Das Werk eines deutschen Bürgers

Textdaten
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Autor: Ludwig Walesrode
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Titel: Das Werk eines deutschen Bürgers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 8, 10, S. 12–16, 123–126, 152–156
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[12]
Das Werk eines deutschen Bürgers.
Von Ludwig Walesrode.
I.
Herzog August und seine kostspieligen Tollheiten. – Seine Schulden bei den Bürgern Gotha’s und die Insolvenz seines Nachlasses. – Herzog Friedrich IV. wird von seinen „Unterthanen“ in englische Lebensversicherungen eingekauft. – Sein Tod. – Ein englischer Gerichtshof in Gotha. – Kings Bench. – Lord Brougham, Advocat für die gothaischen Kläger. – Englische Proceßkosten. – E. W. Arnoldi. – Stiftung der Gothaischen Lebensversicherungsbank.

Im Jahre 1804 gelangte Herzog August von Gotha-Altenburg zur Regierung, sicherlich einer der bizarrsten Fürsten, welche jemals die Geschicke eines deutschen Landes oder Ländchens geleitet haben. Die wunderlichen Einfälle dieses Mannes grenzten an eine Tollheit, in welcher selbst der weiland königlich dänische Kammerherr von Polonius schwerlich eine „Methode“ zu entdecken im Stande gewesen wäre. Ich verweise auf einen von kundiger Hand im Jahrgange 1857 der „Gartenlaube“ mitgetheilten Artikel über diesen Fürsten und auf die Illustration dazu, welche besagten Herzog August (nach einem in Gotha befindlichen Gemälde) darstellt, im Gewände einer Griechin, auf einem antiken Ruhebette hingestreckt, einen King-Charles-Hund auf dem Schooße. Ueberhaupt liebte es der Herzog auf den weitgestreckten Corridors und dem großen Hofe seines Residenzschlosses Friedenstein in den verschiedensten Verkleidungen, als indischer Priester, als jüdischer Rabbi etc., umher zu wandeln. Selbst mit der Farbe seiner Perrücke wechselte er in einem fort – das Gesicht war geschminkt und mit Schönpflästerchen beklebt. Bei alledem war er ein Mann von Geist, der sich sogar schriftstellerisch versuchte. „Kyllenion oder auch ich war in Arkadien“ lautet der Titel eines von ihm in der Manier der Wieland’schen „Grazien“ verfaßten Buches. Es wird ihm auch noch ein anderes Werk „Vierzehn Briefe eines Karthäusers“ zugeschrieben. Ein Zeitgenosse Carl August’s und gewissermaßen dessen Wandnachbar, besuchte der Herzog häufig den weimarischen Hof, zum großen Verdrusse Goethes, dessen in classischer Ruhe gesammeltem Wesen die Bizarrerieen des Herzogs, besonders dessen frivole wortspielende Witzelei, wenig behagten. So oft Herzog August in Weimar war, blieb Goethe von der Tafel seines fürstlichen Freundes fort.

Trotz dieser souverainen Absonderlichkeiten oder, wenn man will – Narrheiten, gehörte Herzog August, hinsichtlich seiner Regierung, zu den besten deutschen Fürsten seiner Zeit. Er verstand es sein kleines Land glücklich durch die Stürme zu lootsen, mit welchen der Napoleonische Siegeszug die Staaten Europas in ihren Grundvesten erschütterte. Dem freundschaftlichen Verhältniß; in das er zum französischen Kaiser trat und an welchem eine ungeheuchelte Bewunderung vor dem Genie Napoleon’s den größten Antheil halte, verdankten die Einwohner des Gothaisch-Altenburg’schen Herzogtums, daß die Noth jener Zeit, welche schwer auf den andern deutschen Staaten lastete, mit keinem merklichen Ungemach sie berührte. Wer etwa heute dieses intime Verhältniß des Herzogs zu Napoleon ein undeutsches schelten wollte, den möchten wir an das „Parterre von Königen“ erinnern, auf das Napoleon aus seiner kaiserlichen Loge im Erfurter Theater hinabsah. – Aber auch als nach dem Sturze Napoleon’s die Karte von Deutschland revidirt wurde, wußte Herzog August sein Ländchen vor dem Verschlingungsgelüste der benachbarten Großmächte zu schützen. Auch kann man ihm nicht nachsagen, daß sein Land unter dem Drucke einer verstärkten absolutistischen Reaction die Befreiungsthat des deutschen Volkes abbüßen mußte, wie das fast im ganzen deutschen Vaterlande geschah. Noch heute hört man von älteren Leuten in Gotha, die sich jener Zeit erinnern, seine humane und milde Regierung rühmen. Eben so wenig wurde die Steuerkraft des Landes besonders scharf angezogen. Die Abgaben waren äußerst mäßig, obgleich der Herzog Geld und zwar sehr viel Geld brauchte für die oft kostbare Inscenesetzung seiner barocken Einfälle, besonders aber für eine verschwenderische Hofhaltung, bei welcher natürlich die keiner Controle unterworfenen Hofbediensteten, in auf- und absteigender Linie, ihr Schäfchen in’s Trockne zu bringen wußten. So berechnete z. B. das Hofmarschallamt die jährlich für die herzogliche Tafel verbrauchte – Petersilie mit fünfhundert Thalern.[1]

Vor Allem aber war der Herzog freigebig bis zum Exceß. Er beschenkte mit vollen Händen nicht blos seine Höflinge und Günstlinge, sondern Jeden, der seiner Laune gerade in den Wurf kam. Natürlich, daß die Bijouterie- und Modewaarenläden in Gotha, wo der Herzog seine Einkäufe stets in eigener Person besorgte, diesen Zug fürstlicher Freigebigkeit sich besonders zinsbar zu machen wußten. So erzählt man noch heute in Gotha, daß sämmtliche goldene Tabatieren, die der Herzog nach und nach als Präsente für irgend einen Günstling seiner Umgebung in der dortigen P.’schen Handlung, das Stück zu vierhundert Thalern ein kaufte, im Gründe nur aus einer einzigen und zwar immer aus einer und derselben goldenen Dose bestanden, welche der jeweilig Beschenkte regelmäßig gedachtem Handlungshause für hundert Thaler wieder überließ. Noch weit bedeutender waren die Einkäufe, welche der Herzog viele Jahre hindurch in dem damals ersten Putz- und Modewaaren-Geschäft von Madam Schenk in Gotha machte, wo er nicht selten ganze und kostbare Aussteuern für Bräute aus der Stadt Gotha anfertigen ließ. Da der Herzog nicht gleich bezahlte, so stieg sein Conto bei den Handels- und Gewerbsleuten Gotha’s, die ihm ihre Waaren lieferten, auf enorme Ziffern, abgesehen von den baaren Summen, welche ihm begüterte Einwohner Gotha’s zur Bestreitung seiner laufenden Ausgaben und der Geldunterstützungen, um die er selten vergebens angesprochen wurde, vorgeschossen hatten. Die Bürger der kleinen Residenzstadt rechneten sich’s zur hohen Ehre an, in das vertrauliche Verhältniß als Gläubiger zu Serenissimus getreten zu sein. Hielt doch Jeder sich der prompten Wiederbezahlung mit Zinsen und sonstiger allergnädigster Berücksichtigung für sicher.

Da starb Herzog August im Mai 1822, und zur nicht geringen Bestürzung seiner zahlreichen Gläubiger in Gotha ergab die gerichtliche Aufnahme der Erbschaftsmasse, daß der Herzog schon längst insolvent gewesen. Mit dem Manuskripte eines unvollendeten Romanes, betitelt „Panedone“ (All-Lust), das sich unter seinem Nachlasse fand, konnte seinen Gläubigern wenig gedient sein. Diese All-Lust erschien fast als ein posthumer Witz des Verstorbenen über seine nicht sonderlich all-lustig gestimmten Creditoren. Die Forderungen wurden jetzt gegen den als Friedrich der Vierte zur Regierung gelangten Bruder des verstorbenen Herzogs ungestüm geltend gemacht. Es hätte über den unzulänglichen Nachlaß des „Hochseligen“ der Concurs erkannt werden müssen, wenn nicht das Ministerium des neuen Landesfürsten, zur Vermeidung des Scandals, eine Abkunft mit den Gläubigern dahin getroffen hätte, daß ihnen ihre Forderungen in fünfjährigen Raten, vom 1. Februar 1824 bis zum 1. Februar 1829 bezahlt werden sollten, falls der nunmehr regierende Herzog Friedrich der Vierte so lange am Leben bleiben würde. Diese etwas bedenkliche Clausel veranlaßte die gemeinsam handelnden Gläubiger zu dem Entschluß, das ihnen so kostbare Leben des Herzogs Friedrich des Vierten bei der Londoner Lebensversicherungs-Compagnie „Union“ auf fünf Jahre und auf den Betrag der summirten Forderungen zu versichern.

Aber die „Union“ ließ sich sehr schwierig herbei, den durch ihre Generalagentur für Deutschland, das Handlungshaus Corty und Compagnie in Hamburg, ihr zugegangenen hohen Versicherungsantrag anzunehmen, und das nicht ohne Grund. Es war nämlich [14] allgemein bekannt, daß Herzog Friedrich, der zur Stärkung seiner Gesundheit niedrere Jahre in Italien gelebt hatte und dort mit Hülfe der Jesuiten katholisch geworden war, total geistesschwach und der Sprache fast völlig beraubt die Regierung des ihm zugefallenen Landes angetreten hatte. Die nicht ungegründete Befürchtung des Direktoriums, daß diese Geistesschwäche und der Sprachmangel mit einem lebensgefährlichen organischen Uebel zusammenhängen, wurde indeß von den beiden Leibärzten des Herzogs beseitigt, welche eine vom Vorstande der Union ihnen vorgelegte Reihe von Fragen, den Gesundheitszustand den zu Versichernden betreffend, in beruhigendster Weise beantworteten. Sie erklärten ausdrücklich, daß der Herzog an keinem andern körperlichen Gebrechen leide, als an einem grauen Staar auf dem linken Auge und einer bloßen Schwerfälligkeit der Sprache, die seit dem Jahre 1819 eingetreten sei. Sonst aber seien Umstände, die sein Leben in Gefahr bringen und eine Versicherung darauf mehr als gewöhnlich gefährden könnten, bei ihm weniger als bei jedem Andern zu fürchten, da die Lebensweise des Herzogs nach ärztlicher Anordnung auf das Genaueste geregelt sei und seine Umgebung auf’s Sorgfältigste über die Erhaltung seiner Gesundheit wache.

Trotz dieser beruhigenden officiellen Erklärung der herzoglichen Leibärzte übernahm die Union doch nur unter außergewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Versicherungsantrag. Sie verlangte in dem gegenwärtigen Falle eine jährliche Prämie von fünf Procent, während sonst bei neunundvierzig Jahre alten Personen – so alt war damals der Herzog – nur eine Prämie von zwei und vier Fünftel Procent bei Versicherungen auf fünf Jahre üblich war. Die Versicherer schlugen mithin die außerordentliche Gefahr, die nach ihrer Meinung für die Dauer des körperlichen Wohlbefindens des Herzogs Friedrich vorhanden war, auf zwei und ein Fünftel Procent an und verlangten mithin fast das Doppelte der gewöhnlichen Prämie. Außerdem erklärte die Union, daß sie nicht die ganze Summe, mit welcher die Beteiligten das Leben des Herzogs versichern wollten, übernehmen werde, daß sie aber bereit wäre die Versicherung des Restes bei andern Londoner Gesellschaften zu vermitteln. Dieser Umstand allein dürfte schon den enormen Betrag der Schulden constatiren, die Herzog August bei seinen Landeskindern contrahirt halte. Die Betheiligten gingen auf die ihnen gemachten Bedingungen ein. Die Union übernahm die Versicherung bis zur Höhe der von ihr festgestellten Summe und versicherte den Rest bei vier andern englischen Gesellschaften, nämlich bei der Atlas Assurance Company, London Assurance Corporation, West of England Company und der Eagle Assurance Company. Bei der damaligen schwerfälligen Correspondenz zwischen Gotha, Hamburg und London verging eine geraume Zeit, bevor das Geschäft definitiv abgeschlossen wurde. Erst im Juni 1824 erhielten die Gothaer Interessenten ihre Policen und zahlten die erste Prämie an den Unteragenten der Union in Erfurt.

