,“ erwiderte das Mädchen, „zieht kein [742] Bauer auf, als den ich will – ich hab’ das dem Vater lang gesagt und er hat mir frei gestellt, daß ich nehmen kann, wen ich will ... Er braucht nicht reich zu sein – wenn er nur ein braver fleißiger Mensch ist, der mich gern hat und – den ich auch gern haben kann ...“ setzte sie leiser hinzu. „Wißt Ihr mir vielleicht einen Solchen?“

„Christel ...,“ rief Wendel wie außer sich, „das lautet ja gar, als wenn ... aber nein, das kann ja nicht sein! Ein armer fremder Mensch, der nit einmal eine richtige Heimath hat ...“

„Aber ein braver Mensch,“ sagte Christel, und streckte ihm wieder die Hand entgegen.

„O Du lieber Gott im Himmel droben,“ rief Wendel, indem er die Hand ergriff, wenn Ihr nur suchen wollt, wer Euch gern hat, nachher braucht Ihr nit weit zu gehn - zwischen Himmel und Erd’ kann’s Keinen geben, der Euch lieber hat, als ich ...“

„Ich hab’s wohl gemerkt,“ sagte sie tief erröthend, „aber ich hab’s auch gemerkt, daß Ihr viel zu brav seid, als daß Ihr mir’s eingestanden hättet ... also hab’ ich wohl selber den Mund aufthun müssen ...“

„Ist es denn möglich?“ jubelte er, „Christel – soll ich so glücklich sein? Könntest Du mich wirklich auch gern haben?“

„Von Herzensgrund, Wendel,“ flüsterte sie entgegen und sah ihm mit den thränenschimmernden Augen so recht innig in’s Gesicht ... „ich hab Dich schon lang’ lieb gehabt, in der Still ...“

Der Ueberglückliche wollte sie umschlingen und an sich ziehn, sie erröthete noch tiefer, aber sie wehrte ihn leise und doch entschieden ab. ... „Nit halsen ...“ (umarmen), sagte sie sanft, „das gefallt mir nit – aber lieb haben, Wendel, lieb haben bis zum letzten Augenblick. ... Heut’ noch will ich’s dem Vater sagen ...“

„O weh, der Vater!“ jammerte Wendel, „der willigt niemals ein ... der kann mich ja nit leiden!“

„Davor hab’ ich kein Bang!“ sagte sie. „Der Vater wird schon mit sich reden lassen, ich hab’ ja sein Wort und mein’ freien Willen – und wenn nur ich Dich leiden kann, das ist doch die Hauptsach’. ... Also ist es Dein heiliger Ernst, Wendel ... wir wollen einander lieb haben und ein treues, ein rechtes Paar sein – auf Du und Du, in alle Ewigkeit ...“

„In Ewigkeit,“ erwiderte Wendel feierlich, in kurzem, flüchtigem Kusse berührten Christel’s Lippen die seinigen und auf der Eiche neben ihnen schmetterte ein Fink so überlaut, als habe er verstanden, was sie gesprochen, und sei bedacht, daß der Tusch nicht fehle bei der festlichen Verlobung.




2. Feuer im Dach.

Im Erdgeschosse des Bergwirthshauses, das vom Dorfe abseits und einzeln gelegen die von der Anhöhe herabsteigende Hauptstraße wie eine ansehnliche Herrenburg behütete, ging es trotz der frühen Tageszeit schon sehr fröhlich her; das Oberhaupt der lustigen Gesellschaft war der Feichtenbauer, neben ihm Domini, die Cither vor sich; die Uebrigen waren Bauern aus der Nachbarschaft, die auf dem Kirchwege zufällig vorübergekommen und sich leicht hatten verführen lassen von der wohlfeilen Weinquelle zu kosten, die, wie die Nässe des Tisches und die vielen nebenanstehenden leeren Flaschen erkennen ließen, keineswegs spärlich floß.

Dem Bauer war noch kein Weg im Leben so kurz vorgekommen, als der von der Wallfahrtskirche zum Bergwirthshause; noch nie war er in so angenehmer Begleitung gewesen, denn Domini war unerschöpflich in lustigen Schnurren und allerlei unterhaltenden Geschichten. Der Bauer machte ihm Vorwürfe, daß er so lange nicht mehr auf dem Feichtenhofe eingesprochen, und Domini entschuldigte sich hinwider, daß er auf all’ seinen Wanderungen nirgends lieber einkehre als dort, daß ihn aber seine Handelschaft lange nicht mehr in jene Gegend geführt, sonderm weit hinweg, an Inn und Donau hinab bis tief unter Wien. „Am liebsten,“ setzte er hinzu, „wär’ es mir, wenn ich einmal irgendwo ganz und gar bleiben könnt’; ich hab’ das Herumwandern herzlich satt und mein Vater liegt mir auch schon lang’ an und will, daß ich mich einmal niedersetzen und auch ein Nest bauen soll. ... Freilich, an einem solchen Platz, wie der Feichtenhof, da wär’ gut Nest bauen!“

Der Bauer verstand nicht gleich, worauf Domini zielte; er wiederholte nur die Einladung, recht oft zu kommen und einzukehren; auf den Feichtenhof komme oft Wochen lang kein fremder Mensch, da höre und wisse man gar nicht, was draußen in der Welt vorgehe, und in der Langeweile sei es gar angenehm, wenn Einer komme, der nicht immer auf einem Fleck gesessen und etwas zu erzählen wisse.

Während dieser Gespräche war das Bergwirthshaus erreicht und auch die erste Flasche zur Feier des glücklichen Zusammentreffens so rasch geleert worden, daß sie sofort zu wirken anfing und die zweite dem Bauer bald den Kopf warm und die Zunge so geläufig machte, wie sie lange nicht gewesen. Domini hatte eben eine so verführerische Schilderung seines Aufenthaltes in Wien vollendet, daß dem erhitzten Alten der Mund wässerte und er sich bis zu dem Wunsche verstieg, mit Domini hinzureisen und sich all’ die Herrlichkeiten selbst zu besehn – bis dahin aber solle er auf den Hof zu ihm kommen und bleiben und von seinen Wanderabenteuern erzählen.

„Oho,“ lachte Domini, „das hört sich wohl recht schön an, hat aber doch einen Haken! Ich bin ein lediger Mensch und wär’ nit Euer Gefreundter und nit Euer Dienstbot’ ... das wär’ was für die Leut’, Eure Tochter mit mir in’s Gered’ zu bringen!“

„Was frag’ ich nach den Leuten!“ rief der Bauer, den der Widerspruch reizte. „Ich bin der Herr vom Haus und was mir recht ist, muß Jedem recht sein!“

„Das glaub’ ich doch nit so ganz,“ fuhr Domini listig fort, „ich sorg’, der Pfarrer thät Euch ein böses Licht aufstecken ... aber, wenn Ihr mich gar so gern bei Euch haben wollt, da gäb’s ein Mittel, wie ich alleweil bei Euch bleiben könnt’ und kein Mensch könnt’ was dawider haben ...“

„Ja – wie wär’ denn das?“ fragte der Bauer rasch.

„Das errathet Ihr nicht?“ rief Domini lachend, indem er ihm das Glas voll schenkte. „Und doch ist es so leicht ... macht mich zu Eurem Schwiegersohne und kein Gered’ und kein Pfarrer kann mich mehr von Euch vertreiben.“ ...

Er rief es mit lachender Miene, aber er belauerte jede Regung im Gesichte des Alten; ging dieser nicht darauf ein, so war der Vorschlag nur ein Scherz gewesen, im andern Falle mußte er schnell erfahren, ob und welche Aussicht für seine Pläne bestand.

Der Feichtenbauer war schon so vom Wein erregt, daß der Gedanke, der ihn sonst wohl stutzig gemacht haben würde, nichts Befremdliches für ihn hatte und er ihn als einen willkommenen Ausweg mit Vergnügen ergriff.

„Schwiegersohn!?“ rief er und brach ebenfalls in lautes Lachen aus. „Ja, das ist das Rechte! Da fang’ ich zwei Mucken mit einem Schlag! Willst mein Mädel wirklich haben, Domini ... stoß an und schlag’ ein ... Du sollst mein Schwiegersohn werden. ... Ich hab’ mir’s ja gleich gedacht, das hat was Besonderes zu bedeuten, weil Du mir so merkwürdig begegnet bist!“

„Ein Mann ein Wort!“ sagte Domini und schlug hastig ein. „Aber red’ nit so laut – es braucht’s Niemand zu wissen vor der Zeit.“ ...

(Fortsetzung folgt.)




Eine neue Alpenstraße.

Meine diesjährige Reise nach Italien führte mich auch nach dem alten Thusis, dem schönsten Marktflecken Graubündtens, der einige Meilen südlich von Chur, der Hauptstadt des Cantons Graubündten, in dem weiten, durch seine Schönheit weltberühmten Domleschgerthal und vor dem Eingang in die ebenso vielgenannte Via mala liegt. Schon in Chur hatte mir die hübsche Wirthstochter von der neuen Schynstraße erzählt und mich aufgefordert, den Besuch derselben doch ja nicht zu unterlassen. Ich versprach’s ihr mit der Bemerkung, daß ich in der Gartenlaube davon erzählen wolle.

Diese neue Straße durch den alten Schynpaß folgt dem Laufe der Albula, eines Alpenstroms, der Thusis gegenüber sich in den

[743]

Die neue Schynstraße in Graubündten.
Nach der Natur aufgenommen von R. Aßmus.

[744] Hinterrhein stürzt; sie stellt eine kürzere Verbindung von diesem Theil der Splügenstraße zunächst mit der über den Julier führenden Oberhalbsteinerstraße und weiter mit dem Engadin her und hat deshalb für Reisen und Verkehr nicht geringen Nutzen, abgesehen von ihrer strategischen Bedeutung und ihrer malerischen Ausbeute.

In Thusis angekommen erkundigte ich mich sogleich bei dem Besitzer des Hôtels zur „Via mala“, wie ich die Tour auf der neuem Schynstraße am zweckmäßigsten ausführen könne, da ich schon unterwegs gehört, daß die Straße durch den lang dauernden Regen beschädigt worden sei. Er schlug mir vor, einen Einspänner zu nehmen und die schlechtesten Strecken zu Fuß zurückzulegen.

Freundlich sah der Himmel allerdings nicht aus. Die dem Hôtel gerade gegenüberliegende Ruine Hohen-Rhätien, welche sonst von ihrem Felsenthrone hinab in’s Domleschgerthal und in die Schlucht der Via mala schaut, steckte hinter Wolken, und von der langen Contour des Heinzenberges waren ebenfalls nur Fragmente zu erblicken. Ich mußte es aber wagen, und so trug mich denn das leichte Wägelchen munter in die graue Luft hinein, über die breite Brücke weg, welche sich über den schmutzigen Nolla-Bach spannt, den bei Hochgewittern so sehr gefürchteten wilden Gesellen, welcher rechts vom Heinzenberg über seine Felstrümmer herunterdonnert. Tiefer im Thale wand sich der Hinterrhein durch sein versandetes Bett mühsam zwischen Steingeröll hindurch, nachdem seine Fluthen die dunkeln Felswände der Via mala tief unten in enger Schlucht brausend gewaschen hatten. Endlich bogen wir in das Thal der Albula hinein, und hier grüßte uns zunächst aus dunklem Grün die malerische Ruine Ehrenfels hinab, dann kamen an der Mündung des Thales und des Schynpasses die auf einem engen Flecken Erde zusammengedrängten Häuser von Sils, über deren Schindeldächern die beiden Kirchthürme des protestantischen Dörfchens emporragen. Fromm müssen dort die Leute sein. In solch’ engem Orte zwei Kirchen! Sehr freundlich sahen die Häuschen aus, jedes würde eine prächtige Studie für die Mappe eines Malers liefern.

Gleich hinter Sils beginnt die eigentliche Schynstraße. Sie steigt von nun an fortwährend bis Alvaschein und windet sich in ökonomischer Schmalheit an dem linken Felsenufer der Albula empor. Tannenwald, der kolossale moosbewachsene Steintrümmer beschattet, bildet den nächstliegenden Schmuck der Straße, während das andere Ufer von der jähen Felsenwand gebildet wird, in der sich der schauerliche alte Schynpaß befindet.

Ein großartiges Panorama liegt vor unseren Augen ausgebreitet. Rückwärts das Domleschgerthal mit seinen weiten grünen Fluren, welche der Hinterrhein durchströmt, in der Mitte auf einer Anhöhe Burg Baldenstein, und dahinter der langgestreckte hohe Heinzenberg. Während hier das Gottesauge der Natur freundlich lächelt, tritt das Albulathal uns um so düsterer entgegen. Großartig wie die berühmten Partieen in der Via mala bauen sich die Felsenwände eng hinauf. Ist die Via mala noch wilder im Ausdruck, so erscheint uns die Schynstraße im Albulathale malerischer. Das dunkle Grün der Tannen, welche oft dicht geschaart einen an den Felsenwänden sich hinabsenkenden Wald bilden, mildert den rauhen Eindruck der gewaltigen Steincoulissen. Je weiter wir die Straße passiren, um so interessanter zeigt sich die Landschaft. Felsentunnel mit Galerien öffnen sich uns. Unendlich stille und verlassen ist noch die neugeborene Straße; nur vor uns ist eine Schaar Arbeiter beschäftigt, die Bergbäche einzudämmen, die herabgesprengten Felsen in die Albula zu stürzen, Baumriesen fortzufahren und die Straße zu planiren. Wettergebräunte Gesichter haben die Leute und einige unter ihnen fallen durch ein recht italienisch-vagabundenmäßiges Aussehen auf. Die Leute leben sparsam und schlecht[WS 1]: Polenta, Brod und Käse, Käse, Brod und Polenta. Als Nachtlager dienen ihnen schlechte Holzbaracken, eng und klein, in denen der Wind seine Weisen spielt. Und doch sahen die Leute zufrieden aus!

