Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Der Spion von Kimberley
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aus: Die Südmark. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Haus und Familie. Sonntagsbeilage der „Deutschen Wacht“ in Cilli, Jahrgang 1914, Ausgabe 17–20)
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Vereinsbuchdruckerei „Celeja“ in Cilli
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Erscheinungsort: Cilli (Celje)
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Eine Spionageerzählung zur Zeit des zweiten Burenkrieges in Südafrika.
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[Nr.17, S.1]
(Nachdruck verboten.)
Der Spion von Kimberley.
Erzählung von Walther Kabel.

Im Sommer des Jahres 1899 wurde in der verkehrsreichen Oxford-Street Londons ein neues, mit allem modernen Luxus ausgestattetes Juweliergeschäft eröffnet, dessen reichhaltige Schaufensterauslagen mit den auf dunkelrotem Sammet geschmackvoll gruppierten Perlenschnüren, Brillantringen, Armbändern, Diamantbroschen und in allen Farben schillernden Haarpfeilen und Ohrboutons ein Vermögen von Hunderttausenden repräsentieren mußten. Dafür verschwanden zu derselben Zeit aus der bedeutend weniger vornehmen Berkeley-Street zwei bisherige Konkurrenzfirmen und die Namen ihrer früheren Inhaber fanden sich merkwürdigerweise auf dem großen Glasschild des in der Oxford-Street neugegründeten Ladens als „Siders u. Karst, Juweliere“ in friedlicher Vereinigung wieder.

Den zwischen den beiden Familien seit Jahren bestehenden Geschäftsneid mit seinen unangenehmen Folgeerscheinungen plötzlich in die engsten Beziehungen umgewandelt zu haben, war das unbestrittene Verdienst von Siders einziger Tochter Helena, die sich zunächst mit ihren strahlenden Augen und schelmischen Grübchen in das Herz John Karsts und bald auch in das seiner Eltern so fest eingeschlichen hatte, daß eines schönen Tages das Kriegsbeil zwischen den beiden Familien auf immer begraben und Helena Johns überglückliches Bräutchen wurde, – ein Ereignis, das auch in die verdüsterten Herzen der beiden alten Siders wieder einige Lichtstrahlen warf und den stillen, aber desto tieferen Gram um den Verlust ihres ältesten Kindes etwas milderte.

Es waren damals vor fünf Jahren traurige Zeiten für die in behaglichem Wohlstande und herzlicher Eintracht lebende Familie gekommen, als plötzlich die Verfehlungen Harry Siders bekannt wurden, der sich, verführt durch die Lockungen der Millionenstadt, einem ausschweifenden Leben hingegeben und die hiezu notwendigen, für ihn auf redliche Weise unerschwinglichen Geldmittel der Kasse seines Prinzipals entnommen hatte, bei dem der kaum Dreiundzwanzigjährige eine Vertrauensstellung als zweiter Kassier bekleidete. Und dieser Schlag traf die armen Eltern um so schwerer, als sie gehofft hatten, dem Sohne dieselben streng rechtlichen Ansichten anerzogen zu haben, nach denen ihr eigenes Leben und Streben in jeder Beziehung eingerichtet war. Harry Siders verschwand damals urplötzlich aus London und nie wieder war ein Lebenszeichen von ihm in die Berkeley-Street gelangt.

All die Liebe, die der schwergeprüfte Vater für den jetzt Verschollenen empfunden hatte, übertrug er auf John Karst, dem er das Glück seiner Tochter anvertraute. Und so sehr glaubte er auch an die Geschäftstüchtigkeit seines neuen Schwiegersohnes, daß er sich mit dessen Plan, die Firmen zu vereinigen und die Londoner durch die Eröffnung eines selbst den verwöhntesten Ansprüchen genügenden Geschäftes zu überraschen, vollständig einverstanden erklärte, ebenso auch mit der Absicht, daß „Siders u. Karst“ sich ausschließlich dem Handel mit Edelsteinen und wertvollen Perlen widmen und einen vornehmen und jeder Mode Rechnung tragenden Geschmack in der Goldschmiedekunst nur durch die Herstellung eigenartiger, künstlerischer Fassung für ihre Waren beweisen sollten. Und schon die Einnahmen in den ersten Monaten des Bestehens der neuen Firma zeigten, wie richtig die Spekulation des jungen Karst gewesen war.

Um nun ihren Bedarf an kostbaren Steinen möglichst billig einzukaufen und nicht die teuren Händlerpreise auf den Weltmärkten in Amsterdam und Brüssel zahlen zu müssen, beschloß man, einen langjährigen, erprobten Angestellten von Karst, namens Edward Brice, nach Südafrika zu senden, wo gerade infolge des drohenden Burenkrieges die Preise für Diamanten plötzlich bedeutend gefallen waren und sich besonders in den Minen von Kimberley die günstigste Gelegenheit zu vorteilhaftem Einkauf [Nr.17, S.2] bot. Mitte September 1899 verließ Edward Brice denn auch London, wohlversehen mit Anweisungen auf die englische Bank in Kapstadt. Und nach seiner Rückkehr sollte auf Wunsch der beiden Elternpaare die Hochzeit ihrer Kinder gefeiert werden.

Doch die Ereignisse in Südafrika spitzten sich schneller zu einer Katastrophe zu, als man im Anfang des Herbstes erwarten konnte. Das Ultimatum der Burenrepubliken an England, in dem die sofortige Einstellung aller Rüstungen verlangt wurde, fand eine schroffe Ablehnung und die Folge war, daß die Verbündeten schon am 12. Oktober in Natal und Griqualand einmarschierten und nach den ersten Gefechten die Städte Kimberley, Mafeking und Ladysmith einschlossen.

Die an der Londoner Börse jetzt ausbrechende Panik teilte sich auch dem Hause Siders u. Karst mit, da nur zu sehr zu befürchten stand, daß Edward Brice, der sich bei Ausbruch der Feindseligkeiten gerade auf dem Kriegsschauplatz befand, etwas zustieß und die ihm mitgegebenen 30.000 Pfund Sterling (1 Pfund Sterling = 20 Mark) durch einen unglücklichen Zufall verloren gingen. Damit wäre dann auch der Ruin der Firma besiegelt gewesen, die sich durch die kostspielige Einrichtung des neuen Geschäfts und den für die so günstig erscheinende Einkaufsgelegenheit flüssig gemachten Betrag von allen Barmitteln entblößt hatte.

Schlimme Tage kamen für John Karst, Tage voll aufreibender Unruhe und bitterer Vorwürfe, da sein Schwiegervater ja nur auf seinen Vorschlag hin Teilhaber an den großangelegten Spekulationen geworden war und jetzt vielleicht durch ihn seine gesamten Ersparnisse verlor. Vergebens suchte Helena ihren Verlobten zu trösten, vergebens verschwendete sie ihre ermutigenden Worte und ihre innige Zärtlichkeit. Als dann endlich Mitte November eine Nachricht von Edward Brice eintraf, da übersetzte er atemlos den in Chiffern abgefaßten Brief und sank dann wie vernichtet in dem Schreibtischsessel zusammen, nachdem er die Übertragung zusammenhängend überflogen hatte.

Kimberley, den 19. 10. 1899.
An Siders u. Karst, Juweliere,
London,     
Oxford-Street 55.

Ob dieser Brief noch in Ihre Hände gelangen wird, ist bei den hier herrschenden Zuständen mehr wie zweifelhaft. Mein erstes Schreiben aus Kapstadt, das ich vor zwei Wochen an Sie absandte, sagte Ihnen, daß ich nach glücklicher Ankunft und Behebung unseres Guthabens von der Bank mich unverzüglich nach Kimberley aufmachen und, da die Verhältnisse sich hier immer drohender gestalteten, noch vor Beginn des ganz unvermeidlichen Feldzuges meine Geschäfte in aller Eile erledigen wollte. Ich konnte auch trotz der durch die Militärtransporte oft gestörten Bahnverbindung Kimberley zeitig genug erreichen, hatte in drei Tagen die Unterhandlungen mit dem Vorstande der Minengesellschaft abgeschlossen und zu äußerst niedrigen Preissätzen Steine im Werte von 28.000 Pfund Sterling eingehandelt, als mich die Nachricht von dem Einrücken der Buren in die Kapkolonie überraschte und zur schleunigen Abreise zwang. Doch die Bahnlinie über Colesberg nach Kapstadt war von den Verbündeten bereits gesperrt und ebenso erwies es sich als unmöglich, nach Westen zu an die Küste zu gelangen, so daß ich wieder nach Kimberley zurück mußte und von hier wahrscheinlich vorläufig auch kaum fortkommen werde, weil die Umzingelung der Stadt bereits vollendet ist und eine Belagerung droht, über deren Dauer und Ausgang sich heute noch nichts Bestimmtes sagen läßt.