Aber nicht viel über ein halbes Jahr später (am 11. Februar) starb, unerwartet für seine ganze Umgebung, Herzog Friedrich nach einem Schnupfenanfalle, der den Aerzten keinen Anlaß zu irgend welcher Besorgnis; gegeben hatte, und mit ihm erlosch die Gothaisch-Altenburgische Dynastie. Bei der, wie es heißt, auf Anordnung des Großherzogs von Weimar vorgenommenen Section fand sich in der Schädelhöhle eine das Gehirn zusammenpressende Balggeschwulst, die sechs Zoll drei Linien in der Länge und drei Zoll zwei Linien in der Breite betrug und über acht Loth schwer war, während sich zwischen den Gehirnhäuten und dem Gehirn eine Menge Wasser vorfand, deren Gewicht nicht weniger als zwanzig Loth betrug. Diesen widernatürlichen Wassererguß erklären die Aerzte für die nächste Veranlassung des schnellen Todes des Herzogs, während sie unwiderleglich beweisen zu können aussprachen, daß die Ursache des beschränkten Geisteszustandes des Herzogs schon in dessen frühesten Lebensjahren entstanden wäre und den Tod desselben nicht herbeigeführt hätte. Der Befund dieser merkwürdigen Section wurde officiell in der Gothaer Zeitung veröffentlicht.

Die Inhaber der Policen machten nunmehr ihre Forderungen an die englischen Versicherungsgesellschaften geltend. Die Union und die West-Company leisteten Zahlung für die bei ihnen versicherten Summen, die drei übrigen Gesellschaften erklärten aber nach vielen Weiterungen, daß sie wegen eines Bruches der Bedingungen nicht zahlen würden. Alle Vorschläge, sie günstiger zu stimmen, wären ebenso vergeblich, wie die Versuche, sie zur Angabe eines speciellen Grundes ihrer Weigerung zu vermögen. Es blieb den Interessenten in Gotha nichts übrig, als ihre Ansprüche auf gerichtlichem Wege zu verfolgen. Aber auch die Klageführung vor den englischen Gerichtshöfen wußten die Compagnieen auf alle Weise zu erschweren. So wollten sie z. B. eine Bürgschaft von fünfhundert Pfund Sterling, welche das Haus Rothschild für die Kläger geleistet, für nicht sicher genug gelten lassen!

Endlich, nach langen, zu keinem Endziele führenden Verhandlungen, ordnete der Gerichtshof der Kings-Bench aus seiner Mitte eine Untersuchungs-Commission nach Gotha ab. Es war das nicht etwa eine Commission von Rechtsgelehrten, die sich über diese Angegelegenheit an Ort und Stelle unterrichten und mit den gothaischen Behörden in Vernehmen setzen sollten, sondern ein vollständiger englischer Gerichtshof, dem mit specieller landesherrlicher Ermächtigung des durch den Erbvertrag von 1826 zur Regierung gelangten Herzogs Ernst des Ersten von Sachsen-Coburg-Gotha die Befugniß eingeräumt war, auf deutschem Grund und Boden nach englischen Rechtsnormen zu verfahren und für seine Verfügungen und Requisitionen unweigerliche Folgeleistung zu fordern.

In der Geschichte deutscher Rechtspflege dürfte dieser Fall wohl einzig in seiner Art dastehen.

In England würde ein ähnlicher Verzicht auf die eigene Justizhoheit zu Gunsten eines ausländischen Forums so gut wie eine mathematische Unmöglichkeit, etwas geradezu Undenkbares sein. Wir brauchen nur, um von eben Erlebtem zu sprechen, an die Erbitterung zu erinnern, welche sich bei Gelegenheit des Müller’schen Processes in der englischen Presse gegen den dortigen deutschen Rechtsschutzverein kund gab. Und doch war in der Thätigkeit dieses Vereins auch nicht eine entfernte Spur von richterlichen Usurpationen oder von dem Versuche einer Beeinflussung des englischen Rechtsganges zu entdecken, da bekanntlich das löbliche Wirken des Vereins sich darauf beschränkt, dem deutschen Landsmanne die ihm schwer zugänglichen Mittel zur Erstreituug seines Rechtes oder zu seiner Vertheidigung vor englischen Gerichtsschranken zu Gebote zu stellen.

Leider aber können wir nicht constatiren, daß sich damals in unserm Vaterlande auch nur eine einzige patriotische Stimme zu einem Proteste gegen den fremdländischen Gerichtshof auf deutschem Boden erhoben hätte; keiner der berühmten Rechtslehrer, welche jener Zeit an deutschen Universitäten docirten – Savigny, Thibaut, Mittermaier, Zachariä – ließ sich auch nur mit einem Ausdrucke des Erstaunens über diesen fremden Einbruch in das deutsche Recht vernehmen. Erst im Jahre 1830, nachdem der Proceß schon längst zu den Acten gelegt war, durfte der in Gotha damals erscheinende „Allgemeine Anzeiger der Deutschen“ seiner durch das Imprimatur des Censors autorisirten Entrüstung gegen den englischen Gerichtshof Luft machen, freilich unter ausdrücklicher Wahrung der dankbarsten Anerkennung gegen den regierenden Herzog, der lediglich „in der Absicht, seinen Unterthanen zu dem Ihrigen zu verhelfen“, fremdes Recht und fremde Richter in’s Land gerufen hatte.

Die Sitzungen der Kings-Bench Commission, die volle fünf Monate dauerten, fanden unter dem Präsidium eines Mr. Mitchell im Gasthofe „zum Mohren“ in Gotha statt, in welchem die right honourable gentlemen ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, zur großen Genugthuung des Mohrenwirthes, da diese seltenen Gäste nach höchstem englischen Style lebten, aber zu eben so großem Mißvergnügen der an dem Rechtshandel betheiligten gothaischen Bürger, welche die Zeche für jene Herren bezahlen mußten.

Die englische Untersuchungs-Commission nahm auch durchaus keinen Anstand, von den ihr eingeräumten Befugnissen den ungenirtesten Gebrauch zu machen – sie that, als ob sie zu Hause wäre, und da sie’s einmal durfte, that sie – unseres Bedünkens – Recht daran. Den damaligen Gothanern jedoch muß es curios genug vorgekommen sein, ihren „hochseligen“ Landesvater gewissermaßen wieder aus seinem Grabe ausgescharrt zu sehen, um nochmals dem unbarmherzigen, pietätlosen Secirmesser der fremden Richter unterworfen zu werden. Denn die Untersuchung ging vorzüglich darauf aus, nicht blos den körperlichen und geistigen Zustand, sondern auch die geheimen Lebensgewohnheiten weiland Herzog Friedrich’s des Vierten auf’s Gründlichste festzustellen. Die Leibärzte des Verstorbenen wurden zu dem Behufe vor den Schranken der Kings-Bench-Commission im „Mohren“ der ganzen Peinlichkeit eines englischen Kreuzverhöres unterworfen, und sie mußten sich’s gefallen [15] lassen, daß ihr abgegebenes amtliches Gutachten zur Superrevision auswärtigen medicinischen Autoritäten unterbreitet wurde. Ebenso mußten sich die Hofleute und Diener Herzog Friedrichs dem Gerichtshofe stellen, um sich über die physischen und moralischen Eigenheiten des Herzogs zu Protokoll vernehmen zu lassen. Selbst die Waschfrauen wurden über die Gesundheitsverhältnisse des Herzogs examinirt. Von auswärtigen Zeugen wurden mehrere Personen aus Stadtilm vorgeforden, die den Herzog in einem Zustande von Geistesabwesenheit und kindischer Abhängigkeit von seiner Umgebung gesehen haben wollten. Zwei Deutsche, ein Professor Hasper aus Leipzig und ein Herr Rißler, ich weiß nicht woher, dienten dabei, im Interesse der englischen Compagnie, als Aufspürer von den Klägern nachtheiligen Zeugen. Der „Allg. Anzeiger der Deutschen“ findet, in dem erwähnten Artikel, die „Schamlosigkeit“ dieser Zeugenaussagen über oder gegen das Leben eines eben verstorbenen deutschen Regenten ganz gleich der Schamlosigkeit, welche die Zeugenvernehmungen in dem noch im frischen Andenken lebenden Scandalprocesse gegen die Königin Caroline von England zu Tage förderten. Endlich wurde die Untersuchung, nachdem sie, wie bereits bemerkt, fünf volle Monate gedauert halte, geschlossen und die Acten nach England geschickt, ohne daß den Klägern Einsicht in dieselben gestattet wurde, während die Beklagten in England ohne Schwierigkeiten Abschriften erhielten. Dagegen hatten die gothaischen Bürger die Ehre, die Gasthausrechnnug für die hohe Commission mit circa sechstausend Thalern berichtigen zu dürfen.

Die deutschen Policeninhaber beschlossen jetzt, zunächst ihre 3208 Pfund Sterling betragende Forderung gegen die Atlas Company einzuklagen, da ja ein günstiges Urtheil in dieser Sache auch für die andern Forderungen entscheidend sein mußte. Die Hauptverhandlung fand vor dem Geschwornengericht der Kings-Bench am 21. October 1828 statt, unter dem Vorsitze des Lord Tenterdon. Der Anwalt der deutschen Kläger war kein Geringerer, als der berühmte spätere Lordkanzler Brongham, der mit glänzender Beredsamkeit, kräftig und gewandt, ihre Sache führte. Ueber die Ergebnisse des Zeugenverhöres wurde vom Gerichtshofe Dr. Green, Arzt am londoner Thomashospital, vernommen, dessen Aussage dahin lautete, daß die Geistesschwäche des Herzogs nicht der Art war, daß sie seine physische Gesundheit benachtheiligte, daß er (Zeuge) jedoch, wenn ihm die Ausstellung des besagten Gesundheitsattestes übertragen worden wäre, es für nöthig erachtet haben würde, der Geistesschwäche des Herzogs und seiner mangelhaften Sprachorgane Erwähnung zu thun. Der Vorsitzende, Lord Tenterdon, erklärte demnach, er würde den Geschworenen zu entscheiden geben, ob ihrer Meinung nach Thatsachen verschwiegen worden seien, die den Versicherern hätten bekannt gemacht werden sollen; fiele die Antwort bejahend aus, so wäre die Police dem Gesetze nach für null und nichtig zu halten. Diese Aeußerung machte sichtlich einen den Klägern nachtheiligen Eindruck auf die Stimmung der Geschwornen, so daß Lord Brougham es nicht für rathsam hielt, es auf einen Spruch ankommen zu lassen, sondern es vorzog, sich – wie die englische Proceßordnung es erlaubte – mit dem Vorbehalte abweisen zu lassen, das; er auf eine neue Untersuchung antragen könne.

Aber die Kläger verzichteten auf eine weitere Verfolgung ihres Rechts vor dem englischen Forum. Ihr Muth war durch den ungeheuren Kostenaufwand dieses ersten Versuches gebrochen. Lord Brougham liquidirte für seine Bemühungen als Anwalt nicht weniger als 2700 Pfund Sterling (gegen 19,000 Thaler); eine gestellte Caution von 900 Pfund Sterling war für die Kosten der Verhandlung vor der Jury daraufgegangen. Kurz, Alles in Allem gerechnet, belief sich der gemachte Aufwand bereits auf 27,000 Thaler, während es sich zunächst nur um ein Object von 3208 Pfund Sterling oder nicht ganz 22,000 Thaler handelte!