Der Kutscher stieg von meinem Wagen ab und machte ein Gesicht dabei, als wolle er mich auffordern, ebenfalls auszusteigen. Als ich ihn fragte, ob ich dies thun solle, nickte er mit dem Kopfe, wobei er gleichzeitig eine Pantomime mit der Hand machte, die ganz unzweifelhaft das Umwerfen des Wagens verdeutlichen sollte. Wir waren an einer Stelle der Straße angelangt, wo die Hälfte derselben vom Regen und einem Gebirgsbach heruntergeschwemmt war. Ich stieg aus, der Kutscher nahm das Pferd am Zügel, die Straßenarbeiter den Wagen auf die Schultern und – so wurde die Stelle, welche durch den Regen und den Bach beinahe bodenlos geworden, passirt.

Hinter dem sechsten Tunnel sahen wir drüben auf dem Plateau der Felsenwand in schwindelnder Höhe Ober-Vatz liegen, in dessen Nähe sich der Galgenhügel, die Richtstätte der alten Bündtner befindet, und kamen dann an dem einzigen Wirthshaus der Straße vorüber, zum „Paß mal“, dessen weiß getünchte Wände sonnig aus der dunkeln Landschaft glänzten. In ihm leben Wirth und Wirthin mit einem alten Mütterchen ganz allein in der Bergeinsamkeit – in dem endlosen Winter jedenfalls ein trauriger, vielleicht auch gewagter Aufenthalt.

Die außerordentlich malerischen Bilder der Schynstraße gewinnen an Interesse, je mehr man sich der Solisbrücke nähert, welche sich in kühnem Bogen tausenddreihundertachtundsechszig Fuß über dem Wasserspiegel der Albula spannt. Felsentstürzte Bäche fliehen von den steilen Wänden hinab und tränken Tannen und Moos. Aus der dunkeln Schlucht schimmert das saftige Grün der schmalen Ufer herauf, welche wohl noch nie der Fuß eines Menschen betrat. Die Straße schlängelt sich, hie und da einen Tunnel durchbrechend, in kühnem Zickzack empor und die hohen Waldcoulissen schließt im Hintergrund der Heinzenberg ab. –

Der Plan der Schynstraße ist vom Cantons-Oberingenieur Salis in Chur entworfen, der Bau wurde im Mai 1868 begonnen, und die Arbeiten, wie bei den meisten Straßenbauten der Schweiz, im Accord vergeben. Angeregt durch den Wunsch der eidgenössischen Regierung eine Militärstraße, wie unter anderen der Fluela-Paß, die Ober-Alp-Straße, erbaut zu sehen, welche Graubündten mit dem Engadin verbinde, nahm die Cantons- Regierung den Gedanken auf und brachte ihn zur Ausführung. Die Länge der Straße beträgt drei Schweizer Wegstunden (sechzehntausend Fuß), und die Baukosten belaufen sich auf über vierhundertfünfzigtausend Franken. Obschon die eidgenössische Regierung einen Theil der Kosten in Betracht der strategischen Vortheile der Straße übernahm, so lag die Hauptsumme doch auf den Schultern der Cantons-Regierung. Für Thusis war der Bau der Straße eine Lebensfrage, und deshalb willigte es in die Anforderung freudig ein, nicht blos das nöthige Holz und anderes Material auf seine Kosten herbeizuschaffen, sondern es übernahm auch die Expropriation für die ganze Strecke von Thusis bis zur Solisbrücke. Man vermuthet, daß Chur als Bezugsquelle durch diese Straße im gleichen Verhältnisse verlieren, als Thusis gewinnen werde, weil das letztere dem Engadin bedeutend näher als jenes liegt.

Die Schweizer sind berühmte Straßenbauer. Wir staunen mit Recht über die Kühnheit des Straßenbaues, wenn wir durch das lange Urserenthal bis zur Höhe von siebentausendfünfhundert Fuß auf die Furka mit der Post fahren und dann im wilden Carrière dicht am Rhonegletscher vorbei die Pferde mit uns hinabeilen. Splügen, Bernardin, St. Gotthard sind würdige Pendants zur Furka-Straße. Die Schweiz hat eine neue Straße mehr, wünschen wir ihr Glück dazu!

Die Schynstraße sollte Ende Juni dieses Jahres vollendet sein. Durch die große Ueberschwemmung des vorigen Jahres wurde aber ein erheblicher Theil der Fundamente wieder zerstört – die Fundamente am Paß mal mußten mehrere Male gebaut werden – Brücken wurden hinabgerissen u. dgl. m. Als ich im August dieses Jahres die Schynstraße besuchte, sagte man mir, daß dieselbe in wenigen Wochen dem Verkehr übergeben werden würde, ohne Zweifel wird sie gegenwärtig allgemein befahren. –

Es war spät, als ich nach Thusis zurückfuhr. Die dunkeln Schatten des Abends waren im Thale eingekehrt, Tannenhain und Felsen sahen finster drein, nur die Albula stürzte unten in jugendlicher Frische munter über das wilde Steingeröll hinweg. Der Kutscher sprach in einem Athem von Hinabstürzen des Wagens und Trinkgeld, und recht froh war ich, als wir vor dem Hôtel zur Via mala anlangten, dessen Wirth Berlepsch in seinem Schweizerhandbuche mit vollem Rechte als „ungemein gefällig“ bezeichnet. Derselbe war mir nicht nur „ungemein gefällig“, sondern auch „wundermild“. Dafür, sowie für die Notizen, welche ich von ihm in Betreff der Schynstraße erhalten habe, bin ich ihm dankbar. Wir laden unsere Leser ein die neue Schynstraße zu besuchen und im „Hôtel zur Via mala“ zu übernachten. Die Gartenlaube finden sie unten im Lesezimmer. R. A.     




[745]

Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf Gottschall.
I.

Wie beneide ich Sie, Madame, um Ihre naturfrische Einsamkeit am Strande der Ostsee, um den weiten Blick in die dämmernde Meeresferne, um die wechselnden Bilder, welche bald die endlos gedehnte, ruhige Spiegelfläche der See, bald ihr stürmischer Wogenschlag, in der mannigfachen Beleuchtung der Morgen- und Abendröthen, der sternenhellen Nächte und des flammenden Wettergewölks dem Auge darbieten! Und dabei liegt Ihr Schloß, wenn auch gebaut auf dem Strandhügel, der das Meer beherrscht, doch so traulich gebettet im Schatten der Eichen des alten heidnischen Donnergottes, ist so freundlich umrankt von Epheu und wilden Weinreben, wendet rückwärts den Blick mit so heimlichem Genügen auf die gepflegten Baum- und Blumengruppen des weiten Parkes, daß sich für ein dichterisches Gemüth kein schöneres Asyl denken läßt und daß es keinem Poeten zu verargen ist, der sich hier Hütten bauen wollte!

Ruhe – Einsamkeit! Es sind ja unersetzliche Güter für den Dichter in dieser Zeit des Schnellpressendrucks, der auf der ganzen Menschheit lastet! Wo soll die eigene Seele Genüge finden unter diesen Bergen von Maculatur, welche die rastlose Production um uns anhäuft?

Sie sind glücklich; Sie haben Ihre Blumen und Ihre Classiker und kümmern sich nicht um den schaumspritzenden Wogenschlag der Tagesliteratur. Nicht gestört von der Unruhe des Werdenden, erfreuen Sie sich des sichern Besitzes, den die anerkannten großen Dichter unserer Nation hinterlassen haben. In jenem reizenden Cabinet, welches Blumen, Bilder und Bücher mit seelenvoller Harmonie erfüllen, während der Blick durch das Bogenfenster auf die weitrauschende See das geistige Stillleben vor engherziger Beschränktheit sichert, schlagen Sie Ihren Schiller und Goethe auf, wenn Sie der Sprache der Dichtkunst lauschen, wenn Sie Sinn und Herz emporranken wollen an jenen unsterblichen Meisterwerken, welche noch vielen Geschlechtern zum Segen gereichen werden. Was Sie sinnen und träumen über das Menschenleben und das Weltgeheimniß, finden Sie hier in mustergültiger Weise ein für allemal ausgesprochen. Was bleibt da den Spätergebornen übrig, als nachzustammeln, was jene bereits in begeisterten Orakelsprüchen der Welt verkündet haben? Sie können es sich nicht vorstellen, daß die Literatur der Gegenwart eine andere Aufgabe hat als die Aehrenlese auf den Feldern, die unsere Classiker abgeerntet haben.

Und doch dringt, wie fernes Wogenrauschen, ein Echo der neuen literarischen Bewegung auch in Ihre Einsamkeit; doch hören Sie bei zufälliger gesellschaftlicher Berührung diesen oder jenen Namen mit einer Pietät und Begeisterung nennen, die Sie befremden, ja erzürnen muß, denn solche Huldigungen, dargebracht einem jüngeren Geschlecht, erscheinen Ihnen wie ein an unseren Classikern verübter Raub.

So wenden Sie sich an mich mit der Frage, was es mit dieser neuern Literatur für eine Bewandtniß habe? Es ist kaum Wißbegierde, die Sie diese Frage thun läßt; es ist der kleine weibliche Dämon der Neugierde, der Sie aus Ihrem ruhigen Behagen aufstört. Sie werden meine Antwort auf Ihre Frage mit ungläubigem Kopfschütteln vernehmen, denn Sie sind von vornherein gewaffnet gegen jede Anerkennung neuer Dichtwerke. Doch erfahren möchten Sie gern, welche Zwerge in den Harnisch unserer geistigen Riesen zu schlüpfen wagen!

Und doch hat Niemand mehr Grund, sich über den endlosen Faden, den unsere Literatur fortspinnt, zu ärgern, als der unglückliche Kritiker, der sich vor der Sündfluth der alljährlich erscheinenden Romane kaum zu retten weiß, der unter den Rosen der Lyrik verschüttet wird wie die Opfer des römischen Tyrannen Heliogabalus, welchem der Schattentanz der unaufgeführten Buchdramen, dieser nach Leben dürstenden Gespenster, alle Sinne verwirrt. Dann stürmen noch die Denker auf ihn ein mit ihren neuen Systemen, die Geschichtschreiber, welche ihm den Staub aus allen Archiven in’s Gesicht fegen, und vor Allem die Literarhistoriker, welche aus den Papierkörben unserer Classiker einen großen Papierdrachen zusammenstückeln und in die Luft steigen lassen, welche aber für die Dichter der Gegenwart nur ein verächtliches Achselzucken übrig haben, ganz wie Sie, Madame!

Sie haben lebhafte Phantasie und warmes Gefühl! Sie können sich hineinversetzen in die Stimmung eines Kritikers, dem diese dicken Bände, diese gespenstigen Lettern, diese durch die Magie der Druckerschwärze in’s Leben gezauberten Geister den freien Blick in die Welt versperren, so daß er mit Faust ausrufen möchte:

Statt der lebendigen Natur,
Wo Gott die Menschen schuf hinein,
Umgiebt in Staub und Moder nur
Dich Thiergeripp und Todtenbein.

Gern möchte er diesen Geisterspuk vergessen – ein Blick auf Ihre Blumen, in Ihre Augen, ein Blick auf das weite Meer – und er würde genesen; er würde glauben lernen an ein frisches Leben, das nichts mit Tinte und Druckerschwärze, nichts mit der Druck- und Buchbinderpresse zu thun hat, während ihm jetzt, bei der unheimlichen Verdüsterung durch die aufgestapelten Büchermassen, die ganze Welt oft wie Maculatur erscheint, die man einzustampfen vergessen hat.

Gleichwohl, Madame, theile ich nicht Ihre Geringschätzung der neuen Talente unserer Literatur, eine Geringschätzung, die bei Ihnen nur aus Vorurtheil oder Unkenntniß hervorgeht; ich habe unter den Erzeugnissen der letzten Jahrzehnte des Guten und Trefflichen so viel gefunden, so viele lichte Intervalle in dem Wahnsinne einer unberufenen Production, daß ich selbst mein Unbehagen, meinen Unwillen über die rastlose kritische Arbeit, den Augiasstall zu räumen, vergaß über der Hingabe an das Gelungene, an das Schöne, das unserer Zeit nicht fremd ist; daß ich erkannte, es sei thöricht, der Entwickelung eines Volkes Grenzen setzen zu wollen, gegen die Talente, die Genien der Zukunft, die aus unerschöpflichem Füllhorn neue Blüthen und Früchte in den Schooß der Nationen streuen, von vornherein eine Quarantaine zu errichten. Auch in unserer classischen Blüthenzeit hat nicht jedes Jahr ein unsterbliches Gedankenwerk gezeitigt – wie sollten wir von jedem Jahrgang der Gegenwart ein geistiges Erzeugniß verlangen, das sie zu überleben vermöchte? Erfreuen wir uns des Gelungenen und überlassen wir der Zukunft die vergleichende Werthschätzung der modernen und der classischen Dichter. Das Schaffen der ersteren ist noch nicht abgeschlossen, und auch den letzteren stehen wir noch zu nah, um ihre Größe messen zu können.

Von diesem Standpunkte aus bin ich gern bereit, Ihnen über die neuen Erscheinungen unserer Literatur hin und wieder Bericht zu erstatten, Sie hinzuweisen auf das Bedeutende, das auch in diesem verketzerten Zeitalter der materiellen Interessen eine geistige Blüthe ankündigt, aber auch auf das Verfehlte, auf die mannigfachen Verirrungen unserer Dichtung, welche zum Theil sich des Beifalls der Zeitgenossen erfreuen. Denn wenn ich auch unsere Literatur nicht in Bezug auf die ursprüngliche, überwuchernde Schöpfungskraft mit einem Urwald vergleichen will, so hat sie doch manche bedenkliche Aehnlichkeit mit der genialen Pflanzendichtung der tropischen Natur, namentlich was die in allen Farben spielende Buntheit der Blüthen und die zahllosen Schlinggewächse betrifft, welche sich um die festen Stämme ranken.

