Das graue Gespenst
Kriminal-Bücher
[2] Bei der großen Auswahl in Kriminalromanen ist es für den Leser nicht leicht, wirklich gediegene Arbeiten zu finden. Wenn wir hier empfehlend auf unsere
hinweisen, so glauben wir bestimmt damit den Lesern einen guten Dienst zu erweisen. Es ist unser Bestreben nur wirklich gute, spannende und einwandfreie Arbeiten zu veröffentlichen. Die Namen unserer Mitarbeiter: Walther Kabel, A. Zapp, W. v. Neuhof, Ernst v. Waldow, Schweriner, Höllerl u.a. bürgen dafür, daß nur ausgewählte Arbeiten zum Abdruck gelangen werden. Viele der zur Veröffentlichung kommenden Romane sind früher in ersten Zeitungen und auch in teueren Buchausgaben erschienen.
Über Kimberley, der südafrikanischen Minenstadt, lagerte die Gluthitze eines sonnenklaren Maitages. Trotzdem drängte sich jetzt in der Mittagsstunde ein lebhafter Verkehr von ausgesprochen internationalem Gepräge durch die breiten Straßen, alle begriffen auf der Jagd nach dem Götzen Gold, der nirgends so sehr wie gerade in der „Diamantenstadt“ die Gemüter erregt und Geist und Körper zu den unerhörtesten Anstrengungen anspornt.
Vor dem hochragenden Börsenbau herrschte heute eine ungewöhnliche Aufregung unter den Herren, die teils in der breiten Eingangstür, teils auf der Freitreppe standen.
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Börse, stand eine dichtgedrängte Menge Neugieriger, – Minenarbeiter, Handwerker und hier und da auch ein Farbiger. Etwas wie Schadenfreude war in den Gesichtern dieser einfachen Leute zu lesen, und wenn man genau hinhörte, konnte man Ausrufe verstehen, [4] die von einem geheimen Hasse gegen die Großkaufleute sprachen.
Zwischen den über den Fahrdamm hin und her rasselnden Wagen aller Art schlüpften kleine, halbnackte Kerlchen hindurch – Zeitungsjungen, die ihre Extrablätter hinausbrüllten.
„Die Zerstörung der Hurley-Mine!“ – „Kampf mit der Miliz!“ – „Achtzig Tote, zweiundfünfzig Verwundete!“ – „Kauft das Allerneueste – kauft –“
An der Brüstung der Börsentreppe lehnte einsam ein Mann, dessen blaue Augen mit verächtlichem Ausdruck auf die Menge gerichtet war, die mit schadenfrohen Gesichtern auf die erregten, geängstigten Großkaufleute blickte und oft ihre höhnischen Bemerkungen hinüberrief.
Ein dicker, aufgeschwemmter Herr, dessen Finger mit blitzenden Ringen besteckt waren, gesellte sich jetzt zu dem Einsamen, der offenbar unter all diesen Millionen-Magnaten eine hochgeachtete Stellung einnahm.
„Master Wendel, ich begreife Ihre Ruhe nicht,“ sagte er, sich vor dem blonden Deutschen aufpflanzend. „Ihre Mine liegt zunächst dem Randbache, und schreitet die schwarze Bande zum Angriff, so wird Ihr Werk als das erste vom Erdboden verschwinden.“
„Meinen Sie, Brauwarey?!“
Selbstbewußter Spott lag in dieser Antwort.
Der dicke Brauwarey, der bisher selbst gegen viertausend Neger beschäftigt hatte, starrte Wendel aus seinen glasigen Fischaugen staunend an.
Kopfschüttelnd sagte er: „Wirklich, ich begreife Sie nicht –“ Er wollte noch mehr hinzufügen, aber der Deutsche, ein stattlicher Mann Anfang der fünfziger, hatte sich aufgerichtet und schaute einem eleganten Auto entgegen, das sich eben durch die Straße wand und vor der Börse Halt machte.
[5] Dem Auto entstieg jetzt eilig ein schlanker Mann mit sonnverbranntem Gesicht. Es war der erste Buchhalter der Barbu-Mine, die Wendel seit einigen zwanzig Jahren gehörte.
„Pelletan – hierher!“ rief der Deutsche mit dröhnender Stimme.
Pelletan keuchte die Treppe empor.
„Master Wendel – die Schwarzen kommen –“
Das genügte. Mit drei Sätzen war Wendel in seinem Auto, Pelletan sprang hinterher, die Tür knallte zu, und fauchend flog das Gefährt davon.
