Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[21]

No. 2.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Amtmanns Magd.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
3.

„Der neue Herr“ lehnte es ab, sich drunten in der „guten Stube“, wo „meine Luise“ immer noch wacker in den „tönenden Hämmern“ wühlte, den Kaffee serviren zu lassen. Er bestand darauf, so sehr auch Frau Griebel im Hinblick auf Staub, Mäuse und Spinnweben protestirte, sich sofort in seinen eigenen vier Pfählen einzuquartieren, und stieg die Treppe hinauf.

Er hatte bestimmt, daß die Siegel an der Wohnung der Verstorbenen nicht gelöst werden sollten, bis er selbst einmal komme; nun riß er die Papierstreifen an der Hauptthür ab, und Herr Peter Griebel schloß auf. Genau so traut und anheimelnd wie die äußere Physiognomie des Gutshauses war auch die innere Einrichtung der Zimmerreihe im oberen Stock.

Frau Griebel zog behutsam die Rouleaux in die Höhe. Sie triumphirte; die Scheiben waren weißbestäubt, und auf der nächsten Tischplatte schrieb sie mit sardonischem Lächeln und ungeschicktem Finger ein paar groteske Buchstaben in die Staublage. Aber die Dielen waren schneeweiß und fleckenlos, und ein starker Duft von Steinklee und anderem Kräuterwerk füllte die Räume, in welche auch ein Hauch frischer Luft durch Zuglöcher an der Decke fortgesetzt Zutritt hatte.

„Offene Fenster und ein wenig Fegen machen allen Schaden gut,“ sagte der „neue Herr“ heiter und entriegelte einen Flügel des mittleren Erkerfensters.

„Und mit den verstopften Schlüssellöchern war’s nichts, Jettchen!“ schmunzelte Herr Peter Griebel. „Wo sitzen denn nun die Spinnen, über die Du den ganzen Winter gebrummt hast? Unsere alte Dame war gar ein propres Weibchen – sie litt solches Geziefer nicht – wo sollte denn da die Brut herkommen, Jettchen?“

„Guck nur erst in die Bücherstube, Peter, eh’ Du so dick thust mit Deiner Weisheit! An den himmelhohen Regalen und hinter dem Bücherwerk wirst Du schon Dein blaues Wunder sehen. – Da drüben giebt’s was zu lesen, Herr Markus – Bücher ohne Ende! Und alles, was drin steht, das hatte die alte Frau in ihrem Kopfe. Sie war Doctor und Apotheker in einer Person und tausendmal gescheidter, als der elende Bartkratzer drüben in Tillroda, der sich von den Leuten Doctor schimpfen läßt. Der hatte deswegen aber auch eine ganz gehörige Pike auf die resolute Frau, gerade wie der Pfarrer, der an ihrem Grabe gepredigt hat, sie sei zeitlebens eine Gottlose gewesen, weil sie nichts vom Teufel und dergleichen wissen wollte und den Augenverdrehern spinnefeind war. Na, im Himmel ist sie doch – der in Tillroda wird’s doch dem lieben Gott nicht vorschreiben dürfen, wer hinaufkommen soll und wer nicht.“

„Ja, eine tüchtige Frau ist sie gewesen, die Frau Oberforstmeisterin,“ sagte Peter Griebel. „In der Oekonomie war sie zu Hause wie ein Mann. Ich war nur die letzten zwei Jahre Gutsverwalter bei ihr, aber da hab’ ich alter Kerl mehr gelernt, als in zehn bei meinem vorigen Herrn. Sehen Sie doch hin!“ – er streckte den Arm nach dem üppigen Gelände aus, das sich draußen hinbreitete – „das Alles ist hauptsächlich ihr Werk; denn der Herr Oberforstmeister soll so gut wie gar nichts davon verstanden haben. Freilich, die paar Acker dort hinter dem Fichtenhölzchen, die sind ziemlich ’runtergewirthschaftet; sie gehören zum Vorwerk, und da wird nicht gut gehaust – der Herr Rechtsanwalt wird Ihnen ja wohl davon geschrieben haben.“

„Ja wohl. Seit vier Jahren hat der Amtmann Franz das Vorwerk in Pacht, und in den musterhaft geführten Büchern der Verstorbenen ist nicht ein einziges Mal die ausbedungene Pachtsumme als eingegangen notirt zu finden –“

„Unsere alte Dame hat eben immer ein Auge zugedrückt, weil die Frau Amtmann von der Jugendzeit her ihre gute Freundin gewesen ist,“ fiel die kleine Frau erklärend ein. „Amtmanns haben Schulden gehabt wie Sand am Meere, und ist ihnen von den Gläubigern Alles, Schiff und Geschirr, weggenommen worden. Da hat sich die Frau Oberforstmeisterin erbarmt und hat ihnen das Vorwerk gegeben, freilich nicht umsonst – dazu war sie viel zu streng und ordentlich in Geldsachen aber doch für einen wahren Pappenstiel, und auch den hat der alte Schwindler nicht einmal bezahlt.“

Sie unterbrach sich und fuhr mit der Hand in die Tasche. „Da guck her, Peter – was ich Dir immer sage!“ wandte sie sich an ihren Mann und zerdrückte vor seinen Augen eine kleine gebratene Kartoffel, sodaß das köstliche Eidottergelb des Inneren appetitlich duftend hervorquoll. „Drüben im Grafenholz sammeln die Tillröder Jungen Erdbeeren, und da liegt diese Gottesgabe halbmetzenweise in der heißen Asche –“

„Na und, Jettchen?“

„Na und, Mann?“ ahmte sie ihm ärgerlich nach. „Wie kömmst Du mir denn vor? Mußten denn die Bengels gerade vom Allerbesten haben? … Und wie ich frage: ,woher?’ da sagt die Rotte ganz frech: ,Nicht von der Frau Griebel, aber von Amtmanns Magd.’ … Herr Markus, ich will ja den Leuten [22] drüben nicht in’s Gehege kommen – meinetwegen mögen sie bis in alle Ewigkeit auf dem Vorwerk sitzen und keinen Pacht zahlen, aber sie haben den allerbesten Kartoffelboden vom ganzen Gute –“

„Jettchen, denk’ an Dein Gewissen!“ fiel ihr Mann warnend ein. „Wir haben keine Ursache zu klagen; es geht uns gut – und von meiner Familie soll mir ja Keines mitschieben und drängen, daß Herr Markus kurzen Proceß macht mit den Leuten. Der Amtmann ist alt, und seine Frau liegt seit einem Jahre krank im Bette, und wenn die Magd nicht hauszuhalten versteht –“

„Ja, die Magd – das ist mir die Allerschönste,“ sagte Frau Griebel mit verächtlichem Achselzucken. „Na, Sie haben sie ja gesehen, Herr Markus, das Mädchen in dem verhunzten Stadtkleide. Jetzt trägt sie freilich ihr Grasbündel auf dem Kopfe, als wenn sie damit auf die Welt gekommen wäre, aber im Anfang – daß sich Gott erbarm’!“

„Ist sie nicht aus der Umgegend?“ fragte Herr Markus mit Interesse.

„Bewahre! Der Sprache nach muß sie weit her sein. … Sehen Sie, das war so. Gleich nachdem unsere alte Dame gestorben war, da legte sich auch die Frau Amtmann, und die Magd lief davon, weil sie nie einen Heller Lohn zu sehen gekriegt hatte – das war schlimm; denn eine andere fand sich partout nicht. Ich sprach schon davon, daß ich ’nübergehen und nach der Ordnung sehen wollte – wenn auch die Leute sich niemals um Unsereinen gekümmert hatten – aber da kam auf einmal eine Nichte vom Amtmann; sie war Gouvernante in einer großen Stadt, wie mir die Frau Oberforstmeisterin einmal gesagt hat, und die hat das Mädchen zur Hülfe mitgebracht. … Auf der Magd liegt nun freilich die ganze Wirthschaft; denn das Gouvernantenfräulein wird wohl weder Kochtopf noch Kehrbesen anrühren –“

„Brr!“ machte Herr Markus und schüttelte sich.

„Na, was denn?“ fuhr Frau Griebel zurück und riß ihre kleinen Augen unter den verwundert emporgezogenen blonden Brauen weit auf.

„Ja, sehen Sie, meine liebe Frau Griebel, ich bin ein nervenschwacher Mensch; ich leide an einer unbesieglichen Gouvernanten-Antipathie“ – durch seine interessanten Züge ging ein humoristisches Zucken wie Wetterleuchten.

„Das soll heißen, Sie können die Gouvernanten nicht leiden? … Da kommen Sie mir aber schön an, Herr Markus. Meine Luise will ja auch eine werden – freilich nicht so wie die auf dem Vorwerk. Das leide ich schon nicht. In den Ferien muß sie mir tüchtig mit an die Arbeit – da wird nicht gefackelt. Sie kann perfect backen, einmachen und Geflügel stopfen, und in der Milchwirthschaft ist sie zu Hause wie ich selber, und dabei hat sie rothe Backen wie ein Stettiner Apfel und ist frisch und gesund – Gott behüt’s – wie eine Ecker. … Sie soll mir auch nie in eine große Stadt; denn da bringen sie immer blasse Farbe und abgeschmackte Manieren mit, wie eben Fräulein Franz auf dem Vorwerk. Ich hab’ sie nur ein einziges Mal in der Kirche in Tillroda gesehen, und da hatte ich schon genug. Sie ist eine ebenso lange Hopfenstange wie ihre Magd, thut schrecklich apart und ist blaß und schmal im Gesicht, so weit ich’s von meinem Kirchenstuhl aus erkennen konnte –“

Sie machte, sich selbst unterbrechend, eine plötzliche Schwenkung nach der Thür. „Ja, da stehe ich nun, ich alte Plappertasche, und verthue die Zeit und weiß doch kaum, wo nur der Kopf steht vor Arbeit! – Peterchen, Du mußt mir gleich junge Tauben vom Schlag holen und nach frischen Eiern suchen, und ich gieße derweil den Kaffee aus. Nachher wird hier oben gefegt. – Bis dahin vertreiben Sie sich ja wohl die Zeit, Herr Markus, und gucken sich ein Bischen um in den Raritäten hier oben?“

Damit ging sie hinaus; ihr „Peterchen“ folgte ihr auf dem Fuße und „der neue Herr“ trat vom Fenster weg, während seine Augen musternd durch das Zimmer glitten.

Der Erker durchschnitt die Vorderwand dieses großen Raumes genau in der Mitte, sodaß seine Glasthür von je einem Stubenfenster flankirt wurde. Auf diese Weise strömte viel Licht herein, leicht gefärbt durch grünblumige Kattunvorhänge, und beleuchtete voll zwei Gestalten, die von der tiefen Wand herabsahen.

In die Wangen des jungen Mannes stieg die Röthe innerer Erregung, und seine Stirn furchte sich im Unwillen angesichts der schönen, männlichen Erscheinung im grünen Jägerrock, die eine dürre, zerstäubende Eichenlaubguirlande umschloß. … Ja, so mußte er ausgesehen haben, der stolze Herr Oberforstmeister, der Mann, der sich von seiner einzigen Schwester losgesagt hatte, weil sie Einem aus dem Handwerkerstande ihr Herz geschenkt und ihn auch, trotz Zorn und Widerspruch ihres Bruders, geheirathet hatte. Diese Schwester aber war die Mutter des jungen Markus gewesen. … Ja, das war der personificirte Beamtenhochmuth, der zeitlebens die Verwandtschaft mit „dem Schlosser, dem Rußbengel“ von sich gewiesen, ob auch die Schlosserwerkstätte des jungen Arbeiters sich im Lauf der Zeit zu dem Riesenetablissement einer großartigen Fabrik umgewandelt hatte und einen hochgeachteten Namen an der Stirn trug. … Der Herr Oberforstmeister hatte von jeher hoch hinaus gewollt; es hatte auch Eine von altem Adel sein müssen, die er als Frau in sein Haus geführt; arm war sie gewesen und die Letzte ihres alten Namens; daß aber die vornehme Herkunft allein maßgebend gewesen, daran glaubte der junge Mann, den beiden Bildern gegenüber, von nun an nicht mehr. Durch das Gesicht des stolzen Jägers ging ein Zug tiefer Leidenschaft; er hatte einen dunkelglühenden Blick, und die junge Braut an seiner Seite, mit dem Myrthensträußchen am Busen, war engelschön gewesen, von so unbeschreiblichem Liebreiz im Ausdruck, daß man unmöglich denken konnte, auch diese Seelenmacht der Züge sei vergänglich gewesen und modere nun in der Erde.

Im Elternhause des Herrn Markus waren diese zwei Menschen fast nie genannt worden. Als Knabe hatte er nicht gewußt, daß ihm in Thüringen Onkel und Tante lebten; er war sehr erstaunt gewesen, als eines Tages ein Brief der Frau Oberforstmeisterin an seine Mutter den jähen Tod des Bruders – er war bei einem Jagdschmause seines Fürsten vom Schlage getroffen worden – gemeldet hatte. Diese Todesanzeige war der Gegenstand einer mehrstündigen Berathung seiner Eltern gewesen; dann war ein sehr förmliches, kurzes Condolenzschreiben von der Hand des Vaters an „die Dame“, und später ein Verzicht der Mutter auf jeden Anspruch an den Nachlaß des kinderlos verstorbenen Bruders an dessen Sachwalter abgegangen. … Darnach war es gewesen, als sei ein Vorhang über dem Ereigniß zugefallen – es war nie mehr davon gesprochen worden. Hatte der hochmüthige Beamte einst Schwester und Schwager verleugnet, so war auch der Arbeiter stolz genug gewesen, den Verwandten bis in den Tod hinein zu ignoriren.

Wie wohl die schöne Frau über dieses unnatürliche Verhältniß gedacht hatte? – Hochmuth lag nicht in dem Gesicht, wohl aber etwas Zärtliches, Glückseliges. Sie mochte wohl den Mann ihres Herzens über Alles geliebt haben und blindlings mit ihm gegangen sein. Vielleicht hatte sie nach seinem Tode der verstoßenen Schwester versöhnend die Hand bieten wollen, indem sie eine schriftliche Beziehung anzubahnen gesucht – sie war streng zurückgewiesen worden. … Und nun war der einzige Sohn dieser Schwester doch noch der Erbe im Hirschwinkel geworden. Ob die Verstorbene wohl deshalb nie ein Testament gemacht hatte, um stillschweigend die Hinterlassenschaft ihres Mannes, doch noch in die Hand kommen zu lassen, der das einzige Recht darauf zustand? –

Er vermochte kaum den Blick wegzuwenden von dem jugendschönen Gesicht, das aus einer fast märchenhaften Fülle blonder seidener Locken hervorlächelte, aber es lockte ihn auch, die Räume zu durchwandern, in denen diese Vereinsamte viele Jahre der Abgeschiedenheit durchlebt hatte. … Die Thüren der in einander führenden Zimmer standen weit offen; er konnte die ganze Wohnung so ziemlich mit einem Blick übersehen. Welch ein Unterschied zwischen dieser altväterischen verbrauchten Einrichtung und dem modernen Luxus in der prächtigen Villa, die sein verstorbener Vater unweit der Fabrik erbaut hatte!

Das Erkerzimmer war das stolzeste mit seiner Glasthür und den Polstermöbeln in grünblumigen Kattunbezügen, die mit den Gardinen harmonirten. Es stand schönes Meißner Porcellan auf den Kommoden, und neben guten Oelbildern schmückte ein großer Spiegel die Wand. Das mochte wohl immer das Zimmer der Frau gewesen sein, und nebenan hatte der Gemahl residirt. Seine Wittwe hatte ihn fast um zwanzig Jahre überlebt, aber noch hing der Schlafrock am Nagel, als habe ihn der Hausherr eben ausgezogen, um in die Uniform zu schlüpfen. Die Tabakspfeifen [23] standen wohlgeordnet auf dem Brett, und der Schreibtisch war sichtlich mit peinlicher Genauigkeit in dem ungeordneten Zustand erhalten worden, in welchem ihn der Oberforstmeister hinterlassen, als er zur Hofjagd gegangen war, von der er nicht zurückkehren sollte.

Ein seltsames Gefühl beschlich den jungen Mann – war es doch, als müsse er noch andere Tritte, als die seinen, in diesen wohnlichen Räumen hören. Die Verwaiste hatte es verstanden, eine Art von Lebensodem verstorbener Lieben um sich festzuhalten. Da nebenan war das Schlafzimmer. Dicht an dem einen Bette stand ein Kinderbettchen, mit bunter Decke belegt, als sei es eben, nachdem ihm der süße Schläfer entnommen, frisch aufgebettet worden. Aus dem Berichte des Sachwalters wußte Herr Markus, daß ein Erbe im Hirschwinkel geboren worden sei, ein Knabe, der aber in zartem Alter gestorben war. Eine Fülle von Zärtlichkeit und tiefer Sehnsucht mußte das Herz der Einsamen bis zum letzten Schlag bewegt haben, aber sie war auch ein starker, gesunder Geist gewesen, der den Lebensrest nicht in der Hingabe an den Schmerz verträumt hatte. Das bewies die „Bücherstube“, deren ganzen geistigen Inhalt die alte Frau in ihrem Kopfe gehabt haben sollte; davon zeugte die anstoßende Kräuterkammer, an deren Wänden sich große Bündel heilbringender Pflanzen hinreihten, welche die Verstorbene unermüdlich im Walde zusammengesucht hatte, um sie in dem kleinen Laboratorium nebenan in Arzneien und Specereien umzuwandeln.

Nach dem Erkerzimmer zurückkehrend, zog Herr Markus im Vorübergehen einen oberen unverschlossenen Kommodenkasten auf. Ein sauber zusammengefaltetes Kantentuch lag darin, und daneben ein großer, grünatlassener Strickbeutel, aus dessen halbzugezogener Oeffnung dürre Pflanzenstengel hervorstärrten. Das waren wohl die letzten Kräuter gewesen, welche die Heimgegangene im todbringenden Zugwinde auf dem Berggipfel gepflückt hatte. Die zusammengerollten Blätter stoben knisternd zu Boden, als der junge Mann den Beutel ergriff und den Bandverschluß aufzog. Dicht neben dem Kräuterwerke machten ein chirurgisches Besteck, ein Essenzfläschchen und ein vielbenutztes Notizbuch den gesammten Inhalt aus.

Mit etwas zaghaftem Finger öffnete Herr Markus die Schließen des kleinen Buches. Hin und wieder lagen getrocknete Pflanzen zwischen den Blättern, und Notizen in vollkommen correctem Latein waren dahinter geschrieben Recepte, Anmerkungen bezüglich der Oekonomie und des Hauswesens, Reflexionen, auch verschiedene Briefanfänge wechselten auf den Blattseiten mit einander ab. Das Buch war offenbar der stete Begleiter der Frau Oberforstmeisterin auf einsamen Wegen gewesen, in welchen sie Alles niedergelegt hatte, was ihr augenblicklich durch den Kopf gegangen war – ein seltsames Merkbüchlein, aus welchem der abgeschiedene Geist in all seinen Spiegelungen, ungeschminkt und unverfälscht sprach, wie es vielleicht kaum Blick und Stimme im Leben gethan.