Leider dürfte es in der schlecht verproviantierten Stadt bei der Menge der hier eingeschlossenen Menschen bald zu noch gefährlicheren Ausschreitungen kommen, als sie jetzt schon an der Tagesordnung sind, besonders, da die meisten der farbigen Minenarbeiter sich ebenfalls hierher geflüchtet haben und unserer kleinen Besatzung durch ihre Zügellosigkeit schon jetzt genug Schwierigkeiten machen. So mehren sich zum Beispiel die Einbrüche in die Nahrungsmittelläden von Tag zu Tag und Raubanfälle werden derartig häufig mit der größten Frechheit ausgeführt, daß hier niemand mehr ohne einen guten Revolver in der Tasche sich auf die Straße wagt. Auch in dem kleinen Hotel in der Viktoriastraße, dessen sämtliche Zimmer mit mehreren Personen belegt sind, ist man seines Lebens nicht sicher. Gestern nacht wurde in einem Zimmer des ersten Stockes ein reicher Amerikaner ermordet und seiner gesamten Barschaft beraubt. Anderen Gästen hat man aus ihren Koffern Brieftaschen und Kostbarkeiten entwendet. Von den Tätern ist natürlich keine Spur zu entdecken. Ich selbst und van Straaten, der Vertreter der Brüsseler Diamantenhandlung Lorraine, mit dem ich zusammenwohne, leben in beständiger Angst, daß nächstens die Reihe an uns kommt. Und unsere Furcht ist um so begründeter, als man hier genau weiß, zu welchem Zwecke wir in Kimberley weilen, und daher bei uns sicherlich ebenfalls beträchtliche Summen oder doch größere Mengen von Edelsteinen vermuten wird, zumal niemand in diesen unsicheren Zeiten der Stahlkammer der hiesigen Britannia-Bank Wertsachen [Nr.17, S.3] anvertrauen mag. Und trotzdem wir unseren Einkauf Tag und Nacht bei uns tragen und nie einzeln ausgehen, weiß ich nicht, ob das Schicksal uns nicht doch ereilen wird. Die zweifelhaften Existenzen haben hier eben vollständig die Oberhand gewonnen, die Behörden stehen der zunehmenden Unsicherheit völlig kopflos gegenüber und selbst die von dem Generalkommando für die geringsten Vergehen angedrohte Todesstrafe kann die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. Ich schildere Ihnen absichtlich die Verhältnisse so genau, damit Sie nicht, falls ich plötzlich verschwinden sollte, annehmen, Ihr Beauftragter habe die gute Gelegenheit benutzt und sich mit dem ihm anvertrauten Gut aus dem Staube gemacht. Ich werde außerdem, um die völlige Wahrheit meiner Angaben bestätigen zu lassen, van Straaten bitten, diesen Brief mit seiner Unterschrift zu versehen, den ich einem gewandten, ortskundigen Chinesen übergebe, damit er ihn durch die Burenlinien hindurchbringt und auf der nächsten Bahnstation nach Kapstadt weiter befördert. Daß ich alles tun werde, um das in mich gesetzte Vertrauen auch weiterhin zu rechtfertigen, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Sollte es mir möglich sein, so will ich Ihnen bald wieder Nachricht zukommen lassen.

Heinrich van Straaten.          Edward Brice.“

Als Helene Siders fünf Minuten später das Kontor betrat, um ihren Verlobten zu einem Spaziergang abzuholen, saß dieser noch ganz verstört in dem Sessel und in der schlaff herabhängenden Rechten hielt er krampfhaft zusammengeknüllt das Blatt Papier mit der verhängnisvollen Übersetzung des Briefes. Und auf ihre bestürzten Fragen reichte er ihr nur stumm den zerknitterten Bogen hin.

„Das ist das Ende, Helene!“ stöhnte er auf, als sie jetzt das Blatt Papier wieder sinken ließ und ihn mit ihren schönen Augen so bang forschend anblickte. „Wir haben zum 1. März größere Zahlungen zu leisten und konnten hoffen, diese Summen bis dahin ohne Schwierigkeiten durch den Weiterverkauf der in Kimberley erworbenen Edelsteine zusammenzubringen. Diese Hoffnung müssen wir endgiltig aufgeben. Und bei der jetzigen Geschäftspanik und der Unsicherheit auf dem Geldmarkte erscheint es auch ganz aussichtslos, daß wir uns irgendwie einen neuen Kredit eröffnen, besonders da man überall nur zu gut weiß, wie sehr wir uns durch die Errichtung der neuen gemeinsamen Firma bis zur äußersten Grenze unserer Zahlungsfähigkeit engagiert haben. Und ebensowenig werden uns unsere Gläubiger aus denselben Gründen Stundung gewähren! Was dann folgt, ist – der Zusammenbruch!“

Helene Siders hatte sich auf die Armlehne des Sesels gesetzt und schlang nun den Arm um den Hals ihres Verlobten.

„Siehst Du nicht wirklich zu schwarz, John?“ meinte sie liebevoll. „Brice teilt uns doch nur seine Befürchtungen mit. Und Kimberley kann in nächster Zeit entsetzt werden und dann …“

„Von einer Befreiung der Stadt ist vorläufig leider keine Rede!“ unterbrach er sie fast ungeduldig. „Hier, – lies dieses Extrablatt, das ich mir vor kaum einer Stunde gekauft habe! All die Unglücksnachrichten der letzten Tage findest Du darin bestätigt. Wir haben Niederlage auf Niederlage erlitten, in Kimberley selbst rebellieren die farbigen Minenarbeiter, die man aus der Stadt nicht herauslassen will, da man fürchtet, daß sie zu den Buren übergehen werden. Hier diese Einzelheiten, die durch eine Ballondepesche nach Kapstadt gelangt sind, zeigen deutlich, daß die Unsicherheit in Kimberley von Tag zu Tag zunimmt und der Brief unseres Agenten Brice die Zustände dort fast noch harmlos schildert.“

Auch Helenes frisches Gesichtchen hatte sich jetzt verfärbt. Aber trotzdem ihr Tränen in die Augen traten, sagte sie fast gefaßt, indem sie sich dichter an seine Seite schmiegte:

„Noch ist nichts verloren, nichts! Wir werden schon irgendwie Rat schaffen, glaube mir! Und nun laß uns zunächst mit Papa die Angelegenheit durchsprechen! Er ist mit mir zusammen hierhergekommen und wollte nur erst einmal in der Diamantschleiferei nach dem Rechten sehen.“ –

Es war kein leichter Gang, den John jetzt antrat. Galt es doch, seinen Schwiegervater nichts anderes als den drohenden Zusammensturz all der großfließenden Pläne und Hoffnungen mitzuteilen, mit denen vor kaum einem halben Jahre die Firma Siders u. Karst ins Leben gerufen worden war.

Die beiden hatten das Privatkontor kaum verlassen, um die in dem Hofgebäude untergebrachte Werkstatt aufzusuchen, als durch die zweite Tür von dem Verkaufsraume her ein kleiner, korpulenter Mann eintrat. Da er das Zimmer leer fand, wollte er schon wieder umkehren, bemerkte dann aber die beiden Schriftstücke, die John vorhin auf seinem Schreibtische hatte liegen lassen, schlich behutsam näher und überlas eilig die Übersetzung des Briefes, wobei mehrmals ein triumphierendes Lächeln über sein schwammiges Gesicht flog, dem ein Paar stets halb zugekniffene Augen den Ausdruck listiger Schlauheit gaben. Nochmals durchflog er dann die Zeilen, schien sich besonders mehrere Worte genau [Nr.17, S.4] einzuprägen und verließ darauf ungesehen das Kontor, um sich wieder an seine Arbeit zu begeben.

William Herlett bekleidete bei Siders u. Karst die Stellung eines Hausdieners, hatte diesen Posten aber noch nicht lange inne. Trotzdem war es ihm schon in der kurzen Zeit gelungen, sich durch seine stets gleich bleibende Freundlichkeit und seinen verständigen Diensteifer das Vertrauen seiner Chefs zu erringen, die sich aufrichtig freuten, daß die erstklassigen Zeugnisse Herletts eher zu wenig als zu viel versprochen hatten.

Desto unangenehmer wurde John überrascht, als der Hausdiener am Abend desselben Tages das Dienstverhältnis kündigte und bat, sofort entlassen zu werden, da er gezwungen sei, auf die Nachricht von dem plötzlichen Tode seines Vaters den kleinen Viktualienladen in einer der ärmeren Vorstädte Londons jetzt selbst zu übernehmen. Nachdem ihm sein Lohn ausgezahlt war, entfernte er sich mit den Ausdrücken schmerzlichsten Bedauerns, daß die Verhältnisse ihn zwängen, die ihm lieb gewordene Stellung schon wieder aufzugeben, und der arglose John versicherte ihm ebenso, wie ungern er ihn gehen lasse. –

Vor dem in einem der kleinen Häuschen der Hafenstraße in Kapstadt eingerichteten Werbebureau ging an einem Vormittag Ende Dezember desselben Jahres ein ärmlich gekleideter, schlanker Mann unschlüssig auf und ab, warf öfters einen prüfenden Blick auf das in grellen Farben ausgeführte Plakat, das in dem großen Fenster hing und den Eintritt in die englische Armee in der verlockendsten Weise anpries, musterte auch neugierig die recht fragwürdigen, halb angetrunkenen Gestalten, die zumeist in Begleitung eines Werbeunteroffiziers das Bureau betraten, um sich dort gegen einen täglichen Kriegssold von zwei Schilling acht Pence zu einer zwölfjährigen Dienstzeit im stehenden Heere zu verpflichten.

Noch immer wanderte der junge Mensch die Hafenstraße auf und ab und schien sich zu einem Entschlusse nicht durchringen zu können. Dabei war es ihm vollständig entgangen, daß er schon eine ganze Weile von einem kleinen, korpulenten Manne heimlich beobachtet wurde, der in der Türe einer einfachen Schifferkneipe lehnte, von wo aus er die in das Werbebureau Eintretenden unauffällig mustern konnte.