Vielleicht, Madame, gelingt es mir, Sie zu bekehren und Ihnen Theilnahme einzuflößen für das Geschlecht nachstrebender Dichter, während Sie jetzt blos Mitleid mit den Poetlein hegen, die sich auf die Zehen stellen, um unsern großen Dichtern über die Achsel sehen zu können. Besser noch würde es mir gelingen bei mündlichem Gespräch, Aug’ in Auge; ich würde den Trotz beschwören, der Ihre Lippen kräuselt, denn dazu genügt oft ein „geflügeltes Wort“. Die geflügelten Worte aber lassen sich nicht commandiren, sie sind Funken der Begeisterung und des Witzes, welche nur in der Atmosphäre des frischen Lebens, des Geistes, der Schönheit entstehen. Freilich, es giebt erkältende Schönheiten, gefrorene Gesichter, denen gegenüber auch der Geist gefriert. Doch in Ihrer Nähe, Madame, ist Alles Licht und Leben und selbst der beschränkteste, der aschgraueste geistige Horizont würde versuchen zu [746] wetterleuchten. Ich würde Ihnen vorlesen aus den Werken unserer neuen Schriftsteller und Dichter, und ich bin überzeugt, bei jenem feinen Sinn für das Schöne, der Ihnen eigen ist und der sich, wie die verkehrten Urtheile unserer Literarhistoriker beweisen, durch keine Gelehrsamkeit ersetzen läßt, würden Sie, wie die mit der Wünschelruthe bewaffnete Hellseherin die Erzadern und Wasserquellen, das Talent herausfühlen und mit jenem plötzlichen Aufleuchten Ihres schönen Auges, das Ihnen so reizend steht, ausrufen: „Fürwahr, das ist ein Dichter!“

Doch auch aus der Ferne hoff’ ich noch, Ihnen hier und dort für mein Lob eine freundliche Zustimmung abzuschmeicheln; ich hoffe dies, weil wir Beide auf dem gemeinsamen Boden derselben ästhetischen Bildung stehen, auf jenem Boden, in welchem unsere großen Dichter wurzeln. Und so verwerfe ich alle Poesie, die nichts ist als Formenspielerei, in der kein großes Herz pulsirt, die keinen großen Geist verräth. Und eingedenk eines Schiller, Goethe, Shakespeare und Jean Paul verlange ich, daß die Dichter Tiefe der Weltanschauung und weltumfassende Bildung besitzen, und schätze die Poeten gering, die, über ihren Stickrahmen gebeugt, nach den schönsten Modellen die sauberste Arbeit liefern, daß alle Farben harmonisch geordnet sind und kein grobes Fädchen und Fäserchen den Eindruck des musterhaften Vollbildes stört. Dergleichen Gaben für die Weihnachtsausstellungen des Buchhandels sind keine Geschenke von dauerndem Werth für die Nation. Auch wissen Sie zu gut, Madame, wie es mit diesen Stickereien aussieht. Man bekommt sie zur Hälfte fertig in den Modeläden und braucht sich nicht allzusehr mit der feinen Nadelarbeit zu ermüden.

Ebenso wie ich diese Miniaturpoeten verwerfe, welche da glauben, man könne dichten ohne Geist, und Vernunft und Wissenschaft nach Kräften verachten, welche da meinen, die Poesie müsse auf dem Feenwägelchen der Shakespeare’schen „Königin Mab“ einherfahren, mit einem Geschirr aus feinem Spinngewebe und mit Zügeln aus des Mondes feuchtem Strahl und es gereiche ihr zum Verderben, wie jenem Phaëthon, den Sonnenwagen des Geistes lenken zu wollen: ebenso verwerfe ich jene nüchternen Photographen des alltäglichen Lebens, die ihren literarischen Schaukasten mit wenig retouchirten Bildern aus ihrer unmittelbarsten Umgebung füllen und sich für große Menschendarsteller halten, weil sie ihren Vettern und Muhmen abgesehen haben, wie sie sich räuspern und spucken, und so Bescheid wissen in jedem Handwerk und Gewerbe, daß die Dachdecker und Maschinenbauer sie aus Versehen für Ihresgleichen halten könnten.

Nein, Madame, Begeisterung gehört zum Dichten, wie zu jedem Schaffen. Wenn unsere Dichter aufhören, große Geister zu sein, so bilden eben zwölf von ihnen ein Dutzend und man kauft sie dutzendweise, wie die Leipziger Lerchen, bei denen man auch nicht nach ihrem Gesang fragt und wie hoch sie in den Himmel steigen.

Darin sind wir einig, Madame! Unsere Classiker, die Sie verehren wie ich, waren große Dichter und nur diejenigen der Neuzeit, die auf ihren Wegen wandeln, verdienen unsere Theilnahme.

So mögen meine Briefe Sie aufsuchen in der duftigen Laube, die auf einem Felsvorsprung aufgebaut ist in’s Meer, dort an jenem heimlichen Plätzchen, das die untergehende Sonne mit besonderer Liebe begrüßt und von dem aus Sie, durch die Ranken des Laubgitters, die Aussicht genießen auf die unendliche See, die seit den Zeiten des Altvaters Homer so viel Poeten begeistert hat.

Und ist nicht auch die Ostsee, welche unsere großen Dichter nie gesehn haben, voll Poesie, das Meer der Vikinger, aus dessen Tiefen die Glocken versunkener Städte läuten, dies Meer mit seinen Bernsteinnixen, die statt der grünen Schilfkränze die versteinerten Thränen der überflutheten Wälder der Vorzeit im Haar tragen und mit dem gelbleuchtenden Geschmeide Hals und Arme schmücken?

Unsere neueren Dichter sind minder undankbar gegen die Reize des bernsteinreichen baltischen Meeres. Zwar Heinrich Heine besang nur die Nordsee und ihre kecken Nomaden in seinen großartigen Seebildern; zwischen Hamburg und Helgoland hört er den Wundervogel Phönix singen und die Okeaniden und kaut verdrießlich den alten Hering, während die hochgehende Fluth das Schiff schaukelt. Doch unsere neuen Novellisten und Romandichter lassen sich oft an den Gestaden der Ostsee nieder und haben auf ihrer Palette alle Farben für die Seebilder, die das baltische Meer verlangt, mag es an Rügens Kreideküsten branden oder an die sturmverwehten Sandhügel der ostpreußischen Nehrungen. Da ist vor Allen ein begabter Novellist Edmund Hoefer, ein Sohn der alten Universitätsstadt Greifswald, der an den Ostseestrand seine geheimnißvollen Schlösser hinbaut, der uns oft auf der Barke oder im Meeresschiff über die baltischen Fluthen führt, der uns die hanseatischen Städte am Strand mit ihren Thürmen und Giebeln so traulich aufbaut, daß wir uns bald heimisch fühlen in ihren Patricierhäusern, in ihrem Handel und Wandel, in ihrer Gegenwart und Vergangenheit. Und dabei liebt er es, jene Charaktere zu schildern, deren Gediegenheit zur Starrheit wird, Charaktere vom knorrigen Wuchs der Strandeichen.

Doch wenn Sie Ihr heimathliches Meer, die Ostsee, in Frieden und Sturm, in allem Wechsel der Beleuchtung, und im engen Zusammenhang mit dem Geschick der Menschen geschildert sehen wollen, so müssen Sie Friedrich Spielhagen’s neuesten Roman „Hammer und Amboß“ (fünf Bände) aufschlagen; es wird Ihnen aus demselben ein frischer Hauch vom Meere entgegenwehn! Wie belebt ist die See von Dampfern und Schiffen jeder Art! Hier macht der junge Held als Primaner eine Vergnügungsfahrt auf dem Meere, dort hemmt der gereiftere Mann mit festem Entschluß den Zusammenstoß zweier Dampfer, dort segeln die Schmuggelschiffe zur Nachtzeit an den Strand der Insel, wo das Schloß eines Edelmanns ihren Waaren eine geheime Freistatt bietet. Ja, es ist ein alter Vikinger, dieser wilde Zehren, der nur sein Jahrhundert verfehlt hat; er treibt die Schmuggelei nach dem alten Rechte der Herren von Zehren, das für ihn noch fortbesteht; denn alle Schiffe, die durch den Sund fuhren, zwischen der Insel und dem Festland, mußten vor alten Zeiten dem Schlosse Tribut zahlen. Sie werden die Schilderung dieses alten, verfallenen Schlosses, wo man den besten Wein trinkt und die besten Cigarren raucht, mit Interesse lesen; denn das wilde Treiben der schmuggelnden Gutsbesitzer auf der Insel bei Jagd und Spiel ist mit lebendigen Farben geschildert, die Tochter des wilden Zehren, die zigeunerhafte Constanze, das tiefbrünette Mädchen mit dem wundervollsten Ebenmaß der Glieder, verstrickt in den geheimen Liebeshandel mit einem benachbarten Fürsten, paßt in die romantische Wirthschaft der vornehmen Strandpiraten, und die Katastrophe selbst, das Einschreiten der gesetzlichen Macht gegen die Schmuggler, der gewaltsame Tod des wilden Zehren, ist spannend erzählt und farbenreich ausgemalt.

Freilich werden Sie nicht ohne Grund fragen, ob irgend eine Lebenswirklichkeit diesen hochromantischen Ereignissen entspricht und wo man heutigen Tags die Pascher mit ehrwürdigen Wappen und Stammbaum zu suchen hat? Doch man muß der Erfindung der Romandichter etwas zu gute balten und nicht nach den Hausnummern und Reisepässen ihrer Helden fragen. Das freizügige Abenteuer, das sich polizeilich nicht einfangen läßt, braucht im Roman keine andere Legitimation, als den Reiz der Phantasie und die logische Möglichkeit.

Eins der großartigsten Seebilder finden Sie im weiteren Verlauf des Romans; die sturmempörte Ostsee, deren Donner die Mauern eines Zuchthauses erschüttert, droht einen schmalen Wall zu überfluthen, den die Zuchthaussträflinge mit opfermuthiger Begeisterung unter der Leitung ihres Directors schützen. Diese Schilderung ist prachtvoll; es ist ein Achenbach’sches Marinebild.

Sie wundern sich über die Rolle, welche der Dichter hier den Zuchthaussträflingen zuertheilt? Ein großer Theil des Romans spielt in der That im Zuchthause, wo von den Lippen des Directors das Evangelium der Humanität ertönt. Das sind solche schneidende Contraste, wie sie die neuen Schriftsteller lieben. Der Held des Romans, ein Primaner, der schulflüchtig, von seinem Vater verstoßen, in die Hände des wilden Zehren geräth, wird bei der Katastrophe, die das Schmuggelhandwerk ereilt, mitgefangen und zur Zuchthausstrafe verurtheilt, die er unter sehr gemilderten Umständen als Schützling des Directors und seiner Tochter verbüßt. Später finden wir ihn in einer Maschinenfabrik als tüchtigen Arbeiter, bis er sich zum Leiter und zuletzt zum Besitzer derselben aufschwingt. Ein Kleeblatt weiblicher Gestalten, die wilde Constanze, die stolze Hermine, die sanfte Paula, begleitet den Helden auf seinen Lebenswegen und erregt seine wechselnde Neigung. Hermine wird seine erste Gattin, sie stirbt zur rechten Zeit, um der Entwicklung des Helden nicht im Wege zu sein; denn nur Paula kann sie zu harmonischer Vollendung führen. Und es kostet einem Dichter ja blos einen Federstrich, um den Mißgriff seines Helden zu verbessern!

[747] Sie werden aus dieser Inhaltsangabe kaum ersehn, worin der fesselnde Reiz des Romans liegt; eine Menge zum Theil ergötzlicher Nebencharaktere, wie der Commercienrath und die Gouvernante Fräulein Duff, die Vorzüge des Styls, die Fülle geistreicher Gedanken, die durch das ganze Werk zerstreut sind, üben mit und neben den Abenteuern des Helden die größte Anziehungskraft aus.

Doch wo ist Hammer und Amboß? – werden Sie fragen. Ueberall und nirgends. Wir müssen nur mit den Augen des Dichters sehn. Unsere Zeit mit ihren Zuchthäusern und Fabrikwerkstätten erscheint hier noch als eine barbarische. Ueberall das kaum versteckte Verhältniß zwischen Herr und Knecht, überall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß. Doch es giebt ein Drittes, welches diese Wahl ausschließt. Der Held selbst zeigt den Weg, indem er die Arbeiter seiner Fabrik am Schluß zu Theilhabern derselben macht, nach Verhältniß ihrer Kräfte, ihres Verdienstes, ihrer Mittel.

Ich errathe Ihre Gedanken, Madame! Sie meinen, Hammer und Amboß sind so alt wie die Welt und werden mit ihr älter werden. Doch wer hat mehr Recht, an eine schöne Zukunft zu glauben, als die Dichter? und dichterische Naturen wie Sie werden den Glauben an den endlichen Sieg der Humanität nicht verdammen!




Der Wunderthäter in Boehle.

Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Aberglaubens.

In Westphalen, etwa eine Stunde von Hagen entfernt, liegt das Dörfchen Boehle, eine katholische Ortschaft inmitten einer vorwiegend protestantischen Bevölkerung. Von den Höhen der umliegenden Berge schauen die Ruinen von Hohenburg und Vollmarstein, die Monumente von „Stein“ und „Vincke“ hernieder; ein fruchtbarer Boden liefert dem Landmann reichen Ertrag, und ringsumher ertönt das Klappern der Hämmer, „wo der Märker Eisen reckt“. Boehle selbst zeichnet sich durch nichts vor ähnlichen Dörfern aus; kein alterthümliches Gebäude erweckt in uns romantische Gedanken, keine hervorragende Naturschönheit hält uns gefesselt. Dennoch hat dieses kleine Dörfchen seit Jahren im Geruche der Heiligkeit gestanden; von den benachbarten Städten Hagen, Herdecke, Schwerdte etc. pilgerten seit langer Zeit am Frohnleichnamstage große Processionen zur Boehler Kirche, freilich winzig und unbedeutend gegenüber den Wallfahrten, die seit länger denn Jahresfrist zum wunderthätigen Pfarrer in Boehle angestellt werden.