So endigte, noch bevor es zu einem Verdict gekommen, dieser merkwürdige deutsch-englische Lebensversicherungs-Proceß, der nicht blos für die Geschichte der deutschen Rechtspflege, sondern für die Blätter unser neueren vaterländischen Geschichte überhaupt eine nicht gerade heitere Illustration liefert. Wurde doch durch diesen Rechtshandel und noch dazu vor den Schranken einer englischen Gerichtsstätte actenmäßig constatirt, daß in Deutschland die Geschicke eines Staates in den Händen eines Fürsten ruhen konnten, der von dem Antritte seiner Regierung bis zu seinem Tode total geistesschwach, der Sprache beraubt und halb erblindet war und für dessen Regierungshandlungen kein constitutioneller Minister die Verantwortung übernehmen konnte, weil eben das gothaische Land damals noch ein unconstitutionelles, absolut regiertes war. Daß Herzog Friedrich der Vierte von unschädlichen, gutmüthigen Instincten geleitet war – wer sieht dem edlen, lockigen Byronskopf der auf der Gothaer Schloßbibliothek ausgestellten, von Rathgeber gefertigten Marmorbüste des Herzogs überhaupt eine Spur physischer wie geistiger Verkümmerung an? – so wie der Umstand, daß seine geschäftleitenden Staatsbeamten gewissenhafte, umsichtige Männer waren, welche die Unzurechnungsfähigkeit ihres Gebieters nicht zum Nachtheile des Landes mißbrauchten, mag immerhin die Thatsache in milderem Lichte erscheinen lassen, das Widernatürliche derselben wird dadurch nicht aufgehoben.

Aber wir können diese Misère heute vergessen oder doch zu dem übrigen Unerquicklichen legen, dessen die vaterländische Geschichte an ähnlichen Thatsachen mehr als zu viel bietet, im Hinblick auf die glorreiche Nutzanwendung, welche der sein berechnende Kopf und der Unternehmungsmuth eines verdienten Mannes in Gotha, unterstützt von der patriotischen Beihülfe seiner Mitbürger, aus dem verunglückten Processe zu ziehen wußte. Der harte Schlag, der den Wohlstand gothaischer Geschäftshäuser tief erschütterte und einige derselben zum Falle brachte, gab, mit elektrischer Wirkung, den ersten Anstoß zur Schöpfung der deutschen Lebensversicherungsbank zu Gotha.

Es war der geniale Begründer der Feuerversicherungs-Bank zu Gotha, der Kaufmann E. W. Arnoldi, den der Verlust, welchen seine Mitbürger in diesem eben so kostspieligen wie nutzlosen Proceß erlitten, in seinem bereits 1827 entworfnen Plane bestärkte, die deutsche Nation von den englischen Lebensversicherungsinstituten zu emancipiren durch eine That nationaler Selbsthülfe.

Warum sollte deutsches Geld, deutsche Rechenkunst, deutsches Wissen von den Gesetzen des Lebens und Sterbens, vor Allem aber die Macht deutscher Vergesellschaftung nicht ausreichen in unserm Vaterlande, unter dem Schutze vaterländischen Rechtes, ein Institut ähnlich weittragenden und wohlthätigen Wirkens zu begründen? Und dieser Gedanke verwirklichte sich in rascher That.

Schon am 1. Januar 1829 wurde die Lebensversicherungs-Bank für Deutschland in Gotha eröffnet mit einem Stamme von 794 Theilnehmern und einer Versicherungssumme von 1,390,000 Thlrn. Am 1. November 1864 zählte das noch jugendlich zu nennende Institut – denn erst in vier Jahren wird es sein Schwabenalter erreichen – bereits 26,397 Personen zu seinen Theilnehmern mit einer Versicherungssumme von 45,604,00 Thalern. Der Bankfond betrug 12,450,000 Thaler! Facta loquuntur – Zahlen sprechen!

Dieses Institut, das erste in Deutschland der Zeit nach, das erste auf dem europäischen Continente der Bedeutung nach, ja in mehr als einer Beziehung, in welcher es die älteren englischen Lebensversicherungsanstalten überflügelt, das erste der Welt, verdient wohl in unserm Vaterlande besser gekannt zu sein, als eine flüchtige Vorstellung von dem Wesen desselben oder ein Blick in seine Statuten solches ermöglichen. Stellt sich doch in keiner andern volkswirthschaftlichen deutschen Schöpfung die Macht der Association in so imposanten Ziffern in so sichtbar wohlthätiger Einwirkung auf das Familienleben und indirect auf den nationalen Wohlstand dar! Und doch war diese Schöpfung durch den ebenso genialen wie kühnen Gedanken eines Mannes in’s Leben gerufen, lange bevor noch die rastlose Agitation Schulze-Delitzsch’s die Idee der auf Vergesellschaftung begründeten Selbsthülfe und deren Verwirklichung durch die Volksbanken eine landläufig populäre geworden ist. Ich darf darum hoffen, daß meine Leser mich gern aus einem Gange durch die verschiedenen Bureaus der Gothaer Lebensversicherungsbank begleiten werden, um das ebenso großartige wie interessante Getriebe dieses Institutes kennen zu lernen. Der Leser hat nicht zu befürchten, in den Schematismus eines trockenen Geschäftsganges hineinzugerathen. Denn nirgends wohl dürfte ein Griff in’s volle Menschenleben interessantere Erscheinungen zu Tage fördern, als gerade an dieser Stätte, wo der letzte Athemzug des Sterbenden capitalisirt und in harte klingende Münze umgesetzt wird.



[123]
II.
Marstall und Dichterasyl. – Die Geschäftslocale der Lebensversicherungsbank, ihre Beamten und ihr unheimlicher Kunde. – Die blauen Pappkasten im Directorialzimmer. – Das tröstliche, sittliche und volkswirthschaflliche Moment der Police. – Die Riesenziffern der Lebensversicherungsbank. – Die Sterblichkeitsstatistik und ihre arithmetischen Formeln. – Der Tod unter strenger Controle. – Zahlenverhältniß zwischen Todesursachen und Lebensalter. – Ein Hingerichteter unter den Versicherten. - Die strategischen Karten der Bank. – Die Polizei der Lebensversicherungsbank.

Jedem Fremden, der zum ersten Male vom Gothaer Bahnhofe durch die von freundlichen Landhäusern und Gärten gebildete Bahnhofstraße der Stadt zuwandert, werden gewiß zwei am Ende jener Straße auf terrassirter Höhe sich erhebende Gebäude ganz besonders in die Augen fallen. Wessen das eine von zierlich behauenen Quadern aufgeführte sei und welche Bestimmung es habe, darüber belehrt den Fremden ein flüchtig prüfender Blick. Der Mittelbau mit seiner crenelirten Mauerkrone, wie ein castellartiges Donjon die den Anlagen zugekehrte Facade hoch überragend, und das in Stein gemeißelte Wappen über dem Hauptpertale sagen es Jedem, daß Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha der Besitzer sei, während die ornamental angebrachten, an die Rosse des Parthenon erinnernden Pferdeköpfe auf die Bestimmung des Gebäudes hindeuten. Es ist der herzogliche Marstall, dessen Seitenflügel zur Wohnung für die Gäste des Herzogs eingeräumt ist. Deutschen Poeten, die unter diesem Dache oft gastfreundliche Pflege gefunden, blieb es unbenommen, in diesen ornamentalen Pferdeköpfen weniger das Emblem des höheren Sport zu sehen, als den allegorischen Hinweis auf das Götterroß, unter dessen wildem Hufschlage der begeisternde Dichterquell dem Gestein des Helikon entströmte.

Der andere, ebenfalls von dem okergelben Felsquader des nahen Seeberges aufgeführte Nachbarbau giebt über seinen Eigner und seinen Zweck eine weniger zuvorkommende Auskunft. Die stattliche Langseite mit ihrer Doppelreihe hoher spiegelnder Fenster, die gar freundlich und klug dem Lichte draußen den Zugang eröffnen, läßt ebensowenig auf den Wohnsitz irgend eines begüterten Privatmannes, wie auf einen fürstlichen Residenzbau schließen. Es ist dem Ganzen unverkennbar der Charakter eines öffentlichen Zweckes aufgedrückt. Welches? Keine Inschrift über dem Eingänge sagt es uns, kein architektonisches Ornament deutet darauf bin, daß dieses Gebäude der Sitz der Gothaer Lebensversicherungsbank ist.

Ich setze voraus, daß Zweck und- Organisation dieses Instituts im Allgemeinen bekannt sind, wie Jedermann ja auch weiß, was er sich unter einer Feuer-, See-, Fluß-, Hagel-, Spiegelscheiben- und ähnlicher Versicherungsanstalt zu denken habe.

Meine Aufforderung an die Leser, mir auf einer Wanderung durch die Bureaus jener Bank zu folgen, dürfte daher hie und da auf ein erklärliches Befremden stoßen. Welche interessante Unterhaltung, welchen Gewinn für Anschauung und Einbildungskraft können sie sich von einem solchen Gange durch eine Reihe von Geschäftszimmern versprechen? Muß ich doch selbst gestehen, daß ich monatelang eben so theilnahmlos an der Gothaischen Lebensversicherungsbank vorübergegangen bin, wie ich Jahre lang gleichgültig au den Comptoirs der weltbekannten Millionärfirmen Salomon Heine, John Henry Schröder und Gottlieb Jäuisch auf den großen Bleichen in Hamburg vorüberging.

Erst als eine zufällige Veranlassung mich vor Kurzem in die Geschäftslocale der erwähnten Bank führte und meiner angeregten Fragelust von Seiten des Bankdirectors, des auf dem Gebiete volkswirthschaftlicher Statistik als Autorität anerkannten Finanzrathes Hopf, jede gewünschte Auskunft mit bereitwilliger Zuvorkommenheit ertheilt wurde, war es mir, als ob vor meinen Augen plötzlich von dem großartigen, sinnreich construirten Werke eines deutschen Bürgers die Hülle fiele. Wie wir oft erst in der Werkstätte des Künstlers das Kunstwerk verstehen, seine Meisterschaft und Bedeutung würdigen lernen, so werden uns Laien bedeutungsvolle, volkswirthschaftliche Schöpfungen erst verständlich, wenn es uns gestattet ist, aus räumlicher Nähe einen Blick in deren Getriebe zu werfen. Der Zauber einer großartig geregelten Thätigkeit zwingt uns zum Nachdenken über Dinge, die wir in der landläufigen Auffassung des Alltages als selbstverständlich hinzunehmen pflegen. Wir sehen, wie die anscheinend maschinenmäßige Geschäftsmechanik mit materiellen und sittlichen Wirkungen eingreift in das Leben des Individuums, der Familie, der Gesellschaft. Wir werden uns mit der Wohlthat des Zweckes auch der Schwierigkeiten und Hindernisse bewußt, denen zu begegnen neben dem Genie des Begründers es auch dessen voller muthiger Hingebung an die ihm vorschwebende Idee bedurfte.

Ich darf hoffen, daß der Leser gern den Gewinn der Stunde mit mir theilt, die ich in der Gothaischen Lebensversicherungsbank zugebracht. – – – –

Eine Flucht ineinander gehender, hoher, luftiger Zimmer, des Schmuckes freundlicher Wohnlichkeit entbehrend; aber die solid comfortable Einrichtung verräth, daß wir uns in den Geschäftsräumen eines reichen, sichern Hauses befinden, in denen gar fleißige Leute arbeiten vom Morgen bis zum Abend. Aber freilich hat es diese Anstalt auch mit einem gar eigenthümlichen Kunden zu thun, der sich wenig um die Geschäftsstunde kümmert, sondern ungestüm jeder Zeit anpocht und seine fälligen Wechsel präsentirt. Und dieser Kunde ist Niemand anders als der Tod, der ein gar großes Conto auf der Bank hat. Um Leben und Sterben dreht sich das „Soll und Haben“ der Bank. Wer sieht diesen freundlichen Bureaubeamten ihren ernsten Beruf an? Sie führen doppelte italienische Buchhaltung über das brechende Auge, den letzten Todesseufzer der Sterbenden, pflichttreu, gleichgültig und kaltblütig, wie der Todtengräber Tag für Tag neuen Ankömmlingen ihre letzte Ruhestätte bereitet.

„Er gräbt und schaufelt so lang er lebt“ –

Warum sollte er nicht, sein Pfeifchen schmauchend, ein lustiges Lied singen, während er die frische Erde aufwirft?