Jetzt verschwand der andere plötzlich, als ob er seine letzten Bedenken endlich überwunden hätte, schnellen Schrittes in dem zu ebener Erde gelegenen Lokale und mit einem zufriedenen Lächeln schaute ihm der Dicke nach, holte dann eine Schachtel Zündhölzer hervor und setzte seine ausgegangene Zigarre behaglich wieder in Brand.

In dem Warteraum, den der schlanke Mann soeben betreten hatte, saßen hinter einem großen, mit Papieren bedeckten Tisch zwei Offiziere, die gerade den letzten der Leute ausfragten und ihn dann an den jungen Militärarzt verwiesen, der die neu Angeworbenen in dem zweiten Zimmer einer flüchtigen Untersuchung unterzog, worauf sie durch einige Unteroffiziere sofort in die Kasernen abgeliefert wurden, damit sie nicht etwa noch im letzten Augenblick anderen Sinnes wurden und einfach desertierten. Nach einigen Minuten schob der graubärtige Hauptmann auch dem zuletzt Erschienenen das Formular hin und dieser setzte mit festen Zügen seinen Namen „Harry Landor“ darunter. Mit einem tiefen Seufzer legte er die Feder wieder hin, steckte ganz mechanisch das Handgeld in die Tasche seines vielfach geflickten Beinkleides, blieb dann aber zögernd vor dem Tische stehen, als ob er noch irgend ein Anliegen vorzubringen habe. Die beiden Offiziere schauten sich mit einem vielsagenden Blicke an.

„Gehen Sie nur dort hinein zur Untersuchung! Die Sache ist nun abgemacht und ein Zurück gibts nicht mehr!“ meinte der Ältere barschen Tones.

Doch Harry Landor schüttelte nur traurig den Kopf. „Das weiß ich!“ erwiderte er leise. „Ich wollte auch nur bitten, mir womöglich bei dem Herrn Gouverneur eine Audienz auszuwirken, da ich Seiner Exzellenz wichtige Eröffnungen zu machen habe.“

Erst schauten die beiden Offiziere etwas überrascht und ungläubig drein. Als dann aber der in dem Zimmer an einem kleinen Seitentisch sitzende Sergeant hinausgeschickt war und Landor ihnen jetzt in seiner durchaus glaubwürdigen und keineswegs großsprecherischen Art nähere Andeutungen über sein Vorhaben gemacht hatte, sagte der alte Hauptmann ganz freundlich und ermunternd:

„Wenn Ihre Angaben sich als wahr erweisen, wird Seine Exzellenz Ihnen fraglos Ihre Bitte erfüllen.“ Und nach einer Pause setzte er mit einem forschenden Blick hinzu: „Angenehmer wäre es mir ja, wenn Sie Ihr Geheimnis auch uns mitteilen wollen, da ich den Empfehlungsbrief an den Adjutanten des Herrn Gouverneurs dann etwas genauer abfassen könnte.“

Doch Landor lehnte diesen Vorschlag höflich aber bestimmt ab und blieb dabei, daß er sich nur Lord Willerton als dem Höchstkommandierenden in Kapstadt allein anvertrauen wolle. Und kurze Zeit darauf befand er sich auch in Begleitung des Schreibers auf dem Wege nach dem am Stadtpark gelegenen Palaste des Gouverneurs.

[Nr.18, S.1] Den beiden folgte aber in einiger Entfernung derselbe Mann, der für Harry Landors Person schon vorher ein so großes Interesse an den Tag gelegt hatte. – Eine Stunde später stand dieser dann Lord Willerton gegenüber.

„Sie wollen sich uns, wie mir Hauptmann Weller mitteilt, als Spion zur Verfügung stellen?“ begann der Gouverneur ohne Umschweife und schaute Landor mit seinen klaren Augen an. „Teilen Sie mir zunächst mit, aus welchen Gründen Sie sich für diesen Posten besonders geeignet halten, und dann geben Sie mir auch näheren Aufschluß über Ihre Person. – Sie sind ein geborener Engländer nicht wahr?“

„Jawohl, Mylord!“ entgegnete Landor bescheiden. „Meine Eltern besitzen in London in der Oxford-Street ein Juweliergeschäft. Ich selbst habe eine gute Erziehung genossen, und nur besondere Umstände zwangen mich, vor 5 Jahren mein Elternhaus zu verlassen.“

„Besondere Umstände?“ fragte Lord Willerton etwas mißtrauisch.

In Landors Gesicht stieg jetzt langsam eine heiße Glut. Und verlegen zu Boden blickend, antwortete er leise: „Ich hatte in meiner Stellung als Kassierer einer Londoner Getreidefirma größere Kassenbeträge unterschlagen und entzog mich der drohenden Verhaftung durch die Flucht. Gegen mich ist noch heute ein Steckbrief in Kraft,“ fügte er offen hinzu. „Ich heiße auch nicht Landor, sondern Siders, Harry Siders. Die letzten Jahre habe ich zum größten Teil als Arbeiter auf Burenfarmen in Transvaal zugebracht, spreche daher auch das Burenholländisch vollständig geläufig.“

Wieder ruhte des Gouverneurs messerscharfer Blick eine ganze Weile auf dem Gesicht des vor ihm Stehenden. — Lord Willerton war Menschenkenner genug, um aus diesen krankhaft blassen Zügen den reuevollen Seelenschmerz des wohl nur aus Leichtsinn zum Verbrecher herabgesunkenen jungen Menschen herauszulesen. Und auch die Erscheinung Landors und seine ehrliche Art gefielen ihm. Nur der unsichere Ausdruck in den starren, etwas schielenden Augen, die niemals lange auf einem Punkt haften blieben, mahnten ihn zur Vorsicht.

„Auf welche Weise gedenken Sie, etwaige Ihnen anvertraute Depeschen durch die Burenlinien zu befördern?“

Die in wenigen Sätzen bestehende Antwort überraschte den Gouverneur aufs höchste und benahm ihm auch sofort alle Zweifel an der Glaubwürdigkeit des einstigen Kassierers.

„Ein vorzüglicher Gedanke, das muß ich sagen,“[1] meinte er ganz begeistert, als Landor kaum geendet hatte. „Jetzt verstehe ich auch erst die Andeutungen in dem Briefe Wellers! Da kommen Sie uns allerdings sehr gelegen! Ich kann Ihnen bereits heute versprechen, daß sie wahrscheinlich schon mit dem nächsten Truppentransporte nach der Front abgehen werden. Wo Sie jedoch Verwendung finden sollen, läßt sich jetzt natürlich noch nicht bestimmen. Jedenfalls halten Sie sich zu meiner Verfügung bereit und geben Sie draußen meinem Adjutanten Ihre Adresse an. Von der Verpflichtung, sich in der Infanteriekaserne einkleiden zu lassen, entbinde ich Sie selbstverständlich. Für einen gemeinen Soldaten sind Sie doch zu schade!“

Siders verbeugte sich dankend.

„Mylord,“ sagte er dann zögernd und wieder flutete ihm das Blut zu Kopfe, „bevor ich gehe, gestatten mir noch ein Wort zur Aufklärung. Ich möchte nicht, daß Sie mich und mein Tun falsch beurteilen. Nicht schnöde Gewinnsucht läßt mich diese Stellung einnehmen, der in den Augen der meisten Menschen etwas Verächtliches anhaftet. Ich habe schwer gefehlt in meinem Leben, würde, wenn man mich ergreift, auf längere Zeit ins Zuchthaus wandern. [Nr.18, S.2] Vielleicht entläßt man mir die Strafe, wenn ich ich meinem Vaterlande auf diese Weise einen Dienst leiste, vielleicht finde ich auch in Mylord später einen gütigen Fürsprecher. Ich will eben als ein ehrlicher Mann in meine Heimat und mein Elternhaus zurückkehren.“

Anerkennend, ja fast gütig nickte ihm Lord Willerton zu. „Das ist recht von Ihnen,“ sagte er wohlwollend. „Und was an mir liegt, soll auch geschehen, um Sie in Ihren guten Absichten zu unterstützen.“

Damit war Siders vorläufig entlassen. – –

Am Abend desselben Tages saßen in dem kleinen Hinterzimmer jener Schifferkneipe, die schräg gegenüber von dem Werbebüro lag, zwei Männer an dem mit rotbrauner Glanzleinwand überzogenen Tische. Der eine war niemand anderer als William Herlett, der frühere Hausdiener von Siders u. Karst, der seinerzeit dort mit Hilfe von gefälschten Zeugnissen eine Stellung gefunden hatte, und der zweite ein gewisser Fred Elkins, ein ebenso berüchtigtes Mitglied der Londoner Gaunerzunft. Beide hatten die englische Hauptstadt vor ungefähr drei Wochen verlassen und sich nach Südafrika eingeschifft, als sie einsehen mußten, daß ihr so fein eingefädelter Plan, die Juwelierfirma um ihre wertvollsten Waren zu berauben, an der scharfen Überwachung der Geschäftsräume[2] und den überall angebrachten elektrischen Alarmvorrichtungen scheitern würde, und sich ihnen außerdem durch den Brief, den Edward Brice an Siders u. Karst aus Kimberley geschrieben und von dessen Inhalt der so harmlos erscheinende Hausdiener heimlich Kenntnis genommen hatte, eine neue Aussicht zu einem ungefährlichen und gewinnbringenden Streiche zeigte.