Pfarrer Hecking.

Diese Kranken-Karawanen zeigen sich fast täglich; die Frühzüge der Bergisch-Märkischen Eisenbahn bieten mitunter ein wahrhaft widerwärtiges Bild, und an den Bahnhöfen der Stationen Herdecke, Westhofen, Cabel und Hagen sieht man eine Musterkarte menschlichen Gebrechens und Elends. Irrsinnige Männer und Weiber, Epileptische, Schwindsüchtige im letzten Stadium ihrer Krankheit, Krebsleidende, Gichtbrüchige und Verwachsene werden in die Wartesäle geschleppt; der Zudrang wurde an den Bahnhöfen zu Herdecke und Westhofen so groß, daß die Bahn-Direction zur Aufnahme der Kranken neben den Stationsgebäuden besondere Localitäten errichten mußte. Von diesen Orten aus wird durch Omnibusse, Droschken und Leiterwagen die Beförderung der Leidenden nach Boehle vermittelt, und sehr oft ist der Zusammenfluß von Hülfesuchenden so stark, daß die Verkehrsmittel nicht ausreichen und manche Kranke genöthigt sind, auf der Streu in Bauernhäusern zu übernachten. Häufig sind fünf- bis sechshundert Personen an einem Tage in der Boehler Kirche, um sich durch Gebet und Händeauflegen des alten Pfarrers Hecking Genesung zu verschaffen.

Das stärkste Contingent lieferte anfänglich das Münsterland, die Heimath jenes Volksstammes, der bekanntlich dem Aberglauben wie kein zweiter in Deutschland ergeben ist, während jetzt die Holländer, Ostfriesen und die Bewohner des Niederrheins hauptsächlich die Wanderschaft zu dem neuen „Schäfer von Nieder-Empt“ unternehmen. Die Witzblätter „Kladderadatsch“, „Funken“ und „Wespen“ ließen es an Spott und Satire nicht fehlen; die Gesellschaft „Ulk“ in dem benachbarten Haspe arrangirte zur Nachfeier der Hasper Kirmeß einen imposanten Festzug, um in Boehle den verhärteten Katzenjammer wegbeten zu lassen, aber bis heute florirt noch ungehindert der Curirschwindel des alten Pfarrers. Und wären es nur Leute aus den niedrigsten Volksschichten, arme Menschen mit vernachlässigter Jugendbildung und Erziehung, die dort Hülfe suchen! Bilden diese auch gemeinschaftlich mit Bauersleuten die Mehrzahl der Wundergläubigen, so knieen doch vor dem Boehler Altar auch Personen aus den ersten Ständen, Grafen und Freiherren, Männer und Frauen aus den reichsten Familien; Protestanten und Juden bitten neben den Kindern der alleinseligmachenden Kirche um den Segen des Wunderthäters. –

Die Gartenlaube bringt heute das Portrait dieses wunderlichen Heiligen. Pfarrer Wilhelm Hecking ist zu Nieder-Wenigern in Westphalen geboren und jetzt siebenzig Jahre alt. Seit vierunddreißig Jahren bekleidet er die Stelle des katholischen Pfarrers in Boehle, nachdem er zuvor in Altena an der Lenne Caplan gewesen. Sein Ruf als Wunderdoctor datirt seit etwa zehn Jahren; man brachte damals einen vom Veitstanze befallenen Knaben aus Voerde zu ihm, und die Nachricht verbreitete sich, daß das Kind durch Händeauflegen und Gebet Genesung gefunden habe. Es ist eine von den Aerzten selbst anerkannte Thatsache, daß heftige Gemüths-Eindrücke oftmals bei sogenannten Nerven-Krankheiten, bei Hysterie und ähnlichen Uebeln Heilung herbeiführen, und so mag denn auch wohl die Erzählung von der Wiederherstellung des Voerder Kindes auf Wahrheit beruhen.

In den nächsten Jahren blühte indessen die Kunst des Pfarrers Hecking wie ein Veilchen im Verborgenen; je dann und wann wurde freilich ein Nervenkranker zum Boehler Pfarrer gebracht, aber Boehle konnte noch keineswegs die Concurrenz mit dem westphälischen Oertchen Breckerfeld aushalten, wo ein altes Weib durch Speckausbraten seit Jahren den Grund aller menschlichen Leiden errieth und durch Thee aus mancherlei Wurzeln und Kräutern angeblich noch Hülfe schaffte, wenn alle Kunst der Aerzte nicht mehr fruchten wollte. Hätte sich jene Genossin des seligen Schuster Lampe zu Goslar rechtzeitig, wie der Boehler Pfarrer, auf’s Beten und Segnen gelegt, so könnten jetzt die Breckerfelder Wirthe ebenso vergnügte Gesichter machen wie die Besitzer der Gasthäuser in dem neuen Zion bei Hagen. Die alte Speckbraterin hat indessen ihre Zeit nicht begriffen, und schwerlich wird sie je den Tag erleben, an welchem sie über fünfhundert Thaler von Kranken entgegen nimmt, wie das der Boehler Pfarrer wiederholt gethan. Keineswegs wollen wir jedoch behaupten, daß der Pfarrer Hecking aus Gewinnsucht die Krankenheilung unternommen habe; wir haben die genauesten Erkundigungen über ihn eingezogen, [748] selbst einen Tag in Boehle verlebt und die Ueberzeugung gewonnen, daß nicht Geldgier die Triebfeder des alten Mannes ist. Der Boehler Seelenhirt und Gebetsdoctor ist keineswegs ein wohlhabender Mann; eine fast grenzenlose Gutmüthigkeit hat ihn oft in schwere Fatalitäten gebracht, und es fehlte nicht viel daran, so wäre er durch Gefälligkeits-Accepte von Wechseln einmal vollständig um Hab und Gut gekommen.

An einem regnerischen Herbsttage unternahmen wir von der Station Cabel aus den Ausflug nach Boehle; in etwa fünfzehn Minuten hatten wir das Dorf und die kleine Kirche erreicht, wo Vormittags gegen achteinhalb Uhr und Nachmittags gegen zwei Uhr die Wundercuren in Scene gesetzt werden. Wir traten in die Kirche ein und begaben uns in die Nähe des Altars, wo eine bunte Menge, den heiligen Mann anstarrend, theils auf den Knieen lag, theils auf den Bänken Platz genommen hatte. Die Kirche selbst bot außer einem hübschen Altar wenig Bemerkenswerthes; keine Wachshände, Wachsherzen oder farbige Kerzen schmückten das Muttergottesbild, wie solches sich in Kevelaer und anderen Wallfahrtsorten findet – man merkte, daß hier baar bezahlt wurde und die Händler mit Wachspräparaten schwerlich ihre Rechnung fanden. An den Wänden und Säulen Kirchenfahnen, vor dem Hauptaltar Guirlanden von Stechpalmenblättern – das war der ganze Schmuck des Gotteshauses.

Wir betrachteten uns die Schaar der Hülfesuchenden näher; unmittelbar vor den Stufen des Altares hatten Damen in seidenen Kleidern und Federhüten Platz genommen, die blödsinnige Kinder an den Händen hielten; in ihrer nächsten Nachbarschaft saß ein hagerer, abgezehrter Mann hüstelnd und zitternd auf einem Bänklein; daneben Gichtkranke mit verbundenen Händen und Füßen, Leute mit Gesichtern von Geschwüren zerfressen, und das Mittelschiff füllten holländische Frauen und Mädchen mit kleidsamen Häubchen oder Goldplatten an beiden Seiten der Stirn, und endlich stämmige Bauern, die wie die gesegnete Mahlzeit aussahen. Wie uns später mitgetheilt wurde, pflegen solche kerngesunde Burschen für ihre bettlägerigen Angehörigen die Pilgerfahrt zu machen. Vor dem Altare selbst sahen wir nun den Helden unserer Erzählung in Stola und schwarzem Talare stehen; er hatte eben die Ansprache an die Versammelten begonnen, die er mit lebhaften Geberden begleitete. Höchlichst waren wir überrascht, eine Rede im breitesten westphälischen Plattdeutsch zu vernehmen.

Es war eine Rede in der ordinär-populärsten Manier, ein Ragout von Gemeinplätzen, was wir zu hören bekamen. „Git leiwe Lü“ (Ihr lieben Leute) war die stehende Anrede des Geistlichen, der mit vornübergebeugtem Haupte und erhobenem Zeigefinger sich zu seinen Zuhörern wandte. In erster Linie wurde die Versammlung mit einer Betrachtung über den jetzt so häufig vorkommenden Irrsinn regalirt; den Verstand, so behauptete Pfarrer Hecking, könne kein Mensch verlieren, und eigentlicher Wahnsinn komme bei Leuten, die in der Furcht Gottes lebten, gläubig und demüthig wären, niemals vor; solche Erscheinungen rührten einzig und allein von höllischen Geistern her, die in den Menschen Macht gewännen, wenn sie sich der irdischen Gesinnung und dem Hochmuthe hingäben. Medicin könne da allerdings nicht helfen; „die Wissenschaft blähe auf“ und Rettung biete sich nur in herzlichem Gebete und Fürbitte dar. Auch die Trauer über begangene Sünden sei oft der Grund zu gestörtem Geisteszustande; solche Trauer sei „dümmer als dumm“, wenn sie zur Verzweiflung ausarte, denn es stehe geschrieben, man solle fröhlich im Herrn sein, und die Reue lösche auch die größten Sünden aus. „Auch ich habe manches Unrecht begangen,“ rief der Pfarrer, „aber wenn ich die Sünden der ganzen Welt auf mir hätte und bereute meine Fehler aufrichtig, so wäre Gottes Gnade groß genug, mir in einem Augenblicke Alles zu vergeben!“ Diese Predigt war sichtlich darauf berechnet, den gesunkenen Lebensmuth der Patienten neu zu beleben, und man sah auch in der That in Augen und Mienen mancher Leidenden das Aufflackern frischer Lebenshoffnung. Auch von unheilbaren Krankheiten, wie man zuweilen Krebs und Schwindsucht bezeichne, wollte der Pfarrer nichts wissen; solche Meinung wurde unter die Rubrik „Dummes Zeug“ verwiesen und kurz und bündig erklärt, mit Gottes Hülfe sei jede Krankheit heilbar und werde geheilt, wenn man ernstlich im Gebete darum anhalte. Allesammt wären wir Gottes Kinder, und wie würde ein Vater seinem Kinde, „dat hä sülvst gemakt hädd“, etwas verweigern können, wenn es recht innig darum flehe, es sei denn, daß die Gewährung der Bitte zum Schaden gereiche. Daraus folge, daß jeder Kranke durch Gebet und Segen Heilung finde – wenn Gott es also wolle! Halte Gott natürlich ein Nichtgenesen für besser, so werde freilich der Patient sterben, was noch immer angenehmer sei, als etwa zwei- bis dreihundert Jahre im Fegefeuer zu brennen. Auf den „festen Glauben“ und das „inbrünstige Gebet“ komme es an; er wolle darüber einige kleine Geschichten erzählen.

Da habe zum Beispiel einst in Cäsarea eine Kirche erbaut werden sollen, doch habe ein Berg im Wege gestanden, den der fromme Bischof aber sofort weggebetet habe. Der heilige Martinus habe drei Todte auferweckt, darunter einen heidnischen Jüngling, der im Begriffe gewesen sei, zum Christenthume überzutreten. Besagter Jüngling sei gestorben, während Sanct Martinus eine Reise unternommen habe; flugs habe ihn der heilige Martin auferweckt nach seiner Heimkehr, damit er doch als Christ hätte sterben können. Dieser Jüngling sei nun darüber examinirt worden, wie es im Jenseits aussehe, und habe gesagt, er sei an einem Orte gewesen, wo er zwar kein Leid, aber auch keine Freude empfunden hätte. Dort sei er hingekommen, so erläuterte der Pfarrer, weil er noch „ungetauft“ gewesen, und auch die kleinen Kinder, welche ohne Taufe sterben, kämen an diesen Platz. Also Glaube, felsenfester Glaube, der thue Noth! Man solle sich nur durch das Geschrei der Ungläubigen und ihren Spott nicht irre machen lassen (ungläubig werde ein Mensch nur, wenn er zuvor lasterhaft gewesen, sagt der Wunderpriester wörtlich) und sich an die Heilsmittel der Kirche halten. Namentlich helfe das Gebet ausgezeichnet bei Besessenen; er habe einmal in seiner Wohnung bei einer Person gebetet, die zwanzig Jahre vom Satanas besessen gewesen sei; da habe es einen Spectakel gegeben, als wolle das ganze Haus einfallen, und besonders habe jeder Tropfen Weihwasser wie flüssiges Feuer gewirkt. In solcher Weise wurde der Sermon eine starke halbe Stunde geführt; zu Ehren der anwesenden „leiven Hollanders“ wurden noch etliche holländische Worte eingeflickt und endlich der Segen über die Versammelten gesprochen. Mit dem Publicum wurde plattdeutsch, mit Gott lateinisch geredet und sodann verordnet, daß jeder Katholik bis zu seiner Genesung täglich sieben Vaterunser und die gleiche Anzahl „Gegrüßet seist Du Maria“ zu Ehren des heiligen Joseph beten solle. Bei Protestanten sollten sieben Vaterunser, bei Juden drei Psalmen täglich den gleichen Effect erzielen. Als die Ansprache vorüber war, marschirte Mann für Mann am Pfarrer vorüber, der Jedem unter Gebetsmurmeln die Hand auf die Stirn legte und dann und wann auch nach speciellen Leiden fragte. Von den Schätzen der Apotheke hatten drei Gnade vor den Augen des Pfarrers gefunden: Bullrich’sches Reinigungssalz, Schafgarbenthee und Hamburger Thee, ein in Westphalen gebräuchliches Purgirmittel. Diese Medicamente waren draußen in einer Bude, neben Rosenkränzen, Heiligenbildchen, Medaillen etc., käuflich zu haben. Der Weg aus dem Kirchlein in’s Freie führte durch die Sacristei, wo eine Blechbüchse aufgestellt war mit einem Placate in deutscher und holländischer Sprache, die Gaben seien für den Neubau einer Kirche und – eines Klosters bestimmt.