Die Barbu-Mine, deren Baulichkeiten durch einen hohen Holzzaun mit einer Verlängerung von starkem Stacheldraht eingeschlossen wurde, lag etwa zwei Kilometer vor der Stadt auf einer kleinen Anhöhe. Ein fester, gutgehaltener Weg gestattete dem Auto die Höchstgeschwindigkeit einzuschlagen, so daß Wendel in knappen acht Minuten vor dem Haupteingang seines Werkes anlangte. Dort empfing ihn Master Pareawitt, der Oberingenieur, mit einem Gesicht, das nichts Gutes ahnen ließ.
„Wie steht’s, Pareawitt? Alles vorbereitet?!“ rief der Deutsche und war mit einem Satz aus dem Wagen. „Was treibt die schwarze Gesellschaft? Schon in der Nähe?“
„Brennen zur Zeit Halburgs Store nieder,“ antwortete der Oberingenieur mit verbissener Wut. „Werden aber wohl bald hier sein.“
Wendel winkte und verschwand mit den beiden Herren hinter dem schweren Tor, dessen Flügel der Pförtner sofort wieder schloß.
Zehn Minuten später. Wie ein kribbelndes Ameisenheer, dicht gedrängt, lautlos, unaufhaltsam, schob sich die Masse der wütenden Neger auf der [6] Straße vorwärts. Der Besitzer der Barbu-Mine beobachtete diese dunkle Masse vom Fenster der ersten Etage des Verwaltungsgebäudes aus wie ein Feldherr. Mit jener zielbewußten Energie, die aus dem armen Handlungsgehilfen im Verlaufe von Jahrzehnten einen einflußreichen, millionenschweren Minen-Magnaten gemacht hatte, waren von ihm noch schnell die getroffenen Verteidigungsmaßnahmen ergänzt worden.
„Bin neugierig, was sie beginnen werden,“ sagte er jetzt zu dem neben ihm stehenden Oberingenieur.
Pareawitt lehnte sich zum Fenster hinaus.
„Die Bande verhält sich auffallend still,“ meinte er besorgt.
„Schlechtes Zeichen!“ erklärte Wendel, und fügte hinzu: „Kein Zweifel, die Hauptmasse bewegt sich auf das Eingangstor zu. Machen wir, daß wir hier fortkommen. Ich werde einmal hinausgehen und der Rotte Vernunft predigen. Hoffentlich hilft’s was. Wenn nicht – na, dann fließt eben Blut, aber nicht das unsrige, so wahr ich Albert Erich Wendel heiße!“
Der blonde Hüne, den Panamahut weit ins Genick geschoben, drückte sich durch den Torspalt und schritt furchtlos der heranrückenden Menschenmauer entgegen. Soweit das Auge reichte, nichts als dunkle Menschenkörper, wollige Negerköpfe. Im Nu bildete sich um Wendel ein weiter Halbkreis bewaffneter Gestalten. Die Hintenstehenden drängten nach, neugierig, was der weiße Baas (Herr) ihnen wohl zu sagen hätte, der jetzt so gebieterisch den Arm ausstreckte. So kam es, daß der Kreis um den deutschen Riesen sich immer enger schloß.
Und nun begann der unerschrockene Millionär mit einer Stimme, die weithin über die glänzenden, schwarzen Gesichter schallte:
„Boys, ich warne Euch! Kehrt an Eure Arbeit [7] zurück! Ihr wißt nicht, wie wir Euch empfangen werden, wenn Ihr wagen solltet, Eure unverständliche Wut an unserem Eigentum auszulassen.“
Er sprach in jenem mit holländischen Brocken vermischten Englisch, wie es in Transvaal von jedem Nigger verstanden wird.
„Boys!“ fuhr er fort, „wißt Ihr, was Maschinengewehre sind?! Ihr habt – oder wenigstens meine Arbeiter – die blanken Kanonen in meinem Schuppen stehen sehen! Bevor auch nur einer von Euch meine Umzäunung erklettert hätte, würden hunderte von Euch niedergeknallt sein, wie die Springböcke bei der Treibjagd! Boys! Denkt an die Maschinengewehre! Macht kehrt und haltet Frieden! Das rate ich Euch wohlmeinend, ich, der weiße Baas, der stets verstanden hat mit seinen Leuten auf friedlichem Fuße zu leben!“
Ein Murren, wie ein Windstoß, der durch Tannenwald fährt, anzuhören, erhob sich.