Zudem erschien es den beiden von der Polizei stets mit größter „Aufmerksamkeit“ behandelten Genossen auch durchaus angebracht, einmal wieder den Schauplatz ihrer Tätigkeit zu wechseln, und so waren sie denn kurz entschlossen nach Kapstadt abgedampft, um von hier aus den schlau ausgeklügelten Privatfeldzug gegen die beiden in Kimberley eingeschlossenen Agenten der Firmen Siders u. Karst und Lorraine zu eröffnen.

Doch sie hatten es sich leider allzu einfach vorgestellt, in die belagerte Stadt hineinzukommen, in der sie dann Brice und van Straaten mit etwas energischer Nachhilfe von ihrem überflüssigen Diamantenreichtum zu befreien gedachten, hatten trotz aller Bestechungsversuche nicht einmal die Passierscheine erhalten, die für die Benutzung der nach dem Kriegsschauplatze führenden Eisenbahnlinien notwendig waren. Denn das englische Oberkommando fürchtete mit Recht, daß eine ganze Menge von Abenteurern und fremdländischen Offizieren nur auf eine Gelegenheit wartete, um sich für die Burenarmee anwerben zu lassen, und ging daher bei der Verteilung der Pässe äußerst vorsichtig um.

So saßen die beiden nun schon drei Wochen untätig in Kapstadt, und ihre Hoffnungen waren bereits auf den Nullpunkt herabgesunken, als Herlett vor drei Tagen in einer der übelberüchtigten Singspielhallen des Hafenviertels auf einen am Nebentische sitzenden ärmlich gekleideten Menschen aufmerksam wurde, dessen Gesicht er zuerst vergeblich irgendwo unterzubringen suchte. Schließlich war es ihm aber doch eingefallen, wo er das Bild dieses jungen Mannes mit den leicht schielenden, scheuen Augen bereits gesehen hatte. Und da war plötzlich in des abgefeimten Gauners schnell arbeitenden Kopfes ein anderer Plan aufgetaucht, wie er und sein Kollege Elkins ohne jede Gefahr wenigstens einen neuen Versuch machen könnten, die Diamanten und Barmittel der beiden Agenten in ihre Gewalt zu bekommen.

Der frühere Hausdiener besann sich nämlich sehr gut auf eine Photographie, die in dem Kontor von Siders u. Karst auf dem Schreibtisch des alten Siders gestanden hatte und die dessen Sohn Harry im dunklen Gesellschaftsanzuge darstellte, wußte auch, daß Harry Siders nach Verübung größerer Unterschlagungen flüchtig geworden und seit dieser Zeit verschollen war. Und auf die Kenntnis dieser Einzelheiten gestützt, wollte Herlett den unglücklichen jungen Mann für sein verbrecherisches Vorhaben ausnützen. Er war ihm heimlich nachgeschlichen, bis er schließlich die Gelegenheit für geeignet hielt, ihn anzusprechen.

Soeben erzählte Fred Elkins, wie er Harry Siders heute vormittags vor dem Werbebüro beobachtet und dann nachher im Stadtpark diese wertvolle Bekanntschaft gemacht hatte, berichtete auch genau, wie es ihm gelungen war, des jungen Menschen anfängliche Scheu durch einige Andeutungen über einen sehr gewinnbringenden leichten Nebenverdienst schnell zu beseitigen.

Und über Elkins glattes Fuchsgesicht flog ein gewisses zufriedenes Lächeln, als ihm Herlett jetzt noch mehrere Dokumente, die er am Nachmittag in stundenlanger, mühseliger Arbeit hergestellt hatte, zur Durchsicht hinreichte. Dann wollte er ihm noch einige Verhaltungsmaßregeln geben, wurde jedoch durch den Eintritt Harry Siders unterbrochen, der sich nach kurzer, vorsichtiger Umschau auf eine einladende Handbewegung des kleinen Dicken hin ebenfalls an dem Tische niederließ.

[Nr.18, S.3] „Master Landor,“ begann Herlett langsam, und er lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, „ich habe mir heute mittags eine kleine Unwahrheit zu schulden kommen lassen. Denn ich kenne Sie, wenigstens von Ansehen, schon längere Zeit, weiß auch, daß … ja daß Sie … nicht Harry Landor, sondern Harry Siders heißen … Sie brauchen nicht zu erschrecken. Master Siders!“, lachte er gutmütig und drückte den jungen Mann, der schreckensbleich hochgefahren war, wieder auf seinen Sitz zurück.

„Wir sind keine Polizeispitzel, die nach Ihnen [suchen,][3] wenn mein Freund Elkins auch Angestellter eines Privatdetektivinstitutes ist. Andere Gründe haben mich veranlaßt, mich Ihnen zu nähern, – Gründe, die Sie bald begreifen werden. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß Ihr Vater sein Geschäft vor etwa einem Jahre mit der Firma Karst vereinigt hat, und daß jetzt in der Oxford-Street ein neuer Juwelierladen besteht, dessen Inhaber die Herren Siders u. Karst sind …?

Gut, dann wissen Sie wohl auch, daß Ihre Schwester Helena sich mit Herrn John Karst verlobt hat …?

Nun, ich sehe, Sie sind vollständig unterrichtet. Eigentlich überrascht mich das, da Sie selbst doch seit Ihrer Abreise vor fünf Jahren niemals etwas von sich hören ließen. Doch darauf kommt es bei unserer Angelegenheit auch nicht an, wenn ich Ihnen auch als ehrlicher Mensch, der an dem Wohlergehen Ihrer Eltern das wärmste Interesse nimmt, sagen muß, daß es ein großer Trost für die Ihrigen gewesen wäre, wenn Sie einmal irgend ein Lebenszeichen von sich gegeben hätten. Doch nun lassen wir das …

Die Firma Siders u. Karst hat nun bald nach Eröffnung des neuen Geschäftes einen der früheren Verkäufer von Karst namens Edward Brice mit bedeutenden Summen nach Südafrika geschickt, damit er bei den niedrigen Preisen der Diamanten hier in Kapstadt größere Einkäufe besorgen sollte. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht diesen Edward Brice von früher her kennen …?

Nicht?

Nun, das schadet auch nichts. Jedenfalls kehrte er nicht nach London zurück, hat auch nach seiner Abreise keinerlei Nachrichten mehr an seine Firma gesandt und ist mit dem ihm anvertrauten Gelde spurlos verschwunden. Alle sofort angestellten Nachforschungen, die allerdings durch den drohenden Ausbruch der Feindseligkeiten sehr beeinträchtigt wurden,[4] blieben erfolglos. Es konnte nur festgestellt werden, daß er tatsächlich hier in Kapstadt den Dampfer der Cunard-Linie verlassen hat. Aber jede weitere Spur fehlte. Nun war der Brüsseler Diamantenhandlung Lorrain mit ihrem Agenten van Straaten fast genau zu der gleichen Zeit ein ähnliches Mißgeschick passiert. Auch van Straaten verduftete mit einer ihm zu demselben Zwecke mitgegebenen Summe. Die Firma Lorraine hatte jedoch, da ihr Schaden sich auf fast fünfzigtausend Pfund belief, ihrem ungetreuen Agenten hier unsern Master Elkins auf die Fersen gehetzt, und dieser bekam nach wochenlangen Bemühungen heraus, daß die beiden Betrüger in Kimberley einen vorläufigen Unterschlupf gefunden hatten, wo man sie allerdings am wenigsten vermutete. Leider konnte ihre Verhaftung nicht erfolgen, da der Krieg inzwischen begann und die Minenstadt bald darauf von den Buren eingeschlossen wurde. Es ist nun aber bekannt, daß Brice und van Straaten das gestohlene Geld zum Teil zum Ankauf von Diamanten verwendet haben, wahrscheinlich um durch diese Spekulation ihren unredlichen Gewinn noch zu vergrößern, und daß sie sich noch in Kimberley befinden, auch dort zusammen in einem Hotel in der Viktoriastraße wohnen, – unter welchen Namen allerdings, das entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls werden sie vorläufig wohl kaum die Stadt verlassen können, finden sicher aber später leicht die Möglichkeit, mit ihrer Beute zu entkommen, wenn man sie nicht fortwährend im Auge behält.

So, Master Siders, nun kennen Sie das Vorspiel. Und jetzt zu mir und meinem Auftrag, der mich als Vertrauensmann der Firma Siders u. Karst vor etwa zwei Wochen hier nach Kapstadt geführt hat.