Draußen sahen wir uns noch einmal die Gesellschaft an; der abgezehrte Mann hüstelte noch wie vorher, die blödsinnigen Kinder winselten und schrieen und die Gichtbrüchigen schleppten sich ächzend zu den Wagen. Die einzige lustige Figur war ein „fliegender Kurzwaarenhändler“, ein hausirender Sohn Israels, der mit fabelhafter Geschwätzigkeit seine Waaren anpries. „Nehmen Sie eine Brille, lieber Herr! Es kann sein, daß Sie das Gebet vom Herrn Pfarrer hilft; es kann auch sein, nicht. Eine Brille hilft immer vor die Augen und sieht auch schön aus! Wenn ich der Herr Pfarrer sein thäte, ich ließe mir, wie er es früher that, das Geld in die Hand drücken, statt in die Büchse legen, da geniren sich die Leut’ mit Kupfergeld, da kommt viel mehr ein! – Schönes Madamchen, Sie haben Zahnweh, Sie haben, mit Erlaubniß zu sagen, einen dicken Backen; kaufen Sie sich den ‚heiligen Joseph‘, ist ganz vorzüglich vor die Zähne, oder diese Dose Zahnpasta, die hilft noch gründlicher! Der heilige Joseph zweieinhalben Silbergroschen, die Zahnseife fünf Silbergroschen – wenn Sie Beides zusammen nehmen, geb’ ich’s für sechs Silbergroschen – Lieber Herr, Sie wünschen ’nen heiligen Aloysius? – – Aronchen, mein Söhnchen, die heiligen Aloysiusse sind alle – Aronchen, hole mir bei der Frau dahinten für zehn Silbergroschen Heilige!“ –

[749] Am Nachmittage wiederholte sich das gleiche Schauspiel; nur wurde, da der Zulauf geringer war, die Sache in der Sacristei abgemacht. Die Boehler Getränkehändler – die Kirche umgiebt ein Kranz von Wirthshäusern – hatten schon recht gut rechnen gelernt; für ein kleines Schoppenglas Milch mußte jeder „Holländer“ anderthalb Silbergroschen (neun Cents) bezahlen und andere Lebensmittel hatten ähnliche Preise.

Aus dem Ertrage der „milden Gaben“ hat der Boehler Pfarrer ein „Schwesternhaus“ erbaut, welches am 28. October dieses Jahres feierlich eingeweiht worden ist; wenn der Zuzug nicht nachläßt, wird auch der Bau des Klosters und der Kirche nicht lange auf sich warten lassen. Der alte Herr, davon sind wir fest überzeugt, glaubt an seine „Wunderthaten“; er selbst hat für sich große Mühe und wenig Nutzen davon, aber hinter ihm stehen einige ultramontane Geistliche von der dunkelsten Couleur – darunter ein früherer protestantischer Pfarrer – und benutzen den Greis und seine Curirsucht zu ihren Zwecken. Eine Frau ist im verflossenen Sommer in der Kirche gestorben, ein an der Gehirnentzündung erkranktes Kind, welches man zum Wunderthäter geschleppt, hat im Krankenhause zu Hagen den letzten Seufzer ausgehaucht und mancher arme, sieche Mensch muß an den Bahnhöfen das Geld zur Rückfahrt zusammenbetteln, aber der alte Pfarrer fährt mit seinen Gebetscuren fort, die preußischen Thaler und holländischen Gulden rasseln in die Büchse, die Boehler Wirthe lachen und der Menschenfreund erinnert sich mit Wehmuth der Schiller’schen Worte: „Gegen die Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!“

R. E.




Zwei ungedruckte Sonette Friedrich Rückert’s.

Rückert’s Sonettenkranz „Amaryllis“ ist für Würdigung dieses Dichters namentlich in psychologischer und literar-historischer Beziehung von einschneidender Bedeutung. Er liefert uns höchst werthvolle, mehr aus Wahrheit, als aus Dichtung fließende Aufschlüsse zur Erkenntniß des inneren, wie des äußeren Lebens Rückert’s, „welcher lebte, was er sang, und sang, was er lebte“, und erscheint so mehr oder weniger als ein werthvolles poetisches Bild von des Dichters damaligen Erlebnissen und Empfindungen, wie sich diese in der rückblickenden Erinnerung in seiner Seele gestalteten. Zugleich zeigt er uns den Weg, welchen Rückert gehen mußte, um zur Höhe seiner Lyrik im „Liebesfrühling“ aufzusteigen.

Auf Grund authentischer Mittheilungen, actenmäßiger Forschungen und persönlicher Untersuchungen an Ort und Stelle hat der Unterzeichnete auch den Nachweis über die Entstehung dieser Novelle in Liedern zu liefern gesucht.

Die Amaryllis-Sonette besingen Rückert’s jugendliches Liebesverhältniß zur schönen und naiven Maria Elisabetha Geuß, der Tochter des Wirthes auf der idyllischen Specke bei Ebern in Franken, wo noch bis zum heutigen Tage das Zimmer unverändert erhalten wurde, in welchem sich der Dichter im Sommer 1812 längere Zeit aufgehalten hatte.

Rückert’s Verhältniß zu „Marielies“, die ihm den Namen tauschen mußte in Amaryllis formosissima (Rückert’sche Ges.-Ausg. I. 321), war ein ähnliches, wie das von Goethe zu Friederike von Sesenheim, – eine ländliche Liebesidylle, die sich durch das Bewußtwerden des Unterschiedes in Bildung, Sitte und Bedürfnissen wieder löste. Es währte nur einen Sommer (1812). Ein Jahr später „schämte“ sich der Dichter und Gelehrte dieses Verhältnisses und gab seiner Stimmung in sechs Sonetten Ausdruck, deren Manuscript sich in den Händen einer hochstehenden Persönlichkeit in Gotha befindet, die uns dieselben behufs Veröffentlichung mit zuvorkommender Freundlichkeit übergeben hat.

Das zweite, dritte, vierte und fünfte dieser Sonette ist als Nr. 44, 45, 46 und 47 in Rückert’s „ländlichem Gedichte Amaryllis“ bereits gedruckt. (Vgl. Ges.-Ausg. I. S. 305 u. 306.)

Die beiden noch ungedruckten Sonette lauten also:

 Entzauberung

     zum zweiten Sommer der Amaryllis.     1813.

Ihr Amorn und ihr Grazien, welch’ ein Schwindel
War euch gefallen auf die klaren Sinnen,
Als ihr, die ihr sonst schwebt auf goldnen Zinnen,
Mir folgtet hier zum Dach von schlechtem Schindel?

5
Wolltet ihr Seide spinnen von der Spindel,

Der bäurischen, die nur für grobe Linnen?
Die Spul’ ist voll, des Irrthums werd’ ich innen;
Wir müssen abziehn, auf und schnürt die Bündel.

Die Hütte, die durch euch zum Zauberschlosse

10
Verwandelt war, sei nackte Hütte wieder,

Und wieder Magd sei, die durch euch war Nymphe.

Wir spielten eine lächerliche Posse;
Jetzt ist sie aus. Schwingt, Grazien, eu’r Gefieder,
Und tragt sammt euch mich weg von unserm Schimpfe.






Nun Musen, eh’ mit euerem Poeten
Ihr jetzt von hinnen fahrt auf weiter Reise,
Bitt’ ich euch, daß ihr pflücket Ihr zum Preise
Noch eine Blum’ aus euren Sternenbeeten! –

5
Du warst ein Stern, der schönste der Planeten

Warst du, dich drehend im gemessnen Gleise
Um Liebe, deine Sonne, still und leise;
Ich kam dir nach gleich störendem Kometen.

Zum Glück traf dich nicht nah’ genug mein Flammen,

10
Zum Glück warst du so fest in deinen Tiefen,

Daß du nicht wanktest, und nun geh’ ich weiter.

Geh’ deines Weg’s, wir gehen nicht zusammen;
Du gehst in deinem Kreis, ich geh’ durch Schiefen,
Ich Gluth in Dunst, du Venus ruhig heiter.

Dr. C. Beyer.




Die Wunder des gewöhnlichen Spiegels.[1]

Von Fr. Jos. Pisko.

Wer kennt sich selbst? Von allen Seiten tönt ein „Ich!“ als Antwort; aber die Wahrheit schüttelt den Kopf dazu und die Satire verzieht den Mund. Es lag eine richtige Erkenntniß menschlichen Wesens darin, daß sich die Mächtigen der Erde Narren hielten – Narren, Kinder und gewöhnliche Spiegel sagen die Wahrheit, weil sie alle drei geradezu, unverfälscht und unverzerrt das Empfangene symmetrisch zurückgeben.

So arg es auch von Natur aus mit der Selbstwahrnehmung [750] unserer geistig-gemühtlichen Physiognomie bestellt sein mag – für unsere Bekanntschaft mit dem eigenen Gesicht ist genügend gesorgt durch die Wasser- und Hausspiegel. Ohne diese bedürfte es der höchsten Kunst, um zu erfahren, wie man selbst aussieht!

Wie genial wirkt das ordinärste Spiegelstück, indem es uns rasch und wohlgetroffen unser Portrait zeigt, und wie einfach ist die Regel, welche dieser an’s Wunderbare grenzenden Erscheinung zu Grunde liegt! An jedem Billardtisch können wir mittelst der elastischen Elfenbeinkugel das Ebenbild und Widerspiel dieses Gesetzes hervorrufen: Der Winkel, unter dem das Licht abprallt, ist gleich jenem, unter dem es auffällt, wobei die Wege des Lichtes stets in derselben Ebene bleiben. Und mit diesem höchst einfachen Schlüssel öffnet sich nicht blos das Verständniß für die Erscheinungen an unserem Toilettespiegel, sondern es werden auch alle befremdenden Auftritte bei den beliebig geformten Spiegeln begreiflich.

Fig. 2.0 Der Spiegel als Thürhüter.

Gar leicht können wir uns dann erklären, wieso das Bild einer von schiefer Ebene abrollenden Kugel in einem passend geneigten Spiegel mit beschleunigter Bewegung (!) aufwärts zu rollen scheint; warum zwischen zwei parallel gestellten Spiegeln eine Flamme in einer endlosen Reihe wiederstrahlt, und warum sich ein schöner Kreis von Flammen zeigt, wenn wir einen Handspiegel schief an unseren Wandspiegel legen, und eine angezündete Kerze zwischen beide bringen – wem fallen hier nicht die Herrlichkeiten des Kaleidoskopes ein? Und in der That beruhen dieselben auf diesem einfachen Grundversuche, sowie auch die sinnverwirrende Pracht der mit Spiegel bedeckten Kaufgewölbe und der Spiegelsäle aus der Rococo-Zeit.

In dem Spiegelzimmer, sowie im Schöngucker, entsteht die Vervielfachung der Bilder dadurch, daß jedes Bild des einen Spiegels im zweiten Spiegel an einer anderen Stelle ein neues Bild erzeugt; anders ist dies jedoch, sobald der abzubildende Gegenstand nicht mehr zwischen den beiden Spiegeln, sondern außerhalb derselben liegt. Man sieht dann das Bild des Gegenstandes nur einmal. So wirft, links in unserer Zeichnung, der obere in einem einfachen Gerüst schief aufgestellte Spiegel die Lichtstrahlen, welche er von den Gegenständen jenseits des Hügels empfängt, nach einem zweiten, zum oberen parallel gelegten Spiegel. Die Krieger können dann in dem unteren Spiegel ohne Gefahr hinter dem Berge, Hügel, Walle, hinter den Schanzen, Mauern und dergleichen mehr erkennen, was im jenseits gelegenen feindlichen Lager vorgeht. Dieser so billige Kriegsspion wurde von keinem geringeren Manne als von Hevelius, dem durch seine astronomischen Forschungen weit berufenen Rathsherrn zu Danzig, schon vor zweihundertzweiunddreißig Jahren in seinem den Mond beschreibenden Buche angegeben. Hewel – so hieß der Erfinder unseres Instrumentes im Deutschen – faßte die Spiegel in ein Zförmiges Rohr, dessen oberer Arm gegen den Feind, und dessen unterer Zweig gegen das beobachtende Auge gerichtet war; er nannte dieses Winkelrohr mit Anspielung darauf, daß es das Treiben, Thun und Lassen des zweiten streitenden Theiles zeigt, Polemoskop.

Fig. 1.0 Das Polemoskop oder der Spiegel als Kriegsspion.

Obschon Hewel seinen Kriegsgucker in zweckmäßiger Weise mit Linsen verband, und dadurch zu einem Winkelrohr gestaltete, wobei der Beobachter durch die Schanzmauer geschützt war, und obschon auch das offene Polemoskop in unserer ersten Figur sich mit Linsen in passender Weise versehen ließe, so hat diese Spiegelcombination im eigentlichen Kriege doch nur eine spärliche Anwendung gefunden. Etwas häufiger mag die Spiegelverbindung des Polemoskopes in jenem kleinen Kriege benützt worden sein, den einzelne Menschen unter sich oder gegen die Gesellschaft führen. So sehen wir in unserem zweiten Bilde eine nicht sehr ehrenwerthe Gesellschaft im oberen Raume, welche in dem auf einem Tische ruhenden Spiegel eines Polemoskopes die nachforschenden, vor der unteren Einlaßthür harrenden Männer des Gesetzes erkennt. Der obere Spiegel ragt nach außen, empfängt die von den unten Stehendeu ausgehenden Lichtstrahlen und sendet die letzteren zum anderen Spiegel, aus dem eine alte Uebelthäterin die für die Versammlung keineswegs erfreuliche Botschaft meldet. Der Mann im unteren Raume beobachtet die Gegner überdies in einem einfachen Wandspiegel und scheint sich auch auf’s Horchen zu verlegen. Mit mehr Erfolg als hier sollen sich solche polemoskopische Spiegel-Zusammenstellungen gegen lästige Besucher, zudringliche Mahner, bekannte Schuldenmacher etc. bewähren. Ja selbst der einfachen Neugierde kann eine am Fenster befindliche polemoskopische Spiegellagerung gute Dienste leisten, indem man ruhig im Zimmer beobachten kann, was in der Gasse vorgeht.