„Boys, wenn Ihr mir nicht glaubt, schickt eine Zahl von Euch in meinen Hof, damit sie sich die blanken, eisernen Menschenfresser ansehen können. Ich will nichts, als –“
Albert Wendel sollte in diesem Leben kein beruhigendes Wort mehr an diese blutdürstige, zur Rachsucht aufgestachelte Masse richten.
Ein Basutospeer mit breiter Spitze war weit hinten aus dem Kreise von geübter Hand geschleudert worden und fuhr ihm von oben wie ein Blitzstrahl in die Brust. Die Wucht der gut zwei ein halb Meter langen Lanze war so groß, daß er taumelnd hintenüberschlug. Der Hut fiel ihm vom Kopf, rollte seitwärts. Vergebens suchte der riesige Körper sich wieder aufzurichten.
Pareawitt, der Oberingenieur, und drei weiße [8] [Angestellte brachten blitzschnell den][1] Schwerverwundeten zurück in den Schutz des hohen Zaunes.
„Verfl… heimtückische Bande, das sollt Ihr mir bezahlen!“ brummte Pareawitt und rief den Leuten, die bei den Maschinengewehren standen, einige Worte zu.
Man hatte den Baas, dem der Speer sofort aus der Brust gezogen war, auf ein Brett gelegt und trug ihn so nach dem Krankenzimmer des Verwaltungsgebäudes. Ein schauriges Glockengeläute begleitete den traurigen Zug – die blitzschnell aufeinander folgenden Schüsse der stählernen Menschenfresser! – Tack, Tack, Tack, so ging’s unaufhörlich, unaufhörlich.
Und jetzt draußen ein Gebrüll wahnsinniger Angst. Die Schüsse, so niedrig gezielt, daß sie nur die Beine der Schwarzen trafen, ernüchterten die angriffslustigen Nigger im Handumdrehen. Schreiend, tobend, einander niederstoßend, nur um schneller aus dieser Hölle fortzukommen, zerstreuten sich die Tausende, fluteten zurück.
In dem Krankenzimmer lag der von dem Arzt der Barbu-Mine schnell verbundene deutsche Baas und rang mit dem Tode.
Mit erlöschender Stimme hauchte er jetzt:
„Lesen Sie vor, Pelletan, was Sie geschrieben haben. – Es eilt, ich fühl’s –“
Und der Buchhalter las:
In dem Bewußtsein, daß der Tod mir nahe ist, diktiere ich in Gegenwart von drei Zeugen, die diese Urkunde mit unterzeichnen werden, meinen letzten Willen.
Ich setze zu meinem Erben den nächsten meiner Verwandten ein, gleichgültig, wie alt dieser ist, ob Mann oder Weib. Es leben Verwandte von mir [9] in Deutschland und zwar in Danzig. Seit zwanzig Jahren habe ich nichts von ihnen gehört. Mein Testamentsvollstrecker wird meinen Erben zu finden wissen.
Der, der für die Erfüllung meines letzten Willens sorgen wird, ist mein Oberingenieur Hektor Edward Pareawitt. Er soll meine Besitzungen sämtlich verkaufen. Für seine Mühewaltung erhält er 5000 Sterling.
Falls meine Verwandten sämtlich vor mir gestorben sein sollten, fällt mein Vermögen, das ich auf drei Millionen nach deutschem Gelde schätze, an das deutsche Reich, mit der Bestimmung, daß die Zinsen im Interesse meines alten Vaterlandes verwendet werden.
Unter allen Umständen sind an meine Beamten und Arbeiter Legate auszuzahlen in der Weise, daß jeder ein volles Jahresgehalt erhält.
Dieses Testament ist bei dem deutschen Generalkonsul in Kapstadt niederzulegen, den ich bitte, meinen Vertrauten Pareawitt nach Möglichkeit zu unterstützen.“
Pelletan schwieg.
„Gut so,“ erklärte der Sterbende mit letzter Kraft. „Eine Feder –“
Pareawitt stützte ihn, als er unterschrieb.
Es war die höchste Zeit gewesen. Mit einem dumpfen Ächzen sank Albert Wendel zurück. Seine Finger schlossen und öffneten sich krampfhaft. Dann ging’s wie ein Ruck durch den massigen Leib.
„Das Ende,“ sagte der Arzt leise.
Pareawitt zerdrückte eine Träne.
Der Buchhalter Pelletan aber murmelte unhörbar vor sich hin „Merken wir’s uns! In Danzig!“
Drei Monate nach diesen Ereignissen finden wir Hektor Edward Pareawitt in der Hauptstadt des Deutschen Reiches und zwar bei dem Inhaber des Detektivbureaus „Argus“ wieder.
„Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Pareawitt?“
Der Oberingenieur, der die schlanke Figur und das markante Gesicht des berühmtesten Detektivs Berlins mit wohlgefälligen Blicken gemustert hatte, sagte mit leichter Verbeugung:
„Sie sind mir durch einen Freund, der hier in Berlin wohnt, empfohlen worden, Mr. Schaper. Man rühmt Ihnen ganz ungewöhnliche Fähigkeiten als Detektiv nach. Als Einleitung will ich Ihnen eine kleine Episode aus dem Minenleben Südafrikas erzählen.“
Der Oberingenieur berichtete nun ausführlich über Albert Wendels trauriges Ende und fügte dann hinzu:
„Nach dem prunkvollen Begräbnis meines Herrn und Freundes wurde vom Gericht eine Kommission von drei Vertrauensmännern eingesetzt, die den Besitz Albert Wendels, dessen Wunsch entsprechend, zu Geld machen sollten. Zu dieser Kommission gehörte auch der erste Buchhalter der Barbu-Mine, ein Mann namens Charles Pelletan. Dieser Pelletan, ein Franzose, hat nun die auf ihn gesetzten Hoffnungen, daß er infolge seiner Geschäftstüchtigkeit sich recht nützlich erweisen würde, schwer getäuscht, indem er bald nach meiner Abreise versuchte, allerlei Vermögenswerte der Erbschaftsmasse beiseite zu schaffen. Sein Raub konnte ihm noch rechtzeitig abgejagt werden. [11] Er selbst entfloh. Die von der Polizei sofort aufgenommene Verfolgung blieb resultatlos. All diese Dinge meldete man mir gestern erst durch eine Depesche. Infolgedessen sehe ich mich genötigt, meinen Aufenthalt hier in Deutschland abzukürzen.“
Pareawitt machte eine kurze Pause.
„Was mich nach Deutschland geführt hat,“ begann er dann wieder, „werden Sie bereits ahnen, Mr. Schaper. Ich wollte hier den Erben Albert Wendels ausfindig machen. Mein verstorbener Chef hatte in dem kurz vor seinem Tode errichteten Testament über seine Verwandten nur angegeben, daß diese seiner Zeit in Danzig gelebt hätten. Mir selbst war über diesen Punkt, aus gelegentlichen Gesprächen mit Wendel, der mir stets sein vollstes Vertrauen geschenkt hat, noch einiges andere bekannt. Fraglos ist Albert Wendel vor nunmehr einundzwanzig Jahren nach Südafrika irgend einer dunklen Geschichte wegen ausgewandert. Was ihn aus der Heimat vertrieben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Andeutungen, die er mir gegenüber machte, ließen jedoch, soweit ich daraus etwas kombinieren konnte, darauf schließen, daß ein Bruder von ihm hierbei irgend eine Rolle spielte, ferner eine Liebesaffäre, die ihn dann auch zu dem ausgesprochenen Weiberfeind werden ließ, als der er in Kimberley bekannt war. – Gleich nach seinem Ableben hatte ich mich nun mit einer hiesigen Annoncenexpedition in Verbindung gesetzt und in fast sämtliche deutschen Zeitungen einen Aufruf einrücken lassen, in dem Verwandte des vor Jahren nach Afrika ausgewanderten Albert Erich Wendel ersucht wurden, sich beim Generalkonsulat in Berlin in einer wichtigen Angelegenheit zu melden.“
„Und auf Ihren Aufruf hin hat sich niemand gemeldet?“ fragte der Detektiv, um die Unterredung nicht zu sehr in die Länge zu ziehen.
[12] „Niemand – leider. Und dabei habe ich einen ganzen Monat täglich die Annonce bringen lassen, was eine nette Summe Geldes kostete.“
„Mit einem Wort: auf diese Weise kommen Sie nicht ans Ziel, Mr. Pareawitt, und nun soll ich helfen,“ sagte der Detektiv offen.
„Stimmt! Ich habe Ihnen schon alles mitgebracht, was nötig ist. Hier sind Abschriften der bei Albert Wendel gefundenen Legitimationspapiere, ein paar photographische Gruppenaufnahmen, die aus seiner Jugendzeit stammen und auf denen er mit abgebildet ist, sowie zwei Briefe, vergilbt und verfleckt, die in der gleichen Mappe mit den Legitimationen lagen. Mehr Material vermag ich Ihnen nicht zu liefern. Sehen Sie zu, was Sie damit ausrichten.“
„Danke. Es wird wohl genügen,“ meinte Schaper, indem er die Sachen, die Pareawitt ihm reichte, auf den Schreibtisch legte. „Und was gedenken Sie selbst zu tun?“ fragte er sodann.