Der Strickbeutel wurde pietätvoll an seinen Platz zurückgelegt; mit dem Büchlein aber setzte sich Herr Markus in den Erker hinter das Arbeitstischchen der Verstorbenen, um gespannt weiter zu blättern. Was mochten wohl die letzten Gedanken der seltenen Frau gewesen sein, ehe sie sich auf das Sterbebett gelegt hatte? – Eine mit zierlich winzigen Buchstaben bedeckte Seite – und nach ihr kamen die letzten weißen, unberührten Blätter – Es stand da:

„Nach gewissenhaftem Erwägen habe ich mich doch noch entschlossen, zu testiren; nicht bezüglich der gesammten Hinterlassenschaft meines verstorbenen Mannes – Sie wissen ja, daß ich mir darüber das Recht der freien Verfügung nie selbst zugestanden habe, im Gegentheil mich nur als Verwalterin derselben bis zu meinem Tode ansehe. Anders verhält es sich mit dem Vorwerke. Es war das erste Geburtstagsgeschenk meines Verlobten für mich; ich bezog während meines Ehelebens aus dem Ertrage mein Nadelgeld und die Armenunterstützungen, die ich mir gestatten durfte, und habe auch eine kleine Sparsumme, eine Hypothek auf dem Tillröder Gasthofe erübrigt. Darüber kann und will ich mit gutem Gewissen verfügen. Möglich, daß ich früher sterbe, als meine unglückliche Freundin auf dem Vorwerke – in dem Falle würde sie, ohne eine letztwillige Verfügung meinerseits, der schrecklichsten Noth preisgegeben sein. Freilich mit dem Prasser, dem Amtmann, und seiner unbezwinglichen Neigung zum Vergeuden, will ich nichts zu schaffen haben, aber auch der Frau darf ich das Vorwerk nicht zuschreiben lassen, wenn ich nicht will, daß dieser letzte Nothanker sofort in unnütze Dinge und Schlemmereien umgesetzt werde; sie ist zu schwach ihrem Manne gegenüber – ein Blatt im Winde! – Was meinen Sie dazu, wenn ich Agnes Franz, die Nichte, als Erbin einsetze? – Kommen Sie doch in den nächsten Tagen in den Hirschwinkel, Notabene, nicht ohne die gesetzlichen zwei Zeugen!“

Dieser Briefentwurf war jedenfalls an den Rechtsbeistand der Verstorbenen gerichtet. Vielleicht war sie auf ihrem letzten botanischen Streifzug zuerst auf dem Vorwerk eingekehrt, und irgend ein Vorkommniß dort hatte sie veranlaßt, noch unterwegs die Zuschrift an den Advocaten zu entwerfen – die Abschrift hatte der Tod verhindert.

Herr Markus klappte das Buch zu und steckte es sorglich in die Brusttasche. … Das war ja eine merkwürdige Entdeckung, eine ungeahnte Wandlung, die ihm eine Mission aufdrang. ….Sein Gesicht verfinsterte sich in ausgesprochenem Widerwillen. Die selige Frau Oberforßmeisterin hatte nichts mit „dem Prasser, dem Amtmann“, zu schaffen haben wolle – nun denn, ihr Erbe fühlte ebensowenig der Trieb, in irgend eine Beziehung zu der Amtmannsnichte, „dem Gouvernantenfräulein“, zu treten.

Er sah sie schon im Geiste, die wohlgepflegten weißen Hände, die so anmuthig vor Männeraugen zu spielen verstanden; er summirte das Bischen Französisch, einige gewagte Bleistiftcontouren, die Mondscheinsonate und ein Duldergesicht mit kokett niedergeschlagenen Augen – lauter Requisiten, aus welchen sich ein solch oberflächliches Gouvernantenpersönchen in seinen Augen zusammenzusetzen pflegte! … Lange nach dem Tode seiner Mutter hatte sich der Vater noch einmal verheirathet. Aus dieser Ehe war ein Töchterchen da, ein reizendes kleines Mädchen, das der „große“ Bruder vergötterte. Seine Stiefmutter, die seinem Hauswesen vorstand, glaubte ohne eine Stütze in der Erziehung des Wildfanges nicht auskommen zu können, und so war der enge Familienkreis seit vier Jahren durch eine Erzieherin erweitert. Aber schon dreimal in dieser Zeit war man gezwungen gewesen, mit den jungen Damen zu wechseln, weil schließlich stets das Bestreben, selbst Herrin in der Markus’schen Villa zu werden, alle anderen Leistungen weit überflügelt hatte.

Ein grimmer Spott zuckte um seine Lippen. Ei ja – das hätte ihm gefehlt, sich um seiner schönen Häuslichkeit willen heirathen zu lassen! – Unwillkürlich suchte sein Blick das Frauenbild an der Wand – das anziehende Wesen dort hatte mit jener Species nichts gemein. Also nur als die Verwalterin im Hirschwinkel hatte sie sich während ihrer Wittwenzeit angesehen? – Sie hatte das Erbe für den Sohn des mißachteten „Schlossers“ in unentwegtem Rechtsgefühl behütet und gemehrt, ob man auch ihre Hand tiefverletzten Stolzes zurückgestoßen? Ein charaktervolles Weib, eine starke Seele war die zarte, schlanke Lilie gewesen, die aus dem Goldrahmen der blonden Locken in bräutlicher Liebesdemuth zu ihm herübersah – das Herz schwoll ihm in einem wunderlichen Sehnsuchtsgefühl. – „Was – sentimental?“ – Er schüttelte die „närrische“ Anwandlung sofort wie einen Krankheitsstoff von sich.

„Sie haben mich wohl gar nicht gehört, Herr Markus?“ ’ fragte Frau Griebel, die eben eingetreten war und das Kaffeebret auf dem Sophatisch niedergesetzt hatte. „Und mein Porcellan hat doch mehr, als sich gehört, geklirrt und geklappert. … Sie guckten ja aber auch so verbissen da ’nüber an die Wand, als hätten De sich, meiner Treu, in die Selige verliebt.“

Er lachte und stand auf.„Bis über beide Ohren, Frau Griebel! Die wär’s gewesen, gleichviel, ob alt oder jung.“

„I machen Sie doch keine Streiche, Herr Markus!“ – Sie hielt im Abwischen der Tischplatte inne, wandte schwerfällig den Kopf nach ihm zurück und sah fast böse aus. – „Solch ein Spittelweibchen! Von der Ferne sah sie wohl manchmal noch roth und weiß aus wie eine Apfelblüthe, aber runzelig war sie doch wie Backobst – der Krauskopf da war schlohweiß geworden, und commandiren that das schmächtige Frauenzimmerchen zuletzt wie ein General.“


4.

Herr Markus hatte seinen Aufenthalt im Hirschwinkel ursprünglich auf höchstens drei Tage festgesetzt. Er wollte nach der unerläßlich gewordenen Inspicirung des neuen Besitzes eine Tour durch den Thüringer Wald bis nach Franken hinein machen. … [24] Nun waren aber drei Tage nach seiner Ankunft verstrichen, und es fiel ihm nicht ein, seine beabsichtigte Reise anzutreten, so wenig wie er jetzt noch daran dachte, das ferngelegene, ihm unbequeme Gut zu verkaufen, wozu er daheim fest entschlossen gewesen war. Um keinen Preis wäre ihm jetzt der reizende Erdenwinkel feil gewesen der ihn so heimisch umfing, als sei er in dem alten, trauten Gutshause geboren.

Er bewohnte das Erkerzimmer und ein rechts daranstoßendes Schlafcabinet. Die Zimmerflucht linker Hand dagegen, die mit dem Arbeitszimmer des verstorbener Oberforstmeisters begann und in das Laboratorinm auslief, wurde nach sorgfältiger Lüftung wie ein Reliquienschrein wieder unter Verschluß gelegt, und sollte nie benutzt werden, wie der Gutsherr zu Frau Griebel’s großem Aerger anordnete.

Er kam sich vor wie ein Einsiedler, der sich auf einsamen Berggipfel zurückgezogen hat, und kaum noch weiß, daß zu seinen Füßen die Brandung des Menschenverkehrs weiter tost, weil er sie nicht mehr hört. So still war es auch im Gutshause. Alles, was zur Oekonomie gehörte, concentrirte sich in dem zweiten großen Hof, hinter dem saubergehaltenen, kiesbestreuten Platz, aus welchen die Stufen der Hausthür führten. Da vorn durften nur die verwöhnten Truthühner umherstolziren; das buntgemalte Taubenhaus und ein vollästiger Birnbaumwipfel stiegen in die Lüfte, und Sultan’s Hundehütte stand an dem Thorweg wie ein Schilderhäuschen. … so rührig auch Frau Griebel auf ihrem Wirthschaftsposten war, im Vorderhause duldete sie kein geräuschvolles Hantiren, kein Thürenschlagen von seiten der Leute, und draußen vor den Fenstern war es noch stiller. Wunderselten einmal geschah es, daß Weiber mit einem Reisigbündel auf dem Rücken, oder ein Trupp beerensuchender Kinder aus dem Wege dahinschritten, der den Rasenfleck vor dem Gutshause durchschnitt.

Allerdings war es nicht das Wohlbehagen ausschließlich, was Herrn Markus auf dem Gute festhielt – es traten auch zu erledigende Geschäftsfragen an ihn heran. Eine längst projectirte Eisenbahnlinie, die auch den Hirschwinkel berührte, sollte nunmehr in Angriff genommen und abgesteckt werden. Diese Angelegenheit machte verschiedene Schreibereien nöthig. Der Schienenweg bedrohte das beste Stück Ackerland, während er doch nach Pachter Griebel’s Ansicht ebenso gut durch den minder werthvollen Wiesengrund laufen konnte.

Herr Markus hatte sein neues Gebiet bereits nach allen Seiten hin beschritten. Wohin er auch kam, überall fand er die musterhafteste Bewirtschaftung und das sichtliche Bemühen, die Güte des Bodens wie ein Kleinod zu behüten. Als Ausläufer dieses fruchtbaren Geländes lag freilich das Vorwerk da, wie ein angesetzter ärmlicher Flicken.

„So lange die Frau Oberforstmeisterin noch lebte, sahen die Grundstücke immer ganz passabel aus, sagte Peter Griebel „der Amtmann hatte einen heillosen Respect vor unserer alten Dame und ging deswegen gar oft selbst hinter dem Pfluge her. Dazumal hatte er noch einen Knecht, der ist nun aber auch gleich nach der Magd fortgelaufen, und beim Amtmann hat sich das Alter eingestellt – er geht am Stocke. Von Feldarbeit wäre keine Rede mehr, wenn sich nicht der Forstwart drüben im Grafenholz erbarmte. Der stammt aus dem Orte, wo der Amtmann früher die fürstliche Domäne in Pacht gehabt hat da ist er Tagelöhnerjunge gewesen und scheint an seiner alten Herrschaft zu hängen; denn das Bischen freie Zeit, das ihm sein schwerer Dienst übrig läßt, bringt er auf den Vorwerksäckern zu, und – da mag nun meine Frau sagen was sie will – die fremde Magd hilft tüchtig mit.

Bis in die Nähe der Vorwerksgebäude war Herr Markus noch nicht gekommen. Es war seine Absicht, den letzten Willensausdruck der verstorbenen Gutsherrin zur Geltung zu bringen, wenn das Schriftstück auch im Strickbeutel statt bei der gesetzlichen Behörde gelegen hatte und durch keinerlei Zeugenschaft beglaubigt war. Aber er wollte das erst nach seiner Rückkehr in die Heimath schriftlich abmachen – es widerstrebte ihm absolut, mit dem Amtmann und „dem Gouvernautenfräulein“ in persönlichen Verkehr zu treten.

Er sehnte sich überhaupt nach keinem Umgang in der Einsamkeit, die er zum ersten Mal kennen lernte und auszukosten wünschte. Er war durchaus kein Blasirter – das rauschende Leben der Großstadt hatte tausendfachen Reiz für ihn; er gab sich ihren schönen Genüssen mit voller Seele hin; denn er war ja ein noch junger Mann, dem die Lebenslust mit dem gesunden Blute durch die Adern strömte, aber nach all dem aufregenden Treiben der verflossenen Saison und dem geräuschvollen Arbeitsgetöse in seiner Fabrik fand er es köstlich, in der einlullenden Waldstille gleichsam zu versinken.

Er hatte einen ganz besonderen Lieblingsaufenthalt im Hirschwinkel für sich entdeckt; das war der kleine Pavillon, der sich auf der nordwestlichen Ecke der Gartenmauer erhob. Von achteckiger Form, gestattete er durch zwei Fenster und ebenso viel Glasthüren einen Ausblick nach allen Himmelsrichtungen. Die Innenwände waren mit verblichenen Frucht- und Blumenstücken auf grauem Grunde bemalt; ein kleiner weicher Eckdivan hinter einem runden Tischchen, einige Rohrstühle und ein Bücherbret über dem Divan bildeten das Meublement, und hinter den oberen Scheiben der Fenster und Glasthüren hingen Bogengardinen von Purpurkattun, welche das Stübchen mit einem magischen Schein füllten. Vor der einen Glasthür, nach der Westseite zu, zog sich ein schmaler Balcon mit hölzernem Geländer hin und – das war es hauptsächlich, was dem neuen Besitzer diesen Aufenthalt so reizvoll machte – von da führte eine kleine Treppe direct in das freie Feld, außerhalb des Gartens hinab. Nur ein schmaler Rasenstreifen lief hier draußen die Mauer entlang; darüber her wehten schon die nickenden Halme des nächsten Kornfeldes.

(Fortsetzung folgt.)





Die Sorge.
Mit Abbildung auf S. 25.


Die Sonne sank. Ein Wandrer, einsam,
Verlassen, zieht den Felsensteg.
Es macht ein Weib mit ihm gemeinsam,
In Grau gehüllt, denselben Weg. - -

5
In’s Haidekraut den Stab, die Mappe -

Zu ihnen sinkt der müde Mann.
Des wilden Jägers scheuer Rappe
Zieht in der Wolle über’m Tann.

„Umsonst, umsonst die Qual, das Ringen!“

10
so klingt sein Klaglied an den Grat -

„Es krönt das Streben kein Gelingen,
Und ach! umsonst ist jede That. -

Einst zog ich aus gen Rom, Neapel,
Die Brust von Sehnen hochgeschwellt;

15
Mein Künstlerschiff ließ ich vom Stapel,

Umsegeln sollt’ es diese Welt.

Mein Schüler strebte ungezügelt
In’s Ruhmesreich der Künstlerschaft,
so ward einst Francia überflügelt

20
Von Rafael, der jüngern Kraft.


Kein liebend Weib hielt ich umschlungen,
Ich stieß ein treues Herz zurück.
Ich hab’ kein Kind in Schlaf gesungen,
Ich hielt den Ruhm allein für Glück.

25
Allein steh’ ich, wie ein Askete,

Ein Mönch, der allem Glück entsagt,
Und der umsonst nach einer Lethe
Das Leben vor dem Tode fragt.

Ich nannt’ ein Götterloos auf Erden

30
Den Kranz, den uns die Menschheit flicht;

Der Erste Aller wollt’ ich werden,
Doch ach, der Erste bin ich nicht.“ - -

Das graue Weib in finstern Falten
saß noch bei ihm im Sternenschein,

35
Und ihrer Antwort Laute hallten.

„Du wirst auch nicht der Letzte sein.

Der Letzte nicht, der Erdengüter
Tief unter stolzen Lorbeer stellt,
Der, Priester nicht, nur Tempelhüter,

40
sich träumt in eine Götterwelt.


Der Letzte nicht, der Kunstbegeist’rung
Voreilig nimmt für eig’ne Kraft,
Dem nie gelingt des Stoffs Bemeist’rung,
Und der sich nur Enttäuschung schafft!“

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

45
Fort ist das Weib. - Die Welt umkreist sie

So Tag für Tag, wie Nacht für Nacht.
Es hat von ihr - Frau Sorge heißt sie -
Der Schlaf den Wand’rer frei gemacht.

Alfred Friedmann.


[25]

Die Sorge.
Originalzeichnung von Karl von Binzer.

[26]

Die Gebrüder Grimm und der Minister Hassenpflug.

Nach kurhessischen Erinnerungen und Meusebach’schen Papieren.
Von Karl Braun - Wiesbaden.
II.

Hassenpflug, der fast zwei Decennien lang von allen reactionären Romantikern in Deutschland, mochten sie auf den Thronen und den Thrönchen, in den Ministerial- und Regierungsbureaux, in den Pfarrhäusern oder den Dorfschenken sitzen, als „der große Staatsmann“, als „der Einzige, welcher uns von der Revolution erretten und vor dem Untergange bewahren kann“, bewundert und gepriesen wurde, hat ein recht klägliches Ende genommen.

Leugnen kann man es nicht: Er war ein Mann von Geist und von Kenntnissen. Aber er ging unter an seinem herrischen Wesen und seiner Selbstüberschätzung. Der Unabhängigkeitssinn, welcher ihn in seiner Jugend verleitete, gegen Alles Opposition zu machen, schlug um in Größenwahnsinn und Herrschsucht, welche letztere ihm nicht erlaubte, irgend eine andere Meinung neben der seinen zu dulden.

Schon Hassenpflug’s Vater, der Regierungspräsident in Kassel gewesen, war so unpopulär, daß die Diemelbauern in einer ehrlich gemeinten und nicht allzu höflichen Adresse an den alten Kurfürsten denselben als einen „jener bösen Rathgeber“ bezeichneten, „welchen der gnädigste Herr sein Haus und sein Ohr verschließen müsse, wenn er in Frieden mit seinem Volke leben wolle“.

Der junge Hassenpflug, der übrigens nicht, wie ihn seine conservativen Verehrer zu benennen pflegen, „Daniel“, sondern „Louis“ gerufen wurde, schien anfangs eine andere Richtung einschlagen zu wollen, als sein Vater. Als junger Mann von neunzehn Jahren machte er die Befreiungskriege gegen Frankreich mit. Nach Deutschland zurückgekehrt, schloß er sich den burschenschaftlichen Bestrebungen für die Einheit und Freiheit des Vaterlandes an. Es war in Göttingen, wo er ein Exemplar der niederträchtigen Denunciation, welche der Berliner Geheimerath Schmalz wider den deutschen Geist und die damaligen Hauptträger desselben, die deutschen Universitäten, hatte im Druck ergehen lassen, mit eigener Hand öffentlich an den Pranger annagelte. Als Studirender der Rechte lag er zugleich mit großem Eifer den historischen und philosophischen Wissenschaften ob, und es waren vornehmlich seine literarischen und germanistischen Studien, welche ihn mit den (etwa um ein Jahrzehnt älteren) Gebrüdern Grimm zusammenführten. Es darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß sehr Viele der damaligen romantisch gesinnten Studien- und Stimmungsgenossen Hassenpflug’s sich später der äußersten Reaction, sowohl auf politischem wie auf religiösem Gebiete, in die Arme warfen. Der bedeutendste unter denselben, der vor Kurzem in geisteskrankem Zustande verstorbene Professor Heinrich Leo in Halle, hat uns eine ebenso aufrichtige wie lehrreiche Schilderung jener Zeiten nach den Befreiungskriegen und des Verhaltens der deutschen Jugend während derselben hinterlassen, welche unter dem Titel: „Aus meiner Jugendzeit“, 1880, bei F. A. Perthes in Gotha im Drucke erschien. Ich kann dabei die weitere Bemerkung nicht unterdrücken, daß Louis Hassenpflug und Heinrich Leo congeniale Naturen waren vermöge ihres unbändigen Trotzes und ihrer Selbstüberhebung, welche Beide dahin führten, sich auf der Haller’schen Weltanschauung einen ultrareactionären Trutzwinkel aufzubauen, van welchem aus sie die ganze moderne Culturentwickelung und Weltordnung negirten und bekämpften, obgleich doch diese Ordnung der Dinge nicht minder, als die mittelalterliche, „ein Werk Gottes“, ist. Der Unterschied zwischen Beiden ist nur der, daß Heinrich Leo Historiker war und blieb und als solcher (abgesehen, von seinen letzten Schriften, welche schon Spuren der Geistesstörung tragen) höchst Bedeutendes geleistet hat, das auch seine politischen und kirchlichen Gegner zu schätzen wissen, während Louis Hassenpflug vom Juristen zum Rabulisten herabsank und seinem Fürsten und seinem Lande gleich verderblich gewordenen.