Wie Sie aus diesem Schreiben sehen,“ er reichte seinem Gegenüber mehrere Papiere hin, „bin ich ebenfalls Angestellter des Geschäftes, in dem Ihr Herr Vater Teilhaber ist, und habe die umfassendste von dem Bräutigam Ihrer Schwester unterzeichnete Vollmacht bekommen, um Edward Brice dingfest machen zu lassen, sobald ich seiner habhaft werde. Master Elkins hatte nämlich, als er bei seinen Recherchen nach van Straaten auch auf die Spur unseres ungetreuen Agenten gestoßen war, uns von seinen Ermittlungen telegraphisch Nachricht gegeben, worauf ich dann eben sofort als Vertreter von Siders u. Karst nach Kapstadt gesandt wurde, um mich hier mit Elkins ins Einvernehmen zu setzen und gemeinsam mit ihm gegen die Betrüger vorzugehen. Denn – so schwer es mir wird, Ihnen die unangenehme Eröffnung zu machen – Siders u. Karst stehen vor dem Bankerott, wenn ihnen die Edward Brice mitgegebenen Summen verloren gehen. Und um die Firma vor dem Ruin zu retten, ist es unbedingt nötig, daß bald etwas geschieht, das heißt, [Nr.18, S.4] daß man dem Agenten so bald wie möglich den Rest des Geldes und die Edelstein wieder abnimmt. Dahin ging nun auch mein Plan, den ich mit Hilfe Elkins durchzuführen hoffte. Leider haben wir dabei kein Glück gehabt. Um allen Eventualitäten vorzubeugen und möglichst sicher zu gehen, wollten wir uns sogar auf den Kriegschauplatz wagen und versuchen, womöglich nach Kimberley hineinzukommen. Doch trotz aller Bemühungen wurden uns die Passierscheine verweigert, und bei der Polizeibehörde bei der Kolonie wies man uns einfach ab, da jetzt niemand Zeit und Lust hat, sich um Privatangelegenheiten zu bekümmern. So waren wir denn zur Untätigkeit verurteilt, bis mir letztens Ihre Person auffiel.“

Herlett machte eine Pause und schaute prüfend zu Harry Siders hinüber, um den Eindruck seines bisherigen, so überaus schlau zurechtgelegten Vortrages festzustellen. Dieser hatte mit atemloser Spannung zugehört. Neue Hoffnungen hatten die Worte Herletts, den er vollen Glauben schenkte, in ihm geweckt, und die Erinnerung an die Heimat und die Seinen ließen ihn jetzt eifrig den Gedanken des kleinen, so vertrauenerweckend ausschauenden Mannes aufnehmen.

„Sprechen Sie weiter …! Was soll ich, was kann ich tun, um Siders u. Karst und damit auch meinem Vater einen Dienst zu erweisen …? Ich bin zu allem bereit, ahne, daß Sie mich irgendwo benutzen wollen, um Ihrem Ziele näher zu kommen.“ Und dann vertraute er sich den beiden rückhaltlos an, erzählte ihnen von seiner Audienz beim Gouverneur und von seiner Absicht, sich als Spion in der Front verwenden zu lassen.

„Denken Sie, wenn es mir glückte,“ fuhr er ganz begeistert fort, „nicht nur Straffreiheit zu erlangen, sondern auch unserer Firma die Summen zu retten, dann könnte ich als freier Mann in die Heimat zurückkehren und würde wohl auch die Verzeihung meines Vaters erlangen!

Nochmals, Sie haben in mir einen Verbündeten gefunden, der nicht ganz ohne Einfluß ist. Was meinen Sie, wenn ich mich dem Gouverneur anvertrauen und ihn bitten würde, mich zu der Armee des General Methuen zu beordern, der doch nach den letzten Nachrichten demnächst einen Vorstoß gegen die Belagerer von Kimberley machen wird …? Se. Lordschaft ist mir scheinbar sehr gewogen, und einem Sohne wird er die Möglichkeit nicht rauben, seinen Eltern zu helfen.

Wenn ich nur erst bei der Armee bin, dann finde ich auch sicher Mittel und Wege, um irgendwie nach Kimberley hineinzugelangen,“ fuhr Harry Siders fort. „Ich beherrsche ja die Burensprache vollständig, werde mich schon durch die Belagerungslinien hindurchstehlen, und wenn ich erstmal in der Stadt bin, so sollen Edward Brice und van Straaten die längste Zeit im Besitze der veruntreuten Gelder und Diamanten gewesen sein.“

Herlett und Elkins tauschten nur einen langen, freudigen Blick aus, als der vertrauensselige, junge Mann ihnen so auf halbem Wege entgegenkam und, getrieben von dem Wunsche, seine einstigen Verfehlungen wieder gut zu machen, sich so schnell bereit erklärte, ihnen als Werkzeug für ihre verbrecherischen Pläne zu dienen.

Jetzt streckte der Dicke mit einem ganz gerührten Ausdruck in seinem feisten Gesicht Harry Siders die Hand über den Tisch hin und fand dazu Worte, die diese Opferfreudigkeit eines Sohnes als einen Entschluß priesen, der sicherlich mit dem besten Erfolge belohnt würde. „Sehen Sie, Master Harry,“ setzte er dann hinzu, „wir beide, Elkins und ich, haben gewiß nichts unversucht gelassen, um das uns bewiesene Vertrauen zu rechtfertigen. Ja, wir fragten sogar vor acht Tagen bei einem der Werbeunteroffiziere an, ob man uns trotz unserer körperlichen Fehler in die Armee einstellen würde, da wir darin die einzige Möglichkeit sahen, zunächst überhaupt einmal aus Kapstadt heraus und wenigstens in größere Nähe von Kimberley zu kommen. Doch leider zeigte sich selbst diese gewiß recht selbstlose Absicht als unausführbar, denn Master Elkins ist lahm und ich selbst leide stark an Herzverfettung, so daß wir daher auf jeden Fall als dienstuntauglich abgelehnt worden wären. Und wenn Sie mir vorher nicht mit Ihren noch aussichtsvolleren Vorschlägen das Wort abgeschnitten hätten, so würde ich Ihnen zu demselben Schritt – eben sich anwerben zu lassen – geraten haben, was auch von vornherein meine Absicht war. Nur deswegen bin ich Ihnen heimlich gefolgt, vermutete auch sofort, das wir in Ihnen einen nicht zu unterschätzenden Verbündeten finden würden. Und ich bin vom Herzen froh, daß meine Hoffnung mich nicht getäuscht hat, will auch gleich morgen nach London schreiben und in diesem Bericht auf eine glückliche Lösung aller Schwierigkeiten hindeuten, ebenso auch vorsichtig, ohne Ihren Namen zu nennen, erwähnen, wie wir jetzt von einer Seite Unterstützung gefunden haben, die ebenfalls das lebhafteste Interesse an dem Wohlergehen der Firma Siders und Karst hat.“

[Nr.19, S.1] Nachdem man dann noch alles bis ins einzelne durchgesprochen hatte, mußte Herlett[5] dem jungen Siders immer wieder von dessen Eltern, der Schwester und dem neuen Geschäft erzählen und dabei oft auf Fragen Auskunft geben, die einen weniger phantasievollen und schnell überlegenden Kopf nur zu leicht in böse Verlegenheit hätten bringen können. Aber der Dicke zögerte auch nicht einen Augenblick mit der Antwort, wußte dabei geschickt stets aufs neue zu betonen, wie viel von dem schleunigsten Wiedergewinn der veruntreuten Gelder für die Firma in der Oxford-Street abhing.

Mit glänzenden, hoffnungsfrohen Augen hörte Harry zu und immer mehr befestigte sich in ihm der Entschluß, alles daran zu setzen, um den beiden Agenten ihren Raub unter Hintansetzung der eigenen Sicherheit wieder abzujagen.

Als er dann am nächsten Vormittag Lord Willerton sein Anliegen vortrug, fand er Worte einer so herzergreifenden Kindesliebe und ehrlicher Reue, daß der Gouverneur ihm fast gerührt versprach, ihn bereits am nächsten Tage mit den besten Empfehlungen an Lord Methuen zu der Westarmee zu schicken, wo er dann zweifellos Gelegenheit finden würde, auch seine Privatangelegenheit irgendwie zu fördern. Herlett und Elkins aber rieben sich schmunzelnd die Hände, als Harry Siders ihnen diese frohe Kunde überbrachte und zugleich versprach, umgehend nach Kapstadt zurückzukehren und sie in der kleinen Hafenschenke wieder aufzusuchen, sobald er sein Vorhaben glücklich ausgeführt hätte.

Ungefähr vier Wochen später sollte sich das Bild auf dem südafrikanischen Kriegsschauplatz plötzlich zugunsten der Engländer verschieben. Nach den ersten, so verlustreichen Niederlagen, die die Buren ihrem Gegner zum Erstaunen der ganzen Welt trotz ihrer wenig modernen Kriegsführung beibrachten, und besonders nach den unglücklichen Gefechten bei Ladysmith und am Modderfluß mußte die Regierung des vereinigten Königreiches einsehen, daß dieses Häuflein undisziplinierter Viehhirten, wie ein Parlamentsmitglied bei einer Sitzung des Unterhauses die Burenrepubliken genannt hatte, doch nicht so leicht über den Haufen zu werfen war. Die Truppennachschübe aus England und besonders aus Indien wurden jetzt möglichst beschleunigt, und anfangs Februar 1900 sah sich Lord Roberts, der Höchstkommandierende der britischen Armee, endlich in der Lage, seinen neuen Feldzugsplan energisch zu betreiben, der nichts anderes bezweckte, als durch einen Einbruch mit überlegenen Streitkräften in den Oranjefreistaat die Buren zu nötigen, die Belagerung von Ladysmith und Kimberley aufzugeben, ihre Truppen mehr zu konzentrieren und den den Engländern so unangenehmen Guerillakrieg (Kleinkrieg) zu beenden. Besonders viel lag aber Lord Roberts daran, die beiden genannten Städte, in denen überreiches Kriegsmaterial aller Art angehäuft war, schleunigst zu entsetzen, da man darauf rechnete, daß die feindlichen Munitionsvorräte ohne eine Ergänzung aus den heißumstrittenen Arsenalen dieser Plätze nicht lange mehr ausreichen würden. Zwar hatte General Methuen schon im Dezember 1899 verschiedene Vorstöße gemacht, um die Belagerer von Kimberley abzudrängen, doch diese Versuche waren sämtlich gescheitert und mußten dann nach der schweren Niederlage bei Magersfontein[6] ganz eingestellt werden.