„Ich kehren mit dem nächsten Dampfer nach Südafrika zurück, wo ich, wie gesagt, dringend zu tun habe, nachdem Pelletan das Weite gesucht hat. Damit wäre das Geschäftliche erledigt,“ meinte der Oberingenieur etwas zögernd. „Wenn es Ihre Zeit erlaubt, möchte ich nun noch gern eine Auskunft von Ihnen haben, und zwar hinsichtlich jenes Sensationsfalles, den die Presse der ganzen Welt unter dem Titel „Die Mumie der Königin Semenostris“ behandelte.“
„Bitte – fragen Sie nur,“ sagte Schaper liebenswürdig, obwohl er wußte, daß draußen im Vorzimmer noch ein halbes Dutzend Klienten wartete.
„Dank’ Ihnen! – Dann also: Jener Amerikaner, den man zu den eigenartigsten Verbrechertypen der modernen Zeit rechnen muß, starb durch Gift, nicht wahr? Und weiter: Hatte er eigentlich irgend welche Anverwandten, die sich nach seinem Tode meldeten?“
[13] „Ihre erste Frage kann ich bejahen. Der Mann endete durch ein Gift, das der Wissenschaft bisher unbekannt war. In seinem Nachlaß fand ich am Morgen nach seinem Tode eine Art Testament, in dem er die Behörden im Falle seines plötzlichen Endes bat, sofort einen gewissen Thomas Shepperley von seinem Hinscheiden zu benachrichtigen. Dieser Shepperley wohnte seit einiger Zeit in Berlin, legitimierte sich als alter Freund des Amerikaners und erhielt dessen Leiche nach deren Freigabe durch die Polizei zur Beerdigung ausgehändigt. Der Tote wurde dann in aller Stille auf dem Kirchhof der Berliner Fremdenkolonie beigesetzt. Sonst hat sich niemand um den grauenvollen Menschen gekümmert, der ohne Zweifel ein hochbegabter Chemiker von immensem Wissen gewesen sein und über Kenntnisse verfügt haben muß, die unseren Gelehrten noch ein Buch mit sieben Siegeln sind.“
Pareawitt nickte nachdenklich mit dem Kopf.
„Ja, ein merkwürdiges Genie war es wirklich, das muß man sagen! Ich habe mich wahrhaftig nie um Kriminalfälle gekümmert; aber diese Sache, die jetzt ein reichliches halbes Jahr zurückliegt, haftet noch ganz genau in meinem Gedächtnis. Nur der Ausgang des Dramas war mir entfallen. – So, nun vielen Dank. Leben Sie wohl, Mr. Schaper. Und – wenn Sie eine Spur von dem Erben entdecken sollten, geben Sie mir telegraphisch Nachricht.“
Nachdem der Detektiv dann die übrigen Klienten abgefertigt hatte, nahm er ein Kursbuch zur Hand und suchte sich den passendsten Zug nach Danzig heraus. Sodann klingelte er nach seinem Bureauvorsteher.
„Lemke, ich fahre heute abend 10 Uhr 58 Minuten nach Danzig,“ sagte er seinem treuen Mitarbeiter Bescheid. „Es liegt eine ziemlich „fette“ Sache vor – [14] Millionenerben werden gesucht. Da möchte ich persönlich die nötigen Nachforschungen anstellen.“
Lemke nickte. „Die übrige Arbeit, die wir augenblicklich haben, ist ja auch nichts Aufregendes. Alles Durchschnittssachen,“ meinte er. „Damit werden schon unsere Leute fertig. Nur – hm, ja –“
„Nur –? Was wollen Sie mit diesem Wörtchen sagen? – Zieren Sie sich nicht! Heraus mit der Sprache!“
„Der Brief, der gestern eintraf, Herr Schaper, an den denke ich. Sie scheinen das –“
„Donner und Doria!“ rief der Detektiv temperamentvoll. „Sie haben recht. Das habe ich vergessen. Bringen Sie mir doch einmal den Brief her. Ich will ihn nochmals durchsehen und mich dann entschließen, welche Schritte zunächst zu tun sind.“
Schaper, der den gestern eingetroffenen Brief nur flüchtig durchgesehen hatte, da wichtigere Dinge ihn gerade beschäftigten, las jetzt in Ruhe das in mehrfacher Beziehung recht merkwürdige Schreiben nochmals Wort für Wort. Die Handschrift zeigte keine Besonderheiten, war vielmehr etwas unbeholfen, fast kindlich.