Gewohnte Arbeit – sicheres Geschäft. –

Ein kunstliebender König hätte die Locale der Lebensversicherungs-Bank wie ein Campo santo mit großen allegorischen Wandgemälden geschmückt, mit so etwas von apokalyptischen Reitern oder einem Holbein’schen Todtentanz. Die Actie und Dividende sind leider weniger poetisch. Wir sehen hier an den Wänden nichts als Repositorien, dicht besetzt mit Hauptbüchern, Manualen, Journalen und was sonst zur kaufmännischen Buchführung gehört, im Arbeitszimmer des Directors gewahren wir sogar ein großes Fachgestell mit übereinander gereihten blauen Pappkasten, die an ein Weißwaarenlager erinnern. Wo ringsum die Schauer des Todes uns anwehen sollten, überall nüchternes Geschäft, rundes, Zins erwerbendes Geld, gemüthlose Zahlen.

Die Lebensversicherungsbank ist eben eine bürgerliche Schöpfung. Sie illustrirt den Gedanken ihres Begründers in stillen, wohlthätigen Wirkungen. Welch ein Zauber haftet nicht an einem so geschäftstrockenen Document, wie eine Lebensversicherungspolice! Ist es doch, als ob aus derselben ein letzter freudiger Lichtstrahl in die Seele des sterbenden Gatten und Familienvaters fiele, um ihm die schwere, angstvolle Scheidestunde zu erleichtern! Das ebbende Bewußtsein verklingt in dem tröstlichen Gedanken, daß jenes Blatt Papier das Vermächtniß vorsorgender Liebe an die Theuren enthalte, die in dem von ihrem Herzen gerissenen Todten auch den Ernährer beweinen. Wie manche drückende Ehrenschuld, wie mancher lang vertagte Tribut der Dankbarkeit wird mit dieser Anweisung an die Casse der Lebensversicherungsbank getilgt! Wie viele Arme, die im ohnmächtigen Kampfe gegen Widerwärtigkeiten muthlos gesunken, werden wiederum zu frischer, rühriger Arbeit gekräftigt, wie viele Thränen getrocknet, wie viele von Kummer gebleichte Wangen zu neuem Lebensmuthe geröthet durch die Hülfe, die den Lebenden gewissermaßen aus den Gräbern ihrer Todten, wie vom Jenseits her, zufließt!

Ein volkswirthschaftlicher Schriftsteller hat treffend behauptet, daß der Culturzustand der Nationen vergleichungsweise nach dem Quantum der verbrauchten Seife zu berechnen sei. Hoffentlich aber ist die Zeit nicht mehr gar zu fern, in welcher die Statistik den nationalen Wohlstand und die glücklichen culturhistorischen Ergebnisse, die sich an diesen knüpfen, nach den Summen berechnet, [124] mit denen ein Volk sich für die Lebensversicherung besteuert. Der Gedanke, daß das Leben einer Zeitgenossenschaft zu Gunsten der nach ihr kommenden versichert wird – abstract ausgedrückt, daß die Gegenwart ihr Leben zu Gunsten der Zukunft versichert – ist durchaus keine solche Chimäre, als man bei dem flüchtigen Anhören dieses Ausspruches glauben könnte. Wenn in der überwiegenden Mehrheit eines Volkes Jeder danach strebt seinen Hinterbliebenen ein Erbtheil durch Lebensversicherung festzustellen, dann wäre in der That auch der Wohlstand eines Volkes versichert, und statt um sich zu greifen, würde das Proletariat in immer engere Grenzen eingeschränkt.

Und noch in anderer Beziehung wirkt die Gothaer Lebensversicherungsbank fördernd auf den Volkswohlstand ein, indem sie ihre verfügbaren Geldbestände dem Grundbesitze, vorzugsweise dem Ackerbau, als Anlehen zur Verfügung stellt. Ihr eigenes Vermögen durch Zinsertrag mehrend, erhöht sie die Werthe von Grund und Boden mittels des die Kraft zur Melioration schaffenden Kapitals. Aus dem harten Gelde, das sie in die Ackerfurchen streut, wächst billiges Brod für’s Volk. So rollen unaufhörlich viele Millionen Thaler aus der Bank hin und zurück, in raschem Kreislaufe, wie die Blutkügelchen im menschlichen Organismus, Leben und Gedeihen verbreitend.

Den Maßstab für das schwierige Problem, das die Lebensversicherung mit so glücklichem Erfolge zu lösen gewußt, dürfte ein flüchtig vergleichender Blick auf die Schwesteranstalt, die Feuerversicherungsbank zu Gotha, geben. Diese letztere, von demselben verdienten Bürger Arnoldi bereits im Jahre 1821 gestiftet, bat bei Gelegenheit des Hamburger Brandes die Feuerprobe in des Wortes verwegenster Bedeutung bestanden. Und weit davon entfernt, daß durch den harten Schlag ihre Mittel erschöpft worden wären, datirt gerade die gegenwärtige blühende Finanzlage dieser Bank von jener verhängnißvollen Katastrophe her.

Bei Alledem aber leistet die Feuerversicherungsbank nur Ersatz für die Schäden, die das durch Zufall oder Tücke entfesselte Element an Hab und Gut ihrer Interessenten anrichtet; die Zahlungspflicht der Lebensversicherungsbank jedoch ist eine permanente, denn sie tritt mit jedem Opfer ein, das ein unerbittliches Naturgesetz, der Tod, aus den Reihen ihrer Versicherten fordert, und – früher oder später – er wird sie Alle fordern. Gegenwärtig liegt das Leben von nicht weniger als sechsundzwanzigtausend sechshundert Personen „angefangen und geschlossen“ in den Registern der Gothaer Lebensversicherungsbank, und binnen einer Frist, welche nicht mehr die äußerste Grenze eines Menschenlebens erreicht, da sämmtliche Versicherte einen größeren oder geringeren Theil ihres Lebens bereits verbraucht haben, wird die Bank die ganze Summe sämmtlicher auf diese Leben versicherten Beträge mit 46, sage sechsundvierzig Millionen und 170,000 Thaler! an die Policeinhaber auszahlen müssen.

Das sind gigantische Ziffern!

Und doch braucht Niemand zu fürchten, daß die schwere dieser von Jahr zu Jahr um Millionen sich steigernden Verpflichtungen, mit denen die Bank belastet ist, einen Bankbruch herbeiführen könnte; daß eines Tages der hohe Einsatz, wie ein „Va banque!“ am grünen Spieltische, die Bank sprengen und ihren zahlreichen Gläubigern, den Wittwen und Waisen, ein trostloses Nachsehen lasten würde. Denn gerade darin bekundet sich in der Wirksamkeit der Gothaer Lebensversicherungsbank die Macht der zur gegenseitigen Selbsthülfe sich einenden „Gesellschaft“, daß mit der wachsenden Leistung auch im fortschreitenden Verhältnisse der Reichthum des Gemeinwesens wächst, daß das „Haben“ zum „Soll“ sich verhält, wie die Ernte zur Aussaat. So ist denn auch nicht trotz, sondern eben wegen der erwähnten Höhe ihrer gegenwärtigen Zahlungsobliegenheiten die Bank in der Lage, für dieses Jahr und die nächsten vier Jahre unter die Versicherten über zwei Millionen Thaler reiner Überschüsse zu vertheilen.

Freilich auch ist der Organismus dieser Bank ein Meisterstück, zu dessen Herstellung es neben der Begeisterung ihres Begründers für seine Idee auch dessen Finanzgenies bedurfte. In Deutschland fehlte es jener Zeit gänzlich an Erfahrungen für die einer solchen Anstalt zu gebende Einrichtung, namentlich an correcten Sterblichkeitslisten, die dem Rechnungswesen zu Grunde gelegt werden konnten. Die Mortalitätsstatistik, aus welcher die englischen Lebensversicherungsbanken – die älteste, die „Amicable“ in London, zählte bereits über einhundert und zwanzig Jahre – begründet waren, konnte bei dem damaligen unvollkommenen Stande der statistischen Wissenschaft überhaupt für die in’s Leben zu rufende Schöpfung keine principielle Bürgschaft leisten, abgesehen davon, daß die englischen Sterblichkeitsverhältnisse nicht die Norm für continentale, am wenigsten für deutsche Sterblichkeit, zu geben im Stande waren. Denn in England lebt das Volk anders, als in Deutschland, und stirbt darum auch anders. Die Sterblichkeitsliste, welche der berühmte englische Mathematiker Babbage eigens für die Gothaer Lebensversicherungsbank nach den Erfahrungen der Equitable Society in London ausarbeitete, war aus eben diesem Grunde nicht mit Zuverlässigkeit zu benutzen. Die Gothaer Lebensversicherungsbank mußte darum ihren eigenen Weg gehen, bis geniale Statistiker, wie Quetelet, Farr, Heym und Andere, ihr aus diesem schwierigen Gange die hülfreiche Hand boten. Die erst seit den vierziger Jahren auf ihre wissenschaftliche Höhe sich aufschwingende Statistik hat mit arithmetischen Formeln dem bis dahin schweigsamen Tode das Geständniß abgezwungen, daß auch sein Vernichtungswerk dem Gesetze der Ziffer unterworfen sei, daß auch er seine Opfer unter den Lebenden nach festen Procentsätzen fordere. Der Wissenschaft gegenüber zeigte sich selbst der unheimlich grinsende Knochenmann als „ein Mann, mit dem sich handeln läßt“, wie man geschäftlich sagt. So konnte die auf dem Princip der Vergesellschaftung begründete Bank dem Gesetze des Todes das Gesetz des Lebens entgegenstellen, denn die Gesellschaft stirbt nicht, nur das Individuum. In dem baaren Gelde, das die Lebensversicherungsbank bei jedem Todesfälle ihren Policeninhabern als Erbtheil auszahlt, arbeitet gewissermaßen die capitalisirte Arbeitskraft der Verstorbenen nutzbringend für die Lebenden weiter fort, über das Grab hinaus.

In dem geschäftlichen Betriebe der Lebensversicherungsbank wird darum der Tod, um den sich im Grunde die ganze Thätigkeit dieses Institutes dreht, unter scharfer Controle gehalten. Besonders wissenswerth müssen der Bankverwaltung die Ursachen erscheinen, durch welche die Sterbefälle unter ihren Versicherten veranlaßt werden, und das Zahlenverhältniß, in welchem diese Todesursachen zu dem Lebensalter der Versicherten stehen. Kein Dirigent einer großen Universitäts-Klinik kann darum sorgfältigere Register über die merkwürdigen Krankheiten führen, die in der von ihm geleiteten medicinischen Lehranstalt zur Behandlung gelangt sind, als der Director der Lebensversicherungsbank über die Krankheiten, denen seine „Versicherten“ erlegen sind. Es giebt schwerlich ein pathologisches Uebel, so entsetzlich und Ekel erregend es auch sein mag, das nicht in jenen Hauptbüchern, Manualen und Journalen, mit welchen wir die Wände der Bankbureaus bedeckt sehen, wie ein gangbarer Handelsartikel gebucht wäre. Eine ein Auszug aus den Geschäftsbüchern entworfene Liste der Krankheiten, denen die Versicherten der Bank vom Jahre 1829 bis zum Jahre 1862 erlegen sind, ist lang wie das Leporello-Verzeichnis; von Don Juan’s Liebschaften. Ist ja auch der Tod, wie ihn Holbein dargestellt, eine Art Don Juan, der nichts verschmäht, was ihm gerade in den Wurf kommt, und der an seiner knöchernen Hand eine bunte Reihe zum letzten Tanze führt.

Es ist erstaunlich, an welcher reichen Auswahl von Krankheiten ein civilisirter Deutscher mit ärztlicher Hülfe sterben kann! Unter den 8827 Todten, für welche, mit Ausnahme derer, die statutengemäß ihre Versicherungssumme verwirkt hatten, binnen dieses Zeitraumes von vierunddreißig Jahren, die Gothaische Lebensversicherungsbank eine versicherte Hinterlassenschaft von über vierzehn Millionen Thaler auszuzahlen hatte, befand sich sogar Einer, der an der Elephantiasis gestorben ist, jener exotischen Krankheit, die eigentlich im Vaterlande der biblischen Patriarchen, in Arabien und Aegypten zu Hause ist und an welcher, wie gelehrte Orientalisten es herausgefunden haben wollen, der Dulder Hiob, im Lande Uz, gelitten hat. Unter der einundzwanzigsten Rubrik: „Gewaltsamer Tod“ sind einhundertzweiundsiebenzig Selbstmörder und vier Ermordete verzeichnet. Ein Mitglied der Bank ist an den Folgen der – Hinrichtung gestorben!