Im englischen Hauptquartier hatte man hiernach nur die eine Sorge, daß Kimberley mit seinen provisorischen Befestigungen dem stürmischen Andrängen der Buren unter General de la Rey nicht weiter werde standhalten können und dann die ungeheure Menge von drei Millionen Gewehrpatronen, die dort aufgestapelt lag, den Feinden in die Hände geriete. Bereits mehrfach waren von Lord Methuen, der mit seiner Division Anfang Februar 1900 bei Lopetown am Oranje stand, Boten mit Depeschen [Nr.19, S.2] an Oberst Warren, den Verteidiger von Kimberley, geschickt worden, die der Feind aber sämtlich abfing, so daß die in der Minenstadt eingeschlossenen Truppen keine Ahnung davon hatten, wie nahe ihnen die Rettung war. Denn es unterlag keinem Zweifel, daß die Belagerung nach Einmarsch in den Oranjefreistaat sofort aufgegeben werden mußte, falls de la Rey sich nicht jede Rückzugslinie auf die Hauptstreitkräfte der Seinen abschneiden lassen wollte. Als nun die Nachrichten über die Lage von Kimberley immer bedrohlicher wurden, wagte General Methuen noch einen letzten Versuch, sich mit Oberst Warren in Verbindung zu setzen. Und hierzu bediente er sich jenes Mannes, den der Gouverneur von Kapstadt an ihn empfohlen hatte und der ihm nach glücklicher Beförderung mehrerer Depeschen nach Ladysmith hinein von General Buller vor wenigen Tagen als nunmehr entbehrlich zurückgeschickt worden war.

Die für Kimberley bestimmten Nachrichten wurden auf dünne Films in mikroskopischer Verkleinerung photographiert und Harry Siders mitgegeben, der eines Morgens zu Pferde das Hauptquartier in Lopetown verließ und nach Norden zu die zerstörte Bahnlinie entlang ritt, um so endlich dem Ziel seiner Wünsche näher zu kommen.

Kimberley zählte zur Zeit des letzten südafrikanischen Krieges ungefähr 28.000 Einwohner und war kurz vor Ausbruch der Feindseligkeiten mit einem Gürtel von Schanzen und Bastionen und einigen Außenforts versehen worden, die jedoch einem mit schwerem Belagerungsgeschütz ausgerüsteten Feinde kaum längere Zeit hätten Widerstand leisten können. An gröberer Artillerie mangelte es aber den Buren vollständig, und die wenigen Feldgeschütze älterer Konstruktion, die General de la Rey zur Verfügung standen, genügten gerade, um die Fortführung der Erdarbeiten an den Wällen zu verhindern.

Daß man trotzdem von Tag zu Tag näher an die Stadt heranrückte, war nur der Überlegenheit der Buren im Gebrauch der Handfeuerwaffen zuzuschreiben, die es ermöglichte, unter ständigen Überfällen nicht nur die Zahl der Verteidiger sehr zu verringern, sondern auch die Parallelen und Traversen ununterbrochen weiter nach vorwärts zu schieben.

Den im Süden der Stadt an der Bahnlinie gelegenen Abschnitt der Angriffslinie befehligte Major Freiherr von Bieberstein, ein früherer preußischer Kavallerieoffizier, der sich mit seinem aus Angehörigen aller Nationen bestehenden Freikorps in Stärke von etwa fünfhundert Mann in den Kämpfen bei Magersfontein[7] hervorragend ausgezeichnet hatte und sich jetzt unter de la Rey an der Einschließung beteiligte, – ein Ruheposten, der dem schneidigen Reiterführer wenig zusagte.

Eines Tages brachte eine Patrouille des Biebersteinschen Freikorps einen Mann ein, der bei dem sofort vorgenommenen peinlichen Verhör angab, daß er allerdings geborener Engländer sei, seit Jahren aber in Transvaal gelebt habe und sich jetzt für die Burenarmee anwerben lassen wolle, da er eines Verbrechens wegen von den englischen Behörden verfolgt werde. Trotzdem auch seine näheren Angaben durchaus glaubhaft klangen und ebenso sein ganzes sicheres Auftreten für ihn sprach, so wurden doch seine Kleidungsstücke auf das genaueste durchsucht, ja selbst das Zaumzeug und der Sattel seines Pferdes, ohne daß man irgend etwas Verdächtiges fand. Dieselbe peinliche Untersuchung wiederholte sich dann vor General de la Rey, der aber sein Mißtrauen gegen den Gefangenen nicht so schnell überwand und ihn dem Major Bieberstein mit der Weisung zurückschickte, den Mann, dessen Papiere auf den Namen Harry Lander lauteten, zwar in das Freikorps einzureihen, ihn jedoch heimlich aufs schärfste überwachen zu lassen und jedenfalls nicht in der vordersten Linie bei den Belagerungsarbeiten[8] zu verwenden, da sich ihm dort zu leicht eine Gelegenheit biete, falls er wirklich ein Spion sei, nach Kimberley hinein zu gelangen. So vergingen mehrere Tage und Siders zergrübelte sich vergebens den Kopf, wie er sich einmal der Besatzung der Stadt in die Hände spielen könnte, und zwar in einer Weise, die nicht den Argwohn erregte, als ob dies absichtlich geschehen sei. Denn daran, seine Depeschen richtig an den Oberst Warren abzugeben, lag ihm nicht allzuviel. Wenn er nur diesen Zweck verfolgt haben würde, so wäre es ihm ein Leichtes gewesen, einmal in der Nacht durch die Vorposten des Korps hindurchzukommen, da er Parole und Feldgeschrei kannte. Doch bedeutend wichtiger war es für die Durchführung seines Planes, daß ihm jederzeit auch die Möglichkeit offen stand, Kimberley wieder zu verlassen und sich seiner Abteilung anzuschließen, ohne den Verdacht auf sich zu lenken, seine Gefangennahme und spätere Flucht sei nichts als ein abgekartetes Spiel gewesen. Außerdem mußte er auch auf jeden Fall zusehen, Brice und van Straaten so bald wie möglich mit Hilfe des Obersten Warren verhaften zu lassen, da jeden Tag zu befürchten stand, daß General de la Rey von dem Oberkommando den Befehl erhielt, abzuziehen, und daß dann nach Aufgabe der Belagerung die beiden Agenten plötzlich verschwinden würden.

Da kam Siders der Zufall ganz unerwartet zu Hilfe. Bei einem mit größter Entschiedenheit [Nr.19, S.3] ausgeführten nächtlichen Ausfall der Besatzung, der sich nach Süden hin richtete, wurden alle verfügbaren Streitkräfte in das Gefecht gezogen, und bei der Verteidigung eines Hügels, auf den es die Engländer besonders abgesehen hatten, weil dort mehrere Geschütze in Stellung gebracht waren, wollte es das Schicksal, daß ein größerer Trupp Buren, darunter auch Siders, abgeschnitten und gefangen genommen wurde. Schon am Morgen gelang es diesem dann, sich mit einem der Unteroffiziere, die mit der Bewachung der Gefangenen betraut waren, heimlich zu verständigen und ihm genaue Verhaltungsmaßregeln zu geben. So konnte er dann ganz unauffällig von seinen Schicksalsgenossen getrennt und Oberst Warren zugeführt werden, der sofort die Depeschen vergrößern und die Antwort anfertigen ließ.

Nach Eingang dieser hoffnungsvollen Nachricht war der Oberst auch gern bereit, dem Überbringer seine Hilfe angedeihen zu lassen, zumal General Methuen in seinem Schreiben ebenfalls kurz auf die Privatangelegenheit seines Spions hingewiesen hatte.

Mittags wurden Brice und van Straaten dann in dem Hotel in der Viktoriastraße verhaftet und trotz ihres lebhaften Widerspruches bis auf weiteres in das Polizeigefängnis abgeführt. Bei ihnen aber fand man, wie Siders vorher angegeben hatte, eine Summe von mehreren Tausend Pfund in Banknoten und, eingeschnallt in breite Ledergürtel, eine Menge von Edelsteinen in allen Größen. Nachdem ein genaues Protokoll und Verzeichnis über die einzelnen Gegenstände aufgenommen war, die man den beiden Agenten abgenommen hatte, wurden das Geld und die Diamanten Siders ohne weiteres ausgeliefert und er selbst wieder, wie er mit Oberst Warren verabredet hatte, zu seinen Gefährten in das Militärarresthaus gebracht. Und als zwei Tage später ein Austausch von Gefangenen stattfand, gelangte Harry mit den übrigen unbehelligt in das Lager des Majors Bieberstein zurück.