Der Inhalt lautete folgendermaßen:
Bevor ich Ihnen, geehrter Herr Schaper, die Einzelheiten des Falles, den ich Ihrer Findigkeit anvertrauen möchte, mitteile, muß ich Ihnen offen bekennen, daß ich in den bescheidensten Vermögensverhältnissen lebe und nur ein geringes Honorar, etwa 300 Mark, zahlen könnte. Ich schicke dies voraus, damit Sie auch in dieser Hinsicht genau informiert sind und mir nicht den Vorwurf machen können, Ihnen dies verheimlicht zu haben. Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar. Sollten Sie daher für die angegebene Summe die Sache nicht [15] erledigen können, so bitte ich diesen Brief zu verbrennen. Erhalte ich in einer Woche keine Nachricht, so entnehme ich daraus, daß Sie diesen Auftrag ablehnen. Jedenfalls aber müßte ich darauf bestehen, daß Sie persönlich meine Angelegenheit in die Hand nehmen, da ich der festen Überzeugung bin, daß eine Hilfskraft Ihres Instituts, und sei es die tüchtigste, hier nicht ausreicht.
Nun kurz den Sachverhalt. Vor einem halben Jahre etwa mietete ich von dem Kaufmann Wernicke, Gauben, die in der Nähe dieses Städtchens liegende sogenannte Mönchsabtei, ein altes, in einem Garten gelegenes Gebäude, in dem früher Karthäuser Mönche gehaust haben sollen. Ich bin ein alter Mann, dem das Leben übel mitgespielt hat und der hier fern dem Getriebe der Welt, die mich nur enttäuscht hat, seine Tage beschließen wollte. Ein langjähriger Diener teilt meine Einsamkeit, nebenbei ein Mann, der mein vollstes Vertrauen verdient und auf den keine Spur von Verdacht fallen kann, daß er etwa bei den rätselhaften Vorgängen, die Sie sofort hören werden, irgendwie mitbeteiligt ist. – Meine Hoffnung, hier in der Mönchsabtei in Ruhe und Frieden leben zu können, hat sich leider nicht bestätigt. Gleich nach meinem Einzug, in der zweiten Woche des Februar, stürzte mein Diener schreckensbleich eines Abends in mein Arbeitszimmer. Nach vieler Mühe erst brachte ich den vor Angst halb Bewußtlosen zum Reden. Er erzählte mir dann folgendes, und die späteren Vorfälle haben gezeigt, daß er leider nicht phantasierte, sondern seine Schilderung auf voller Wahrheit beruhte. Er war gegen neun Uhr noch ein wenig im Garten auf und abgegangen, da das milde, prächtige Wetter geradezu zum längeren Aufenthalt im Freien verlockte. Auf seiner Promenade hatte er sich ganz absichtslos auch in die Nähe der sogenannten Prior-Kapelle begeben, die [16] abseits von dem Hauptgebäude steht und fraglos früher einmal tatsächlich zur Abhaltung von Gottesdiensten benutzt worden ist, worauf sowohl die Form als auch die Innenausschmückung der jetzt halbzerfallenen und von Efeu überwucherten kleinen Baulichkeit schließen läßt. Hier war es, wo mein treuer Hartung plötzlich einer grauen Gestalt ansichtig wurde, die mit langschleppenden Gewändern aus einer Seitenallee hervorkam und langsam auf die Kapelle zuschritt. Hartung, ein Mann in den besten Jahren, dabei mutig und völlig frei von Aberglauben, rief die Erscheinung an und näherte sich ihr gleichzeitig, wobei ihn jedoch plötzlich ein so starkes Gefühl des Grauens überkam, daß er es nicht wagte, direkt auf die wie ein Schatten lautlos dahingleitende Gestalt loszuspringen. Jedenfalls blieb sein Anruf ohne Erfolg, und der Unbekannte – falls es sich eben um einen Menschen handelt, verschwand in der längst aus den Angeln gefallenen Tür der Prior-Kapelle. Inzwischen hatte mein Diener seine Anwandlung von Furcht überwunden und drang nun, indem er einen am Boden liegenden Spaten als Waffe aufgriff, und das Flämmchen seines Taschenfeuerzeugs als Leuchte benutzte unerschrocken in die Ruine ein. Im Innern fand er einige trockene Zweige, die er schnell zu einer primitiven Fackel vereinte, bei deren Licht er die Kapelle gründlich durchsuchte. Diese besteht aus zwei Räumen. Durch die Tür gelangt man in die eigentliche Kapelle, die vielleicht sechs Meter lang und vier Meter breit ist. An der gegenüberliegenden Wand führt ein schmales Pförtchen in einen Anbau, eine Art Sakristei, die jetzt ebenso leer ist wie der Hauptraum und in der ebenfalls nur Spinnen, Mäuse und Ratten ihr Wesen treiben. Einen zweiten Ausgang gibt es nicht, worauf ich besonders aufmerksam mache. Die Fenster, zwei Meter über dem zertrümmerten Steinplattenboden gelegen, sind mit noch [17] verhältnismäßig gut erhaltenen Ziergittern versehen.