Diese Sterblichkeitsstatistik, deren Ergebnisse von fünf zu fünf Jahren verzeichnet sind, vom fünfzehnten Lebensjahre ab – unter diesem Alter wird kein Leben versichert – bis zum neunzigsten Lebensjahre, bildet die Probe für das Rechenexempel, welches den finanziellen Operationen der Bank zu Grunde liegt, um die gemachten Fehler danach corrigiren zu können. Die Vergleichung der in dem erwähnten Zeiträume wirklich eingetretenen [125] Sterbefälle mit den nach der Sterblichkeitsliste zu erwartenden hat denn auch ergeben, daß 27659/100 Personen weniger gestorben sind und die Bank 525,595 Thaler weniger zu zahlen hatte, als sie nach ihrer Berechnung erwarten durfte.

Doch ich muß darauf verzichten meine Leser mit der ganzen Fülle der Zahlenergebnisse zu unterhalten, welche die Operationen der Gothaer Lebensversicherungsbank zu Tage gefördert, als Bestätigung des merkwürdigen Lehrsatzes der modernen Statistik, daß selbst Erscheinungen, die wir dem freien Entschlusse der menschlichen Willenskraft und der Willkür des Zufalles zuzuschreiben pflegen, einem festen Naturgesetze gehorchen – da diese Betrachtungen uns für den Raum dieser Blätter zu weit führen dürften.

Daß die Leitung eines Institutes, welches im Interesse seiner Theilnehmer mit so empfindlichen Ziffern rechnet, um selbst einen unscheinbaren Decimalbruch auf die Goldwage zu legen, von einer ungewöhnlichen Sachkennerschaft überwacht sein muß, ist natürlich. Und in der That ist die Eintheilung der Arbeit in den Bureaus der Gothaischen Lebensversicherungsanstalt wie der ganze Apparat, den wir um uns sehen, ein Meisterwerk geschäftlicher Verwaltungskunst zu nennen. Diese Tausende von über unser ganzes Vaterland wirr durcheinander sich kreuzenden Lebensfäden der bei der Bank Versicherten, hier ordnen sie sich in eine einzige leitende Hand. Von seinem Arbeitszimmer aus kann der Bankdirector mit einem Blicke die ununterbrochene Thätigkeit dieser sinnreich erfundenen, anscheinend so complicirten Maschine übersehen und dirigiren. Vielleicht läuft gerade, während wir uns in diesem Zimmer befinden, der Bericht eines auswärtigen Bankagenten von dem Tode irgend eines bei der Bank versicherten Schulze oder Müller ein. Sofort wird der Bankdirector mit sicherm Griffe aus einem jener mit Chiffernetiketten versehenen blauen Pappkasten, die uns an eine Weißwaarenhandlung erinnerten, das für jenes Individuum angelegte Personalactenstück unter den andern hier reservirten sechsundzwanzigtausendsechshundert Actenstücken, von denen Hunderte auf Schulze und Müller lauten, herausziehen, um die Ansprüche der betreffenden Policeninhaber an der Bank zu prüfen und danach das Gehörige zu verfügen.

Die Lebensversicherungsbank in Gotha.

In dem Arbeitszimmer des Bankdirectors fällt uns noch ganz besonders ein großes Repositorium auf, welches in riesigen Mappen die Specialkarten des preußischen Generalstabes und der deutschen topographischen Bureaus enthält. Schlagen wir eine solche Mappe auf, so gewahren wir mit Erstaunen, daß eine Menge von Ortschaften mit grellfarbigen Punkten und Strichen, wie zu einem Feldzugsplane, markirt sind. Und in der That dienen diese Karten auch der Lebensversicherungsbank zu ihren strategischen Finanzoperationen. Nehmen wir z. B. an, daß in einem entlegenen Winkel Ostpreußens, etwa in Masuren, ein Gutsbesitzer auf sein Rittergut mit für eine mitteldeutsche Zunge unaussprechlichem polnischen Namen ein Darlehn bei der Gothaer Lebensversicherungsbank beantragte. Gut und Gutsbesitzer sind der Bankverwaltung völlig unbekannt. Es wird darum die betreffende Section der Generalstabskarte, auf welcher das Gut sich finden muß, eingesehen. Der nächste Marktflecken oder das nächste Kreisstädtchen zu diesem Gute ist mit einem rothen Punkte markirt, als Zeichen, daß dort einer von den sechshundert Agenten der Gothaischen Lebensversicherungsbank seinen Sitz hat, während die entferntere Provinzialhauptstadt durch ein anderfarbiges Zeichen als Sitz eines Generalagenten hervorgehoben ist. Der Agent und im Nothfalle der Generalagent wird nunmehr zur genauesten Berichterstattung über die hypothekarischen Verhältnisse, die Bodenbeschaffenheit, die Bewirthschaftung des Gutes und den Leumund des Besitzers aufgefordert. Sind die Agenten persönlich mit den Verhältnissen des Gutes und des Besitzers nicht vertraut, so sind sie angewiesen, darüber mit dazu befähigten, in dortiger Gegend befindlichen und aus geschäftlichem Verkehr ihnen bekannten Banktheilhabern, die schon in ihrem eigenen Interesse das Interesse der Bank wahrnehmen werden, oder auch mit andern sachverständigen [126] und der Verhältnisse kundigen Personen sich in Verbindung zu setzen, zu diesem Zwecke „Agenturausschüsse“ zu bilden. Nach eingetroffener ausführlicher Berichterstattung entscheidet sich dann das Ausleihungscomité der Bank für oder gegen die Bewilligung des nachgesuchten Darlehns. Diese Organisation hat sich so vortrefflich bewährt, daß die Bank von ihrem Entstehen bis heute, an ihren gegen Zins ausgegebenen, auf viele Millionen sich belaufenden Capitalien, auch nicht den Verlust eines einzigen Groschens zu notiren gehabt hat.

Außerdem aber dienen diese Karten dazu, daß die Bankverwaltung die bei ihr Versicherten bei einem Wechsel des Wohnsitzes nicht aus den Augen verliert und in geeigneten Fällen sich von ihren Agenten über dieselben berichten lassen kann. Es muß z. B. der Bankverwaltung daran liegen, aus den fernsten Gegenden, wohin ihre Wirksamkeit sich erstreckt, in Erfahrung zu bringen, ob irgend eine bei ihr versicherte Person einem unmäßig lasterhaften Leben, der Trunksucht u. s. w. sich ergeben, oder einen Leben und Gesundheit gefährdenden Beruf ergriffen hat, oder ob dieselbe zu schwerer Leibes- und Gefängniststrafe verurtheilt worden, da in derartigen Fällen die Versicherung ungültig wird. Es ist diese Controle in einer auf dem Principe der Rechts- und Pflichtgleichheit gebildeten Vergesellschaftung durchaus eine gebotene, und da sie nur die Aufgabe hat die Innehaltung statutengemäßer Bestimmungen zu überwachen, durchaus fern von jeder gehässigen Spionage.

Ueberhaupt hat die Lebensversicherungsbank Grund auch die Nachtseite der Menschennatur mit in ihre Berechnung zu ziehen. Wir haben der segensreichen sittlichen Wirkungen der Lebensversicherungsbank schon oben gedacht. Aber Tod und Geld, für das verzweifelnde Elend und für die Habsucht sind diese beiden Worte, um welche sich die ganze Thätigkeit einer Lebensversicherungsbank dreht, zwei Dämonen, die mit verführerischen Vorspiegelungen nur zu leicht ihre Opfer berücken. Die Geschäftsbücher der Bankbureaus enthalten den Stoff zu einer ganzen Bibliothek erschütternder, aus dem Leben gegriffener Socialromane, und auch der Neue Pitaval könnte seinen schauerlich fesselnden Inhalt aus den Papieren der Bank reichlich vermehren.

Neben dem Calcul des scharfsinnigen Financiers und den gründlichen Beobachtungen des Statistikers ist darum auch noch der durchdringende Blick des Psychologen und Criminalisten erforderlich, um das Institut vor Schaden zu bewahren.

[152]
III.
Der letzte Betrug. – Ein Märtyrer der Lüge. – Der ewige Todescandidat. – Schneider Tomaschek. – Eine Lücke in den Statuten der Gothaischen Lebensversicherungsbank. – Der Selbstmörder im Schießstande. – Die unglücklichen Entenjäger. – Die Gothaer Lebensversicherungsbank als der Großstaat Thüringens. – Sein Departement des Inneren und des Aeußern.

Der Versuch, die Bankverwaltung hinter’s Licht zu führen wird oft schon bei den Meldungen zur Aufnahme gemacht, indem das Individuum, dessen Leben versichert werden soll, einen Gesundheitszustand simulirt, der in strictem Widerspruche gegen die körperlichen Uebel steht, mit denen es behaftet ist und wegen welcher die Bank, nach statutenmäßiger Bestimmung, ihm die Aufnahme versagen mußte. Der Bank gegenüber kehrt sich das Verhältniß um, das bei Recrutenaushebungen stattzufinden pflegt, wo Conscriptionspflichtige durch Simulirung von Krankheiten der ihnen zugedachten Waffenehre zu entgehen suchen. In vielen, vielleicht den meisten Fällen mag eine solche Absicht die Bank zu täuschen aus menschlich verzeihlichen Motiven entspringen. Den mittellosen Familienvater, der den Keim eines nahen Todes in sich fühlt, treibt die quälende Sorge um das Loos der Seinigen, denen er sein Erbe zu hinterlassen hat, zu diesem „letzten Betruge“. Aber nicht selten steckt auch eine rasffinirte Gaunerei dahinter. Schlaue Speculanten z. B. versuchen das Leben einer Person, deren Gesundheitszustand sie als einen höchst bedenklichen kennen oder zu kennen meinen, auf eine hohe Summe zu versichern, indem sie, in der Hoffnung auf die baldige Empfangnahme der Versicherungssumme, die Prämien für die in ihren Besitz übergebende Police zahlen und die in Rede stehende Person für die Rolle, welche sie zu spielen hat, entschädigen.

Um sich gegen derartige Manöver zu schützen, werden Seitens der Bank die eingebenden Versicherungsanträge mit großer Vorsicht behandelt. Die Person, auf deren Leben eine Versicherung abgeschlossen werden soll, muß zunächst eine Reihe articulirter sachgemäßer Fragen in einer ihr vorgelegten Declaration schriftlich beantworten, bei Strafe, daß jede später nachzuweisende wahrheitswidrige Angabe die Richtigkeit der Versicherung zur Folge habe. Zwei glaubwürdige Zeugen müssen diese Declaration unterzeichnen. Dann hat der Arzt des Individuums, welches in die Lebensversicherungsbank aufgenommen werden soll, ein ausführliches, gerichtlich beglaubigtes Attest über dessen Gesundheitszustand auszustellen. In Orten, wo von der Bank ein Agenturarzt bestellt ist, müssen außerdem die zu versichernden Personen sich von diesem untersuchen lassen. Daraus wiederum hat der Bankarzt in Gotha die mit den Versicherungsanträgen eingehenden ärztlichen Atteste zu prüfen und zu begutachten, und schließlich werden alle diese ärztlichen Atteste dem Endurtheil eines ebenfalls bei der Bank angestellten ärztlichen Revisors unterbreitet. Erst dann entscheidet das Bankbureau, als die Verwaltungsbebörde der Anstalt, nach Einsicht sämmtlicher Papiere, ob der gestellte Antrag statutengemäß anzunehmen oder abzulehnen sei.

Man muß gestehen, daß kaum ein sorgfältigeres, gewissenhafteres Verfahren als dieser im Interesse der Bankangehörigen festgestellte Aufnahmemodus denkbar sei. Bei alledem ist die Bank aber nicht ganz vor Täuschungen sicher. Sie ist nicht selten genöthigt, wegen wahrbeitswidriger Declaration, den Inhabern einer durch Todesfall erloschenen Police die Auszahlung der Versicherungssumme zu weigern und es im Wege des Processes auf die richterliche Entscheidung ankommen zu lassen. – Leider hält es die Bank nicht für angemessen, die unbedingte Oeffentlichkeit, welche sie für das weite Bereich ihrer geschäftlichen Thätigkeit adoptirt hat, auch auf die zur Wahrung ihrer eigenen Sicherheit geführten Processe auszudehnen. Eine Sammlung derartiger Rechtsfälle wäre von hohem juridischen wie psychologischen Interesse.