In seiner Jugend zeichnete sich Hassenpflug also durch einen gewissen störrischen, aber sehr ehrenwerthen Rechtssinn aus, wovon uns Professor Fr. Müller in seinen 1879 unter dem Titel „Kassel seit siebenzig Jahren“ erschienenen Denkwürdigkeiten, einem unterhaltenden und interessanten Buche, welches uns manches Wissenswerte erzählt, das wir in den dicken Geschichtswerken vergeblich suchen, ein Beispiel überliefert:

Nach seiner Rückkehr von der Universität 1817 wurde Hassenpflug als Assessor bei dem Justizsenat der Regierung in Kassel angestellt, bei welchem sein Vater Präsident war. Bei dieser Regierung hatte Kurfürst Wilhelm der Erste seinen letzten Willen deponirt. Kaum war Wilhelm der Erste todt, so schickte der Nachfolger einen Hofbediensteten auf die Regierung, um das Testament herauszuverlangen. Hassenpflug-Vater und seine Räthe waren schon im Begriff, die ihrer Obhut anvertraute Urkunde kurzhandig auszuliefern, weil sie auch in Justizsachen keinen anderen höchsten Willen kannten, als den des regierenden Herrn. Hassenpflug-Sohn dagegen hatte in Güttingen ein anderes Recht gelernt, nämlich daß der Richter (und jener „Justizsenat“ hatte richterliche Functionen) das seiner Obhut anvertraute Testament Niemandem, wäre es auch der Landesherr, auszuliefern, sondern nach dem Tode des Testamentserrichters zu eröffnen und zu publiciren und den Interessenten zwar Einsicht und Abschrift zu gewähren, aber nicht das Original herauszugeben hat. Dies stellte der pflichttreue jüngste Assessor den alten Richtern so eindringlich vor, daß nach hartem Kampfe seine Meinung siegte, der Hofbeamte des neuen Kurfürsten unverrichteter Dinge abziehen mußte, das Testament zuvor nach Recht und Gesetz publicirt und erst dann dem regierenden Herrn eine Abschrift vergönnt ward.

Louis Hassenpflug wurde 1821 Assessor und etwas später Rath des kurfürstlichen Ober-Appellationsgerichts. In dieser Stellung vollzog sich bei ihm die Wandlung, welche bestimmend war für sein späteres Leben und namentlich auch für seine verhängnißvolle ministerielle Thätigkeit in Kurhessen. Ich habe schon erwähnt, wie der Uebergang von der Romantik zur Reaction damals in der Luft lag. Bei Hassenpflug aber kam noch ein besonderes psychologisches Moment hinzu. Ich verdanke diese Mittheilung einem nun schon verstorbenen ausgezeichneten hessischen Richter, welcher gleichzeitig mit Hassenpflug Mitglied des obersten Gerichtshofes in Kassel gewesen.

Hassenpflug war lange Zeit hindurch der jüngste der Richter. Er hatte Geist und Kenntnisse. Das konnte ihm Niemand bestreiten. Aber er war sich dessen in einem Grade bewußt, daß er seinen älteren Collegen gegenüber einen Ton anschlug, welchen diese sich nicht gefallen lassen wollten. Alle klagten über seine höchst anmaßliche Selbstüberhebung; so entstand zwischen ihm und den Anderen eine Differenz, welche sich auch sachlich immer mehr erweiterte; da die älteren Herren einer durch reiche Lebenserfahrung gewonnenen gemäßigt liberalen Gesinnung huldigten und neben dem strengen Recht auch die Billigkeit walten ließen, so stellte sich Hassenpflug auf die entgegengesetzte Seite des abstracten und abstrusen veralteten Rechts, das nach dem Sprüchworte „Summum jus summa injuria“ zuweilen auch das größte Unrecht ist. Er verritt sich in seiner Erbitterung und Rechthaberei immer mehr, und da er von Natur ein leidenschaftlicher und gewaltthätiger Charakter war, so gelangte er bald so weit, daß er sich nicht scheute, öffentlich zu verkündigen, die soeben vereinbarte kurhessische Verfassung von 1831 sei „in politischer Beziehung ein Werk der Revolution und in religiöser Beziehung ein Werk des Teufels“.

Diese Ansicht empfahl ihn. Er wurde alsbald, im März 1832, Ministerialrath, und schon im Mai desselben Jahres trat er an die Spitze der beiden wichtigsten Ministerien, der Justiz und des Innern. Er begann alsbald den Kampf auf Leben und Tod, „den Kampf gegen die Opposition“, wie er sagte, „den Kampf gegen die Verfassung“, wie die Andern sagten – seinen Kampf, in welchem er schließlich unterlag. Ich will die Geschichte dieses Kampfes hier nicht erzählen. Sie ist bekannt, und noch kürzlich hat uns Friedrich Oetker im zweiten Bande seiner „Lebens-Erinnerungen“ ein anschauliches Bild desselben entworfen.

Durch diesen Kampf hat sich Hassenpflug schon 1833 die Herzen seiner rechtschaffenen und getreuen Schwäger, der Gebrüder Grimm, vollständig entfremdet. Politiker waren Jacob und Wilhelm Grimm eigentlich gar nicht; jedenfalls waren sie im höchsten Grade tolerant gegen jede andere politische Meinung.

[27] „Meine Vaterlandsliebe,“ schreibt Jacob Grimm am 16. Januar 1838 (Siehe Meusebach’s Briefwechsel S. 259), „habe ich niemals hingeben mögen in die Bande, aus welchen zwei Parteien einander anfeinden … ich traue jedem dieser Gegensätze einen größeren oder kleineren Theil Wahrheit zu und halte für möglich, daß sie schließlich in voller Einigung aufgehen.“

Es war nicht Parteigeist, sondern die ethische, die sittliche und moralische Seite der Sache, welche 1833 Grimm seinem Schwager Hassenpflug entfremdete, welcher in seinen politischen Kämpfen auch unehrliche Mittel nicht verschmähte, wenn er sie für tauglich hielt, den Zweck zu erreichen, und welche 1837 ihn zwang, gegen den hannoverschen Verfassungsbruch zu protestiren. Aus Anlaß des letzteren schreibt er:

„Was ist es denn für ein Ereigniß, das an die abgelegene Kammer meiner einförmigen und harmlosen Beschäftigungen schlägt, eindringt und mich herauswirft? … Der Grund ist, weil ich eine vom Land, in das ich aufgenommen worden war, ohne alles mein Zuthun, mir auferlegte Pflicht nicht brechen wollte, und als die drohende Anforderung an mich trat, das zu thun, was ich ohne Meineid nicht thun konnte, nicht zauderte der Stimme meines Gewissens zu folgen. Mich hat das, was weder mein Herz noch die Gedanken meiner Seele erfüllte, plötzlich mit unabwendbarer Nothwendigkeit ergriffen und fortgerissen. Ich sehe mich in eine öffentliche Angelegenheit verflochten, der ich keinen Fuß breit ausweichen darf, nicht erst lange umblicken, was Hunderttausende thun oder nicht thun, die gleich mir zu ihrer Aufrechthaltung verbunden sind.“

In demselben Jahre 1833, also in dem ersten Jahre des Hassenpflug’schen Kampfes gegen Gesetz und Verfassung, gegen das öffentliche Recht und das öffentliche Gewissen, ist denn auch Lotte Grimm in jungen Jahren verstorben. Ohne Zweifel dachte sie über Hassenpflug’s verhängnisvolles Thun und Treiben nicht anders, als ihre Brüder Wilhelm und Jacob. Gesprochen hat sie darüber zu Niemand; denn es ist nicht edler deutscher Frauen Art, bei Dritten den eigenen Gemahl zu verklagen; lieber tragen sie stumm ihren Gram und gehen schweigend zu Grabe. Und die Vorsehung hat es ohne Zweifel gut mit ihr gemeint, indem sie dieselbe bei Zeiten abrief und ihr ein langes Leben voll Angst, Pein und Gewissensqualen ersparte. Hassenpflug aber ist alsbald zu einer zweiten Ehe geschritten und hat darüber vergessen, seiner edlen Gemahlin ein Denkmal zu setzen.

Bis zehn Jahre nach dem Tode ihrer Schwester Lotte haben Jacob und Wilhelm Grimm gewartet. Dann haben sie ganz im Stillen derselben auf dem Kasseler Gottesacker den in einem vorigen Artikel (vergleiche Nr. 1 d. J.) erwähnten Denkstein errichtet und damit nachgeholt, was der Gemahl versäumt hatte.

Es ist uns nicht erlaubt, die Schatten, welche das Trauerspiel von Kurhessen bis in die intimsten Familienkreise hinein warf, zu erörtern; denn es ziemt sich nicht, an das Licht der Oeffentlichkeit zu ziehen, was die Betheiligten selber lieber verschleiern. Beschränken wir uns daher auf das, was die Brüder selbst dem Leichensteine der Schwester eingegraben. Die Schwester, etwa acht Jahre jünger als die Brüder, hat im dreißigsten Jahre den gleichalterigen Louis Hassenpflug geheirathet. Der Tod trennte nach zehn Jahren die Ehe in derselben Zeit, da der Gemahl jene eigentümliche Laufbahn einschlug, welche seinen Namen auf die Nachwelt gebracht hat, aber nicht als einen Namen des Segens und des Friedens, sondern als einen solchen, welcher den Untergang einer vormals glorreichen Dynastie bedeutet — jener Dynastie, welche anhebt mit dem „Kinde von Brabant“. Und abermals nach zehn Jahren, während deren Hassenpflug wohl Zeit gehabt hätte, seiner verstorbenen Gemahlin zu gedenken, ließen Jacob und Wilhelm den Stein setzen, auf welchem sie sich, selbst in ihrem Schmerze noch maßvoll, darauf beschränkten zu sagen, daß es nicht der überlebende Gemahl war, sondern die Brüder, welche nach zehn Jahren noch der todten Schwester gedachten.

Deshalb durfte ich in meinem eben erwähnten Einleitungsartikel wohl mit Recht behaupten: Diese Inschrift ist ebenso vielsagend, wie einfach.

Was Hassenpflug selbst anlangt, so diente er seinem Kurfürsten und anderen Fürsten in seiner Art zwar treu und ergötzte sie mit den dialektischen Künsten und juristischen Rabulistereien, durch die er, unter Mißbrauch der öffentlichen Gewalt, die Opposition eine Zeitlang niederzuhalten wußte; als man aber später sah, daß man mit seinen Zauberkünsten keinen Hund mehr aus dem Ofenloche locken konnte, wurde er vollständig vernachlässigt und – ich glaube nicht zuviel zu sagen, denn ich spreche aus eigener Anschauung – der Verkommenheit preisgegeben.

Man hat Hassenpflug der Hab- und Bereicherungssucht geziehen, und sein Greifswalder Conflict sowie auch das, was uns Friedrich Oetker, nach eigener Beobachtung, in seinen „Lebens-Erinnerungen“, Band 2, Seite 107 und ff. erzählt, sprechen scheinbar dafür. Allein in diesem Punkt that man ihm Unrecht; er ist arm aus dem Amte geschieden. Freilich war es auch schwer, sich unter einem so außerordentlich sparsamen Herrn, wie der Kurfürst war, zu bereichern.

Im Grunde genommen war der Kurfürst seinen Ministern stets nicht allzu gewogen. Er sah in Jedem derselben einen Beschränker der absoluten Gewalt, für welche er schwärmte. Einst hatte ihm ein neues Ministerium ein Programm vorgelegt. Als darauf die Minister in das kurfürstliche Palais entboten wurden, fanden sie in dem Vorzimmer auf dem runden Tisch ihr Programm liegen. Es war sauber eingebunden, und auf dem Umschlag stand von des hohen Herrn eigener Hand geschrieben: „Dienst-Instruction für Friedrich Wilhelm. NB ist aber kein Diener, sondern der Herr!“

Der Kurfürst amüsirte sich, wenn er seine Minister ein wenig ärgern oder ihnen sonst wie in die Quere kommen konnte, wie er überhaupt seine Freude daran hatte, wenn ihnen etwas Unliebsames passirte.

Am liebsten hätte er Alles selbst und Alles allein gemacht, da er aber Alles einer wiederholten minutiösen Prüfung unterzog und überhaupt nur schwer zu einem Entschlusse kommen konnte, so wuchs ihm die Arbeit über den Kopf und daraus entstand dann das, was man die „kurfürstliche Geschäftsstockung“ nannte. Hassenpflug, der ein eifriger und arbeitsamer Geschäftsmann war, kam darüber oft in Reibung mit seinem Fürsten, der noch weit herrschsüchtiger war, als Hassenpflug selber. Der Kurfürst mochte eigentlich den Hassenpflug noch weit weniger, als seine übrigen Minister, und so oft er glaubte, ihn entbehren zu können, gab er ihm die Entlassung. Leider aber wußte sich Hassenpflug dadurch, daß er den Riß zwischen dem Fürsten und dem Lande immer mehr erweiterte, immer unentbehrlicher zu machen, und so führte das Verhängniß beide Männer immer von Neuem zusammen – zu ihrem eigenen Verderben.

Namentlich in kirchlicher Beziehung bestand ein diametraler Gegensatz zwischen dem rationalistischen Fürsten und seinem hyperorthodoxen und frömmelnden Diener, und des letzteren Vorschläge zu Gunsten seiner mystischen Freunde fielen meistens in’s Wasser.

Einst beantragte Hassenpflug für einen höheren Geistlichen vier Dienstpferde für seine Inspectionsreisen. „Geistlicher Hochmuth,“ sagte der Kurfürst. „Wird nichts daraus. Unser Heiland hatte nur einen Esel.“

Hassenpflug hatte es zwar fertig gebracht, daß die Geistlichkeit der Diöcese Kassel den Consistorialrath Vilmar, den bekannten Vertheidiger der Hexenprocesse, welcher versicherte, er habe mit seinen eigenen leiblichen Augen gesehen, wie der Teufel gegen ihn (Vilmar) die Zähne gefletscht habe, zum Superintendenten wählte, allein es gelang ihm nicht, die Bestätigung des Kurfürsten zu erwirken. Daraufhin verlangte Hassenpflug seinen Abschied und – erhielt ihn, gegen alle Vermuthung. Er hätte eher den Einsturz des Himmels erwartet. Seitdem harrte er Tag für Tag und Jahr für Jahr, daß ihm das Ministerium wieder angetragen werde. Er wartete vergeblich.

Endlich reichten seine Mittel nicht mehr, um in Kassel auf dem alten Fuße zu leben. Er entschloß sich, nach dem billigen Marburg, dem Sitze der gestürzten Günstlinge und gefallenen Größen, überzusiedeln. „Als aber die Möbelwagen schon gepackt waren“, erzählt uns Professor Fr. Müller in seinem „Kassel seit siebenzig Jahren“, Band II, Seite 330, „legte sein Hauswirth Beschlag auf das Ganze, weil die europäische Berühmtheit, Großkreuz und Ritter des hessischen Löwen-Ordens und des österreichischen Leopold-Ordens, mit dem Miethzins noch rückständig war.“ – –

In Marburg ist denn Hassenpflug gestorben, ohne daß die Sonne der Gnade ihn jemals wieder beschienen. Er hatte dort ebenso wenig Gelegenheit, seinen Herrschertrieb zu befriedigen, als sein hoher Herr später in Horsowitz. Beide hatten dem Moloch der Herrschsucht über das dem Sterblichen gestattete Maß hinaus [28] gehuldigt und waren ihm zum Opfer gefallen, der Kurfürst immerhin mit einer gewissen Würde, sein Diener ohne solche.

In dem kleinen Marburg war der einst allmächtige Minister von Allen gekannt und bei Allen verrufen. Früher hatte seine Gewalt, sowie die rücksichts- und schrankenlose Art, wie er Gebrauch davon machte, die Leute geschreckt und ihm unterworfen. Jetzt war es vorbei damit. Kein Mensch grüßte ihn beim Begegnen, und Viele gaben ihm ihren Abscheu nur allzu deutlich zu erkennen. Sein stolzes Herz konnte das nicht ertragen. Er verschloß sich in seine Wohnung, suchte Trost in dem Becher und fand darin nur Krankheit und Betäubung.

So ist er verdorben und gestorben.

Das Alles fiel mir ein, als ich das einsame Grab der Frau Lotte Grimm auf dem alten Todtenhofe wieder aufsuchte.




Die weiße Rose.

Episode aus dem mexicanisch-französischen Kriege.
Von H. Keller.

Am 10. Juni 1863 läuteten die Glocken fast aller Kirchen von Mexico. Die Läden waren geschlossen, und die Stadt trug ein festliches Gewand.

Die Franzosen hatten endlich nach unsäglich blutigen Kämpfen Puebla erobert und marschirten jetzt gen Mexico. Der glückliche Weihnachtstag von 1860, an welchem Ortega, der Stellvertreter von Juarez, der damals noch in Vera Cruz residirte, unter dem ungetheilten Jubel der liberalen Partei und von Kränzen und Blumen überschüttet mit seinen Truppen in die Hauptstadt eingezogen, war fast vergessen, und die Bevölkerung befand sich in jenem Zustande qualvollsten Gedrücktseins, in welchem man sich nur nach Veränderung sehnt, einerlei woher sie kommt. Die clericale Partei hatte ihre reichen Mittel aufgeboten, um die Straßen, durch welche die Truppen marschiren sollten, glänzend zu schmücken. Bunte persische Teppiche hingen von den Balconen hernieder, die, von Guirlanden und Blumen umwunden und von der tropischen Sonne beleuchtet, wohl im Stande waren, die Thränen und das Elend zu verdecken, welches sich hinter den Mauern der Stadt verbarg und nach Erlösung schrie.

Juarez hatte am 31. Mai die Stadt verlassen und sich mit den Trümmern seiner Truppen nach San Luis Potosi zurückgezogen. Wenn auch die größere liberale Partei unmöglich die Franzosen mit Freuden begrüßen konnte, so war doch davon an jenem geschmückten Tage nichts fühlbar. Auf den Hauptstraßen, durch welche der Zug passiren sollte, sah man unter den eleganten, weit ausgespannten Marquisen der Balcone die vornehme Damenwelt von Mexico in festlichen Toiletten schon stundenlang, bevor der Zug eintreffen konnte.

Die zahlreichen kostbaren Blumensträuße und Kränze in den Händen der Damen ließen darauf schließen, daß die schöne Welt von Mexico größtentheils der clericalen Partei huldigte; denn die Kinder Floras waren ohne Zweifel dazu bestimmt, die Säbel und Casquets der Franzosen zu krönen, die heute so festlich bewillkommnet in die Stadt ziehen sollten.

Unten in den Straßen drängte sich ein unabsehbares Menschengewoge, und die zur Ordnung mahnenden Posten hatten unsägliche Mühe, den angewiesenen Raum frei zu halten. Dicht an der Plaza municipal, auf dem Balcon eines der ersten und elegantesten Häuser der „Calle de Plateros“, welches sich ganz besonders durch sinnige und reiche Decoration hervorhob und einem namhaften Anhänger der clericalen Partei gehörte, umstanden einen behäbigen, vornehmen Priester drei reizende Frauengestalten. In ihren kleinen Händen hielten sie elegante Körbe, in denen die ausgesuchtesten Bouquets geordnet lagen, wie sie in der Mannigfaltigkeit und Pracht wohl nur der südliche Himmel hervorzaubern kann.

Die kleinste und hübscheste der drei Damen, mit schelmischem Gesicht und lachenden Grübchen, versuchte eben dem Priester ein großes Bouquet in die Hand zu drücken, indem sie lachend sagte: „für den tapfersten, schönsten Cavalier!“ Der Priester, dessen würdiges Gesicht sich zu einem leichten Lächeln verzog, nahm es nach einigem Sträuben an, hob es in die Höhe und versuchte es zu dem Nebenbalcon herüber zu reichen, welcher dicht an denjenigen stieß, auf welchem er sich mit den Damen befand, und welcher nur von einer einzigen Dame besetzt war. Sie trug tiefe Trauerkleider und ihre großen, dunklen Augen sahen gedankenvoll und fremd über die Masse, die da unten in der Straße auf und nieder wogte, als hätte ihre Seele keinen Theil an dem Glanze und der Freude, die sie umgab. Sie bemerkte die Absicht des Priesters nicht, und erst als die kleine Dame ihren Namen rief, erhob sie sich und trat an den benachbarten Balcon.