Wenn auch Hewel der Erste war, welcher parallele Spiegel [751] in einem Fermowinkelrohr für kriegerische Zwecke derart zurecht legte, daß der Beobachter durch die Schanze geschützt war: so ist es doch höchst wahrscheinlich, daß ähnliche Spiegelverbindungen schon vor ihm bekannt waren. Alte Sagen erzählen von Spiegeln, in welchen Hexenmeister den Bestohlenen das Bild des Diebes und zurückgelassene Frauen das Portrait ihres entflohenen Mannes hätten sehen lassen – sollten bei diesen Spiegelkünsten nicht polemoskopische Spiegel betheiligt gewesen sein? Wenn es wahr ist, daß Nostradamus gegen die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts seiner Beschützerin Katharina von Medici das Bild des ersten Bourbonen auf dem Throne Frankreichs in einem Spiegel vorgezaubert habe, so erklärt sich diese optische Prophezeiung aus unserem dritten Bilde recht gut. Ein hinter den Draperien versteckter oberer Spiegel empfängt von dem verborgenen Darsteller des Zukunftskönigs die Lichtstrahlen und wirft dieselben nach dem unteren Spiegel, in welchem Katharina von Medici das Bild des ersten Bourbonenkönigs sieht, wenigstens muß sie es dafür nehmen. Wie sollte sie noch daran zweifeln, da ihr die Kunde durch den gewaltigen Sterndeuter Nostradamus selbst wird, durch ihn, der seine Prophezeiungen in einem Buch niederlegte, welches noch in späteren Tagen bei Leicht- und Abergläubigen in hohem Ansehen stand, und welches selbst noch viel später (1781) von Rom geachtet und von dort aus verboten wurde, weil es den Untergang des Papstthums verkündet. Ob der „Faust“ unseres Goethe die Handschrift dieses oder eines noch zauberkräftigeren Buches meint, indem er ruft:

„Und dies geheimnißvolle Buch,
Von Nostradamus eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?“

wird wohl nie erforscht werden.

Fig. 3.0 Nostradamus zeigt der Katharina von Medici das Spiegelbild des ersten Bourbonenkönigs.

So sehr auch Nostradamus seinen Verehrern mit seinen weissagenden Büchern, seinen astrologischen Kenntnissen und magischen Spiegeln imponirt hat, Eines ist gewiß, daß dieser in Zauberdingen sicher nicht unerfahrene Mann heutzutage in höherem Grade erstaunen würde als ehedem seine Bewunderer, wenn er bei vollem Theaterhause, auf offener Bühne Geister, Gespenster, Gnomen, Götter, Krieger, kurz Gestalten jeder Art plötzlich kommen und ebenso überraschend verschwinden sehen würde, wobei die Erscheinenden nicht, wie bei seinem Spiegel, in Dunkel und Nebel gehüllt, sondern lebensvoller und körperlicher, als selbst die greifbare Umgebung, sich zeigen, und wobei von einem Spiegel nichts zu merken ist. Und dennoch spielt auch bei diesen Geisterauftritten der Neuzeit gerade der ebene Spiegel die Hauptrolle und dies sogar, mit Hinsicht auf das Princip, in einfacherer Weise als bei den älteren Zauberspiegeln.

Unser viertes Bild wird uns das Verständniß der Gespenster, wie sie auf unseren Theatern leicht hervorgerufen werden, vermitteln. Eine Glasscheibe, so hoch und breit als sie nur die jetzige Glasindustrie zu liefern vermag, wird gegen das Publicum geneigt derart aufgestellt, daß sie den hinteren Theil der Bühne von den Zuschauern abschneidet. Die letzteren bemerken diese mächtige Tafel nicht, weil sie aus dem feinsten, farblosen Glase angefertigt ist. Man erinnere sich an eine ähnliche Thatsache, welche die geschliffenen Glasscheiben unserer Prachtläden und herrlichen Kaffeehäuser bieten. An der Vorderseite der vorhin erwähnten, geneigten, gläsernen Bühnenwand spiegeln sich Personen, Gegenstände u. dergl. m., welche unterhalb des Theaters, jedoch vor dem Spiegel aufgestellt und kräftigst beleuchtet sind. Im oberen Theaterraume empfangen dann die hier Sitzenden die vom Spiegel zurückgeworfenen, ursprünglich aus der stark erhellten Versenkung kommenden Lichtstrahlen, und jedes Auge der Zuschauer vereinigt die von der spiegelnden Glasscheibe erhaltenen Lichtstrahlen, gerade so wie beim gewöhnlichen Stubenspiegel, zu jenen Bildern, von welchen die unterirdisch gruppirten Schauspieler und Gegenstände die Originale sind.

Fig. 4.0 Der Gespensterspiegel auf den Theaterbühnen.

Weil die auf der Bühne schief lehnende Glasscheibe sehr durchsichtig ist, so sieht man auch noch jene Schauspieler, welche hinter derselben auf den Brettern thätig sind. Geht es uns doch in den öffentlichen Prachtlocalen nicht anders! An den nach außen gehenden herrlichen Glasscheiben spiegeln sich die im Verkaufsgewölbe brennenden Flammen, und dennoch sehen und erkennen wir auch die draußen vorüberziehenden Personen und Dinge. Ein Gleiches findet nun im Theater an der gläsernen Bühnenwand statt. Unser viertes Bild zeigt, wie ein auf der Bühne thätiger Schauspieler nach dem ihm erscheinenden Geist ohne Erfolg schießt; denn diese Geister sind schuß-, stich- und hiebsicher – sie sind nämlich so wenig wirklich vorhanden, daß sie nicht einmal schwebende Bilder [752] in der Luft bieten, sondern sie kommen erst auf der Netzhaut des Zuschauers, vermöge der Linsenwirkung des Auges, zu Stande.

Der geisterscheue Mime in unserer vierten Figur kann von der Erscheinung nichts wahrnehmen, weil er ja hinter dem Spiegel steht, während die bildgebenden Strahlen alle von der Vorderseite der gläsernen Bühnenwand nach den Augen der Zuschauer im Theaterraum zurückgeworfen werden. Damit also die Täuschung des Publicums gelinge, müssen bei der Probe den Schauspielern sowohl auf als unter der Bühne ihre Stellen für den Abend genau bezeichnet werden. Diese Oerter müssen sie streng einhalten, weil sonst Lächerlichkeiten und Unsinn entsprängen. Denn der Schauspieler auf der Bühne würde vielleicht einem Gespenst die Hand reichen und dieses stünde auf einer ganz anderen Seite etc.

Wer je Gelegenheit hatte, die soeben besprochenen, zu Anfang unseres Jahrzehntes von Pepper in London zuerst auf die Bühne gebrachten Spiegelbilder in guter Darstellung zu sehen, wird ohne Rückhalt zugeben, daß sie ganz geeignet dazu sind, jene Gespenstererscheinungen auf natürlichem und einfachem Wege hervorzurufen, die einst bei ganzen Generationen als Wunder Platz und Glauben fanden. Der Mann am Beleuchtungsapparat in unserer vierten Figur bringt einen Deckel vor seinen Kasten und alle Erscheinungen verschwinden, weil sie nicht mehr erhellt sind; jener Mann öffnet seine Laterne und die Erscheinungen sind wieder da – wo giebt es Ereignisse, welche mehr Ueberraschung, mehr Bewundernswerthes brächten als diese höchst einfachen Spiegelerscheinungen?

Es ist wahr, daß Robertson gegen Ende des vorigen Jahrhunderts (1798) mittelst vortrefflicher Zauberlaternen ähnliche Erscheinungen in dem alten, nahe dem Vendomeplatz gelegenen Capucinerkloster hervorrief; aber das Princip war bei Robertson viel complicirter als bei den Bühnenspiegeln der Neuzeit, und ein gemischtes Spielen wirklicher Personen mit den optischen Bildern, wodurch gerade die Täuschungen so sehr gesteigert werden, war nicht möglich. Gleichwohl ist, nach den mir vorliegenden Zeitungsberichten aus jenen Tagen, sicher, daß die Täuschung des Publicums vollkommen und so sehr gelungen war, daß es, obschon gehörig belehrt, dennoch vor Furcht zitterte, wenn die Geister sich in das Parterre zu stürzen drohten.

Fig. 5. Robertson’s Gespenster mittelst der Zauberlaterne.

In unserem fünften Bilde sehen wir links hinter der Säule die Zauberlaterne, welche ihre Bilder, in dem gegebenen Fall den mähenden Tod, nach einer weißen, durchscheinenden, über die Bühne gespannten Leinwand wirft, auf deren Vorderseite dann das in tiefster Finsterniß weilende Publicum das schreckliche Gerippe entsetzt wahrnahm. Da auch der Zuschauerraum mit Thiergeripp’ und Todtenbein, mit Eulen, Käuzchen, nackten Schädeln und ähnlichen freundlichen Dingen behängt war, da ferner Geräusch, Lärm, Gekrächze das Publicum betäubten und da endlich auch durch Abrücken der Zauberlaterne die Bilder an Größe wuchsen und sich daher dem Parterre zu nähern schienen: so war der Schrecken ein allgemeiner und natürlicher. Die Pariser suchten jene Schauer um theueres Geld auf, der Raum konnte die Zuschauer. kaum fassen. Und dennoch, wie sehr stehen jene Vorstellungen mittelst der Zauberlaterne hinter denen an der heutigen einfachen gläsernen Bühnenwand zurück! Allein auch die höchsten Leistungen der durchsichtigen Bühnenspiegel verschwinden wieder gegen die wissenschaftlichen Großthaten eines kleinen Spiegelstückchens, welches man an schwingenden Magnetstäben befestigt – die Pulsirungen der erdmagnetischen Kraft werden dann sichtbar! Mittelst elektro-magnetisch schwingender Spiegelchen sprechen die durch’s Meer getrennten Continente miteinander und erhöhen ihren Verkehr n schwingende Spiegelchen machen ein musikalisches Stimmen mittelst des Auges in einem so genauen Grade möglich, wie dies durch das feinste Gehör nie zu erzielen ist.

Diese höchst interessanten Errungenschaften der neueren Zeit wollen wir ein anderes Mal in diesen Blättern eingehender besprechen.




Blätter und Blüthen.

Die Schillerstiftung. Wieder ist eine Generalversammlung der deutschen Schillerstiftung vorübergegangen, und wir erfahren aus dem gedruckten Protokoll derselben, daß

1) Karl von Holtei eine lebenslängliche Pension von fünfhundert Thalern,

2) Karl Beck eine von dreihundert Thalern,

3) Alexander Jung eine von dreihundert Thalern, und

4) Herder’s Enkelin eine solche von hundert Thalern erhalten habe.

Eine Anfrage Robert Heller’s, des Vertreters von Hamburg, ob die Bewilligung dieser Pensionen nicht vielleicht dringlichere Unterstützungen bei Seite schieben würde – wurde verneint.

Hofrath Pabst (für Leipzig) schlug darauf zwei Personen zur Unterstützung vor, von welchen jedoch, wie er bemerkte, die eine von dem Verwaltungsrath an die Stiftung Dresden gewiesen worden – es sei dies die Wittwe August Diezmann’s. Dresden sei nun gegenwärtig nicht in der Lage eine solche Unterstützung zu gewähren. Er drücke daher den Wunsch aus, der Verwaltungsrath möge, so gut als thunlich, für eine Unterstützung der Wittwe Diezmann’s sorgen, und beantragt diesfalls eine Unterstützung von je hundert Thalern auf drei Jahre. –

Das Protokoll sagt etwas undeutlich, daß „dieser Wunsch zur Kenntniß genommen“ – aber der Vorschlag wurde bewilligt!

Einhundert Thaler für die Wittwe Diezmann’s auf drei Jahre,

nachdem Dr. Heller noch hervorgehoben, welche Verdienste sich Diezmann um die deutsche und besonders um die Schiller-Literatur erworben!

Der erste Paragraph der Satzungen der deutschen Schiller-Stiftung lautet.

„§. 1. Zweck der Stiftung.

Die Schillerstiftung hat den Zweck deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die National-Literatur (mit Ausschluß der strengen Fachwissenschaften) verdienstlich gewirkt, vorzugsweise solche, die sich dichterischer Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren nächstangehörigen Hinterlassenen in Fällen über sie verhängter schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand darbietet. Sollten es die Mittel erlauben und Schriftsteller oder Schriftstellerinnen, auf welche obige Merkmale nicht sämmtlich zutreffen, zu Hülfe und Beistand empfohlen werden, so bleibt deren Berücksichtigung dem Ermessen des Verwaltungsrathes überlassen.“

Dr. August Diezmann, nicht allein bekannt als Uebersetzer und Bearbeiter guter fremder Werke, als Redacteur verschiedener Zeitschriften, wie als selbstständiger Autor verschiedener Werke, sondern auch als unermüdlicher Forscher gerade in der Schiller-Literatur, aus der er viel Werthvolles zu Tage gefördert, wurde die letzten Jahre dermaßen durch [753] Krankheit und Lähmung an sein Lager gefesselt, daß seine sonst so zähe Arbeitskraft nachließ und er bei einer großen Familie nach und nach in Verlegenheit, vielleicht sogar in Sorgen gerieth. Er war wenigstens gezwungen, sein liebstes Eigenthum, was er hatte, seine Bibliothek, selbst zu veräußern. Soviel ich weiß, wurde er in den letzten Jahren, und auch selbstverständlich durch die Schillerstiftung unterstützt, denn wenn Diezmann das nicht verdient hatte – wer dann? Nun ruft ihn der Tod ab – bei einer großen Familie war er nicht im Stande gewesen zu sparen – und wie Wenige von uns deutschen Schriftstellern können das überhaupt, wenn sie, wie gerade er, nur ausschließlich und allein von ihrer Feder leben!