Hartung entdeckte auch nicht eine Spur von der seltsamen Erscheinung, die in der Kapelle verschwunden war, obwohl er jeden Winkel, fast jede Mauerritze ableuchtete. Nachdenklich von einem gewissen Unbehagen befangen, wollte er durch die Tür gerade wieder ins Freie hinaustreten, als eine unsichtbare Hand ihm die noch brennenden und inzwischen ergänzten Zweige aus der Hand riß und in die dünne, winterliche Schneedecke des Gartens schleuderte. Hartung, der augenblicklich herumfuhr um den Attentäter, den er hinter sich vermutete, zu erwischen, sah und hörte nichts. Totenstill lag der Innenraum der Kapelle da. Kein Wunder, daß meinen Diener unter diesen Umständen abergläubische Angst packte und er wie ein von Furien Gejagter davonstürzte. In diesem Zustande langte er in meinem Zimmer an.
Ich will Ihre Zeit nicht durch weitschweifige Ausführungen in Anspruch nehmen. Ich selbst habe die Erscheinung in den inzwischen verflossenen Monaten nicht weniger als acht Mal gesehen, angerufen und bin ihr ebenfalls in die[2] Prior-Kapelle gefolgt. Stets tauchte sie in jener Allee auf, die von Lebensbäumen eingerahmt ist und an deren einer Seite sich ein altes Grabmal mit einer mächtigen Steinplatte darauf befindet. Die Natur dieses grauen, bis zum Kopf in wallende Tücher gehüllten Geschöpfes zu ergründen, ist mir nicht gelungen. Nur ein Mal sah ich etwas von dem Gesicht dieses – sagen wir ruhig – Gespenstes. Ein blasses, bartloses Antlitz, anscheinend das eines Mannes, war’s. Und ein andermal wieder, an jenem Abend, als ich mir den Besitzer der Mönchsabtei, den Kaufmann Wernicke, gleichsam als Zeugen eingeladen hatte, damit er sich von der Wahrheit meiner Angaben vergewissere, wagte ich es, der Erscheinung sogar den Weg zu vertreten. Da es eine stockdunkle [18] Nacht war, hatte ich mir eine hellleuchtende Acetylenlaterne mitgenommen. Und was geschah?! Mit einer geradezu hoheitsvollen Gebärde streckte das Gespenst den Arm aus. Meine Füße waren in demselben Moment wie gelähmt, die Laterne verlöschte ohne jede äußere Ursache, und – ruhig schritt „der Graue“, wie wir den unheimlichen Wanderer längst getauft haben, in die Kapelle hinein.
So stehen hier die Sachen. Wernicke, der sein Anwesen gern verkaufen möchte, hat mich flehentlich gebeten, über meine Beobachtungen zu schweigen, da er die Mönchsabtei sonst niemals veräußern kann. Jeder Käufer würde ja durch die Geistererscheinung abgeschreckt werden. Nunmehr hat er darein gewilligt, daß ich Ihnen die unheimliche Geschichte anvertraue. Er will auch die Hälfte der Kosten tragen, was schon sehr viel bedeutet, da der Mann sehr sparsam, fast geizig ist. – Mit einem Wort: Drei einwandfreie Zeugen, nämlich Wernicke, mein Diener und ich, haben die Erscheinung beobachtet. An ihrer Existenz ist mithin nicht zu zweifeln. Und da ich als aufgeklärter Mensch an übernatürliche Dinge nicht glauben kann, anderseits aber eine Erklärung für das Geschaute nicht zu finden vermag, bitte ich Sie der Sache auf den Grund zu gehen.