Ich erwähne hier nur eines seiner Zeit viel besprochenen merkwürdigen Falles von einer erschlichenen Lebensversicherung. Die Geschichte ist etwa zehn Jahre her.

Auf dem medicinischen Lehrstuhle einer deutschen Universität war Professor *** einer der gefeiertsten Lehrer, der sich auch wegen seiner Schriften auf dem Gebiete der Pathologie unter seinen auswärtigen Fachgenossen eines bedeutenden Rufes erfreute. Bereits im sogenannten besten Mannesalter hatte der Professor eine zahlreiche Familie zu ernähren, was ihm, da er sonst kein Vermögen besaß, trotz seines Gehaltes als Ordinarius, der nicht unbedeutenden Collegiengelder von seinem immer dichtbesetzten Auditorium und der Honorare für seine schriftstellerischen Arbeiten, nicht leicht wurde. Er war eben eine geniale Natur, welche über die Wissenschaft die Genüsse dieser Welt nicht verachtete. Er lebte gut und ließ gut leben. Die offene, unbeschränke Gastlichkeit, die in seinem Hause herrschte, war nicht nach jenem frugalen Zuschnitte eingerichtet, wie er sonst, nothgedrungen oder grundsätzlich, in den Professorenhäusern des Ortes üblich war. Mit einem Wort, es ging bei „Professors“ so hoch her, daß sich das Budget seines [153] Haushaltes nur mit Noth in der Balance hielt. Dabei aber liebte der Professor auf’s Zärtlichste seine Frau und seine Kinder, die, wie er sich sagen mußte, bei seinem Tode der äußersten Dürftigkeit anheimfallen würden, da er ihnen nichts zu hinterlassen hatte, als die schmale Wittwenpension seiner Gattin. – Und in der That hatte er bald alle Ursache sich, trotz seiner leichten Lebensphilosophie, mit diesem trüben Gedanken viel zu beschäftigen. Denn ein seit einiger Zeit bei ihm eingetretener krankhafter Zustand, der ihn nöthigte, was Aerzte sonst selten thun, dem eigenen Leibe den Scharfsinn seiner vielbewährten Diagnose zuzuwenden, liest ihn die Entdeckung machen, daß er an der Bright’schen Krankheit leide, jenem entsetzlichen organischen Uebel (Entartung der Nieren), das im einigermaßen fortgeschrittenen Zustande, als absolut tödtlich, aller Heilmittel der Arzeneiwissenschaft spottet. Seine Tage waren gezählt, im eigentlichen Sinne des Wortes. Der Professor, der gerade – merkwürdiges Zusammentreffen! – über die Bright’sche Krankheit (morbus Brightii) Collegium las, kannte nach beobachteten Symptomen nur zu gut die Kürze der Lebensfrist, die ihm noch zugemessen war. Wollte er noch etwas für die Zukunft seiner Angehörigen versuchen, so that Eile Noth. Er beschloß sein Leben in der Gothaer Lebensversicherungsbank mit einer so hohen Summe zu versichern, wie sie einigermaßen zur Existenz einer so zahlreichen Familie genügen konnte. Aber wenn er die Annahme seines Antrages an der Bank, deren Statuten ihm wohl bekannt waren, durchsetzen wollte, durfte er kein kranker Mann sein, ja er mußte gesünder als je erscheinen, da er Grund zu vermuthen hatte, daß bei seiner bekannten Sorglosigkeit der plötzliche Einfall, sein Leben und noch dazu auf eine so hohe Summe zu versichern, eine unbequeme Aufmerksamkeit der Bankbevollmächtigten auf seinen Zustand hinlenken könnte.

Niemals daher erschien der Professor den Seinigen wie der Welt draußen so heiter, so voll gesunder Genußfähigkeit wie zu jener Zeit. Niemals war er gegen die Gäste, die er in seinem Hause sah, von einem liebenswürdigeren, übersprudelnderen Humor gewesen. Er besuchte mit seiner Familie die gerade statt findenden Studentenbälle, wo er selbst noch den flotten Tänzer machte, und während die Collegen beim Souper ihre Bläser mit bescheidenem „Rothspohn“ und billigem Mosel füllten, knallten vor dem Professor *** und den Seinigen die Champagnerpfropfen unter dem schallenden Lachen der von den Schnurren und tollen Einfällen des Professors heiter erregten Tischnachbarschaft. Wer hätte diesem Manne das Bewußtsein seines nahen, traurigen Endes angesehen? Jeder Tropfen, den er trank, war ihm Gift: jede körperliche Anstrengung, jede Aufregung, beschleunigte den Zerstörungsproceß, der in seinem Innern vorging, zu Riesenschritten und führte fast unerträgliche Schmerzen herbei. Aber er durfte die lachende Maske nicht ablegen, wollte er zu seinem Ziele gelangen, und er trug sie mit jenem stoischen Heroismus, mit welchem der spartanische Knabe sich von dem gestohlenen Fuchse, den er unter seinem Gewande verborgen hielt, die Eingeweide zerfleischen liest, ohne eine Miene zu verziehen.

Von dem Rufe eines kerngesunden Mannes begleitet, reiste nunmehr der Professor nach Gotha, um durch persönliches Vernehmen mit den dortigen Bankärzten die ganze Procedur rasch abzukürzen. Mit erheuchelter jugendlicher Elasticität, mit vor Lebensübermuth leuchtenden Blicken trat der Professor in das Zimmer des Bankarztes: unter Scherz und Lachen warf er die Kleider ab, behufs der vorzunehmenden körperlichen Untersuchung, die nichts Bedenkliches ergab, da der Professor sonst von normalem Körperbau war und er ohnedies die im Formular ihm vorgelegten Fragen in jeder Beziehung zufriedenstellend schriftlich beantwortet hatte. So gelang denn die Täuschung vollkommen bei dem mit der Untersuchung beauftragten Bankarzte wie bei dem ärztlichen Revisor.

Der Professor hielt sich noch ein paar Tage in Gotha auf, bis die Präliminarien erledigt waren, während der Zeit in anscheinend genußfähigster Gesundheit sich den Freuden der Gastlichkeit hingebend, welche ihm die dortigen Collegen zu Theil werden ließen. – Handelte es sich ja hier um die Angaben, die einer der ersten Pathologen Deutschlands über seinen Gesundheitszustand gemacht hatte! Der Antrag wurde genehmigt und, gegen Einzahlung der ersten Jahresprämie, die Police dem Professor ausgehändigt, der damit sofort nach Hause reiste, um todeskrank sein Lager aufzusuchen, das er nicht mehr verlassen sollte, kurze Zeit darauf starb Professor ***, wie die Section ergab, an der bereits an ihm zu den äußersten Stadien gelangten Bright’schen Krankheit! – Die Lebensversicherungsbank weigerte sich, wegen wahrbeitswidriger Declaration und Täuschung ihrer Aerzte, die von den Erben beanspruchte Versicherungssumme zu zahlen. Es kam zum Processe. Die Sache wurde langwierig und der Ausgang erschien sehr zweifelhafter Natur, da, trotz der allgemein getheilten moralischen Ueberzeugung von einem an der Bank verübten planmäßigen Betruge seitens des Professors der juridische Beweis nur schwer zu führen war. Die Bank zahlte schließlich den Klägern, auf dem Wege des Vergleiches, die Hälfte der Versicherungssumme aus.

Dieses Beispiel eines aus Liebe zu Weib und Kind mit Heroismus durchgeführten Betruges hat seine ernste und rührende Seite, und mancher Leser dürfte eine besondere Genugthuung darüber empfinden, daß dieses Märtyrerthum der Lüge nicht ganz fruchtlos geblieben.

Ich erzähle hier, als heiteres Seitenstück, ein eigenes komisches Erlebniß, das allerdings nicht gerade die Gothaische Lebensversicherungsbank berührt, gleichwohl aber beweist, wie sehr derartige Institute überhaupt Grund haben, alle mögliche Vorsicht bei Lebensversicherungsverträgen anzuwenden, um nicht von raffinirten Gaunern ausgebeutet zu werden. Denn nicht oft dürften, wie in dem hier zu erzählenden Falle, die Betrüger auch die Betrogenen sein.

Im Anfang der vierziger Jahre gab es zu K. in Preußen eine Anzahl von Speculanten, die neben einem einträglichen Wuchergeschäfte noch ein einträglicheres mit Lebensversicherungspolicen betrieben. Theils kauften sie von Versicherten, die sich in drückender Geldnoth befanden und deren vorgerücktes Alter oder hinfälliger Gesundheitszustand einen baldigen Tod indicirten, die Policen um einen wahren Spottpreis an; theils aber und meistens versicherten sie das Leben von Personen, deren mehr als kritischer Gesundheilszustand den Versicherern die schönsten Aussichten auf den Gewinn von mehrern hundert Procenten eröffnete. Diese Leute gingen förmlich auf die Menschenjagd aus, um passende Individuen für Lebensversicherungen zu finden. Wo sie nur einen jungen Mann mit hektisch angerötheten Wangen fanden, oder einen nur äußerlich noch zusammenhäugenden notorischen Roué, der bereits zu viel vom Leben verbraucht hatte, um noch viel davon übrig zu behalten; wo sie nur bei ihren Nebenmenschen so etwas wie Anlagen zur Wassersucht, Apoplexie und dergleichen vielversprechende Krankheiten witterten: warfen sie, wenn die äußeren Verhältnisse dieser Persönlichkeiten ein Eingehen auf ein solches ihnen proponirtes Geschäft versprachen, die Angel nach diesen aus. Sie suchten arme Teufel, deren Tod ihnen, als lachenden Erben, eine reiche Hinterlassenschaft gewähren würde. Willfährige Aerzte, die für ihre Atteste anständig honorirt wurden, gingen ihnen dabei hülfreich zur Hand. Die Versicherungen wurden meist mit auswärtigen Gesellschaften contrahirt, deren Agenten als nicht allzu rigoros bei Aufnahme von Versicherungen bekannt waren.

So gelangten eine Menge von Lebensversicherungspolicen in Umlauf. Es gab in gewissen Geschäftskreisen in K. eine förmliche Börse für diese Papiere, die je nach den sichtbaren oder sonstwie bekannt gewordenen Gesundheitsschwankungen der Individuen, auf die sie ausgestellt waren, ihren Cours hatten. Sie wurden nach dem Jargon der Börse als „flau“, „matt“, „gesucht“, „angenehm“ etc. ausgeboten oder gekauft.

Nun fiel gerate in einer Zeit, in welcher das „Geschäft“ Mangel an geeigneten Persönlichkeiten hatte, der Blick der Hauptmacher auf ein Individuum, das ihren Zwecken auf die erwünschteste Weise zu entsprechen schien. Es war dieses der noch im Amte stehende Magistralssecretair Ch–y, ein kleines, mumienhaft eingetrocknetes Männchen, in bereits ziemlich vorgerücktem Aller, stets hüstelnd, mit gesenktem Haupte und eingefallener Brust einher gehend, das Bild eines im Scharwertdienste der Bureaukratie zu Ende sich neigenden Lebens. Ch–y war Wittwer und hatte nur eine einzige bereits im kanonischen Alter sich befindende Tochter, die ihm die Wirthschaft führte. Trotz dieser so fadenscheinigen körperlichen Beschaffenheit wurden dem Magistralssecretair Ch–y die besten ärztlichen Atteste hinsichtlich seines Gesundheitszustandes ausgestellt, so daß die auswärtigen Banken die Versicherungsanträge auf das Leben dieses Mannes, der natürlich für seine Bereitwilligkeit, sich zu diesem Experiment herzugeben, gut honorirt wurde, nicht beanstandeten.