Darauf beantragte der Vertreter von Leipzig, Hofrath Pabst, der – trotzdem daß er Leipzig gerade vertrat, wo Diezmann ausschließlich gewirkt – ihn jedenfalls nur als Uebersetzer gekannt zu haben scheint (selbst der Name ist unrichtig mit tz im Protokoll geschrieben) ein hundert Thaler für die Wittwe desselben auf drei Jahre, wonach sie dann wieder eine Eingabe machen müßte, um mehr zu bekommen. Außerdem gelang es nur der warmen Befürwortung des Abgeordneten für Hamburg, Dr. Robert Heller, selbst das durchzusetzen.

Die Satzungen der deutschen Schillerstiftung sagen, wie oben angeführt, deutlich, daß „den Schriftstellern oder ihren nächstangehörigen Hinterlassenen Hülfe und Beistand geleistet werden soll.“

Und konnte die Schillerstiftung nicht mehr erübrigen?

Dann frage ich, und mit mir viele andere Schriftsteller in Deutschland: was hat Herr Alexander Jung für die deutsche National-Literatur geleistet, daß er (der sich nicht einmal in schwerer Lebenssorge befindet, da er angestellt ist) vor den nächsten Hinterlassenen eines würdigen deutschen Schriftstellers eine lebenslängliche Pension von dreihundert Thaler jährlich beziehen kann?

So viel ich weiß, hat Herr Alex. Jung nur ein oder zwei Brochüren über Gutzkow geschrieben (denn strenge Fachwissenschaften sind für die Schillerstiftung ausgeschlossen), und ich begreife nicht recht, wie es kam, daß die Frage nicht näher von dem Verwaltungsrath erörtert wurde, als Robert Heller anfrug, ob so viel an A. Jung gewendet werden könne, ohne Gefährdung näherer Pflichten.

Der Nachsatz in §. 1 der Satzungen sagt allerdings, daß auch Schriftsteller und Schriftstellerinnen, auf welche obige im Beginn des Paragraphen angegebene Merkmale nicht sämmtlich zutreffen, zu Hülfe und Beistand empfohlen werden können und dem Ermessen des Verwaltungsrathes überlassen bleiben sollen, aber dürfen darunter die Interessen wirklicher Schriftsteller oder ihrer nächsten Hinterlassenen, die der Paragraph ausdrücklich auf eine Stufe stellt, leiden?

August Diezmann war einzig und allein Schriftsteller und lebte nur von dem, was er mit der Feder verdiente – er hat dabei für unsere deutsche National-Literatur verdienstlich gewirkt. –

Jetzt frage ich: ist ihm oder seinen nächsten Hinterlassenen wirklich von der besonders dazu bestimmten Stiftung – wie die Satzungen es sagen – Hülfe und Beistand geworden, indem die General-Versammlung der Wittwe einhundert Thaler auf drei Jahr bewilligte? Und Herr Alexander Jung bekömmt dreihundert Thaler lebenslängliche Pension – wofür? warum? Friedrich Gerstäcker.     




Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen.[2] ... So hätten wir also eine neue Freiheit – die Theaterfreiheit. Woraus entstand, worin besteht sie und was wird sie uns bringen?

Das Gesetz des Norddeutschen Bundes, das die Concessionsbeschränkungen für theatralische Darstellungen aufhebt, hat seine Begründung in zwei unabweisbaren Grundrechten: in der Befugniß, durch Wort und Schrift die Gedanken zu äußern, und in der Gewerbefreiheit. Sie sehen freilich als erste Folge, daß Bierhäuser, Concerthäuser, Etablissements zweideutigen und entschieden verwerflichen Rufes Schaubühnen errichten.

Wer bietet nun Schauspiele, wem und was wird geboten?

In der Zeit der Reaction war man auf das Mittel verfallen, für Herausgabe einer Zeitschrift eine bestimmte Garantie, abgesehen von der Censur, zu verlangen. Das hat sich als unthunlich erwiesen; das Strafgesetz für Übertretung der staatlichen und sittlichen Ordnung reicht aus. Denn wer darf bestimmen: „Du bist befähigt zur Herausgabe einer Zeitschrift und Du nicht!“? Ebenso verhält es sich mit Errichtung eines Theaters. Erinnern Sie sich aber eines Wortes von Lessing in Emilia Galotti: „Könnte ich diesen Ton vor Gericht stellen.“ Ja, es kann Töne, Bewegungen geben, die Alles verletzen und doch nicht vor Gericht gestellt werden können.

Wem bieten die neuen sogenannten Volkstheater ihre Schaustellungen? Nicht dem arbeitsamen, im Feierabend Erholung suchenden Volke, sondern in der Regel den verlebten Müßiggängern, und was sie bieten, sind Possen, Reizspiele, halb maskirte oder ganz demaskirte Tanzreizungen.

Die erste Folge der Theaterfreiheit ist also Geschmackverwilderung und noch Schlimmeres.

Daran sind die Dichter schuld, werden Sie erwidern – warum bringen sie nicht gute Volksstücke? Das Volk in seinem gesunden Kern wird sich daran mehr erquicken, als an Possenreißereien mit wohlfeilen politischen Anspielungen in Couplets oder gar mit leicht zu enträthselnden Unzüchtigkeiten.

Gewiß! Hier liegt allerdings der Hauptaccent. Es ist aber Thatsache, daß sich die Productivität des modernen Dichtergeistes vom Theater entfernt und auf die erzählende Dichtkunst in Prosa gewendet hat. Daneben bildet die Naturwissenschaft, die der eigentliche Mittelpunkt unserer Geistesepoche ist, eine ganz neue Literatur. Das Theater und die theatralische Dichtkunst ist unverkennbar im Verfall. Die Theaterfreiheit wird diesen Verfall, nach meiner Ansicht, noch beschleunigen, indem sie die Geschmacksverwilderung, die gemeine Schaulust auf die Spitze treibt. Dann aber kommt die Umkehr, denn die Freiheit ist in allen Dingen das beste Correctiv für die in ihr gegebenen Ausschreitungen.

Wie es sich allmählich herausarbeitete, daß Zeitschriften, die auf die niedrigen Lüste des Publicums wie auf Scandal und momentane Aufreizung speculirten, in sich verkommen, wie sich allmählich eine sittliche und eine Geschmacksnorm im lesenden Publicum bildete, so wird es sich auch im schauenden gestalten und neue Kräfte werden sich hervorthun, die das Rechte schaffen. Ich komme wohl noch einmal auf dies Thema zurück.




Noch einmal die Belltafel. Ueber dieses uralte Gesellschaftsspiel, das der Verfasser des betreffenden Artikels der Gartenlaube (S. 523) nur noch den Städten Breslau und Liegnitz eigen sein läßt, sind uns Mittheilungen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands zugegangen, welche auf Verbreitung, Alter, Bezeichnung und die Verwandtschaft desselben mit Kegel- und Billardspiel wenigstens einiges Licht werfen.

Genau dieselbe Belltafel, wie sie in der Gartenlaube bildlich dargestellt ist, findet sich in dem Dorfe Zeschnig bei Hohenstein in der Sächsischen Schweiz. Das Spiel heißt dort „Bilger“ und wird stets mit vier numerirten Steinen von vier Mann gespielt. Eine ähnliche „Bilgertafel“ soll in dem Wirthshause des Dorfes Fischbach bei Stolpen, ebenfalls in Sachsen, stehen.

Aus Thüringen kommen uns mehrfache Nachrichten zu. Einen festen Sitz hatte dieses seltene Spiel in den drei Dörfern Oberdorla, Langula und Niederdorla zwischen Eisenach und Mühlhausen, deren Bewohner den Namen „Vogteier“ tragen. Neben mancherlei Eigenthümlichkeiten in Trachten und Sitten zeichneten sie sich auch durch das „Bellke- oder Billke-Spiel“ aus, wie sie es nannten. Nur die Belltafel von Oberdorla wich insofern von der gewöhnlichen, wie auch Breslau sie zeigt, ab, als bei ihr auf dem runden Ende der Tafel auf einem Kreuz neun Kegel aufgestellt waren, welche durch mit Queues (ganz wie die Spielstöcke des Billards) fortgestoßene Kugeln umzuwerfen waren. Dieser Apparat, der uns in der Belltafel eine Verbindung von Kegelbahn und Billard zeigt, wurde 1859 ein Raub der Flammen; der zu Niederdorla wird als langer Kneiptisch entwürdigt, und der Dritte ist ein verkanntes Werthstück einer Rumpelkammer. Dagegen soll das Karnstädt'sche Wirthshaus in Windehausen bei Nordhausen noch im Besitz einer Belltafel sein.

„Belke“ wird ferner noch in den Ortschaften Donndorf und Bottendorf bei Wiehe (an der Unstrut, im Kreis Eckartsberga) gespielt, und zwar genau wie in Breslau, nur nicht von einer geschlossenen Gesellschaft, sondern von Jedem, der Lust dazu hat. Auch in der goldenen Aue, in Tilleda, der ehemaligen kaiserlichen Pfalz am Fuß des Kyffhäusers, fand ein fröhlicher Wanderer noch 1844 eine Belltafel, die derselbe auf eine Länge von acht bis zehn Ellen schätzt, und die muldenförmig, mit Graphit geglättet und mit einem erhabenen Rande versehen war, welcher das Herausgleiten der Steine verhinderte.

Endlich schreibt uns aus Königsberg in Preußen Einer, der vor beiläufig fünfzig Jahren dort studirt hat, daß es damals noch drei sogenannte „Pilketafeln“ in den ehemaligen „Gemeindegärten“ der drei Städte Altstadt, Löbenicht und Kneiphof gegeben habe. Auch dort waren die Räume, in welchen sie aufgestellt waren, mit Schützenscheiben geziert. Man sah gar nicht selten ältere Bürger sich mit dem Spiele vergnügen, welches ganz mit dem in der Gartenlaube geschilderten der Breslauer übereinzustimmen schien. Die Tafeln waren jedoch nicht muldenartig vertieft, ohne Rand oder sonstige Vorrichtung. Sie bestanden aus einer einfachen, durch Alter gebräunten und durch das Spiel spiegelglatt gewordenen Eichenplanke und es wurde wohl auf dieselben wegen ihrer enormen Länge, ansehnlichen Breite und völligen Ast- und Fehlerlosigkeit als auf Merkwürdigkeiten und Zeugen von dem, was einst der preußische Wald lieferte, aufmerksam gemacht.

Der Kneiphöfischen Pilketafel gedenkt noch Rosenkranz in seinen Königsberger Skizzen (Danzig, 1842. 1. Abth. S. 196), aber schon als in Privatbesitz übergegangen. Er erwähnt, daß sie 1580 gestiftet sei.




Ein Besuch. Es ist seit langen Jahren mein Schicksal gewesen, daß ich eine leider sehr große Anzahl von Briefen bekomme, die – sämmtlich, ohne Ausnahme mit der Form beginnen: „Entschuldigen Sie, wenn ein gänzlich Unbekannter“ – etc. – – Es sind das jedesmal oft sehr lange und ausführliche Schriftstücke, die zuerst die Lebensgeschichte des Betreffenden erzählen, dann die Versicherung enthalten, daß sich derselbe vor keiner Arbeit scheue, und zuletzt um einen kurzen Ueberblick der Verhältnisse sämmtlicher Welttheile, wie um Nennung eines bestimmten Punktes bitten, wohin sich der Auswanderungslustige wohl wenden könne, um eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung zu finden. – Ja nicht selten wird sogar von mir verlangt, ihnen eine solche möglicher Weise nachzuweisen oder ihnen doch wenigstens Empfehlungen nach Amerika oder Australien mitzugeben.

Ich lebe nur von dem, was ich mir mit der Feder verdiene, und wollte ich nur die Hälfte jener Briefe beantworten, so müßte ich die Schriftstellerei vollkommen aufgeben, mir ein paar Secretaire halten, und meine Zeit ausschließlich auf diese Correspondenz verwenden, aber das kann ich nicht. Was ich über Auswanderung weiß, habe ich in meinen letzten Reisewerken dem Publicum vorgelegt. Wer wirklich auswandern will, mag die meinigen und Anderer Schriften darüber lesen, um sich ein eigenes Urtheil darüber zu bilden. Außerdem schicke ich grundsätzlich nie einen Fremden nach einem bestimmten Punkt der Erde, weil ich die große Verantwortlichkeit dafür nicht übernehmen mag. Schildert man auch noch so treu und gewissenhaft, die Phantasie der Europa-Müden malt sich die Sache doch ganz anders aus, und wozu sich unnützer und unnöthiger Weise Vorwürfe holen!

[754] Eine andere Classe von Auswanderungslustigen sind solche, die unglücklicher Weise in der Nähe wohnen und uns in der eigenen Wohnung überfallen. Oft treibt sie noch nicht einmal ein fester Entschluß, sondern erst ein unbestimmter Drang – sie wollen erst Erkundigungen über alle möglichen Welttheile einziehen und sich dann erst entscheiden – oder vielleicht auch nicht. Daß sie mir dabei mitten in meine Arbeitszeit hinein gerathen und mir einen ganzen Vormittag verderben, fühlen sie nicht. Wie der gute Mann, der sich einmal zu mir hinsetzte und mir mit der größten Gemütlichkeit sagte. „Ach bitte, erzählen Sie mir einmal jetzt etwas über Amerika – ich habe g’rade Zeit –“ so haben sie immer Zeit, und ich muß darunter büßen.

Man will doch nicht gern grob gegen solche Besucher sein – lieber Gott, es ist ja auch für sie oft, wenn sie wirklich mit ihren Familien auswandern wollen, eine Lebensfrage, und ich habe noch Niemanden fortgeschickt, aber – ich sitze dabei oft stundenlang auf der Folter, und was ich dabei versäume, vergütet mir Niemand wieder.

Manchmal freilich – leider nur selten – kommt aber auch ein Lichtblick in diesen Besuchen. So erinnere ich mich eines, der mir ewig unvergeßlich sein wird.