„Nehmen Sie das Bouquet, Sennorita,“ sagte der Pater, „Donna Rosita bestimmte es für den tapfersten und schönsten der Sieger; es würde doch keinen Werth für ihn haben von meiner Hand. Wie ich sehe, haben Sie ja auch gar keine Blumen zur Begrüßung für unsere Befreier und Erlöser von einer jahrelangen, unchristlichen Herrschaft.“

Bei den letzten Worten streiften seine Augen prüfend und durchdringend die feinen, durchgeistigten Züge des jungen Mädchens, welches da ohne jeden Schmuck, nur eine einzige weiße Rose am Busen, vor ihm stand.

„Wozu Blumen, Pater?“ erwiderte sie erregt; „ich liebe es nicht, fremde Männer mit Blumen zu überschütten, wenn das Herz keinen Theil daran hat. Ich werde nur einem einzigen Manne Blumen schenken,“ setzte sie lächelnd hinzu, als sie bemerkte, wie des Paters Züge sich verfinsterten, „dem Manne, den ich liebe.“

„Und das wird nie ein Franzose sein,“ sagte Rosita und blickte schelmisch in der Freundin hübsches, charaktervolles Gesicht.

„Warum kein Franzose?“ fragte der Priester, indem er abermals seine stechenden Augen lauernd über die Züge des Mädchens gleiten ließ.

„Weil Conchita im Herzen zu den Liberalen hält, Pater,“ sagte jetzt die größere der drei Damen, eine ziemlich verblichene Schöne mit unangenehmen Zügen. „Weil sie vor dem Tod ihrer Mutter, ehe sie nach Mexico in das Haus ihres Onkels kam, nur mit Liberalen verkehrte und diese ihr Dinge in den Kopf gesetzt haben, Dinge von Priesterherrschaft, Volksbeglückungswahn und so weiter, von welchen sie noch nicht genesen ist und die ihr von Zeit zu Zeit Congestionen verursachen. Hat sie doch sogar ihren Brillantschmuck, das Einzige, worüber sie verfügen konnte, Gonsalez Ortega in die Hand gespielt, als er mit seinen Truppen nach Puebla zog. Ja, ja, Conchita,“ fuhr sie milder fort, als sie sah, wie ihr Opfer erbleichte und sich ihr ein schmerzlicher Zug um die Mundwinkel lagerte, die erst vor kurzer Zeit am Sterbebett der Mutter in bitterstem Weh gezuckt, „Du siehst, es bleibt nichts ein Geheimniß; Du würdest auch sonst sicher an dem heutigen Tage die Brillanten tragen, die Dein Onkel so sehr liebt.“

„Mein Onkel weiß, daß zu den Trauerkleidern, die man um eine Mutter trägt, keine Brillanten passen, Julita,“ sagte sie verächtlich und wandte den Blick nach der Straße.

Ein lauter Tusch trieb die Menge auf der Straße aus einander; die Damen drängten sich an die Balustraden der Balcone, und der bekannte Siegesmarsch ließ sich vernehmen. Die glänzenden Helme der ersten Reiter leuchteten auf der Plaza municipal, und ein donnerndes Hoch begrüßte die Truppen, die, wie die Vernünftigen schon damals wußten und die Anderen sich nur zu bald überzeugten, dem Lande kein Glück bringen sollten.

Es war vielleicht zum ersten Mal, daß die Mexicaner geordnetes Militär, wirklich theilweise sehr schöne Leute mit guten blankgeputzten Uniformen, sahen; das Volk, welches die Straßen füllte; sperrte Mund und Augen auf, und der Jubel wollte in der That kein Ende nehmen.

Conchita sah gleichgültig über die glitzernde Menge, die mit rauschender Musik vorüberzog, aber der Groll, den sie gegen die Feinde ihrer Gesinnungen im Herzen trug, fing an sich etwas zu dämpfen, als sie in die vielen fieberkranken, vom Klima verwüsteten Gesichter schaute. Nur von Zeit zu Zeit warf sie einen unbegreiflichen Blick auf die Damen in ihrer Nachbarschaft, die ihre [29] Blumenkränze in so reicher Fülle auf die sich hebenden Säbel der Officiere senkten und mit ihren schönen Augen die Blicke erwiderten, mit welchen diese ihnen dankten.

Mancher Officier hatte vergebens zu ihr aufgeschaut, zu ihr, die mit den großen träumerischen Augen für keinen Einzigen ein Zeichen der Freude und des Willkommens hatte.

Ein Schreien und Jauchzen der Menge weckte sie aus ihren Gedanken. Die Afrikaner! Die Zuaven mit ihren dunklen Gesichtern und rothen Turbanen, in welchen sie theilweise kleine Hunde trugen, wurden sichtbar, und von dem Volke mit ungeheucheltem Erstaunen begrüßt. Conchita bog sich neugierig über die Balustrade; die Officiere des Generalstabes, welche den Afrikanern voranritten, hoben die Säbel als Zeichen des Grußes, und sie neigte unwillkürlich das Haupt.

Der bleiche blonde junge Mann, der als Adjutant zwischen den Officieren ritt und unter den dunkel gebräunten Gesichtern merkwürdig abstach, sah lange zu ihr hinauf – sein Säbel vergaß sich zu senken, und als Conchita ihren Kopf tiefer bog, um die Röthe ihres Angesichts zu verbergen, knickte die weiße Rose an ihrer Brust und fiel zu Boden.

Sie fuhr erschrocken in die Höhe, aber ihre Blicke trafen zwei tiefe, schwärmerische, blaue Augen. Der bleiche Adjutant drückte die Rose, die eben noch an ihrer Brust geruht, an seine Lippen, indessen Rosita’s schönstes Bouquet von den Hufen der Pferde zerstampft am Boden lag.

„Conchita giebt nur einem Einzigen ihre Blumen, dem, dem sie auch ihr Herz zu eigen giebt,“ spöttelte Rosita, deren schlauen Augen der schöne Adjutant nicht entgangen war, und ihr helles Lachen klang harmonisch zwischen den Trompeten und Pauken der Musikanten.

Conchita sah nichts mehr. Wie im Traum blickte sie auf das Gewoge da unten; sie hätte vielleicht nicht einmal bemerkt, daß das Militär längst vorüber war, wenn sich nicht ein weicher Arm um ihren Hals gelegt hätte – es war Rosita, die unter einem glühenden Kusse um Verzeihung bat. In ihrem Herzen trug sie zum Erschrecken klar das Bild des blonden französischen Adjutanten, und sie haßte ihn mit aller Gewalt ihres leidenschaftlichen Seins.




Einige Tage später stand Conchita festlich geschmückt vor dem großen Spiegel ihres Ankleidezimmers. Die Trauergewänder, die sie beinahe ein Jahr getragen, hatte sie auf den ausdrücklichen Wunsch ihres Onkels heute mit dem elegantesten Gesellschaftsanzug vertauscht; denn sie sollte ihn zu dem officiellen Diner begleiten, welches die vornehme Welt Mexicos heute den Generälen Bazaine und Forsey zu Ehren gab, den mit Bewunderung gekrönten Siegern von Puebla.

Ein weißes, schweres Atlaskleid umschloß knapp die feine Taille; die vollen Schultern hoben sich in tadelloser Schöne aus dem glänzenden Weiß, und die reiche Spitzengarnitur, welche beinahe bis auf die Schleppe fiel, wurde von einer Guirlande weißer Rosen gehalten; auch in ihrem glänzend schwarzen, in fast übermäßiger Fülle prangenden Haar lag als einziger Schmuck – eine weiße Rose. Ihre dunklen, großen Sammetaugen übersahen wehmüthig die Gestalt, die heute zum ersten Male wieder festlich geschmückt in die Welt treten sollte – ohne die Mutter.

„Und Deine Perlen, Conchita?“ fragte ihre Tante, eine alte Dame in grauem Seidenkleide, deren vergilbten Hals ein schweres Diamantcollier umschloß.

„Meine Perlen, Tante?“ wiederholte das Mädchen etwas erbleichend, indem sie vom Spiegel trat und zu der Dame hinüberschaute, „ich will heute ohne Schmuck gehen – ich –“

„Nun – ich? Sprich es nur aus, Conchita, was man sich bis hinab in die Küche zuflüstert – ‚ich habe meine Perlen jenen Verruchten, jenen Gottesleugnern gegeben, welche keinen anderen Zweck haben, als unsere Kirche zu stürzen‘“

Conchita’s Lippen zuckten; eine jähe Blässe zog über ihr Gesicht, aber nur einen kurzen Moment; dann hob sich ihre schlanke Gestalt, und mit sprühenden Augen und vibrirender Stimme sagte sie fest und bestimmt:

„Ja, Tante, ich habe Alles, was ich an Schmuck und Perlen besaß, da Ihr es ja doch einmal wißt, jenen Ehrenmännern gegeben, die den Muth haben, wahrhaftig nicht Gott zu lästern, nein, der Priesterherrschaft die Gewalt aus den Händen zu nehmen, an der Gott keinen Theil hat. Meine Freunde wollen nichts Böses; sie wollen das arme, geknechtete Volk aus Staub und Unwissenheit ziehen, damit es ehrlich arbeiten könne, wie andere Nationen, damit es fühlen lerne, daß seine Kinder Menschen sind wie wir, Menschen mit Menschenwürde. Meine Freunde wollen dem Volke helfen, endlich den Gott der Liebe und Allbarmherzigkeit wiederzufinden, an welchen es sonst verlernen müßte zu glauben.“

Dios mio, Dios mio!“ Das war Alles, was sich von den Lippen der alten Dame rang, als sie diese Sprache hörte, die noch nie aus solchem Munde ihr Ohr berührt hatte, und ihre mageren Finger machten das dreifache Kreuz, damit das Gift dieser Worte nicht ihre Seele verderbe. Was war mit dem Mädchen geschehen, und wer hatte sie diese kühne Sprache gelehrt, die Padre Garcia als die des Teufels bezeichnete?

„Kind,“ sagte sie endlich, „das ist nicht die Sprache Gottes, und morgen mußt Du mit Padre Dionisio beichten und demüthigend die Strafen der Buße erdulden, die er über Dich verhängen wird.“

„Kein Wort weiter, Tante,“ warf Conchita heftig ein, „oder ich reiße diesen Plunder herunter, und kein Gott wird mich mehr dazu zwingen, eine Gesellschaft zu besuchen, deren Principien ich verachte. Ich weiß, daß ich nur ein ohnmächtiges Mädchen bin; deshalb füge ich mich dem Onkel und seinen Wünschen, aber meinen Ansichten bleibe ich treu, trotz allen Padres der Welt – das werde ich morgen Padre Dionisio sagen, falls es ihm einfallen sollte, mich darüber zur Rede zu stellen.“

Tante Pepita schwieg und gedachte des ausdrücklichen Befehls ihres Bruders, das Mädchen nicht zu reizen und nichts von ihr zu erzwingen. Die Pläne, die er mit ihr und ihrem bedeutenden Vermögen hatte, erheischten bei ihrem Charakter Vorsicht, und vor allen Dingen durfte ihr Mißtrauen nicht geweckt werden. Als die alte Dame das überdachte, fürchtete sie schon fast, zu weit gegangen zu sein.

„Kleiner Brausekopf – gerade wie Dein Vater!“ sagte sie und strich dabei zärtlich über Conchita’s glänzendes Haar. „Er bestand auch eigensinnig auf seinen Principien und stürzte sich so in einen frühen Tod, aber die Zeit wird Dich schon abkühlen und vernünftig machen.“

„Vielleicht auch nicht,“ sagte das Mädchen leise; „vielleicht ist es unser Fatum an unserem eigenen Ich zu Grunde zu gehen.“

Conchita hatte ihre Tante trotz deren fanatischen Anschauungen lieb; sie schwieg deshalb, und als ihr Onkel laut an die Thür klopfte, um die Damen zum Wagen zu geleiten, legte sie ebenso ruhig wie Tante Pepita ihren Arm in den seinen.

Die vornehme, aristokratische Welt in Mexico wußte nicht, mit welchen Ehren sie nach den letzten bitteren Jahren, während welcher Juarez das Staatsruder so energisch in der Hand gehabt und so verheerend unter die Kirchengüter gefahren war, die Befreier feiern sollte. Feste verdrängten Feste, und überall zog man die Damen hinzu, um den Ovationen mehr Glanz und Mannigfaltigkeit zu verleihen, vielleicht auch, um politische und religiöse Gespräche zu vermeiden, die so leicht in einer aufgeregten Zeit zu Erbitterungen führen.

Als Don Francisco Carbajal seine Schwester und Nichte in den großen Saal des Hotel Iturbide führte, war der letztere schon fast ganz von Gästen angefüllt. Es gab ein Begrüßen und Vorstellen, und ehe man sich versah, waren die Paare in den großen Eßsaal spaziert, in welchem die pomphaft ausgestattete Tafel auch das verwöhnteste Auge blendete.

Don Francisco hatte den Arm seiner schönen Nichte in den eines jungen Cavaliers gelegt, von dem sie schon oft in ihres Onkels Hause hatte reden hören, der aber erst kürzlich von Paris zurückgekehrt und den sie heute zum ersten Male sah. Er war ein Neffe des reichen und vornehmen Hauses der Rubio, und wie Conchita vermuthete, zu ihrem zukünftigen Gatten bestimmt.

Sie hatte die letzten Jahre mit ihrer Mutter in San Luis Potosi gelebt und, wie man wohl an ihrer ausgesprochenen politischen Richtung erkennen konnte, in anderen Kreisen verkehrt, als diejenigen waren, in welche sie jetzt von ihrem Onkel eingeführt wurde.

In dem Freundeskreise ihrer Eltern hatte mehr Sinn für wissenschaftliche und ernste Bestrebungen geherrscht, als es gewöhnlich in Mexico der Fall war, und namhafte Männer der liberalen Partei hatten ihr in täglichem Verkehr nach und nach Verständniß für Vieles geweckt und Ideen in ihr zur Reife gebracht, [30] die in grellem Widerspruch zu denen standen, die sie hier vertreten hörte. So lange ihre Mutter lebte, hatte sie nicht an die Zukunft gedacht, sie wußte kaum, daß sie eine reiche Erbin war, und selbst jene kleinen Tändeleien des Herzens waren ihr fremd gebleben, mit welchen sonst die Jugend so gern die Zeit auszufüllen liebt.

Die ernsten Zeitströmungen der letzten Jahre, das Erwachen des mexikanischen Volkes aus dem dumpfen Schlafe, in welchem es eine fanatische Priesterherrschaft, beinahe seit Cortez, gefangen gehalten, hatte ihrer Eltern volle Sympathie in Anspruch genommen und die Tochter, mit so vielen bedeutenden Eigenschaften begabt, fand für die Ausfüllung ihrer Zeit genug Interessantes.

Die ersten Monate nach ihrer Mutter Tod war sie bei einer befreundeten Familie in San Luis Potosi geblieben - dann, als sie nach Mexleo in das Haus ihres Onkels kam, hatte ihre Trauer ihr gestattet, allen Vergnügungen fern zu bleiben, die auch ohne dies während der Herrschaft von Juarez unter der Aristokratie auf ein kleines Maß beschränkt blieben.

Der junge Mann, an dessen Arm Concha zu Tisch gegangen und den man ihr als „Don Miguel Pradel y Rubio“ vorgestellt, war der echte Typus eines mexicanischen Cavaliers. Er überschüttete sie mit Artigkeiten und Schmeicheleien, die Concha, welche an ernstes Denken gewöhnt war, fast lächerlich vorkamen.

General Bazaine brachte eben ein Hoch auf den Kaiser von Frankreich und auf das Wohl der Republik Mexico aus.

Don Miguel bog sich zu seiner Nachbarin.

„Auf das Wohl unseres Landes, Sennorita!“

Concha wollte anstoßen, aber ihre Augen trafen am Ende des zweiten Tisches auf einen Officier in eleganter Uniform, der sie unaufhaltsam fixirte. Ihre Hand bebte, und das Glas fiel klirrend zu Boden.

„Ist Ihnen unwohl geworden, Sennorita?“ fragte Don Miguel besorgt.

„Ich danke, es war nur ein plötzlicher Schwindel – er ist schon vorüber.“ Und abermals suchten ihre Augen unwillkürlich jene Richtung, in welcher der blonde Adjutant saß – der Räuber ihrer Rose. Sie war ärgerlich über sich selbst, sie wollte den jungen Mann ignoriren, dessen Blicke, das fühlte sie, so unaufhaltsam heiß auf ihr ruhten. Sie begann eine Unterhaltung mit ihrem Nachbar; sie hätte um Alles gern dem Unverschämten zeigen mögen, wie sehr sie ihn und seine Cameraden verachtete, wie sehr sie jene Richtung haßte, in deren falschem Lichte sich diese Eindringlinge heute sonnten.

„Haben Sie schon jenen bleichen Officier am oberen Ende des andern Tisches bemerkt?“ fragte ihr Nachbar. „General Bazaine hat ihn zum Adjutanten in seinem Generalstab ernannt, weil er sich so glänzend bei Puebla ausgezeichnet.“

„Mich interessiren die Franzosen nicht.“

Don Miguel sah sie betroffen an.

„Wenn ich das als eine Gunst für mich deuten darf, Sennorita, dann danke ich Ihnen,“ und sie ließ es geschehen daß er ihre Hand an seine Lippen zog.

Conchita verstand ihn nicht. Sie blickte träumerisch in seine Augen und dachte dabei an den bleichen Franzosen, der das Blut Derjenigen vergossen, mit deren Hoffnungen auch ihre heißesten Wünsche gegangen waren.

Ihr Onkel, dessen Lieblingsplan es war, da er selbst keine Kinder hatte und Conchita auch seine Erbin wurde, sie mit Don Miguel vermählt zu sehen, war glücklich über das gute Einvernehmen, in welchem er die Beiden sah, wenn er von seinem Platz aus zu ihnen herüberspähte. Er war in heiterster Laune, und als die Tafel aufgehoben wurde, stellte er die sämmtlichen Generäle, die sich um einen kleinen, auserlesenen Kreis geschaart, seiner Nichte vor.

Concha verbeugte sich kalt und vornehm und beantwortete die wenigen Worte, welche dieselben an sie richteten, im tadellosesten Französisch höflich, aber kurz.

„Conchita, meine Liebe, Monsieur de Brunne, einer unserer tapfersten Sieger von Puebla.“

Ein kurzes eisiges Neigen des Kopfes.

Der junge Mann, der vor ihr stand und abermals seine Augen tief in die ihren senkte, war der bleiche Adjutant, derjenige von allen Officieren, den sie am tiefsten haßte.

Er sprach gewandt und lange mit Don Miguel, welcher neben ihr stand, wußte meisterhaft seine etwas beißenden Bemerkungen zu widerlegen und ihm von feinem, dem französischen, Standpunkte aus die Sache ganz anders zu beleuchten, als es von mexicanischer Seite der Fall sein konnte. Er meinte, daß es für die Republik und das Volk nur ein Glück wäre, wenn eine stärkere Macht die Zügel in die Hand nähme und –“

„Unser Glück, Sennor, kann uns niemals von Frankreich kommen,“ warf Conchita erbittert ein.

„Warum nicht von Frankreich, Sennorita ?“

„Weil ich nicht glaube, daß die geringste Sympathie zwischen Franzosen und Mexikanern möglich ist.“

„Glauben Sie das wirklich nicht, Sennorita? Mir ist es im Gegentheil, seitdem ich den Fuß in die mexikanische Hauptstadt gesetzt, als ob in unsern Herzen eine tiefe Sympathie für dieselben möglich wäre.“

Jähe Gluth färbte bei diesen Worten sein bleiches Gesicht, und seine Augen trafen abermals die der jungen Dame, die in fast noch dunklerem Feuer groß und gedankenvoll auf ihm ruhten.