[154] Die Versicherungssummen, mit welchen der Mann in verschiedenen Gesellschaften „eingekauft“ wurde, waren sehr beträchtlich, es hieß, zum Belang von mehreren tausend Pfund Sterling, und mithin, da Stadtsecretair Ch–y, wie erwähnt, bereits in vorgerücktem Lebensalter stand, die zu zahlende Prämie eine sehr hohe. Die Versicherer, die außerdem aus zuverlässiger Quelle von einem tödtlichen organischen Leiden, an dem der Versicherte litt, erfahren haben wollten, hielten den Mann für so anständig, daß er ihnen nicht zumuthen würde, eine zweite Jahresprämie für sein Leben zu bezahlen. Allein der kleine Mann war so unbescheiden, noch ein zweites Jahr weiter zu leben und noch ein drittes, viertes, fünftes und so fort, immer hüstelnd, immer gebeugten Hauptes und eingefallener Brust, hinfällig erscheinend bis zum Erlöschen und doch immer lebend, zur Verzweiflung der unglücklichen Policeninhaber, die Jahr nach Jahr ihre enormen Prämien zu zahlen hatten. Der Stadtsecretair Ch–y machte durchaus keine Miene zu sterben; seine mumienhafte Trockenheit schien ihn zu conserviren. Endlich, es war etwa Anfangs der fünfziger Jahre, schöpften seine unglücklichen Lebensversicherer, denen durch Späher die leiseste Veränderung in den Lebensfunctionen des Stadtsecretairs zugetragen wurde, wieder Athem. Ch–y fing ein wenig zu kränkeln an.

Ein angesehener Arzt, an den er sich wandte, erklärte sein Leiden für eine Folge der sitzenden Lebensweise und empfahl ihm eine sechswöchentliche Cur in Karlsbad als das einzig wirksame Mittel. Karlsbad – das ist für einen mäßig besoldeten Stadtsecretair leicht verordnet – aber wie durchzuführen? Um den Urlaub war ihm nicht bange, doch woher das Geld nehmen zu einer so kostspieligen Reise nebst sechswöchentlichem Aufenthalt für sich und seine Tochter, deren Pflege er nicht entbehren konnte? Aber, wenn die Noth am größten, ist ein guter Einfall am nächsten. Ch–y ließ sich von dem besagten Arzte den ihm ertheilten Rath zur Badereise als ein förmlich medicinisches Gutachten ausfertigen und schickte dieses an die Directionen der betreffenden englischen Gesellschaften mit einer Eingabe, in welcher er vorstellte, daß er die Mittel zu der ihm so dringend empfohlenen Badecur nicht besäße und er es daher den Direktionen anheimgebe, mit Rücksicht auf den Werth, den seine Gesundheit auch für sie hätte, durch ihre Unterstützung ihm und seiner Tochter, die er zu seiner Pflege nicht entbehren könne, diese Reise zu ermöglichen. Die Herren Directoren fanden diese Argumentation sehr plausibel und bewilligten, nach gemeinsam gesagtem Beschluß, dem Petenten eine recht anständige Summe für seine Cur. Diese that wirklich Wunder. Der kostbare Stadtsecretair kehrte neugestärkt auf seinen Posten zurück und erhielt seitdem alljährlich von seinen Versicherungsgesellschaften dieselbe Summe für sich und seine Tochter zu einer sechswöchentlichen Cur- und Ferienreise.

Die Lebensversicherungspolicen auf den Stadtseeretair Ch–y wurden jetzt zu sehr niedrigen Course ausgeboten. Aber Niemand mochte sie kaufen, weil die Prämien gar zu hoch waren und kein Ende für das Leben dieses Mannes abzusehen war. So mußten denn die dupirten Lebensversicherer die Hoffnung, endlich doch noch einen Theil ihres geopferten Capitals zu retten, mit so hohen Wucherzinsen bezahlen, wie sie selbst, beim besten Willen, niemals solche erhalten hatten, und sich noch obendrein von der schadenfrohen Stadt über diese verunglückte Speculation auslachen lassen. Mein Stadtsecretair hüstelte noch im Jahre 1854, in welchem ich K. verließ, unverändert, wie im Jahre 1841, in welchem er als hoffnungsvoller Todescandidat von der Lebensversicherungsbande berücksichtigt worden war, er trug seinen Kopf noch ebenso gebückt, die Brust noch ebenso eingefallen und verwaltete, Dank den jährlichen Badereisen, sein Amt mit ungeschwächten Kräften. Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er vielleicht heute noch, wie es sonst wohl im Märchen heißt.

Aber nicht blos gegen das Simuliren von Gesundheit hat sich die Lebensversicherungsbank bei Aufnahmeanträgen vorzusehen, sondern auch gegen lügnerisch vorgegebenes Verstorbensein. Ich erinnere die Leser an den eine förmlich europäische, ja, man kann sagen, eine Weltheiterkeit erregenden humoristischen Betrug, den vor einigen Jahren der Schneider Tomascheck in Berlin vollführte. Um die auf sein Leben versicherte beträchtliche Summe noch während seines Lebens zu genießen und des lästigen Prämienzahlens enthoben zu sein, ließ sich bekanntlich der gedachte Schneidermeister, nachdem er angeblich plötzlich erkrankt und verstorben sein wollte, in Gestalt eines Plättbretes und einer gehörigen Menge Rindskaldaunen (die den Leichengeruch hergeben mußten) gehörigst einsargen und, gefolgt von Leichenbittern und weinenden Angehörigen, nach dem Kirchhof führen, wo er unter der rührenden Grabrede eines Geistlichen der Erde übergeben wurde, um hinterher in Kopenhagen seine fröhliche Auferstehung zu feiern und mit der Versicherungssumme, welche seine ihm dahin gefolgten Angehörigen erhalten hatten, ein neues flottes Leben zu beginnen. Der Streich war vollkommen gelungen. Er wurde erst nach geraumer Zeit durch Zufall entdeckt und der geniale Schneidermeister, dessen humoristischer Einfall an Jean Pauls Armenadvocaten Siebenkäs erinnerte, wurde aus dem Jenseits wiederum dem Arme der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, um hienieden abzubüßen, was er hienieden gesündigt.

Aber das sind nur kurzweilige Episoden in den Annalen der Lebensversicherungsbanken. Wie oft bildet die Lebensversicherung den Kernpunkt der blutigen Schauerdramen, die vor den Schranken der Criminaljustiz in Scene gesetzt werden! Der Umstand, daß mit dem Tode eines versicherten Menschen gewissermaßen ein auf dessen Kopf gesetzter Preis ausgezahlt wird, ist für die Habgier, die dringende Geldnoth, die verschwenderische Liederlichkeit der Policeninhaber ein gar verführerischer Antrieb einem Leben ein Ende zu machen, das der Ungeduld der Betheiligten viel zu lauge dauert. Auch in dem in frischem Andenken stehenden Demme-Trümpy’schen Processe spielt eine Lebensversicherungspolice mit. Und doch, wie manch derartiges Verbrechen mag ungesühnt mit dem Todten für immer begraben bleiben! Nicht jeder Ibycus findet seine Kraniche!

Die langwierigsten Rechtshändel jedoch, welche die Gothaer Lebensversicherungsbank zu führen hat, entstehen durch die Bestimmung ihres Statuts, daß die Versicherungssumme verloren geht, wenn die versicherte Person ihren Tod durch Selbstentleibung bewirkt hat.

Diese Bestimmung ist der einzige Punkt in der sonst so trefflichen Verfassung der Gothaer Lebensversicherungsbank, mit welchem wir uns nicht einverstanden zu erklären vermögen. Wir können uns nicht überzeugen, daß die Sicherheit der Bank gebieterisch ein Gesetz fordert, dessen Härte dem humanen Grundgedanken dieser Anstalt widerspricht. Die statistische Tabelle über die Selbstmorde, welche seit dem vierunddreistigjährigen Bestehen der Bank unter deren Versicherten vorgekommen (hundert einundsiebenzig unter achttausend achthundert siebenundzwanzig Todesfällen) giebt der Bankverwaltung die beruhigende Ueberzeugung, daß sie mit der Streichung jenes Paragraphen keine sonderliche Gefahr läuft, vor Allem wenn man erwägt, welche beträchtliche Kosten der Bank aus so manchen verlorengehenden Processen entwachsen, in die sie durch jene Statutsbestimmung verwickelt wird.

Wir wollen zugeben, daß mit der Aufhebung jenes Paragraphen mancher Selbstmord gerade in der Absicht verübt werden könne, durch rasche Abkürzung des eigenen Lebens eine darbende Familie in den Besitz der Versicherungssumme zu setzen; daß Mancher, der mit dem Gedanken des Selbstmordes umgeht, eben aus diesem Grunde vor der Ausführung dieser That sein Leben versichert. Aber daß ein solcher „Betrug“, der mit dem Leben gebüßt wird, nicht viele Nachahmer finden werde, dafür bürgt der Bank die dem Menschen innewohnende Liebe zum Leben um jeden Preis. Zur Noth würde ein Amendement zu jenem Gesetz genügen, daß bei einem Selbstmord, der binnen eines halben Jahres von den, Eintritte der betreffenden Person in die Lebensversicherungsgesellschaft stattfindet, die Bank keine Zahlungspflicht anerkenne. Es scheint aber auch gar nicht, als ob die Bank bei dieser Statutsbestimmung sich von einer derartigen Rücksicht auf einen berechneten Selbstmord habe leiten lassen, da das Statut ausdrücklich erklärt, daß im Falle eines Selbstmordes die Versicherungssumme verloren gehe, gleichviel, ob diese Selbstentleibung im zurechnungsfähigen oder nichtzurechnungsfähigen Zustande begangen worden; nur daß im letztern Falle dem Inhaber der Police außer den rückständigen Dividenden der Betrag der auf dieselbe treffenden Reserve vergütet werde.

Was mithin konnte die Bank zur Ausstellung einer so rigorosen Bestimmung veranlaßt haben?

Wir können nur annehmen, daß eine intolerante religiöse oder ethische Gewohnheitsanschauung, die sich das unbarmherzige Richteramt auch über Handlungen anmaßt, für welche der Mensch [155] nur seinem Gotte und seinem Gewissen Rechenschaft schuldet, sich unvermerkt in die Bankverfassung eingeschlichen hat. Die Bank spricht in ihrem Gesetze ihr Verdammungsurtheil über den Selbstmord aus. Und doch straft sie nicht den Unglücklichen, den Verzweiflung oder ein krankhaft umdüsterter Geist getrieben, in einer schmerzhaften That das Theuerste zu opfern, an das sich Millionen Menschen krampfhaft bis zum letzten Augenblicke klammern; sie straft seine Wittwe, seine Waisen, denen sie die Mittel der Existenz entzieht, die ihnen die Versicherungssumme gewähren würde. Ich glaube, die Gothaer Lebensversicherungsbank thäte wohl, diese dem großartigen Charakter ihrer Wirksamkeit und dem humanen Sinne ihrer Richtung widersprechende kleinliche Bestimmung aus ihrer Verfassung zu streichen.

Aber immerhin ist es vom höchsten Interesse aus jenen Tabellen zu ersehen, mit welchem scharfen psychologischen Blicke die Gothaer Bankverwaltung den Motiven der in ihrem Bereiche vor gekommenen Selbstmorde nachgeforscht bat. Unter den einhundert zweiundsiebenzig erwähnten Fällen stellten Schwermuth und Geistesverwirrung das größte Contingent, nämlich fünfundfünfzig; dann kommen zerrüttete Vermögensverhältnisse und Nahrungssorgen mit achtunddreißig Fällen; Cassenbeamte, die sich wegen Cassendefecte entleibten, waren siebenundzwanzig; kurz wir finden hier eine ganze Reihe von zum Selbstmord treibenden beiden und Leidenschaften. Beleidigter Ehrgeiz, selbst verschmähte Liebe und Eifersucht haben ihr Opfer geliefert.

Charakteristisch besonders ist die Wahrnehmung, mit welcher kaltblütigreinen Berechnung, namentlich in der sogenannten höheren Sphäre der Gesellschaft, der Selbstmörder oft bemüht ist seine That mit dem Mantel eines anständigen Zufalls zu bedecken, nicht blos um die Lebensversicherungssumme seiner Familie zu erhalten, sondern auch um vor der guten Gesellschaft mit Anstand von der Lebensbühne abzutreten.