Ich saß in Gotha an meinem Schreibtisch, mitten in einem Roman, „Eine Mutter“, und hatte den Kopf gerade voll genug, als das Mädchen herein kam und mir sagte, es sei ein Herr draußen, der mich zu sprechen wünsche – er hätte nicht gut ungelegener kommen können.

„Wer ist es?“

„Ich kenne ihn nicht – er sagt, er wäre ein Buchbinder und müsse Sie sprechen.“

Ein Buchbinder – da war noch Hoffnung und die Sache vielleicht in zwei Minuten abgemacht – er solle nur kommen –

Es dauerte einige Minuten, bis er die Treppe heraufstieg – ich schrieb indessen weiter, als es plötzlich sehr entschieden an die Thür klopfte, und diese, ehe ich nur „herein“ sagen konnte, auch schon geöffnet wurde, und herein trat ein junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren, anständig, wenn auch ein wenig auffallend gekleidet, mit einem lichtblauen Frack und einer kirschrothen Cravatte, beide etwas mitgenommen; dazu blonde gelockte Haare und ein äußerst vergnügtes rothes Gesicht, mit dem er mir ein so gut gemeintes und fröhliches „Guten Morgen“ entgegen rief, daß ich unwillkürlich lächeln mußte. Es sah dabei genau so aus, als ob er sagen wollte: ‚Da bin ich, haben Sie schon lange gewartet? aber setzt soll’s losgehn.‘ Es war jedenfalls ein komischer Kauz.

„Guten Morgen!“ sagte ich, „mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Bitte,“ sagte mein fideler Besuch, „ich bin Herr Friedrich Wilhelm Rassel – Buchbinder meinem Beruf nach – aus Eisenach –“

Ich mußte setzt wirklich an mich halten, daß ich nicht gerade hinaus lachte; Herr Friedrich Wilhelm Rassel schien aber mein vergnügtes Gesicht ganz in der Ordnung zu finden und dadurch gar nicht außer Fassung zu kommen.

„Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ frug ich und deutete auf einen neben mir stehenden Stuhl.

„Gewiß!“ sagte Herr Friedrich Wilhelm Rassel mit der größten Ruhe und war im Begriff, seinen Hut auf den ihm nächsten Gegenstand abzulegen, als er dort etwas Außergewöhnliches bemerkte.

„Jemine!“ rief er, den Gegenstand genauer betrachtend – es war ein Tigerschädel – „ist das ein Hundekopf? Bombenelement, was der für Zähne gehabt hat –“

„Es ist ein Tigerschädel –“

„I, nun sehn Se mal an – und der war von einem lebendigen Tiger? – den haben Sie wohl mitgebracht? – Und was sind das alles für curiose Dinger?“ fuhr er, an der Wand herumblickend, fort. „Hören Se, was ist denn das da?“

Da ich keine besondere Lust verspürte, die doch nutzlose Arbeit zu beginnen, ihm meine ganze ethnographische Sammlung zu erklären, so unterbrach ich ihn und frug ihn, was ihn zu mir geführt. Die Gegenstände aber, von deren Existenz im Allgemeinen er überhaupt wohl noch keine Ahnung gehabt, interessirten ihn viel zu sehr, um sich indirect und mit Artigkeit davon abbringen zu lassen. Er frug nach jedem einzelnen Stück und hörte kaum, daß das indianische Waffen seien, als er mit der größten Bereitwilligkeit auf die indianischen Verhältnisse übersprang. „Wie sehen sie aus?“ „Fressen sie Menschen?“ „Gehen sie immer nackt?“ „Auch im Winter?“ „Sind sie bös?“ und tausende von derartigen wahnsinnigen Fragen mehr.

„Mein lieber Herr Rassel,“ sagte ich endlich, „ich bin sehr beschäftigt – ich habe nothwendig zu thun und sehr wenig Zeit – eigentlich gar keine. Womit kann ich Ihnen dienen?“

Herr Rassel warf noch einen verlangenden Blick auf die Sammlung. „Ach ne, sehn Se ’mal, das ist ja wohl eine Lanze?“

„Ja – aber was hat Sie zu mir geführt?“

„Und da stechen sie damit?“

Den besten Menschen können solche Fragen zur Verzweiflung bringen und ich hätte ärgerlich werden können; Friedrich Wilhelm Rassel sah aber so vergnügt bei dem Allen aus und war so still in sich befriedigt – ich konnte ihm nicht böse sein.

„Nun kommen Sie, mein guter Herr Rassel,“ sagte ich, „setzen Sie sich jetzt einmal auf den Stuhl – rauchen Sie?“

„Ich habe keine Cigarren bei mir.“

„Hier haben Sie eine – da stehen Schwefelhölzer – so – wenn Sie mich wieder besuchen, erkläre ich Ihnen jedes Stück,“ (ich war fest entschlossen, dem Mädchen strenge Ordre zu geben, daß ich nie wieder zu Hause wäre) „und nun sagen Sie mir, was Sie eigentlich von mir wollen, denn ich muß selber gleich ausgehen.“

„Ja, sehen Sie,“ sagte Herr Rassel, indem er sich die Cigarre anzündete, das Schwefelhölzchen in meine erst halbgeleerte Kaffeetasse warf und sich dann, den Hut neben sich auf die Erde stellend, in dem Armstuhl behaglich niederließ, „ich bin eigentlich Buchbinder – mein Vater war auch Buchbinder und wohnte früher in Eisenach, da aber sein Geschäft dort nicht so recht ging –wissen Sie, es waren zu viel Buchbinder dort, und er hatte eine große Familie. Ich habe noch drei Brüder und vier Schwestern, und wenn wir Alle zusammen waren –“

„Aber lieber Herr Rassel, ich muß wirklich gleich fort und möchte doch so gern vorher –“

„Wo gehen Sie denn hin?“ frug Friedrich Wilhelm Rassel mit der größten Unschuld.

„Ich – habe Geschäfte zu besorgen,“ log ich in aller Verzweiflung.

Herr Rassel sah mich von der Seite an – als ob es ihm selber sonderbar vorkomme, daß ich vorgab, in Gotha Geschäfte zu haben, aber er äußerte Nichts darüber.

„Ja,“ bemerkte er nach einer kleinen Pause, „eigentlich wollte ich nach Amerika und – da Sie doch schon einmal ein Buch darüber geschrieben haben, so wissen Sie gewiß, wie es dort aussieht. Ist da eine gute Stelle für Buchbinder?“

Amerika – oben im Norden decken weite Eisflächen das Land; dort breiten sich die weiten Seen und Prairien; auf schäumendem Roß jagt der wilde den Büffel; rege Städte, reges Treiben; Sümpfe; wildverwachsene Palmendickichte; endlose Llanos und riesige Ströme; Wildniß so weit das Auge reicht; fruchtbare Hänge und Triften; weite Pampas mit zahllosen Viehheerden und Rudeln von Wild bedeckt; und wo er in’s Meer ragt, der ewige Fels, da schäumt die Brandung dagegen und stürmt ihn vergebens mit den eisigen Riesenwogen.

„Ist da eine gute Stelle für Buchbinder?“

„Platz genug haben sie,“ erwiderte ich ihm, „und ich wüßte Länder, wo Sie auf hundert Meilen keinen Concurrenten finden.“

„Donnerwetter,“ sagte Herr Rassel, „und wo ist das?“

„Wohin in Amerika wollen Sie denn eigentlich?“

„Ja, das weiß ich selber noch nicht,“ lautete die Antwort, „wenn ich nur gleich irgendwo einen Meister wüßte. Bei den Indianern ist wohl nischt?“

Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu, denn unwillkürlich kam mir der Gedanke, daß er mich zum Narren haben wolle – aber Friedrich Wilhelm Rassel war „eine Seele von einem Menschen“, er trug kein Falsch in seinem Herzen.

„Nein,“ sagte ich, „bei den Indianern ist nichts zu verdienen. Sie müßten sich wohl einen civilisirteren Theil der Erde aussuchen, vielleicht Rußland.“

„Hm,“ sagte Herr Rassel, „daran habe ich auch schon gedacht, aber meine Sehnsucht zieht mich nach Amerika. Glauben Sie, daß ich seekrank werden würde?“

Ich bejahte diese Frage auf das Entschiedenste. Der Mann machte mir den unabweisbaren Eindruck, als ob er in diesem Augenblick schon seekrank wäre, oder wirbelte nur mir der Kopf so?

„Hm,“ sagte er, „Amerika ist das Land der Freiheit und Brüderlichkeit. Jeder kann hingehn und dem Präsidenten die Hand geben, und sie schmeißen ihn nicht hinaus – und ich kann arbeiten und verzehren, was ich will, und die Polizei nennt alle Leute Sie. Nordamerika, mein’ ich, wo die Deutschen alle über Bremen und Hamburg hinfahren. Dort möchte ich ein Geschäft gründen, dann braucht man sich von keinem Meister mehr schinden zu lassen, aber erst möcht’ ich eine Stelle haben, damit man sich vorher ein bischen umsehn und Kunden finden kann, und darum wollte ich Sie bitten mir eine hübsche Stadt in Amerika aufzuschreiben wo noch kein Buchbinder ist.“

„Aber dort finden Sie dann auch keinen Meister.“

„Hm – ja – das ist wahr – aber das schadet am Ende Nichts; dann fange ich gleich so an.“ Er nahm dabei seine Brieftasche aus der Tasche, um sich die betreffende Adresse zu notiren. –

„Aber, lieber Freund, was hilft Ihnen das? wo kein Buchbinder ist, läßt auch kein Mensch Bücher einbinden und Sie bekämen doch keine Kundschaft!“

„Ueberlassen Sie das mir,“ sagte Herr Rassel, mit seinem vergnügt lächelnden Gesicht, „darin kenne ich mich aus – kennen Sie keinen Ort?“

„Ich könnte Ihnen Hunderte nennen, aber in Ihrem Geschäft finden Sie dort auch keine Beschäftigung – wer läßt in der Wildniß binden?“

„Bitte nur um eine solche Stadt – das Uebrige ist meine Sache.“

„Schön,“ lachte ich, „dann gehen Sie nach Perryville in Arkansas, dort ist nicht allein kein Buchbinder, sondern ich kann Ihnen auch die Versicherung geben, daß Keiner daran denkt dorthin zu ziehen.“

„Perrywill,“ schrieb Herr Rassel nieder – „schreiben Sie ‚will‘ mit einem f oder einem w?“ –

„Mit einem v.“

„Schön – in Arkansas – wo liegt das?“

„Weit im Westen.“

Sehr schön,“ sagte Herr Rassel, schob die Tafel zurück und ergriff seinen Hut, „ich bin Ihnen sehr dankbar. Wissen Sie, Herr Gerstäcker, ich werde Ihnen über Alles schreiben – einstweilen leben Sie wohl!“ Dann machte er die Thür von draußen zu und stolperte die Treppe herunter.

Ob er nach Perryville gegangen ist? ich weiß es nicht, jedenfalls wird er nicht mit Bestellungen auf Brockhaus’ Conversations-Lexikon oder Geibel’s Gedichte überschwemmt worden sein.

Fr. Gerstäcker.     


Kleiner Briefkasten.

Dem Leser der Gartenlaube aus Dortmund herzlichen Dank für seine reiche Gabe.

Im Namen von fünf armen Schnitzlehrlingen
Hochachtungsvollst Michael Sachs     
.

     Partenkirchen im October 1869.

R. J. in M. Sehr gern geben wir Ihnen die Erlaubniß, den Artikel „Der Wunderglaube in Paris von Ludwig Kalisch“ in Ihrem Blatte, selbstverständlich mit Angabe der Quelle, nachzudrucken. Derselbe Artikel ist übrigens in einer hebräischen Uebersetzung und mir einer sehr belobenden Anmerkung seitens der Redaction bereits in einer Odessaer Zeitung erschienen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Die Benützung der diesem Original-Artikel beigegebenen Illustrationen verdanken wir der Freundlichkeit der R. Oldenbourg’schen Buchhandlung in München, in deren Verlag eine vortreffliche naturwissenschaftliche Volksbibliothek erscheint und die als zweiten Theil derselben soeben das Buch: „Licht und Farbe. Eine gemeinfaßliche Darstellung der Optik“ von Prof. Dr. Franz Jos. Pisko ausgegeben hat. Die Verlagshandlung hat damit schon den Beweis geliefert, wie ernst es ihr mit dem in ihrem Prospect ausgesprochenen Streben sei, das Studium und die Erkenntniß der Naturkräfte, die der Mensch sich unterworfen, oder mit denen er noch im Kampfe ringt, in möglichst weiten Kreisen anzuregen. Und zwar soll dies in einer Art geschehen, die sich ebenso sehr von dem trockenen Tone schulmeisterlicher Belehrung, wie von der geschwätzigen Weise verständnißloser Verflachung fernhält. Daß die Verlagshandlung ihren Zweck erreichen wird, dafür bürgen die ausgezeichneten Kräfte, die sie gewonnen hat und von denen wir nur Radau in Paris (der Schall), Cazin in Versailles (die Wärme), Lommel in Erlangen (Wind und Wetter), Zech in Stuttgart (die Himmelskunde), Carl in München (die Elektricität) und Reitlinger in Wien (der Zusammenhang der Naturkräfte) nennen. Wir können darum den Schulen, wie den Familien das ganze Unternehmen, das ein neuer Vorkämpfer für Licht, Aufklärung und Wahrheit zu werden verspricht, in so dringender Weise empfehlen, als wir namentlich auf das ebenso gründlich, als allgemein verständlich und interessant geschriebene Buch des Herrn Verfassers unsers heutigen Artikels aufmerksam machen.
    Die Redaction.
  2. Unter diesem Titel werden die „Blätter und Blüthen“ von Zeit zu Zeit Auszüge aus den an den Herausgeber gerichteten Briefen eines unserer bekanntesten und meistgenannten Schriftsteller und Publicisten bringen. D. Red.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. „schlecht“ hat hier noch die Bedeutung „schlicht, einfach“.