„Don Miguel,“ sagte Concha plötzlich, „suchen Sie Tante Pepita und sagen Sie ihr, daß ich müde bin und sie bitte, mit mir nach Hause zu fahren!“ Dann wandte sie sich zum Gehen, aber als sie sich kalt vor Monsieur de Brunne verneigen wollte, ergriff Dieser ihre Hand, und indem er sie an seine Lippen zog, flüsterte er leise und nur ihr verständlich.

„Und wenn Sie auch Frankreich und seine Soldaten hassen, Sennorita, die Rose, die einst an Ihrem Herzen geruht, wird doch das Theuerste sein, was ich mit mir nehme in mein Vaterland.“

Ein hochmüthiger Blick und eine eisige Verbeugung war Alles, was sie erwiderte, die Stelle aber auf ihrer Hand, wo seine Lippen geruht, brannte ihr bis in's Herz hinein.

Sie saß im Wagen neben ihrer Tante und hatte keine Erinnerung seit dem Momente, wo sie den Saal verlassen hatten.

Wo war sie? Träumte sie? Oder gab es einen magischen Zauber, der gewissen Menschen eigen und mit dem sie ein anderes Dasein umstricken können? Sie fühlte, daß ihr ganzes Wesen in unerklärlichem Aufruhre war, daß sie diesen Franzosen haßte und daß die Rose wieder in ihren Besitz kommen mußte.




Wochen waren vergangen. Der blonde Adjutant war täglich um dieselbe Stande auf der Promenade an Concha's Wagen vorübergeritten, und sie hatte mit einem kalten Neigen des Kopfes seinen Gruß erwidert.

O, sie konnte unter all den vielen Reitern die Hufschläge seines Pferdes unterscheiden, und wenn dann sein feiner Kopf mit dem blonden Vollbart sichtbar wurde, das Antlitz, wie es ihr schien, täglich noch um eine Nüancirung bleicher, dann schlug ihr Herz lauter und ihre Lippen zuckten. Sie nahm sich jedesmal vor, ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn haßte, sich zurückzulehnen in den Wagen, ohne ihn anzusehen – doch die Gewalt, die er über sie übte, war stärker, als ihr Wille. Sie preßte ihre Hand auf ihr Herz, aber ihre Augen begegneten den seinen, sie konnte ja schon nicht anders der Tante wegen – sie neigte nach europäischer Sitte leicht das Haupt und grüßte ihn.

Don Miguel war seit jenem Diner im Hotel Iturbide der tägliche Gast in ihres Onkels Hanse. Sie gewöhnte sich nach und nach an seine Gesellschaft, nahm seine Ritterdienste an, verplauderte mit ihm die müßigen Stunden und erlaubte ihm, Abends in der Oper hinter ihrem Stuhle zu lehnen und mit ihr über die Musik und die Sängerinnen zu conversiren. Sprach sie bei Gelegenheit mit Lebhaftigkeit über ihre politischen Ansichten, von ihrem Unverständniß der clericalen Bestrebungen und ihrer Mißbilligung der französischen Intervention, so lächelte Don Miguel und machte ihr Complimente über ihre interessante Beredsamkeit, bei welcher ihre Augen noch feuriger glänzten, noch schöner leuchteten, als gewöhnlich.

Er selbst war bis zur Narrheit in Conchita verliebt; ihre Ansichten genirten ihn keinen Augenblick. War sie erst seine Frau – nun, so würden schon ernstere Dinge ihr diese revolutionären Ideen vertreiben. Pater Garcia, der kluge Priester, verrieth keinen Augenblick Concha gegenüber, wie sehr er ihre Ansichten kannte und mißbilligte, und hatte ihrem Onkel den weisen Rath gegeben, sie ruhig gewähren zu lassen, ihr nicht zu widersprechen, damit sie ihre Hand ohne Argwohn in die Don Miguel's lege, nachher [31] wolle er, der gestrenge Beichtvater aller verheiratheten Familienglieder, schon seine wuchtige Hand auf ihr sündiges Haupt legen und sie zum Gehorsam und zur Demuth zwingen.

Dieses große Vermögen mußte in einer clericalen Familie angehäuft bleiben unter Leuten, auf welche man sich zu allen Zeiten verlassen konnte.

Die katholische Kirche in Mexico empfing nicht umsonst ihr Blut aus der großen Pulsader Roms; sie verstand es meisterhaft auch im Kleinen für ihr Heil zu arbeiten; das hatte man nie klarer gesehen, als damals, einige Jahre früher, als Juarez die Kirchengüter dem Staate einverleibte und es sich herausstellte, daß mehr als zwei Dritttheil der ganzen Republik Eigenthum der Kirche war.

Es gab eine Zeit, in welcher Conchita sich vorgenommen, sobald sie mündig sei, den Liberalen nach San Luis Potosi zu folgen und, wenn es sein müsse, ihr Vermögen zu opfern.

Aber diese Idee war eingeschlummert seit dem Einzug der Franzosen. Conchita war seitdem auffallend erregt und nachdenkend geworden, und ihr Hauptgedanke war der, den Bann zu lösen, welchen dieser Franzose auf sie ausübte, die Rose wieder in ihren Besitz zu bekommen und ihm dann einmal offen ins Gesicht zu sagen, wie sehr sie ihn hasse.

Ihr Onkel freuete sich ihres veränderten Wesens; er schloß einfach daraus, daß sie Don Miguel liebe und daß es nur noch des letzten bindenden Wortes bedürfe.

Alle seine Pläne schienen herrlich in Erfüllung gehen zu wollen. Bald sollte einem deutschen Fürstensohne die mexikanische Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt und so diesen ewigen Revolutionen ein Ende gemacht werden, und auch in seinem Hause sollte in Zukunft eine junge reizende Frau präsidiren.

Conchita hatte Monsieur Henri de Brunne auch in verschiedenen Gesellschaften wiedergesehen, sie hatte gehofft, daß er sich ihr nähern und sie eine Gelegenheit finden würde, ihm die Bitte auszusprechen, er möge ihr die Rose zurückgeben, die ihr Eigenthum war.

Es war fast eine fixe Idee bei ihr geworden, daß der Verlust der Rose mit dem ewigen, ungeduldigen Nagen ihres Herzens in Verbindung stehen müsse, und sie sehnte sich nach den verwelkten Rosenblättern, wie der Verfolgte nach dem sicheren Hafen der Ruhe.

Aber der bleiche Adjutant hatte nach ihrem letzten unzweideutigen Betragen gegen ihn keinen Versuch mehr gemacht, sich ihr zu nähern. Er hatte auf keinem der verschiedenen Bälle das schöne Mädchen um einen Tanz gebeten – und doch, wenn ihre Blicke, wie vom Zauber getrieben, ihn suchten, dann hingen die seinen an ihr und folgten jeder Bewegung ihrer elastischen Gestalt.

Aber warum beunruhigte sie seine Nähe?

Warum lauschte sie mit hochklopfendem Herzen jedem Worte, welches ihre Ohren von ihm erhaschen konnten, und verfolgte fieberhaft die Unterhaltungen, die er mit seinen Kameraden oder andern Damen führte, und die trotz dem Aerger, den sie über ihn empfand, sich doch unauslöschlich in ihr Gedächtniß gruben? Waren denn seine Ansichten, seine Lebensanschauungen, seine Begriffe von Ehre so eigenartig, so durchaus edel und hochherzig? Sprach er nicht vielmehr oft Gedanken aus, die auch in ihrer Seele geschlummert, aber für die sie nie einen Ausdruck gefunden?

Don Miguel’s Plaudereien an ihrer Seite, die sie nie aufregten, nie beunruhigten, waren ihr fast eine Erholung. Sie lächelte ihm dankbar entgegen, wenn er ihr, wegen ihres bleichen, erregten Aussehens besorgt, den indischen Shawl um die schönen Schultern legte, sie zum Wagen geleitete und sie so aus dieser Qual erlöste, dem bleichen Adjutanten nahe zu sein. –

Die Regenzeit, die schönste Zeit im Jahre, nahte ihrem Ende, und Conchita folgte eines Morgens um so lieber der Einladung Don Miguel’s und der übrigen Freunde zu einem Ausritt nach dem Schlosse von Chapultepec, als jetzt die Ueppigkeit der Vegetation ihren Höhepunkt erreicht und ein Aufenthalt in der unvergleichlichen Umgebung des Schlosses ein wirklicher Hochgenuß war.

Sie ritten also hinaus in die herrlich blühende Natur. Rosita zog die Freundin, nachdem sie von den Pferden gestiegen waren, unter die breit ausgestreckten Aeste riesiger tropischer Bäume, die nicht weit vom Eingange zum Schlosse ihren Schatten ausbreiten. Noch hing an den Farren und Blüthen der Thau der Nacht, wie schwere Thränen, und glitzerte in den einzelnen, durch das Geäst brechenden Strahlen. Es war ein unvergleichlich schöner Morgen.

Don Miguel trat leise hinter die Geliebte, und sie wehrte ihm nicht, als er, von der Schönheit der Natur angeregt, in seligem Entzücken ihre Hand in die seine nahm.

Feine smaragdgrüne Colibri schwirrten von Zeit zu Zeit durch die Luft und wiegten sich in den Blüthenkelchen der riesigen Fuchsien, die in ungezügelter Wildheit zwischen den großen Farren und Verbenen wucherten.

Concha schwelgte in einer Ruhe des Herzens, wie sie solche schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Die drei Herren, welche die Damen begleiteten, hatten sich nach einer Weile um den auf einem Steine improvisirten Frühstückstisch gelagert und ihre Cigarren angezündet, während die junge Frau bemüht war, die von dem Diener mitgebrachten Speisen so einladend wie möglich auf demselben zu ordnen. Conchita streifte im Gebüsche herum und ordnete zwischen den grauen Schmarotzerpflanzen, die ihr Don Miguel von den Riesenbäumen abgelöst, bunte Blumen, wie sie in der Regenzeit auf jedem dürren Felsen in unvergleichlicher Mannigfaltigkeit prangen. Sie war, in Gedanken versunken, einen ungeordneten Pfad hinaufgeklettert, der auf Umwegen bis hinauf zum Schlosse führte, und bog eben in einen von hohen Gebüschen umgebenen Platz ein, der sie wegen seiner geheimnißvollen Einsamkeit anzog.

Aber kaum hatten sich die Gebüsche hinter ihr geschlossen, als sie zurückprallte und doch wieder, unfähig einen Fuß zu rühren, wie gebannt stehen blieb; denn vor ihr stand ein junger Mann, welcher sich ehrfurchtsvoll verbeugte, und der kein Anderer war, als Monsieur de Brunne, der französische Adjutant.

(Schluß folgt.)




Kloster und Bräuhaus.

Etwas von den Münchner Franziskanern.


Das Bier ist bekanntlich eine Culturmacht ersten Ranges im Staate Baiern, und manche Arten desselben erfreuen sich eines Weltrufs – wahrlich nicht mit Unrecht. In der Haupt- und Residenzstadt München kann man sogar das Bier als das Hauptnahrungsmittel der unteren Classen bezeichnen.

So ist auch seine Erzeugung in München allmählich zu einer von der Wissenschaft gehobenen Kunst herangereift, mit besonderem Eifer aber haben sich schon seit alten Zeiten die Mönche, wie der Pflege des Weinbaues und der Fischzucht, auch dem Studium der edlen Brauerei hingegeben, wobei sie für alle durstigen Seelen beachtenswerte Resultate erzielten. Das beweisen einige noch heute bestehende Biersorten, welche, wie beispielsweise das Franziskaner- und das Augustinerbier, die Namen einzelner geistlichen Orden mit einem industriellen, aber fröhlichen Nimbus umgeben.

Es ist keine moderne Industriestätte, das Münchner Franziskaner-Bräuhaus, dessen eigentümliche Entwickelung wir unseren Lesern heute in aller Kürze mitzuteilen gedenken; seine Geschichte giebt vielmehr ein Bild, das mit der Entstehung und den Zielen ähnlicher privater, weltlicher Unternehmungen nur wenig Gemeinsames bietet; steht doch die Herstellung des edlen Gerstensaftes hier gewissermaßen im Dienste der geistlichen Idee, welcher das Kloster sich widmet. Das Franziskanerstift am Lehel ist aus einem Hieronymitenkloster entstanden, das von dem Mönch Onuphrius im Jahre 1687 am Wallersee gegründet wurde. Die bald nach der Entstehung des Klosters dem Orden erwachsende Concurrenz, namentlich von Seiten der Benedictiner von Benedictbeuren, veranlaßte die Uebersiedelung der Hieronymianer nach München. Die Bewohner des Lehels, eines Stadttheils der baierischen Metropole, dessen Bevölkerung ungewöhnlich zugenommen, richteten nämlich ein Gesuch an den Kurfürsten, die Berufung der Brüder nach München betreffend, dessen Genehmigung am 4. September 1725 erfolgte. Da aber der Bau der Kirche wie des Klosters ungewöhnlich lange [32] Zeit in Anspruch nahm, so behalfen sich zunächst die Hieronymianer, froh, aus der thatenlosen Einsamkeit des Wallersees erlöst zu sein, mit dem Wohnhause des damaligen kurfürstlichen Kammerdieners Delling. Der Saal dieses Hauses war zur Capelle hergerichtet, und die übrigen Zimmer reichten für drei Patres und einen Laienbruder gerade hin. Aus so kleinlichen Anfängen ist das nachmals so bedeutende Franziskanerkloster am Lehel erwachsen.

Im Jahre 1853, mehr als hundert Jahre nach Vollendung der früher im Rococostil gehaltenen Kirche, wurde dieselbe innen und außen einer völligen Umgestaltung unterworfen und namentlich die Façade mit den zwei Thürmen geschmückt, welche sie heute noch aufweist. Die Gestalt des Klosters dagegen war im Wesentlichen die noch heute erhaltene, da nur der nördliche, rechts vom Kirchenportale befindliche Flügel ursprünglich einstöckig war.

Die Klosterpfarrkirche St. Anna und das Franziskaner-Kloster in München.
Originalzeichnung von W. Grögler.

Die Hieronymianer bemühten sich besonders, Kranken die Tröstungen der Religion zu bringen. Um ihrem Gottesdienst einen neuen Reiz zu leihen, führten sie die St. Anna-Bruderschaft, welche sich durch die Kunst des Gesanges auszeichnete, bei sich ein, wozu sie schon am Wallersee einen vergeblichen Versuch gemacht hatten. So floß den Hieronymianern die Zeit in ihrer stillen Abgeschlossenheit hin, bis auch für sie der Tag der Auflösung gekommen war: Die französische Revolution, dieser Sturmwind des Geistes einer neuen Zeit, zerstörte mit so vielen anderen überlebten Culturfactoren auch die Klöster. Der Reichsdeputationsabschluß von 1803 beschloß, die durch Verlust des linken Rheinufers betroffenen Fürsten durch Kirchengut zu entschädigen, und so kam auch an die Hieronymianer die Reihe.

Wenn jedoch der Geist, der die große culturgeschichtliche Wendung des neunzehnten Jahrhunderts hervorrief, gegen die Hochburgen der mittelalterlichen Finsterniß einen rücksichtslosen Kampf eröffnete, so erfolgte dieser dennoch mit einer gewissen Humanität, und es durften sich daher auch die Hieronymianer bis Weihnachten 1807 im Kloster zu St. Anna ungestört aufhalten. Am genannten Datum war ihre Zahl freilich schon auf drei zusammengeschmolzen, und auch diese Drei mußten das Feld räumen, da 236 Mann Militär sofort ihren Einzug in die Klosterräume halten sollten. So wurde das Kloster St. Anna zur Caserne, die Klosterkirche aber harrte einer neuen Bestimmung. Sie wurde zunächst Pfarrkirche und erhielt sich diesen Charakter bis zum Jahre 1827, zu welcher Zeit in das Klostergebäude wiederum Ordensbrüder einzogen – und das kam folgendermaßen:

Das „Bräustübl.“
Originalzeichnung von W. Grögler.

Unter den Mitgliedern der 1802 aufgelösten altbaierischen Franziskanerprovinz, die sich nicht entschließen konnten, das Kleid des heiligen Franziskus auszuziehen, wenn sie gleich darauf verzichten mußten, den Orden durch Aufnahme und Heranbildung neuer Mitglieder fortzupflanzen, befand sich auch der Provinzial der aufgelösten Ordensprovinz, Johann Nepomuk Glöttner. Dieser richtete 1826 eine Bittschrift an König Ludwig den Ersten von Baiern, welche die Erhaltung des Ordens insofern anstrebte, als sie um Erlaubniß zur Aufnahme von Novizen bat, da die seelsorgerische Verpflichtung an den Orten, wo sie noch geduldet wären, für die geringe Zahl der Brüder zu schwer sei. Dieses Gesuch fand höchsten Ortes ein geneigtes Ohr, und durch königliches Decret wurde ein Theil des damaligen Hieronymiten-Klostergebäudes am Lehel zur Errichtung eines Franziskanerklosters bestimmt, wie auch die theilweise Räumung des Gebäudes von Militär, sowie die Herstellung von geeigneten Localitäten zur Aufnahme von zwölf Vätern, sechs Laienbrüdern u. s. w. angeordnet wurde. Ferner wurde decretirt, daß die Pfarrkirche St. Anna am Lehel dem Kloster zum gottesdienstlichen Gebrauche überlassen werden sollte. So siedelten die Franziskaner von Ingolstadt nach München über.

Seit ungefähr dreißig Jahren ist mit dem Kloster eine Brauerei verbunden, welche das altbekannte Franziskanerbier liefert. Im Kloster selbst wurde ein kleiner Raum, das sogenannte „Bräustübl“,

[33]

Bei den Franziskanern in München:
Die Patres vertheilen im Kreuzgange das Gratisbier an die Kranken und Armen.
Originalzeichnung von W. Grögler.

[34] wie es unsere heutige Abbildung zeigt, hergerichtet, wo Begünstigte, die durch directe Beziehungen oder Empfehlungen Eintritt erlangten, das beliebte Bier aus directer Quelle schöpfen durften. Aber dieser alte Brauch ist jetzt eingestellt worden, wie denn das Münchener Leben mehr und mehr von seiner ursprünglichen Eigenart verliert. Die Klosterbrauerei producirt nur noch für den eigenen Bedarf und für den alten, in humanem Sinne ausgeübten Brauch der Barmherzigkeit. Noch heute werden in dem langen Gange des Klosters, der sich zu ebener Erde vor dem Eintretenden öffnet, Bedürftige ohne Unterschied des Alters und Geschlechts täglich zu gewissen Stunden mit dem durch seine Güte und Reinheit ausgezeichneten Bier erquickt. Die Patres selbst bedienen sie; in langer Reihe sitzen hier, wie unser größeres Bild darthut, die Stiefkinder des Glückes auf Holzbänken beisammen, Jedes den Krug erwartungsvoll in der Hand. Ueber ihnen leuchten Heiligenbilder von der Wand herab, und wenn durch die hohen Scheiben ein milder Sonnenstrahl diese Fülle menschlichen Elends verklärt, mag Mancher unter den Armen bei dem kräftigen Gebräu der Franziskanermönche wohl eine Weile seines Leids vergessen. So wirkt der einst so mächtige Orden in seinen Ueberbleibseln noch heute fort; ein Stück alter Culturgeschichte, das, an die Vergänglichkeit alles Irdischen mahnend, in das vorwärts stürmende Leben der Gegenwart hineinragt.

Ernst Koppel.




Das singende Thal bei Thronecken.

Von Carus Sterne.

Man höret oft im fernen Wald
Von oben her ein dumpfes Läuten,
Doch Niemand weiß, von wann es hallt,
Und kaum die Sage kann es deuten.
                         Uhland.