Damit war der schwierigste Teil von Siders Aufgabe erledigt. Denn eine Gelegenheit, sich bei einem der regelmäßig stattfindenden Erkundigungsritte davonzustehlen und nach Lopetown, dem Hauptquartier General Methuens, zurückzukehren, bot sich ihm fast jeden Tag. Er hatte sich auch bereits in einem Versteck außerhalb des Lagers eine größere Menge Proviant gesammelt, den er für den tagelangen Weg durch die jetzt von Ansiedlern völlig verlassene Gegend notwendig gebrauchte, dort auch vorläufig die Banknoten und die Edelsteine verborgen. Da trat ein Zwischenfall ein, der ihm endlich die Augen darüber öffnete, wer seine besorgten Freunde Herlett und Elkins eigentlich waren.

Am Abend des 12. Februars – ein Datum, das Harry Siders sein lebenlang nicht vergaß – trafen zwei große mit Ochsen bespannte Marketenderwagen im Lager des Majors von Bieberstein ein, die einem Buren gehörten und von den Leuten des Freikorps mit großem Jubel begrüßt wurden, da man während der monatelangen Belagerung die Vorräte an Spirituosen, Kaffee und Tee vollkommen aufgezehrt hatte.

Als Siders sich in der dienstfreien Zeit dann gleichfalls zu dem schnell errichteten Verkaufsstand hindrängte, um sich den lang entbehrten Genuß eines Schluckes gebrannten Wassers zu gönnen, erkannte er zu seinem Erstaunen in den beiden Gehilfen des Marketenders den angeblichen Vertrauensmann der Firma Siders u. Karst und den Detektiv Elkins wieder, die bei dem Scheine mehrerer flackernden Öllampen eifrig ihres Amtes walteten und von Siders zunächst gar keine Notiz nahmen, trotzdem ein warnender Blick Herletts dem jungen Manne gesagt hatte, daß er sehr wohl erkannt worden sei. Schließlich konnte der Dicke dann aber doch Siders unbeachtet eine schnelle Frage zuflüstern, die dieser nur durch ein freudiges Kopfnicken beantwortete.

„Und wo haben Sie die Sachen aufbewahrt? Sie tragen die Banknoten und die Diamanten doch nicht etwa bei sich?“ forschte Herlett ängstlich weiter, indem er den jungen Reiter noch mehr in die Dunkelheit hinter den Wagen zog und dann scheinbar eifrig einen Krahn in das Spundloch eines frischen Schnapsfäßchens hineintrieb. Mit wenigen Worten bezeichnete Harry ihm ganz arglos die Stelle, wo er die Kostbarkeiten und den Proviant unter Felsgeröll verborgen hatte, worauf Herlett ihm kurz ihr plötzliches Erscheinen aufklärte. Sie besprachen dann noch alle Einzelheiten der gemeinsamen Flucht, die sie bereits in der nächsten Nacht ausführen wollten, und trennten sich wieder.

Kaum graute jedoch der Morgen, als Harry unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde. Vor ihm stand der Adjutant des Majors mit mehreren Leuten und befahl ihm barsch, sofort mitzukommen, ohne Siders auf seine erstaunten Fragen auch nur ein einziges Wort zu antworten.

Der Führer des Freikorps hatte sein Quartier in einem kleinen Bahnwärterhäuschen aufgeschlagen, und in dem engen Raume fand dann ein Verhör statt, das den bedauernswerten jungen Mann von der freudigsten Hoffnung in die trostloseste Verzweiflung stürzen sollte. Kaum war er in das kleine [Nr.19, S.4] Wellblechgebäude eingetreten, als der Major auch schon mit finster gekrauster Stirn auf Ihn zuschritt und ihn lange durchbohrend ansah. Eine furchtbare Ahnung begann da in dem jungen Manne aufzudämmern. Aber er fühlte, wie ihm langsam jeder Tropfen Blut aus dem Gesicht wich und seine Gedanken sich unter diesen drohenden Augen verwirrten.

[Nr.20, S.1] „Also hat General de la Rey doch recht behalten!“ begann der Major dann schneidenden Tones. „Als Spion hast du dich hier eingeschlichen, Bursche, – gesteh’s nur! Leugnen hilft jetzt nichts mehr. Irgend jemand hat dich erkannt und schriftlich angezeigt. Und wir werden ja bald sehen, ob der unbekannte Briefschreiber auch die Wahrheit spricht. Hinaus mit dem falschen Auge, Bursche, hinaus damit!“

Siders war halb bewußtlos zurückgetaumelt, wollte sprechen, aber nur stammelnde Laute kamen über seine bebenden Lippen. Er wußte – das wart das Ende! Ehe die Sonne unterging, würde er irgendwo an einer offenen Grube knieen – ein kurzes Kommando, sechs wohlgezielte Kugeln, und … ade Heimat, Elternhaus … – Aber dann dachte er daran, wofür er starb, daß er den Seinen ein Vermögen gerettet hatte, da ja der Siders und Karst gehörige Anteil an den Diamanten und Banknoten von Herlett oder Elkins richtig an der Oxford-Street abgeliefert werden würde. Und dieser Gedanke richtete ihn wieder auf. Er ahnte ja nicht, wer ihm diesen teuflischen Streich gespielt und den Brief an den Major geschickt hatte.

„Bursche, wird’s bald?“ fuhr in dieser jetz auf neue an. „Oder soll ich vielleicht gar nachhelfen …!?“

Willenlos gehorchte nun Harry Siders. Ein Druck mit dem Finger und das Glasauge fiel aus der Höhlung heraus in seine flache Hand. Schnell faßte der Major zu, trat damit an das niedrige Fenster und ein zischender Wutlaut entfuhr ihm, als er in der Höhlung des Auges, mit Wachs befestigt, einen ganz dünnen, aufgerollten Streifen erblickte, dessen Bedeutung er sehr wohl kannte.

„Es sind Films“, sagte er erklärend zu seinem Adjutanten, der neugierig näher getreten war. „Und zweifellos hat der Schuft auch auf dieselbe Weise Nachrichten nach der Stadt hineinbefördert! Er befand sich ja ebenfalls unter den Gefangenen, die wir vorgestern austauschten, und hatte während seines zweitägigen Aufenthaltes in Kimberley die beste Gelegenheit, dem Oberst Warren seine Nachrichten zu übermitteln.“

„Da hätten wir allerdings lange suchen können!“ fügte er ingrimmig hinzu. „Denn wer kommt gleich auf diesen geradezu raffinierten Gedanken, daß ein Mensch sein Glasauge als Versteck für Depeschen benutzen wird, wer denkt überhaupt daran, daß ein schieläugiger Kerl ein so tadellos nachgemachtes Stück Porzellan anstatt eines natürlichen Sehorganes im Kopfe stecken hat! Kann mir denken, wie gelegen der den Engländern gekommen ist. Und wer weiß, wie viel er uns nicht schon geschadet hat!“

„Nun, mein Bursche, deine Rolle ist jetzt jedenfalls ausgespielt, und dein Handwerk werden wir dir sehr bald so gründlich legen, daß du diesen famosen Depeschenbehälter zur Verschönerung deines Äußeren nicht mehr gebrauchst!“

„Richthofen“, wandte er sich dann an seinen Adjutanten, „sorgen Sie dafür, daß der Bursche unter sicherer Bedeckung sofort General de la Rey zugeführt wird, und nehmen sie auch das Corpus delikti mit. Hier ist auch der Brief, durch den wir endlich diesem Herrn hinter seine Schliche gekommen sind.“

Und als gerade Harry Siders mit gefesselten Händen zwischen zwei Reitern, die die Büchse schußfertig in der Hand hielten, nach dem Hauptquartier des Burengenerals gebracht wurde, ratterten die beiden Marketenderwagen an dem düsteren Trupp der Richtung nach Nordwesten vorüber, und von dem Kutschersitze des einen herab blickten Herlett und Elkins ihr Opfer mit einem so teuflischem Grinsen an, daß es dem unglücklichen Harry Siders [Nr.20, S.2] plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel … Jetzt, wußte er, wer ihn verraten hatte, nur verraten haben konnte, jetzt durchschaute er dieses ganze Ränkespiel, mit dem man ihm, dem blind Vertrauenden, umgarnt hatte …! Wer kannte denn sein Geheimnis?

Nur wenige englische Generale und Stabsoffiziere, die außerhalb jedes Verdachtes standen, und … jene Elenden, die nun mit ihrer Beute davonfuhren, hinaus in den lachenden Sonnenschein, während er, ein armer Betrogener, dem Tode entgegenging …! Ein Wutschrei entrang sich seiner Kehle, in ohnmächtigem Grimm zerrte er an seinen Fesseln … aber schon bogen die Wagen in einen Nebenweg ein und verschwanden hinter den Trümmern einer zusammengeschossenen Farm.

Genau 48 Stunden später, am Morgen des 14. Februars, überraschte eine Kabeldepesche die Londoner mit der Nachricht, daß der Vorstoß Lord Roberts in den Oranje-Freistaat als ersten bedeutenden Erfolg der Stadt Kimberley die endliche Befreiung von der drückenden Belagerung gebracht hatte. Aber trotz dieser Botschaft blieb die Stirn John Karsts noch immer umdüstert. Bevor er nicht bestimmt wußte, daß Edward Brice glücklich die Belagerung überstanden und mit dem kostbaren Besitz den Kriegsschauplatz verlassen hatte, konnte er an der hoffnungsvollen Freude seiner Braut nicht teilnehmen.