Ich theile hier einen interessanten Fall mit, der vor einigen Jahren Aufsehen erregte.

Der *sche Hofmarschall, Graf **, Sproß einer der ältesten deutschen Adelsfamilien, hatte sein Leben zu Gunsten seiner Gattin mit einer beträchtlichen Summe in Gotha versichert. Er war ein Hofmann von feinster Tournüre, liebenswürdig und witzig im Umgang, aber auch hinsichtlich seiner Finanzen von cavaliermäßiger Sorglosigkeit. Der Fürst hatte zu verschiedenen Malen die Schulden des Hofmarschalls bezahlt. Allein das wollte wenig verschlagen. Das Spiel, dem der Graf besonders leidenschaftlich ergeben war, ließ ihn aus den immer auf’s Neue contrahirten Ehrenschulden gar nicht herauskommen. Er gerieth immer tiefer in ein Wirrniß finanzieller Verbindlichkeiten, der Wechselarrest war unvermeidlich. Der Graf kannte keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe als den Tod. Eines Tages fand er sich, wie gewöhnlich ein paar Mal wöchentlich, in den Nachmittagsstunden auf dem Schützenhause der Residenzstadt *** ein, wo er an den geselligen Schießübungen mit großer Vorliebe Theil zu nehmen pflegte. Es ging munter her, einer der Muntersten war der Hofmarschall. Es wurde gelacht und getrunken, während die Büchsen lustig aus den Schießständen knallten. Die Nummer des Hofmarschalls wird aufgerufen. Einer witzigen Anekdotenpointe, die er den Anwesenden zum Besten gegeben, noch nachlachend und sein Glas mit einem Zuge leerend, ergreift der Hofmarschall seine mit einer Spitzkugel geladene Büchse und verfügt sich nach dem Schießstande. Eine Minute. Der Schuft fällt, aber der Weiser markirt an der Scheibe keine getroffene stelle, obwohl der Hofmarschall selten Schwarz zu sehen pflegte. Niemand hat überhaupt die Kugel irgendwo drüben einschlagen gesehen. Da der Hofmarschall etwas lange im Schießstande bleibt, begiebt sich die nächste Nummer dahin. Ein Schreckensruf läßt sich vernehmen, die ganze Gesellschaft drängt sich herbei. Der Hofmarschall liegt auf dem Boden mit zerschmetterter Hirnschale. Die Lage der Leiche und der neben ihr liegenden Büchse zeigen, daß hier schwerlich eine unvorsichtige Handhabung der Schießwaffe den Tod herbeigeführt. Zum Ueberfluß interpretiren die stadtkundigen Geldverlegenheiten des Hofmarschalls, besonders die fälligen Wechsel, die ihm schon am nächsten Tage präsentirt werden sollten, den raschen Todesfall. Aber spricht nicht wiederum die heitere Unbefangenheit, mit welcher der Hofmarschall eben noch geplaudert und getrunken, gegen die Annahme eines Selbstmordes? Hat ein Mensch in der Minute, in welcher er durch eigene Hand sich in das Land befördert, „aus deß Bezirk kein Wandrer wiederkehrt“, einen frivolen Scherz auf den Lippen? – Die Gothaer Lebensversicherungsbank weigerte, auf Grund ihres Statutes, die Auszahlung der Versicherungssumme; sie konnte aber den juridischen Beweis eines verübten Selbstmordes nicht führen und mußte schließlich zahlen.

Ein anderer Selbstmordfall, der vor einigen Jahren die Gothaer Versicherungsbank in einen Proceß verwickelte, ist von erschütternder Tragik. Zwei von Jugend auf einander innig befreundete Männer fuhren auf dem Damm’schen See, bei Stettin, in einem von einem Schiffer geruderten Boote auf die Entenjagd. Mitten auf dem See hatte der eine das entsetzliche Unglück, durch eine unvorsichtige Handhabung seiner Doppelflinte dem Freunde eine Kugel durch das Auge zu jagen, so daß dieser auf der Stelle leblos zusammensank. In demselben Momente fast – nur einen einzigen Blick, in welchem eine Welt herzzerreißender Verzweiflung lag, warf der unglückliche Mann auf den entseelten Freund – entlud sich der zweite Schuß – und im Boote lagen zwei Leichen. Der Schiffer, welcher Zeuge der erschütternden Scene war, vermochte nicht anzugeben, ob auch dieser zweite Schuft durch eine unvorsichtige Bewegung sich entladen hatte, oder ob er in der Absicht einer Selbstentleibung abgeschossen worden. So rasch war Alles gegangen. Die Gothaer Bank, in welcher das Leben des letztern versichert war, nahm mit der ganzen öffentlichen Meinung einen Selbstmord an. Die Sache wurde schließlich durch einen Vergleich mit den Erben erledigt.

Da grundsätzlich die Verwaltung der Gothaer Lebensversicherungsbank in allen Selbstmordprocessen, sogar bei der festesten Ueberzeugung von dem Rechte der von ihr verfochtenen Sache, jeden vom Richter ihr zuerkannten sogenannten „Glaubenseid“, als unter der Würde des von ihr vertretenen Institutes, zu leisten ablehnt, so können derartige Processe selten zu Gunsten der Bank ausfallen. Schon aus diesem Umstande geht hervor, wie wenig das Budget der Gothaer Lebensversicherungsbank durch Aufhebung des Selbstmord Paragraphen beeinträchtigt werden würde. Indeß so lange jenes Gesetz nicht verfassungsmäßig aus dem Statut der Gothaer Lebensversicherungsbank ausgemerzt ist, muß man es vollkommen gerechtfertigt finden, daß die Bankverwaltung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln für die Aufrechthaltung dieser Bestimmung wie für die jeder andern eintritt. Denn in der unverbrüchlichen Treue, mit welcher die Bankverwaltung an ihrer Verfassung hält; in dem immer offenen Auge, mit dem sie den feinberechneten, kunstreichen Organismus vor jeder Unregelmäßigkeit überwacht; in der festen Hand, mit welcher sie die großartige, nimmer rastende Arbeit des Instituts leitet, liegen die Garantieen ihrer großen nationalen Bedeutung und einer glorreichen Zukunft, deren Dimensionen sich schwer ermessen lassen.

In der That erscheint uns das stattliche Gebäude der Lebensversicherungsbank zu Gotha, dessen Bureaus wir eben durchwandert haben, als der Regierungssitz, das Capitol eines modernen Gesellschaftsstaates, dessen Angehörige sich freiwillig selbst besteuern, um der Wohlthat theilhaftig zu werden, für welche die vereinte Kraft des Gemeindewesens Allen und Jedem haftet. Ein Staat allerdings ohne Territorialbesitz, da seine Bürger über aller Herren Länder unseres deutschen Vaterlandes zerstreut sind, aber hinsichtlich seiner Statistik ein ganz respektabler. Seine circa siebenundzwanzigtausend besteuerten, d. h. versicherten, und dem Gesetz der Bank unterworfenen Bürger, repräsentiren mit ihren Familien und den andern an der Versicherung betheiligten Personen mindestens die achtfache Kopfzahl. Dazu kommen noch die vielen Tausende, deren Grund und Boden für die dargeliehenen Capitalien der Gothaer Lebensversicherungsbank verpfändet ist und die derselben in dem zu zahlenden Zins gewissermaßen als Tributpflichtige angehören. So dürfte man in gewisser Beziehung den Gothaer Lebensversicherungsstaat als den größten sämmtlicher thüringischen Staaten bezeichnen. Seines glänzenden Jahresbudgets, in welchem die Einnahme mehr als das Zweifache der Ausgabe beträgt, haben wir bereits Erwähnung gethan. Sein Staatsschatz (Bankfonds) von weit über zwölf und eine halbe Millionen dürfte den Neid sämmtlicher Groß- und Kleinstaaten Europas erregen, in deren Haushalt das Deficit und die Staatsschuld chronische Uebel geworden sind. – Die Verfassung (das Statut) dieses auf Gegenseitigkeit seiner Mitglieder begründeten Staates ist eine republicanisch-demokratische. Die Regierung geht hervor aus der freien Wahl der männlichen Interessenten der thüringischen Wahlbezirke, für [156] welche Erfurt, Gotha und Weimar die Wahlbezirke bilden, da bei der Zerstreuung der Bankangehörigen über das weite deutsche Gebiet, die nicht bundesdeutschen Provinzen Preußens und die deutsche Schweiz eingerechnet, eine allgemeinere Wahlabstimmung unmöglich wird. Das Interesse Aller steht unter der sicheren Controle der unbedingtesten Oeffentlichkeit.

An der Spitze der Regierung steht ein Präsident (Vorstandsdirigent), der alljährlich von den drei Vorstehern der drei Wahlbezirks-Ausschüsse gewählt wird. Es liegt ihm die formelle Leitung der Geschäfte ob, bei Entscheidungen hat er keine Stimme. Die Beschlüsse des Vorstandes müssen in allen Fällen aus den Entscheidungen der Ausschüsse hervorgehen, als deren Stellvertreter sie fungiren. Ein Vorstandscommissär überwacht die ganze Thätigkeit der Bank und hat sämmtliche Actenstücke und Urkunden derselben gegenzuzeichnen. – Es dürfte manchem Leser nicht uninteressant sein zu erfahren, daß dieses Amt zu wiederholten Malen von Männern verwaltet worden, deren Bekanntschaft er schon als Tertianer auf der Schulbank gemacht hat, wie z. B. in den vierziger und fünfziger Jahren von dem Grammatiker und Lexikographen Rost, Oberschulrath und Director des Gymnasiums zu Gotha. – Die Bureaubeamten werden auf die Bank Verfassung und ihre Instruction vor dem herzoglichen Stadtgericht in Gotha vereidigt. – Der Bankdirector, welcher an der Spitze der Bankverwaltungsbehörde steht, seit längerer Zeit der Finanzrath Hopf, dessen ausgezeichneten Rufes als Finanzmann und Statistiker bereits Erwähnung geschehen ist, hat eine Caution von fünftausend Thalern, der Cassirer eine solche von zehntausend Thalern bei der Gothaischen Landesregierung zu deponiren.

Der Bankverwaltung steht ein Justiz- und Medicinal-Collegium zur Seite; eine Revisionscommission, welcher der ebenfalls als Statistiker bewährte Regierungsrath Heß angehört, bildet gewissermaßen die Rechenkammer. Das Rechnungswesen und das Versicherungswesen in ärztlicher Beziehung wird wiederum von zwei Specialrevisoren in allen Details geprüft und controlirt. Diese wohlgegliederte und in allen Bewegungen ineinander eingreifende Bureauverwaltung ist aber weit davon entfernt eine in Dienstformen erstarrte Bureaukratie zu sein, die sich zuletzt im Staate Selbstzweck wird. In jeder Function der Bankbeamten spricht sich der Gedanke des socialen Gemeinwesens aus, dem sie dienen, und das Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit gegen die Gesellschaft.

Um vom Departement des Auswärtigen zu sprechen, so dürfte schwerlich ein europäischer Staat ein so großes diplomatisches Corps von Geschäftsträgern und Consuln haben, wie der Gothaische Lebensversicherungsstaat in seinen sechshundert Generalagenten und Unteragenten, die ihn vom Niemen und der baltischen Küste bis an das adriatische Meer, von den Vogesen bis an die Karpathen dem Publicum und den auswärtigen Landesbehörden gegenüber vertreten.

So scharfsinnig organisirt, so von umsichtigen Händen geleitet, hat die Gothaer Lebensversicherungsbank von ihrem Entstehen bis beute ihre Aufgabe zum Heile von Tausenden glücklich gelöst, unbeirrt durch die politischen Stürme, welche in neuerer Zeit die Staaten Europas erschüttert haben; sie wird auch den Krisen gewachsen sein, denen unser Welttheil noch entgegengeht.

Auch die Concurrenz, die das glückliche Beispiel der Gothaer Lebensversicherungsbank, zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes geweckt hat, giebt dem Werke des deutschen Bürgers Arnoldi die Ehre!



  1. Ich habe diese Notiz aus dem Munde eines angesehenen und glaubwürdigen Bürgers von Gotha, der sich noch lebhaft jener Zeit zu erinnern weiß.
    D. B.