Im December 1827 veröffentlichte der gelehrte, in seinen älteren Jahren etwas zum Mysticismus, neigende Tübinger Professor Autenrieth im „Morgenblatt“ einen Vortrag über „Stimmen aus der Höhe“, in welchem allerlei unerklärte Naturtöne in dem Sinne behandelt wurden, als offenbarten sich dem höheren Sinne des Ohres in ihnen überirdische Mächte, die unsichtbar über unseren Häuptern dahinziehen. Eine Hauptrolle spielte dabei die sogenannte „Teufelsstimme von Ceylon“, ein Entsetzen einflößendes Geschrei, welches man daselbst des Nachts hoch in den Wolken vernimmt und von welchem, im Gegensatze zu der „Harmonie der Sphären“ und dem bei Shakespeare mit sanften Accorden daherziehenden Luftgeiste Ariel, dem Leser nahegelegt wird zu glauben, es könne sich dabei doch vielleicht um die Raserei des bekanntlich auf dieser Insel verehrten Beherrschers der Finsterniß handeln. Schleiden hat sich in einem Aufsatze seiner „Studien“, der den Titel trägt: „Die Natur der Töne und die Töne der Natur“, die Mühe gegeben, den Quellen nachzugehen, und er hat aus dem Tagebuche des Reisenden Davy, eines Bruders des berühmten englischen Chemikers, dessen Nachrichten von Autenrieth sehr mystisch entstellt wiedergegeben worden waren, gezeigt, daß es sich bei der sogenannten „Teufelsstimme“ nur um den unangenehmen Schrei eines Nachtvogels handele, den die Eingeborenen in ähnlicher Weise als unheilverkündend betrachten, wie unsere Landleute den Schrei des Uhus.

Autenrieth’s Artikel übte eine ungemeine Nachwirkung, und noch heute scheinen die „geheimnißvollen Naturtöne“ an Stelle der etwas aus der Mode gekommenen Gespenstergeschichten eine sehr bedeutende Rolle in der Journalliteratur zu spielen. Noch vor wenigen Monaten sahen wir den Geist Autenrieth’s wieder einmal leibhaftig und zwar in einer naturhistorischen Zeitschrift (!) spuken, und das Schönste war, daß darin nunmehr Schleiden als derjenige bezeichnet wurde, welcher die Ceyloner Teufelsstimme für etwas Unbegreifliches erklärt hätte, während dem alten Autenrieth und dem noch tiefer in Mysticismus versunkenen G. H. von Schubert nachgerühmt wurde, daß sie nach einer natürlichen Entstehungsursache geforscht hätten. Wir freuen uns im Nachfolgenden über die vorurtheilsfreiere Untersuchung einer nicht minder ergreifenden und das Gemüth aufregenden akustischen Erscheinung berichten zu können, die denn auch eine physikalische Erklärung derselben anbahnen dürfte.

Von der Memnonssäule des alten Theben an, zu welcher die römischen Touristen wallfahrteten, bis zu den versunkenen Schlössern und Kirchen des Mittelalters, deren Glocken man um Mitternacht aus der Tiefe erschallen hört, wird über eine Menge von akustischen Eigenthümlichkeiten berichtet, die sich an ganz bestimmte Oertlichkeiten knüpfen. So wird ein Aussichtspunkt auf einem der Vorberge der Sierra nevada, von welchem man eine entzückende Aussicht auf Granada und die Alhambra genießt, der letzte Seufzer des Mauren (el Ultimo sospiro del Moro) genannt, weil dort die Klage Boabdil’s, des von Ferdinand dem Katholischen aus seiner herrlichen Residenz vertriebenen Maurenfürsten, bis auf den heutigen Tag fortdauern soll, wie es G. Pfitzer in dem Schlußverse seines diese Sage behandelnden Gedichtes ausdrückt:

„Und der letzte Seufzer des Mauren
Tönt auf dem Berge noch immer fort.“

Wir werden eine Reihe ähnlicher tonerfüllter Oertlichkeiten weiterhin zu erwähnen haben, nachdem wir dem Leser über die kürzliche Wiederentdeckung eines ähnlichen „singenden Thales“ in unserem deutschen Vaterlande berichtet haben werden. Wir meinen das Röderbachthal, eine der Terrainfalten, welche den im rheinischen Hochwald, zwischen Nahe und Mosel belegenen höchsten Berg der Rheinprovinz, den Erbeskopf umlagern, und welchem Herr H. Reuleaux kürzlich eine lesenswerthe Schilderung[1] gewidmet hat. Wie sich erst nachträglich herausstellte, ist dieses „singende Thal“ schon früher als solches bekannt gewesen, und der jetzige Bürgermeister von Remagen, Herr von Lassaulx, hatte daselbst auf einer Jagd schon in den sechsziger Jahren langgedehnte tiefe Glockentöne vernommen, die einen starken und unvergeßlichen Eindruck auf sein Gemüth machten, sodaß er dem damaligen Oberförster Helbron von Thronecken, dessen Gast er war, davon Mittheilung machte, und die Antwort erhielt, diese seltsamen Klänge seien in „seinem singenden Thale“, das heißt in eben diesem Röderbachthale, schon öfter wahrgenommen worden.

Auf einer am 21. November 1877 abgehaltenen Hirschjagd geschah es nun auch, daß unser Gewährsmann die Musik des singenden Thales von Neuem vernahm. Das Wetter war klar, und mit gleichmäßigen ruhigen Brisen eines nicht heftigen Südwestwindes wechselten unvermittelt auftretende kurze Stöße ab.

Schon bei der Fahrt den Hochwald hinan hörte er tiefe, glockenartig verhallende Töne, die er dem Geläute eines nahen Dorfes zuschrieb, obwohl in der ganzen Gegend, wie sich nachher herausstellte, gar keine größeren Glocken vorhanden sind. Nachher auf dem ihm für die Treibjagd angewiesenen Platze an der einen Seitenwand des waldbedeckten, muldenartig bis zur Höhe des Gebirgsrückens aufsteigenden Thales angelangt, vernahm er die Klänge, die sich bisweilen zu einer Art Sphärenmusik verbanden, um vieles deutlicher. Doch lassen wir den Beobachter selbst erzählen:

„Gedankenlos anfangs, dann aufmerksamer,“ berichtet er, „hörte ich den Tönen zu und wunderte mich über ihren auffallend reinen Klang, über das ungewöhnlich deutliche, seufzerartige Anschwellen und Verwehen, über die ungemeine Lebhaftigkeit, mit welcher die Töne einander folgten, mit welcher ein Ton den andern drängte, noch ehe dieser ganz verklungen war … in ewiger Wiederholung derselbe einförmige, in seiner Höhe nie, auch nur um Haaresbreite, schwankende oder modulirende Ton.“

Es war, wie nachher durch Vergleichung mit einem Jagdhorn festgestellt wurde, das Keine c, und der Beobachter erhielt den Eindruck, als ob die Töne in der Tiefe der von unten nach oben ziehenden Thalfurche entstünden, dann, mit dem Winde aufsteigend, sich strahlenförmig in den obern Theil des Thales ergössen, aber meist an der gegenüberliegenden Bergwand hinzögen und nur wenige Male nahe bei seinem Standorte vorüberkämen. Der sinnliche Eindruck war der, als ob das tönende Instrument selbst, also die tönende Glocke, in bestimmter, abschätzbarer Richtung vorüberzöge,



  1. „Das singende Thal bei Thronecken.“ Ein Hochwald-Räthsel. Mit einer Karte. Coblenz, Dankert und Gross, 1880.

[35] an die Sage von den Glocken erinnernd, welche die Hexen rauben und durch die Lüfte entführen.

„Wieder beginnt unten im Thale ein Ton, er schwillt stärker und stärker an, aber er zieht nicht das jenseitige Ufer entlang, nein, das Unerhörte geschieht – er kommt auf uns zu; er zieht in prächtiger Schwellung langsam an uns vorüber und entwickelt sich dabei zu solch eigenartiger Schönheit und Fülle, daß ich kaum zu athmen wage; dann schwächt er sich im Weiterziehen langsam ab und erstirbt verhauchend in der Ferne. Mit der wachsenden Intensivität trat mehr und mehr ein immer lebhafter werdendes Vibriren hervor, und was den unerhörten Vorgang noch wunderbarer machte, war ein anfangs leises, dann immer deutlicher werdendes Mitschwingen der obern Octave des in idealster Reinheit dahinwehenden Tones. Und nun die Klangfarbe! Beginnend und verwehend wie schwacher Orgelklang, nahm der Ton mit der Schwellung immer mehr das unnennbar Reizvolle des Harfentones an, und zwar vollzog und steigerte sich diese fremdartige, nie gehörte Klangwandlung gleichzeitig mit dem Auftreten der Octave, die wie feiner zitternder Geigenstrich hinzutrat und namentlich bei dem Weiterziehen des Tones noch von fern deutlich hörbar blieb. ... Der Gesammteindruck bei der Empfindung: es zieht da etwas durch die Luft, etwas Unsichtbares, Unfaßbares, etwas Wesenloses und dennoch Vorhandenes, ist nicht zu beschreiben ... Ganz unverkennbar hingen die Töne vom Winde ab. ... Es gab kurze Unterbrechungen, in denen sowohl das Tönen im Oberthale etwas nachließ als auch durch den Mittelgrund keine Töne zogen, gerade aber dann empfand man, wie das Thal in seiner ganzen Ausdehnung tonerfüllt, wie allenthalben, auch in der Ferne, die zitternd ersterbenden Töne ausklangen, wahrlich: des Pythagoras wundersamer Gesang der Sphären!“

Wir haben sowohl die Beobachtungen selbst, wie die Gemüthseindrücke mit des Verfassers eigenen Worten wiedergeben wollen, da es das erste Mal ist, daß dieses Phänomen von einem gewissenhaften und vorurtheilsfreien Beobachter genau geschildert wurde. Dennoch scheint es an sich nicht allzu selten zu sein, wie schon der Vers andeutet:

Man höret oft im fernen Wald,
Von oben her ein dumpfes Läuten ...

Aber es wird oftmals überhört, und von allen Jagdgenossen hatte es nur noch ein Einziger vernommen, der beim Aufbruche sich Herrn Reuleaux näherte und ihm zurief. „Aber mein Gott, was war denn das in der Luft?“ Die Anderen hatten es wahrscheinlich im Eifer der Jagd völlig überhört. Und doch war das Phänomen an diesem Tage so beständig, daß unser Beobachter es von Neuem vernahm, als er fünf Stunden später seinen früheren Standort wieder betrat. Außer dem von dem Verfasser zum Vergleiche herangezogenen Sospiro del Moro sind mir in der Literatur nun noch mehrere andere Oertlichkeiten aufgestoßen, von denen ganz dasselbe Phänomen berichtet wird. Die älteste mir bekannte Erwähnung finde ich im neunundsechszigsten Capitel des dritten Abschnittes der um 1211 verfaßten „Otia imperiala“ des Gervasius von Tilbury.

„In Großbritannien,“ heißt es daselbst, „ giebt es einen Wald, reich an mannigfachen Jagdthieren, welcher zum Bezirk der Stadt Carlisle gehört. Etwa in dessen Mitte befindet sich ein von Bergen umwandetes Thal neben der großen Straße. In diesem Thale, sage ich, wird täglich zur ersten Stunde des Tages der süße Klang von Glockengeläute (classicum campanarum dulce resonans) vernommen, wonach die Eingeborenen dem einsamen Orte im gallischen Idiom den Namen Laikibrait beigelegt haben.“[1]

Die zweite mir aufgefallene Stelle findet sich in des alten Scheuchzer’s Beschreibung der Alpen,[2] wo es von der Sandalp beim Tödi heißt: „Von dieser sandigen Alp oder Sandalp berichten die Alpenbewohner, daß daselbst zu gewissen Zeiten in der Luft der angenehmste Wettkampf musikalischer Töne (suavissimus sonorum musicorum concertus) gehört würde.“ Das scheint heute noch der Fall zu sein; wenigstens sagt Berlepsch in seinem Reisebuch (ohne Scheuchzer zu erwähnen): „Die Hirten erzählen von einer Sphärenmusik, die sie hier hören.“

Einen dritten ähnlichen Fall berichtet Schleiden in seinem oben erwähnten Aufsatz. Ein Reisender besuchte im Herbst 1828 die Hochpyrenäen und stieg über den wildesten Paß derselben nach Spanien hinüber. „Nachdem wir uns,“ so erzählt der Reisende, dessen Worte ich nicht ohne Grund genau anführe, „durch dichtes Gehölz und Schluchten durchgewunden, gewannen wir morgens gegen zwei Uhr das Hospiz, von wo wir nach kurzer Rast mit dem ersten Tagesgrauen zu dem engen, senkrechten Felsenpaß aufbrachen, der mitten durch das Gestein emporsteigt. Ich will hier nicht die einzigen Züge des herrlichen Schauspiels beschreiben, das sich plötzlich vor unseren Augen aufthat, als wir aus dem mächtigen Portal heraustraten und auf spanischem Boden standen, noch die Empfindungen, welche uns unbeweglich an diesen Fleck fesselten, als wir mit wortloser Bewunderung auf die einsame, öde, wenn ich sagen darf, geisterhafte Gestalt der mit Recht so genannten Maladetta hinüberschauten. Ich führe dieselben blos an, um zu bemerken, daß wir höchst betreten wurden über einen dumpfen, langsamen, klagenden, der Windharfe ähnlichen Ton, der allein durch das todtengleiche Schweigen daherbebte und offenbar von jenen mächtigen Massen ausging, obwohl wir uns vergebens bemühten, irgend einen bestimmten Ort seines Ursprungs oder eine Ursache dieser schauerlichen Töne ausfindig zu machen. Ich will nicht behaupten, daß die Sonnenstrahlen, welche eben in jenem Augenblicke in voller Glorie auf jeden Punkt der schneeigen Höhe sich warfen, irgend einen Antheil gehabt, die Saiten des Berges in Schwingungen zu setzen, muß jedoch bemerken, daß, als ich mich einige Tage später noch einmal allein nach dem Orte begab und zur selben Stunde an demselben Flecke stand, ich vergebens auf die klagenden Töne horchte. Die Luft war ebenso ruhig, aber die Sonne von Wolken bedeckt, und ein dichter Nebelschleier hing über dem größeren Theile des Gebirges.“

Wir sehen, dieser gewissenhafte Beobachter hat an die Memnonssäule gedacht, aber trotz des beim mangelnden Sonnenaufgang ausgebliebenen Tones keinen bestimmten Schluß in dieser Richtung gewagt. Wir haben also nun drei bis vier gleiches Zutrauen verdienende Berichte über analoge Beobachtungen, aus denen wir vielleicht allgemeinere Schlüsse über die Entstehungsweise des merkwürdigen Phänomens ziehen können, als es Herr Reuleaux aus seiner, übrigens mit echt wissenschaftlichem Geist angestellten Einzel-Untersuchung vermochte. Da ähnliche Tonbildungen im Röderbachthal wiederholt beobachtet worden sind, so muß diese Terrainfalte, sagte er sich, eine Bildungseigenthümlichkeit aufweisen, welche die Entstehung solcher Töne begünstigt. Wie ein genaueres Studium ergab, hat nun diese Thalfurche die Gestalt einer sanft gehöhlten Mulde oder Muschel, die sich gegen das niedrigere Land zu einer engen, fast einen Kilometer langen gradlinigen, von ziemlich steilen Wänden begrenzten Schlucht zusammenzieht, durch welche der Röderbach abwärts fließt. Von dem Punkte, an welchem sich diese enge Schlucht plötzlich zu der weitgeöffneten Thalfurche erweitert, kamen, wie Reuleaux deutlich wahrnahm, sämmtliche Töne her; die Schlucht, durch welche der Wind heraufblies, war das stets tonerfüllte Mundstück des singenden Thales.

Wir wollen nun hier zunächst darauf aufmerksam machen, wie genau die Form dieses singenden Thales im Hochwald mit derjenigen der musikalischen Sandalp und des eben geschilderten Pyrenäenpasses übereinstimmt. In allen drei Fällen öffnet sich ein langer Engpaß plötzlich in einem weiten Raum, und die Beschreibung, welche Washington Irving von seinem Ritt zum Sospiro del Moro giebt, läßt eine ähnliche Terrainbildung vermuthen. Noch unmittelbarer schließt sich eine Mittheilung an, die sich in der oben angedeuteten kritiklosen Sammlung ähnlicher Erscheinungen erwähnt findet, die ich aber nicht mit dem Originalbericht vergleichen konnte.

„Eine Abhandlung von Kolb über das Großherzogthum Badens,“ heißt es daselbst, „erzählt, daß gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts mehrere Soldaten, welche im Schwarzwalde, in der Nähe des Städtchen Triberg im Breisgau, lagerten, entzückende Klänge in den Wipfeln der Tannenbäume vernahmen, begleitet von der rauschenden Bewegung des Windes, der durch die enge Thalschlucht gedrängt wurde.“ Wir wissen nun wohl, daß in engen Thalschluchten heulende, seufzende und stöhnende Windtöne ebenso wohl wie in unsern Schornsteinen erzeugt werden, aber wodurch könnten dieselben in so reine, wohllautende Töne verwandelt werden?

In einem Nachworte seiner Schrift sagt Herr Reuleaux, [36] daß zwei unserer ersten Physiker sich ihm gegenüber dahin ausgesprochen hätten, daß eine streng wissenschaftliche Lösung des Problems vor der Hand unmöglich sei, weshalb auch der Beobachter selbst die Hoffnung auf eine befriedigende Lösung aufgegeben hat. Wir halten indessen den Fall keineswegs für so hoffnungslos und glauben vielmehr, daß sich aus den genauen Beobachtungen unseres Gewährsmanns eine wenn auch nicht mathematisch beweisbare, so doch vorläufige Erklärung ableiten läßt. Wiederholt und mit Nachdruck spricht derselbe sich dahin aus, daß die vernommenen Töne zwar aus der Schlucht kamen, aber keineswegs das hergewehte Tönen des Windes in der Schlucht gewesen seien. Sie ergaben sich vielmehr nach den stundenlang fortgesetzten Beobachtungen als „selbsttönende Luftgebilde oder tönende Körper, welche gleich unsichtbaren singenden Schwänen durch die Lüfte segelten“, aber sämmtlich aus dem mehr als 1200 Meter von dem Standpunkte des Beobachters entfernten „Mundloche“ des Thales heraufzogen. So konnte er sich denn nur denken, daß diese Töne von kleineren isolirten Luftwirbeln gebildet würden, die er nach Flug, Richtung, Schnelligkeit und Entfernung ebensowohl oder besser schätzen und verfolgen konnte, wie einen an unserem Ohre vorüberschwirrenden Pfeil. Meist segelten sie an der gegenüberliegenden Thalwand dahin; manchmal kamen sie dicht bei ihm vorbei, ja er ging unter den langsam vorüberziehenden Wirbeln hindurch und vernahm jedesmal das Anschwellen der sich nähernden Töne, die gleichmäßige Stärke beim oft sehr langsamen Vorüberziehen und das seufzerartige Dahinschwinden bei der allmählichen Entfernung der Wirbel. Keine andere Ursache als wirklich im Fluge weitertönende Massen, also muthmaßlich Luftwirbel, können nach des Beobachters Ueberzeugung diese durch das Thal ziehenden Glockentöne erzeugt haben.

Wie aber könnten derartige Wirbel entstehen? Der Urheber dieser wahrscheinlich richtigen Wirbeltheorie zweifelt ernsthaft daran, daß man ihre Entstehung demonstriren könne; machen wir also selbst einen Versuch! Er spricht von kurzen unvermittelten und länger andauernden Windstößen, welche, durch die enge Schlucht gepreßt, in das Thal strömten, und wir glauben, man kann experimentell nachweisen, daß sich dabei sehr eigenartige Luftwirbel bilden mußten. Wir verfertigen uns aus Spielkarten einen Hohlwürfel, schneiden in die Mitte der einen Fläche ein beliebig gestaltetes Loch und füllen durch dasselbe den Würfel mit Tabaksdampf. Wenn wir jetzt einen kurzen Stoß gegen die dem Loche gegenüberliegende elastische Wand ausführen, so tritt aus dem Loche eine Portion Tabaksrauch und zwar in Gestalt eines ringförmigen, in der Stoßrichtung fortschreitenden Wirbels.