Als dann aber nach weiteren acht Tagen ein Telegramm des Agenten aus Kapstadt eintraf, in dem dieser mit wenigen Worten seine baldige Ankunft in London ankündigte und andeutete, daß er seinen Auftrag glücklich ausgeführt habe, da atmete John Karst nach den Wochen banger Sorge endlich auf und gewann seine frühere Heiterkeit bald wieder. Und in die Häuser Karst u. Siders zog aufs neue das Vertrauen auf eine Zukunft ein und ließ die die beiden Elternpaare frohen Herzens die Vorbereitungen zu der Hochzeit ihrer Kinder treffen.

Mitte März betrat dann eines Vormittags Edward Brice frisch und gesund das Kontor der Firma in der Oxford-Street und meldete sich bei dem allein anwesenden John zurück, übergab ihm auch die wohlverpackten[9] Diamanten und den Rest des Geldes. Immer wieder schüttelte der junge Karst die Hand des getreuen Angestellten. Denn mit dessen Heimkehr war nicht nur der Fortbestand des Geschäftes gesichert, sondern Infolge des billigen Einkaufes der Edelsteine auch ein bedeutender Gewinn erzielt, der die Kassen der Firma Siders u. Karst auf Jahre hinaus mit einem Kapital für die Zeiten der Not füllte.

Doch Brice hatte noch eine andere Mission zu erledigen, und vertrauensvoll wandte er sich an seinen jungen Chef und bat ihn um seine Vermittlung in einer ernsten Angelegenheit, die zu seiner glücklichen Rückkehr in engen Beziehungen stand.

Überrascht, fast ungläubig hörte John zu. Was er da hörte, klang ihm wie ein abenteuerliches Märchen. Aber freudig versprach er dem Agenten seine Unterstützung, und die beiden Männer verabredeten genau, in welcher Weise man der Familie Siders das beibringen wollte, was in den letzten Monaten in Südafrika geschehen und für sie von so großer Bedeutung war.

Am folgenden Tage wurde dann in der Wohnung von Johns Eltern zur Feier der Heimkehr des Agenten eine kleine Feier veranstaltet, zu der aber außer den nächsten Verwandten nur Brice geladen war. Bevor man zu Tisch ging, versammelte sich die Familie im Salon, und Edward Brice mußte hier als Einleitung zu dem folgenden Essen zunächst seine Erlebnisse in Kimberley schildern. Über die ersten Wochen der Belagerung faßte er sich sehr kurz, begann aber dann ausführlicher über jene Zeit zu berichten, die auf seine und van Straatens Verhaftung gefolgt war.

Auch hier bemerkte man das ungläubige Staunen in den Mienen der Anwesenden, das sich steigerte, als Brice plötzlich den Schauplatz seiner Erzählung verlegte und nun die Schicksale eines jungen Mannes namens Landor berichtete, der sich in Kapstadt als Spion für die englische Armee hatte anwerben lassen, um durch diese Tätigkeit die Straflosigkeit oder eine mildere Verurteilung für eine frühere Verfehlung zu erlangen und auf dessen Veranlassung van Straaten und er selbst dann in der Stadt eingesperrt und ihnen die Diamanten und Barmittel abgenommen wurden.

Atemlos lauschte man, und als Brice jetzt die Vorfälle in dem Burenlager und die Überführung dieses Spions erwähnte, der die Depeschen in der Höhlung seines Glasauges verborgen hatte, da hob der alte Siders plötzlich abwehrend die Hände und wollte den Erzähler unterbrechen. Doch hastig fuhr dieser fort, indem er John Karst einen vielsagenden Blick zuwarf:

„Der Gefangene, vor General de la Rey geführt, gestand ohne Zögern ein, daß er seit Wochen als Spion tätig gewesen sei, nannte aber dem Burenführer auch kurz die Gründe, weshalb er sich zu diesem Gewerbe hergegeben habe, da er den ihm nahestehenden Inhabern der Firma Siders u. Karst in London die Diamanten retten und das Geschäft so vor dem Ruin bewahren wollte. Ebenso erwähnte [Nr.20, S.3] er dabei, auf welche Weise er den beiden Schurken Herlett und Elkins in die Hände gefallen und von diesen für ihre Pläne ausgenutzt worden sei. De la Rey schenkte diesen Angaben zunächst keinen Glauben, bewies aber doch dadurch schon einen seltenen Edelmut, daß er einen Parlamentär mit einem Brief an Oberst Warren, den Kommandanten der belagerten Stadt, sandte und um Aufschluß darüber bat, ob man tatsächlich zwei Agenten ausländischer Firmen festgenommen habe und in welchem Zusammenhang deren Verhaftung mit der Person des englischen Spions stände. Oberst Warren bestätigte nun nicht nur die Angaben des jungen Mannes in allen Punkten, sondern schickte auch mich und van Straaten unter sicherem Geleit zu dem Burengeneral, damit wir persönlich dafür sorgen konnten, wieder in den Besitz unseres Geldes und der Edelsteine zu gelangen.

Denn ihm war es durch das Schreiben de la Reys klar geworden, daß wir ebenso wie dieser unglückliche Landor jenen Betrügern zum Opfer gefallen waren, und suchte nicht nur uns zu unserem Eigentum zu verhelfen, sondern auch womöglich den Spion vor dem sicheren Tode zu retten, indem er auf die Großmut des Burenführers rechnete. Und de la Reys ferneres Verhalten zeigte, daß Oberst Warren sich in ihm nicht getäuscht hatte. Zunächst wurden jenen Marketenderwagen einige Reiter nachgeschickt, die Herlett und Elkins zurückbrachten, ebenso auch die in einem der Wagen verborgenen Edelsteine und die Banknoten, die die Schurken aus dem ihnen von dem so schändlich betrogenen Landor angegebenen Versteck geholt hatten.

In dem nun folgenden Verhör gestanden die beiden zitternd ihre Schuld ein, gaben auch an, wie sie mit einem Wagentransport, der Proviant nach der Front bringen sollte, als Arbeiter verkleidet, aus Kapstadt herausgekommen waren und sich dann später auf gut Glück nach Kimberley aufgemacht und unterwegs den Markentender angetroffen hatten, der sie gegen geringen Lohn in seinen Dienst nahm. Jedenfalls ging aus ihren Angaben hervor, daß ihnen nachträglich ihr fein ersonnener Plan doch nicht zuverlässig genug erschienen war, und sie daher lieber selbst noch versuchen wollten, mich und van Straaten zu berauben.

Und zweifellos wären die beiden auch vor einem Morde nicht zurückgeschreckt, wenn sie uns wirklich hätten erreichen können.

Doch das Schicksal wollte es anders. Sie sahen Landor wieder und glaubten dann schon, nachdem sie ihn auf so hinterlistige Weise bei Major von Bieberstein angezeigt hatten, mit ihrem Raube in Sicherheit zu sein, als ihnen noch in der letzten Minute der Burengeneral einen Strich durch die Rechnung machte. Sie wurden vor dasselbe Kriegsgericht gestellt, das auch über des armen Spions Schicksal entscheiden sollte und schon nach kurzer Verhandlung zum Tode durch den Strang verurteilt, während man den Spion selbst auf seine ehrenwörtliche Zusage, sofort Afrika verlassen zu wollen, und unter Berücksichtigung der Beweggründe seiner Handlungsweise freisprach.“

„Und Landor selbst,“ fuhr Edward Brice nach kurzer Pause fort, „ist mit mir zusammen hier eingetroffen, hofft, daß die, die er einst so schwer betrübt hat, ihm jetzt verzeihen werden, wo er durch die Befürwortung Lord Willertons und General Methuens auf eine milde Strafe, wenn nicht völlige Straflosigkeit rechnen kann.“

Der alte Siders war plötzlich aufgesprungen, und auf seinem ehrwürdigen Gesicht lag ein Schimmer freudigen Hoffens, als er jetzt Brice stockend fragte:

„Sagen Sie mir, wo mein Sohn ist …! Er soll kommen! Alles soll vergeben und vergessen sein – alles!“

Da riß John Karst glücklich lachend die Tür zum Nebenzimmer auf, und ein blasser, schlanker Mann warf sich seiner Mutter weinend zu Füßen, die zitternd vor Freude in ihrem Sessel saß und mit bebender Hand jetzt liebevoll über das Haar dessen strich, der vor fünf Jahren aus London geflohen war und den Seinen jetzt als ein Reumütiger, Gebesserter wiedergegeben wurde.

Die Firma Siders u. Karst in der Oxford-Street in London gehört heute zu den bedeutendsten Diamantenhandlungen des Inselreiches.

Und Harry, dessen Straftat, wie es sich nun bei der Verhandlung herausstellte, bereits seit mehreren Monaten verjährt war, und der daher auch ohne Fürsprache seiner Gönner freikam, steht dem umfangreichen Unternehmen zusammen mit seinem Schwager John vor, und die Zeit ist auch für ihn das beste Heilmittel gewesen.

Die trüben Erinnerungen an jene Tage, wo er, ein Ausgestoßener der menschlichen Gesellschaft, als Spion dem englischen Oberkommando diente, liegen nur noch wie ein wüster Traum hinter ihm.

Eines aber hat Harry Siders nie vergessen: Das ist die Dankbarkeit gegen jenen edelmütigen Burengeneral, der durch sein Verhalten so recht bewiesen hatte, wie hoch er opferwillige Kindesliebe einzuschätzen wußte.



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