Durch kurze Windstöße aus der Lunge kann man bekanntlich dieselben Wirbel oder Rauchringe direct aus dem Munde senden, und es ist dabei ganz unnöthig, den Mund so rund zuzuspitzen, wie es gewöhnlich geschieht, denn aus einem vollkommen quadratischen Loche kann man aus dem Kartenwürfel ebenso schön gerundete Ringe hervortreiben, wie aus einem kreisrunden. Die Bildung der Ringe ist, wie E. Reusch gezeigt hat, eine Folge des Austritts der Luftmasse aus einer engern Wandöffnung in einen ganz freien Raum. Rings um die Oeffnung entsteht an der Wand eine Luftverdünnung; von allen Seiten strömt Luft nach, und es bildet sich ein Luftkegel, der, hinter der ausgestoßenen Rauchmasse hereilend, sie in der Mitte durchbohrt und dadurch einen Ring erzeugt, der sich fortschreitend erweitert, während die Rauchtheilchen um seine kreisförmige Ringachse rotiren. Dieselben Gesetze gelten für Flüssigkeiten aller Art, und wir können durch einen dem Kartenwürfel ähnlichen Apparat Ringe aus gefärbtem Wasser erzeugen, die in ungefärbtem Wasser fortschreiten.

Dieselben Wirbel sind, natürlich unsichtbar, vorhanden, wenn die unter ähnlichen Verhältnissen austretenden Luft- oder Wassermassen nicht durch Rauch oder Farbstofflösung unterscheidbar gemacht sind. Sie mögen sich auch aus tönender Luft und, wie es scheint, unter Erhöhung der Reinheit des Klanges hervorbilden, wenn wir gleich nicht sagen können, welche complicirtere Schwingungsformen dadurch entstehen mögen. Man könnte nun zwar sagen, ein oben offener Engpaß oder eine Thalschlucht sei keine genügend abgeschlossene Ausströmungsöffnung. Allein man muß bedenken, daß der im Allgemeinen in horizontaler Richtung strömende Wind, sobald er auf einen ansteigenden Engpaß trifft, sich darin von selbst zusammenpressen muß, sodaß die Luft in demselben, wie in einem rings geschlossenen Rohre zusammengedrückt, weiterströmt. Man ersieht ferner, daß sich bei ihrem Austritte in den offenen Raum ziemlich unvermeidlich ähnliche Wirbel bilden müssen. Diese Wirbel mögen unter Umständen von beträchtlicher Größe sein; denn der Ton schien oft neun bis zehn Secunden zu brauchen, ehe seine langsam erreichte Stärke wieder abnahm, er schien in der Luft eine Weile still zu stehen, und der Beobachter deutete dies auf langgestreckte röhrenförmige Wirbel, die so lange gebraucht hätten, um vorüberzuziehen.

Nach demselben Princip würden sich auch der Harfenton auf dem Pyrenäenpaß und manche Eigenthümlichkeiten des reichen Sagenkreises, der sich um die Glockentöne der singenden Bergthäler gewoben hat, erklären lassen. In dem obigen Berichte heißt es, daß die Morgensonne, als die Reisenden aus dem Portale des Felsenpasses traten, auf die gegenüberliegende Gebirgswand geschienen habe und zur gleichen Zeit der Harfenton erschienen sei. Nichts kann aber selbstverständlicher sein, als daß sich bei der im Uebrigen ruhigen Luft ein Luftstrom aus der Felsenschlucht gegen das sonnenbeschienene Gebirge, an welchem Luftverdünnung stattfand, richten mußte, der in der Morgenstille zum sanft tönenden Wirbel umgewandelt werden konnte. An dem zweiten Tage, an welchem die Sonne und mithin auch die Luftverdünnung an der gegenüberliegenden Felswand ausblieb, konnte demnach auch kein Ton entstehen.

Wir können uns ferner erklären, weshalb in dem Glockenthal bei Carlisle die Töne alltäglich zur bestimmten Stunde auftraten. Das Thal muß der Beschreibung nach nicht weit vom Meere gelegen haben, und man weiß, mit welcher Pünktlichkeit See- und Landwinde von gleichbleibender Richtung in der Nähe der Küsten auftreten. Wie leicht würde daraus die Sage von einem versunkenen Kloster entstehen können, dessen Mönche zur Frühmette oder Vesper läuten. Ob in diesem Erklärungsversuch einer mächtig die Phantasie erregenden Naturerscheinung das Richtige getroffen wurde, ob sich der Vorgang experimentell nachahmen läßt, mögen Akustiker von Fach entscheiden. Jedenfalls glaubte ich, auf eine gemeinsame Eigenthümlichkeit der singenden Thäler die Aufmerksamkeit der Physiker richten zu sollen.




Zum Jubeljahr der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig.
Zugleich ein Blick auf das deutsche Lebensversicherungswesen.
(Schluß.)


Trotz aller Verluste schlugen die schlimmen Erfahrungen in Königsberg dem Lebensversicherungswesen zum Vortheil aus; denn die Vorsicht, Gewissenhaftigkeit und Energie, mit welcher man hier Rechte und Ehre der Versicherungs-Gesellschaften wahren sah, konnten dieselben in der öffentlichen Meinung nur heben.

Bemerkenswerth aus diesem ersten Jahrzehnt der Anstalt ist noch der Beschluß, Versicherungssummen bis zu 2000 Thalern den berechtigten Erben nicht erst nach dreimonatlicher Frist, sondern ohne Zinsenabzug sofort auszuzahlen. Ferner der noch wichtigere, daß nach einem bestimmten Verhältniß zu den geleisteten Einlagen Vorschüsse auf Policen gegeben werden könnten, eine Einrichtung, mit welcher die Leipziger Gesellschaft allen anderen Lebensversicherungen voran gegangen ist. Am Schluß des Jahres 1840 hatte die Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig über 500 Agenten und 2856 mit 3,593,800 Thalern versicherte Mitglieder.

Eine andere Erfahrung machte man mit der bisher benutzten (englischen) „Sterblichkeitstabelle“. Es ergab sich, daß dieselbe insofern zu Irrungen führte, als der Unterschied der Sterblichkeit in Deutschland gegen England sich namentlich in den höheren Altersclassen erheblich größer herausstellte, als man bisher angenommen hatte. Nach gründlicher Prüfung wählte man die von dem englischen Lebensversicherungs-Fachmann Griffith Davies

[37]

Die kleine Lachlustige.
Oelgemälde von Charodeau.
Nach einer Photographie aus dem Verlage von A. Braun u. Comp. in Dornach.

Nun, sag’ mir Du Schelm, Du Sausewind;
Ich wüßt’ es so gern: warum lachst Du, mein Kind?

„In mir lacht’s von selber, im Herzen drinn;
Ich lache nur, weil ich so lustig bin.“

Ja, bist Du denn nicht mutterseelenallein?
Da lachst Du ja Alles nur in Dich hinein?

„Warum fragst Du mich denn? Sei lieber, ich bitt’,
Auch lustig, wie ich – und lache doch mit!“

[38] empfohlene, welche „aus den Erfahrungen der Equitable Society, der Norwich Union und einiger anderer Gesellschaften authentischen Daten“ gebildet worden war, wobei man, um sie den deutschen Verhältnissen noch besser anzupassen, die Sterblichkeitsziffern in den höheren Altersclassen noch vergrößerte.

Diese Maßregel machte eine außergewöhnliche Vermehrung des Reservefonds nothwendig, führte infolgedessen aber auch zu einer vorübergehenden Verminderung der Dividende. Es war im Directorium ein Sieg der Vorsicht und strengsten Gewissenhaftigkeit über kluge Geschäftspolitik. Aber selbst ergebenste Freunde und Agenten der Anstalt wurden dadurch wankend, zum klarsten Beweis, wie sehr in Geldsachen die Gemüthlichkeit aufhört.

Die schlimmsten Feinde aller Lebensversicherungen gebar die Zeit selbst: 1847 Mißwachs und Theuerung, 1848 Revolution und Gewerbsstockung, 1849 Krieg und Cholera und in den kommenden Jahren das Gefolge aller dieser Uebel: vermehrte Verarmung und Auswanderung. Jetzt hatte man es der so vielgeschmähten Reserve-Sicherung zu verdanken, daß die Gesellschaft fest stand und sogar beschließen konnte, daß der Tod im Dienste der Bürgerwehr die Zahlungspflicht der Anstalt nicht aufhebe, daß sie die Bedingungen wegen Theilnahme an kriegerischen Expeditionen milderte und selbst den Erben eines Hingerichteten – Robert Blum’s! – allerdings nicht ohne starkes Kopfschütteln aller Reactionäre, die volle Versicherungssumme gewährte; auch die Dividendenzahlungen gewannen bald wieder eine befriedigende Höhe.

Neue Statuten, welche 1856 veröffentlicht wurden, gewährten den Versicherten die Vergünstigung, daß mit erfülltem 85. Lebensjahre nicht blos die Beitragszahlung aufzuhören hatte, sondern auch die Auszahlung der versicherten Summe gefordert werden konnte. Die niedrigste zulässige Versicherungssumme war auf 100 Thaler, die höchste auf 10,000 Thaler festgesetzt und damit der Wirkungskreis der Gesellschaft nach unten und oben erweitert worden.

Von 1853 bis 1857 war die Zahl der deutschen Lebensversicherungs-Anstalten von 9 auf 19 angewachsen. Leider ergab sich in kurzer Zeit ein Theil dieses Zuwachses als der Erfolg eines Industrialismus, der mit Aufwendung verwerflicher Mittel und der Herbeiziehung unsauberer Elemente in den Dienst des Lebensversicherungswesens diesem einen selbst noch heute nicht ganz geheilten Schaden brachte; denn das durch zudringlichste Ueberredung, Täuschungen und unerfüllbare Versprechungen zu Versicherungen herbeigelockte Publicum warf sein gerechtes Mißtrauen auf das gesammte Lebensversicherungswesen. Die soliden Anstalten hatten Jahre lang zu thun, um sich in den Augen des Publicums die Achtung und das Vertrauen wieder zu erwerben, um das sie alle durch dieses Unheil gekommen waren.

Zu diesem Mißwesen mußte sich noch Unsicherheit der öffentlichen Zustände, Cholera, Typhus und Grippe gesellen, um das Aufblühen aller deutschen Anstalten möglichst zu hemmen. Da sich jedoch das Sterblichkeitsverhältniß für die Leipziger Gesellschaft dennoch günstig gestaltete, so konnte dieselbe 1855 das erste Vierteljahrhundert ihres Bestehens damit feiern, daß sie die Dividende von 5 % auf 19 % erhöhte. Ihr Vermögen betrug in diesem Augenblicke über anderthalb Millionen Thaler.

Auch der Abgang von Mitgliedern bei Lebenszeit, von dem wir noch nicht gesprochen, hatte sich gegen früher sehr gemindert. Nach einem schon 1832 von der Leipziger Anstalt gefaßten Beschlusse ward nämlich Mitgliedern, welche zwei Jahresbeiträge gezahlt haben, beim Aufgeben der Versicherung der dritte Theil ihrer sämmtlichen Prämien-Einzahlungen zurück erstattet. Da zu einem solchen Schritte einen Familienvater sicherlich nur die äußerste Noth drängt, so ist die Zahl der zu einer Zeit aufgegebenen Versicherungen ein ziemlich genauer Gradmesser des wirthschaftlichen Volkszustandes.

Eine wichtige Frage wird in dieser Zeit zuerst aufgeworfen, die Frage nämlich: „darf eine Versicherungssumme durch Beschlagnahme ihrem eigentlichen Zwecke, der Versorgung der Hinterbliebenen, entzogen werden?“ Sie harrt ihrer Lösung durch das in Aussicht stehende Allgemeine deutsche Civilgesetzbuch.

Am 2. December 1861 starb, 72 Jahre alt, der Gründer der Gesellschaft, Olearius. Er konnte von seinem Sterbebette auf die dreißig Jahre der Pflege seiner Schöpfung mit dem erhebenden Gefühle zurückblicken, daß durch sie Tausenden von Wittwen und Waisen die Thränen der Sorge und der Noth getrocknet worden seien; denn weit über drei Millionen Thaler sind an die Hinterbliebenen durch seine Hand gegangen. Das Andenken, das er sich gesichert hat, ist der beneidenswertheste Lohn seines stillens Wirkens.

Zum innern Ausbau der Leipziger Anstalt gehört die, im Jahre 1865, erfolgte Herbeiziehung von Vertrauensärzten der Gesellschaft bei allen Versicherungsanträgen. Als Unterschied zwischen den Sterblichkeitsverhältnissen in den Zeiten vor und nach derselben ergiebt sich für die Jahre von 1831 bis 1864 eine Uebersterblichkeit von 166 Personen mit einer Versicherungssumme von 475,943 Mark, und von 1865 bis 1879 eine Untersterblichkeit von 387 Personen mit 3,634,369 Mark Versicherungsbetrag. Nach solchen Erfahrungen darf man es freilich nicht tadeln, wenn die Lebensversicherungs-Anstalten die genaueste ärztliche Untersuchung der aufzunehmenden Personen verlangen und diejenigen ausschließen, welche nicht vollständig gesund sind. Günstige Sterblichkeitsverhältnisse sind die Vorbedingung billiger Versicherungsbeiträge, und wenn man diese will, darf man nicht beanspruchen, daß die Anstalten diejenige Vorsicht außer Acht lassen, die nach ihren bisherigen Erfahrungen unerläßlich erscheint.

Dem damals glücklichen Laufe des Emporblühens der meisten Lebensversicherungs-Gesellschaften warf das Jahr 1866 einen zwar kurzen Krieg, aber mit langandauernden Folgen entgegen: Cholera, Geschäftsstockungen, Nahrungslosigkeit und Theuerung der nöthigsten Lebensbedürfnisse zehrten mächtig an den Beständen auch der Leipziger Anstalt. Aber gerade in dieser harten Zeit erwiesen sich die Lebensversicherungs-Anstalten als Retterinnen in vieler Noth, und die Leipziger Gesellschaft bethätigte ihre Humanitätsgrundsätze ehrenhaft dadurch, daß sie in dem Kriegs- und Cholerajahr 1866 vor der Statutenfrist über 132,000 Thaler an die Erben Versicherter auszahlte.

Im Jahre 1869, zu Anfang April, trat eine sehr wichtige und erfolgreiche Einrichtung der Leipziger Anstalt in’s Leben: die Cautionsdarlehns-Gewährung an Beamte. Diese Einrichtung war für Tausende eine höchst segenvolle; denn sie heilte eine der schwersten Wunde der bürgerlichen Gesellschaft. Die große Masse des mittleren Beamtenstandes in allen Regierungs- und Verwaltungszweigen recrutirt sich, wie allbekannt, allermeist aus den Volkskreisen, die von der Hand in den Mund leben. Wenn nun von einem Angehörigen dieser Kreise zur Erlangung einer Anstellung eine Caution als erste Bedingung derselben gefordert wird – wie und wo waren bisher und sind zum Theil noch die Wege, auf welchen er die nöthige Summe sich einzig beschaffen konnte? Er mußte mit dem ersten Schritt in’s Amt sich in Schulden stürzen, und durfte Gott danken, wenn ein redlicher Gönner, ein ehrlicher Freund ihm die nöthige Summe vorstreckte. Wie viele solcher Cautionspflichtigen aber Wucherern in die Hände fielen, wie oft Beamten-Untreue als Folge unerträglicher Noth und des Familienelends daraus erwachsen ist, darüber geben die Criminal-Acten erschütternde Auskunft. Hier trat die Versicherungs-Anstalt als Retter eines ganzen zahlreichen Standes auf, indem sie den in ihre Mitgliedschaft aufgenommenen Beamten die zur Caution nöthigen Darlehen zu möglichst wenig drückenden Bedingungen darbot und sogar deren allmähliche Abzahlung sogleich mit festsetzte. Für ein solches Unternehmen fehlte es weder an sofortigem Verständniß, noch an Theilnahme, und so hat die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft das Resultat erzielt, daß sie von 1869 bis Ende 1879 nicht weniger als 4505 Cautionsdarlehen an 3681 Beamte im Gesammtbetrag von 4,650,680 Mark auszuleihen hatten.

Da auch viele andere Lebensversicherungs-Gesellschaften diese neue Versicherungs-Wohlthat in ihren Geschäftskreis gezogen haben, so ist die möglichst allgemeine Kenntniß von der Einrichtung, den Einzelbestimmungen und Verpflichtungen zur Sicherung von Gesellschaften und Theilnehmern für den Beamtenstand eine Nothwendigkeit, und deshalb nennen wir hier das diesem Zweck dienende Schriftchen: „Das Beamten-Cautionsdarlehen. Einrichtung und zehnjährige Erfahrungen. Leipzig 1880.“

Noch nie hatten die deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften sich einer gedeihlicheren Entwickelung zu erfreuen gehabt, als mit dem Beginn des Jahres 1870; bei der Leipziger zeigte schon im ersten Halbjahr der Zugang an Versicherten sich größer, als bisher in ganzen Jahren. Da kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel der Krieg gegen Frankreich, natürlich wiederum mit den üblichen Folgen des Kriegs für alle Unternehmungen des öffentlichen Vertrauens, [39] aber auch mit patriotischen Pflichten, denen die meisten Gesellschaften möglichst Genüge zu thun suchten. Die Leipziger dehnte die Gültigkeit der bestehenden Versicherungen bis zu einer Summe von höchstens 5000 Thalern gegen eine Extra-Prämie von 5½ Procent für Combattanten und 3½ Procent für Nichtcombattanten bis zum 31. März 1871 aus und sah in der Verwendung der Post-, Eisenbahn- und Telegraphenbeamten im Felde nicht eine Theilnahme an Kriegsereignissen im Sinne der Gesellschafts-Statuten.

Mitten im Kriegssturme ging die Gesellschaft in ihr fünftes Jahrzehnt, von 1871 bis 1880, über. Da aber dieser Krieg nur ein Sieg war und mit dem günstigsten Frieden schloß, so äußerte dies auch auf die Lebensversicherungen eine günstige Wirkung. Namentlich dehnte nun das Beamten-Cautions-Geschäft sich über die Reichslande mit ihrem zahlreichen neuen Beamtenstande aus und führte ihr bald viele Mitglieder aus denselben zu. Desgleichen traten, in Folge eines Vertrages mit dem kaiserlichen General-Postamte in Berlin vom 18. Juni 1871 bis 1. October 1880 2365 Postbeamte mit 7,196,800 Mark in die Gesellschaft ein. Durch die günstigen Folgen der Aufnahme-Erleichterungen, welche ein dritter Nachtrag zu den Statuten (vom 29. Juli 1871) darbot, stieg der Versicherungsbestand auf nahezu 25 Millionen Thaler, sodaß nunmehr, statutengemäß, als höchste Versicherungssumme 20,000 Thaler angenommen wurde.

Wenn nun die jetzt anbrechende Gründer- und Schwindelperiode sich auch nachtheilig für alle Gesellschaften erwies, so gab der Leipziger Anstalt die Ausbreitung ihres Geschäfts nach Oesterreich Ersatz. In diesen Zeitraum fällt auch eine völlige Neugestaltung der Statuten, eine Reorganisation der Verwaltung der Gesellschaft, deren Hauptänderung die war, daß künftig an der Spitze der Geschäfte mehrere geschäftsleitende Directoren stehen, an die Stelle des bisherigen Ausschusses ein aus zehn bis zwölf Mitgliedern bestehendes Aufsichtsorgan, der „Verwaltungsrath“ treten und Generalversammlungen der Mitglieder eingeführt werden sollten. – Von den gleichzeitig eingeführten Verbesserungen in den Versicherungs-Bedingungen sind von allgemeinem Interesse die, welche die Betheiligung der Versicherten an Kriegsereignissen und die häufiger, als das Publicum ahnt, vorkommenden Fälle von Selbsttödtungen Versicherter betreffen. Für letztere Fälle, deren die Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft allein von 1831 bis 1879 nicht weniger als 180 verzeichnet, hat dieselbe die Bestimmung getroffen, daß, im Falle die Selbsttödtung eines Versicherten als die Folge einer Geistes- und Gemüthsstörung oder eines Fieberparoxysmus nachzuweisen ist, auch ein Betrag bis zum vollen Belaufe der Versicherung gewährt werden könne.

Endlich haben wir hier noch einer neuen Einrichtung von ganz besonderer Wichtigkeit zu gedenken: der Dividenden-Vertheilung nach einem neuen System.

Wie es drei Hauptquellen sind, aus welchen die zu vertheilenden Ueberschüsse entspringen: 1) aus den Verwaltungskosten-Aufschlägen, 2) aus der Zinseneinnahme des Reservefonds und 3) aus dem Untersterblichkeitsgewinne – so bestanden, und bestehen bei den deutschen Lebensversicherungen im Allgemeinen noch, auch drei Systeme von Dividenden-Vertheilung. Das erste und älteste, auch von der Leipziger Anstalt gehandhabte vertheilt die Jahresüberschüsse einfach nach Maßgabe der gezahlten Jahresprämie. Dieses System hat den Vortheil, daß sofort beim Eintritt in den Dividendengenuß sehr hohe Procente (jetzt z. B. 40 %) gewährt werden können, aber den Nachtheil, daß die Prämie in gleicher Höhe durch die ganze Versicherungszeit fortbezahlt werden muß. Das zweite vertheilt die Ueberschüsse nach Maßgabe der Prämienreserve. Da aber die Prämienreserve mit den Jahren wächst, so nimmt auch die Anwartschaft des einzelnen Versicherten am Gewinn von Jahr zu Jahr zu, sodaß die Versicherten die Aussicht haben, mit der Zeit ganz beitragsfrei zu werden. Das dritte System vertheilt nach Verhältniß der Summe der gezahlten Prämie, ist im Erfolg dem vorigen ziemlich gleich und hat den Vorzug der Allgemein-Verständlichkeit dem Publicum gegenüber.

Um ihre Mitglieder der Vortheile beider, des alten wie der beiden jüngeren Systeme theilhaft zu machen, stellten Directorium und Verwaltungsrath neben dem alten, das in seinem Rechte blieb, ein neues System auf. Alle Mitglieder, welche sich letzterem anschließen, bilden innerhalb der Gesellschaft eine besondere Vereinigung, welche die Gesammtsumme aller Dividenden, die ihnen statutengemäß alljährlich zufallen, unter sich nach Maßgabe der Summe der von jedem Mitglied gezahlten ordentlichen Jahresprämien vertheilen. Als Maximum des Dividendensatzes ist 3 Procent festgesetzt und aus dem nach der Vertheilung der Dividenden sich ergebenden Ueberschuß ein Dividenden-Reservefonds gebildet, der die Bestimmung hat, bei Schwankungen der Ueberschüsse zur Ausgleichung zu dienen. Das Resultat dieses Versuches ist, daß die „Vereinigung“ Ende 1879 bereits 1838 Mitglieder mit einem versicherten Capital von 10,504,800 Mark zählte. Die Probe auf das neue Exempel ist somit als gemacht anzusehen.

Einen interessanten Maßstab für den bescheidenen Anfang und das großartige Wachsthum des Gesellschaftsgeschäfts bieten auch die Localitäten desselben zu Anfang und heute dar. Während für den Anfang ein für 125 Thaler gemiethetes Local von zwei Zimmern für die drei Anstaltsbeamten genügte, baute die Gesellschaft sich von 1874 bis 1876 für 371,500 Thaler ihr eigenes Haus, in welchem nun ihre dermaligen 69 Beamtete zweckmäßige Arbeitsräume besitzen und welches, wie unsere Vignette wenigstens ahnen läßt, eine Zierde des Leipziger Theaterplatzes ist.

Ein Gang durch diese Geschäftsräume eröffnet uns einen lehrreichen und erhebenden Einblick in den für Unzählige noch so geheimnißvollen Bienenstock des zusammentragenden Fleißes, in welchem die Vielgestaltigkeit der Arbeit aus Tausenden von Fächern und Büchern uns entgegenblickt, von der ersten Anmeldung der Versicherung bis zu den grauen Todtenlisten. Zuletzt stehen wir im Cassenzimmer vor dem riesigen Schrank, dessen wohlverwahrtes Innere nicht weniger als 25 Millionen aufgespartes Volksvermögen birgt, aus dem der Segen hervorgeht, welcher der letzte Trost so vieler in Liebe für die Ihrigen sorgender Väter ist.

Solcher Schränke stehen 39 in Deutschland. Wie der Inhalt derselben beschaffen ist, und in welchem Verhältniß sie neben einander wirken, ist am kürzesten und einfachsten nur in Tabellenform darzustellen. Da uns aber unser Raum nicht gestattet, eine derartige ganze Tabelle abzudrucken, so beschränken wir uns darauf, auf die alljährlich erscheinenden, umfangreichen statistischen Arbeiten des „Bremer Handelsblattes“ und der „Berliner Börsenzeitung“ zu verweisen, welche über die Bewegung des Versicherungsbestandes der deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaften eine umfassende Uebersicht geben.

Das gesammte deutsche Lebensversicherungswesen nimmt neben den Gesellschaften der übrigen Culturstaaten eine durchaus günstige und achtunggebietende Stellung ein. – Ein Zeugniß des Wohlstandes kann aber unsere Durchschnittssumme für eine Versicherung uns noch nicht ausstellen, denn während dieselbe Ende 1879 in Amerika 9673 Mark, in England 7950 Mark, in Frankreich 8076 Mark betrug, steht sie bei uns auf 3404 Mark. Dieses Mißverhältniß entspringt theils aus dem Umstande, daß bei uns gerade die wohlhabenden Kreise noch viel zu wenig den Nutzen der Lebensversicherung erkennen, theils aus der noch immer bestehenden Unsitte, große Summen lieber in England, und dort oft bei recht zweifelhaften Anstalten, als bei unseren deutschen Gesellschaften zu versichern.

Betrübend ist auch die große Zahl der durch Rückkauf oder wegen unterlassener Prämienzahlung erlöschender Versicherungen. Fast die Hälfte des neuen Zuganges geht auf diese Weise wieder verloren und viele Tausende von Familien sind es, denen dadurch die Wohlthat der Lebensversicherung wieder entzogen wird. Sind auch in sehr vielen Fällen Sorglosigkeit und Leichtsinn oder Genußsucht der Grund, daß die bereits erworbene Versicherung wieder ausgegeben wird, so zwingt doch auch in sehr vielen Fällen die bittere Noth, der „Kampf um’s Dasein“ dazu, und so zeigt sich uns auch in dieser Beziehung ein wenig erfreuliches Bild von dem Zustande unserer volkswirthschaftlichen Verhältnisse.

Die Lebensversicherung aber ist eines der wirksamsten Mittel, diese Verhältnisse zu bessern, und deshalb muß dahin getrachtet werden, sie zu dem Gemeingut Aller zu machen. Freilich nicht auf dem Wege, den man jetzt zu Gunsten des Arbeiterstandes einzuschlagen beabsichtigt, dem Wege der Staatshülfe. Niemals wird der Staat im Stande sein, die Ausgaben der Altersversorgung, der Versorgung der Hinterbliebenen nach dem Tode so zu lösen, wie diese Aufgabe durch unsere Lebensversicherungs-Anstalten bereits gelöst ist und in Zukunft noch weit mehr gelöst werden muß. Daß sie es vermögen, zeigt uns der großartige [40] Aufschwung, den die Benutzung der Lebensversicherung in Deutschland innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre genommen hat; es beweisen uns das die während dieses Zeitraums eingeführten vielfachen Verbesserungen, welche dahin gehen, den Abschluß solcher Versicherungen und die Erhaltung derselben beim Eintreten schwieriger Verhältnisse möglichst zu erleichtern, die Bedingungen günstiger zu stellen und den Versicherten größere Vortheile zuzuwenden.

An diesem Aufschwung, an diesem Streben nach Vorwärts hat unsere Jubilarin einen bedeutenden Antheil genommen; ihre gesammte neuere Entwickelung ist ein unausgesetztes Fortschreiten. Sie hat, wie wir gezeigt haben, ihre Versicherungsbedingungen mehrfach umgestaltet und neue Einrichtungen geschaffen, welche die Benutzung der Lebensversicherung gefördert und zugleich ihren Nutzen erhöht haben.

Und die Macht der Concurrenz nöthigt Alle, diesen Weg zu betreten; Alle zwingt sie, die Hände nicht in den Schooß zu legen, denn Stillstand ist auf diesem Gebiete unausgesetzter Wettbewerbung mehr, als sonstwo, Rückschritt.

So möge man auch hier die Bahn frei halten, und bald wird es auch bei uns, wie in England und Nordamerika, zur guten Hausordnung gehören, daß neben dem Feuerversicherungsschein die Lebensversicherungspolice im Schatze jeder ordentlichen Familie liegt. Nicht der Staat muß überall helfen und helfen wollen: „Selbst ist der Mann“ muß Wahlspruch in Deutschland werden. Die alten Hemmschuhe solcher Fortschritte sind ja gebrochen; die Zeit ist vorbei, wo, wie gegen Blitzableiter und Hagelversicherung, auch gegen Lebens- und Altersversicherung als gegen Eingriffe in die Allmacht und Gnade Gottes von den Kanzeln gedonnert werden konnte. Nur Einsicht in und Vertrauen auf die Wohlthat des neuen Werthmessers des Volkswohlstandes bedarf es, und diese müssen auf das Eifrigste gepflegt werden; für Beides aber mit allen Kräften zu wirken, das sollte ein ununterbrochenes Bestreben der Presse wie der Volksbildungsvereine sein, ein Bestreben, in welchem uns die Nachahmung unserer darin wacker vorangehenden französischen Nachbarn zur Ehre und Wohlfahrt zugleich gereichen könnte.

Sollten diese Worte eine neue Anregung dazu sein, so würde das Jubiläum, das uns zu derselben die Gelegenheit bot, auch noch einen Kranz der Dankbarkeit verdienen.*

Friedrich Hofmann.


* Im ersten Theile dieses Artikels (vergl. vorige Nummer) ist als Gründungsjahr der Leipziger Feuerversicherungs-Anstalt 1819 (anstatt 1822) zu setzen; demgemäß geschah die Gründung der Lebensversicherungs-Anstalten in Gotha und Lübeck acht Jahre später. Ferner hat Olearius nicht 600, sondern 1600 Thaler Jahresgehalt bezogen.




Blätter und Blüthen.


Körperwägungsstuben. Es ist im hohen Grade auffallend, wie wenig sich die Menschen noch im Allgemeinen um die eigene Körperentwickelung bekümmern und wie sehr sie die einfachsten Mittel vernachlässigen, welche ihnen zu Gebote stehen, um sich über einen Rückgang oder Fortschritt ihrer Körperbeschaffenheit zeitig Gewißheit zu verschaffen. Bei neugeborenen Kindern und im Verlauf des ersten Lebensjahres werden Wägungen des Körpers gegenwärtig schon häufiger vorgenommen. Man weiß, daß kein zweiter so zuverlässiger Maßstab für das gute Gedeihen des Kindes, für die Richtigkeit seiner Ernährung, für seine Gesundheit existirt, wie das Gewicht seines Körpers und dessen regelmäßiger Fortschritt. Solche Wägungen der Kinder von acht zu acht Tagen werden deshalb auch mit Recht von vielen Aerzten den Eltern empfohlen. Ist aber das erste Lebensjahr vollendet, so hören die Wägungen meistens auf, und man bekümmert sich nicht viel mehr weder um das Wachsthum des Kindes in die Länge, noch um die Zunahme seines Gewichtes. Und doch sind diese Dinge für ein richtiges und namentlich frühzeitiges Urtheil über einen Rück- oder Fortschritt in dem Gesundheitszustande des Kindes und der Jugend bis zum einundzwanzigsten Lebensjahre hin von durchaus gleich großer Bedeutung, wie für das Kind im ersten Lebensjahre. – Jede etwas ernstere Gesundheitsstörung, welche sich vielleicht noch gar nicht durch andere Erscheinungen verräth, giebt sich alsbald durch mangelhafte Zunahme des Körpergewichtes oder durch mangelhaftes Wachsthum kund, und ein zu rasches Wachsthum des Körpers, wie es der Mutter vielleicht gefällt, aber der Gesundheit doch nicht entspricht, soll ebenfalls die Aufmerksamkeit der Eltern in Anspruch nehmen und dieselben auf wahrscheinliche Fehler in der Ernährung des Kindes aufmerksam machen. – Man muß sich doch wahrlich darüber wundern, daß trotz der Millionen von Menschen, welche schon vor uns in’s Grab gegangen sind oder noch heute die Erde bewohnen, ein Wachsthumsgesetz für den Menschen von Jahr zu Jahr nach Länge und Gewicht seines Körpers noch nicht mit Sicherheit festgestellt ist, und es kommt dies lediglich daher, daß kaum für einen Menschen sein fortschreitendes Wachsthum von Jahr zu Jahr, oder von sechs zu sechs Monaten regelmäßig durch Maß und Gewicht bestimmt ist.

Solcher Bestimmungen bedarf aber die Wissenschaft zu Tausenden, und zwar genauester Bestimmungen, um daraus ein Wachsthumsgesetz abzuleiten, und erst wenn ein solches Gesetz festgestellt worden ist, wird sich von einem jeden Kinde sagen lassen, ob es das normale Körpergewicht und normale Längenmaß für sein Alter besitzt oder nicht, um daraus dann weitere Schlußfolgerungen abzuleiten. Für das vorgeschrittene Jugendalter sind die Bestimmungen des Körpergewichts und der Körperlänge von ganz besonderem Werthe. Eine der gefährlichsten Krankheiten, die Lungenschwindsucht des jugendlichen Alters, kündigt sich in der Regel, noch bevor die Lunge selbst erkrankt ist, durch Abnahme des Körpergewichtes an, und da diesem weitverbreiteten Leiden nur in der ersten Zeit seiner Entwickelung durch geeignete Behandlung abgeholfen werden kann, so ist schon in dieser einen Beziehung für viele Menschen die fortgesetzte genaue Controlle des Körpergewichts und der Körperlänge von größter Bedeutung.

Es bedarf wohl nur dieser Hindeutungen, um Viele mit dem Wunsche oder Entschluß zu erfüllen, an sich selbst oder an ihren Kindern regelmäßige Wägungen des Körpers und Messungen der Körperlänge vorzunehmen. Um sicher zu gehen und vergleichbare Resultate zu erlangen, ist es erforderlich, daß die Wägungen und Messungen an ganz bestimmten Tagen vorgenommen werden, und es empfiehlt sich für Kinder, welche älter als ein Jahr sind, dieselben regelmäßig an dem Geburtstage des Kindes und nach jedem Ablauf von genau sechs Monaten, also jährlich wenigstens zwei Mal, vorzunehmen. Auch müssen die Kleider jedesmal genau zurückgewogen und in Abzug gebracht werden. Die Messung der Körperlänge ist ohne jede Fußbekleidung vorzunehmen. Weiter ist zu bemerken, daß Wägungen und Messungen am besten Morgens früh, jedenfalls aber vor dem Mittagessen auszuführen sind; denn durch das Mittagessen kann das Körpergewicht in erheblicher Weise verändert werden, und wer den ganzen Tag umhergelaufen, ist Abends oft in Folge der leichten Abflachung der Zwischenwirbelscheiben um ein bis einundeinhalb Centimeter kleiner, als am frühen Morgen.

Aber wo findet man eine genaue Wage zu Wägungen des Körpers? In manchen Bade-Orten sind solche Wagen in neuerer Zeit eingeführt. Die Aerzte an diesen Orten haben es in vielen Fällen für erforderlich gehalten, sich durch Bestimmungen des Körpergewichtes von den Resultaten der Curen zu überzeugen, und die Patienten selbst verfolgen mit Interesse diese Resultate. Sie zahlen gern dafür dem Wagebesitzer ein Wägegeld. – Aber in fast allen Städten sucht man noch immer vergebens nach recht genauen für diese Zwecke geeigneten Wagen. Wird Jemandem einmal die Wägung zum Bedürfniß, so bedient er sich der groben Wagen, wie man sie auf Eisenbahnstationen, in Materialwaarenhandlungen etc. findet. In dem Mangel von guten Körpergewichtswagen liegt, wie es scheint, der Hauptgrund, daß die Wägungen, von denen hier die Rede, so sehr vernachlässigt werden, und doch ist dem Mangel leicht abzuhelfen.

Sollte es denn nicht möglich sein, daß sich in jeder Stadt eine, und in größeren Städten mehrere Personen fänden, welche sich aus der genauen Körpergewichtsbestimmung und Längenmessung von Kindern und Erwachsenen ein Nebengeschäft machten?

Sollten sich nicht Heilgehülfen, invalide Militärpersonen, städtische Unterbeamte, Badebesitzer etc. bereit finden, „Körperwägungsstuben“ einzurichten? Als die vorzüglichsten Wagen dürfen zu solchem Zwecke unter anderen die Decimalwagen der Herren Kuhtz u. Comp. in Brandenburg an der Havel empfohlen werden, und wenn die Anschaffung derselben mit Gewichten auch eine erste größere Auslage erfordert, so wird der Betrag bald durch die Wägungsgebühren eingebracht werden können. Es giebt aber auch eine Anzahl anderer trefflicher Wagenfabriken, deren Adresse leicht zu erfahren ist. Die Wagen müssen nur so genau sein, daß sie bei einer Belastung mit hundert Pfund oder fünfzig Kilogramm noch fünf Gramm mehr oder weniger deutlich angeben. In dem Raume, in welchem die Wägungen vorgenommen werden, sollte sich dann stets auch ein Gestell mit Centimetermaß befinden, damit man neben der Gewichtsbestimmung gleichzeitig die Längenmessung des Körpers vornehmen könne. Von größter Wichtigkeit ist, wie gesagt, die richtige Rückwägung der Kleider, mit welchen die gewogene Person bei der Wägung bekleidet war. Die Bestimmung des Gewichtes dieser Kleider kann aber füglich auf einer kleinen Wage zu Haus vorgenommen werden, falls der Betreffende es nicht vorzieht, die Kleider nachträglich zu dem Wagenbesitzer zu schicken und sie dort wiegen zu lassen.

Es ist selbstverständlich, daß die Ergebnisse der Wägungen und Messungen stets genau aufgezeichnet und die Aufzeichnungen aufbewahrt werden müssen. Die erste Aufzeichnung ist sofort nach geschehener Wägung und Messung von demjenigen zu machen, welcher dieselben ausführte. Jede Aufzeichnung dieser Art muß enthalten: Namen und Alter der gewogenen Person, Tag und Stunde der Wägung und Messung, Angabe des Körpergewichts mit Kleidung und nach Abzug der Kleidung. Die Körperlänge versteht sich stets ohne Fußbekleidung und ist in Centimeter anzugeben.

Möchten diese Andeutungen auf fruchtbaren Boden fallen! Der daraus für den Einzelnen, sowie für die Bevölkerung im Allgemeinen und nicht minder für die Wissenschaft zu erzielende Gewinn ist ein sehr großer und liegt auf der Hand. Die Aerzte insonderheit werden nicht länger in Verlegenheit sein, wo und wie sie das Körpergewicht eines Kranken in Fällen ermitteln sollen, wo die genaue Kenntniß und fortgesetzte Controle dieses Gewichtes von größtem Werthe sowohl für sie selbst, wie für den Kranken ist. – Der verschiedene Gang des Wachsthums bei verschiedenen Nationen, beim männlichen und weiblichen Geschlechte, wie solcher nach bisherigen Untersuchungen wahrscheinlich ist, wird sich nur auf dem Wege sehr zahlreicher und überall herbeizuführender Gelegenheiten zu genauen Wägungen und Messungen feststellen lassen.

Professor Beneke.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ausgabe von Liebrecht. S. 34.
  2. Itinera per Helvetiae alpinas regiones. Lugd. Batav. 1723. T. II., p. 186.