„Daß diesen Bericht ein Privatgelehrter verfaßt hat, merkt man,“ brummte Fritz Schaper vor sich hin, nachdem er mit der Lektüre fertig war. „Gerade das, worauf es ankommt, fehlt. – Nun, sehen wir zunächst einmal nach, wo dieses Nest mit dem schönen Namen Gauben liegt. Denn – der Fall interessiert mich. [19] Ich rieche förmlich das Außergewöhnliche. In dieser Beziehung habe ich mich noch nie getäuscht.“
Er holte das Kursbuch wieder hervor, schlug die Eisenbahnkarte von Ostdeutschland auf und:
„Holla! Da haben wir’s ja schon. Also an der Bahnlinie Stettin-Danzig, unweit von Stolp, das paßt ja vorzüglich. Die Sache wird gemacht.“
Er klingelte und befahl dem eintretenden Lemke, sofort ein Antwortschreiben für Friedrich Müller aufzusetzen des Inhalts, daß er in den nächsten Tagen in Gauben eintreffen würde.
Auf die drei furchtbaren Sturmtage mit ihren anhaltenden Regengüssen war endlich wieder ein sonnenklarer Tag gefolgt. Noch grollte die See, warf noch immer den weißen Gischt ihrer sich überstürzenden Wogen bis zu dem hölzernen Bootssteg hinauf, der bei jedem Anprall der Wasserberge zitterte, stöhnte und ächzte wie ein gepeinigtes, gereiztes Tier.
Mit dem Nachlassen des Orkans und unter den scheinbar die Natur zum Frieden mahnenden, besänftigenden Strahlen des heute vom wolkenlosen, blauen Augusthimmel herableuchtenden Tagesgestirns beruhigten sich die aufgepeitschten Wogen zusehends, wurden kleiner, zahmer, sodaß bereits mehrere Boote des holsteinischen Fischerdorfes es gewagt hatten, nach der großen Brigg hinauszurudern, die dort draußen, den Bug hochaufgerichtet und ihrer gesamten Takelage beraubt, auf der etwa fünfhundert Meter vom Strande [20] entfernten Sandbank inmitten der schäumenden Brandung lag, jetzt ein hilfloses Wrack, und vor drei Tagen noch ein schmucker Segler, den erst der verhängnisvolle Sturm in regenfinsterer Nacht aus seinem Kurs gegen die gefährliche Westküste von Holstein getrieben hatte.
Doktor Heinz Gerster, der neben Frau Käti Deprouval auf der Spitze des Bootssteges stand, ließ soeben das Fernglas sinken, mit dem er bisher nach dem gestrandeten Fahrzeug hinübergeschaut hatte.
„Ein Boot kommt bereits zurück. Da werden wir bald näheres über das Schiff erfahren, gnädige Frau,“ sagte er interessiert.
„Ob denn wirklich die ganze Besatzung den Tod in den Wellen gefunden haben mag?“ meinte die schlanke, blasse Dame mit ihrer müden, aber selten wohlklingenden Stimme.
„Leider besteht sehr wenig Hoffnung, daß sich auch nur ein einziger von der Bemannung gerettet hat,“ erwiderte Doktor Gerster.
Frau Deprouval schauderte wie fröstelnd zusammen.
„Die armen, armen Leute,“ sagte sie leise.
Wieder führte jetzt Doktor Gerster sein Fernglas an die Augen.
„Keine dreihundert Meter sind sie noch entfernt,“ erklärte er ganz aufgeregt.
Und nach einer Weile:
„Wirklich, ich täusche mich nicht. Sie haben einen sechsten Mann im Boot. Das ist kein Fischer. Vielleicht, nein, was rede ich – bestimmt ist’s einer der Besatzung.“
Immer mehr näherte sich das auf den Wogen auf und abtanzende kleine Fahrzeug dem Stege. Jetzt konnte man schon mit bloßen Augen die Gesichter erkennen.
[21] Da – was bedeutete das? – Wahrhaftig, das Boot wandte plötzlich und kehrte mit schnellen Ruderschlägen zu dem Wrack zurück.
„Begreifen Sie diese hastige Umkehr?“ meinte Heinz Gerster, das Fernglas absetzend.
Keine Antwort. Unwillkürlich blickte er auf seine Nachbarin. Weshalb schwieg sie so hartnäckig?
Doktor Gerster fuhr erschreckt zusammen. Ein Blick in Frau Kätis Gesicht klärte ihn auf – denn leichenblaß, die Augen halb geschlossen, lehnte sie schwer, wie mit einer Ohnmacht kämpfend, am Geländer des Steges.
„Käti – Käti, was haben Sie, was fehlt Ihnen?“
Ängstliche Sorge lag im Ton seiner Stimme. Und ganz unbewußt hatte er die vertraute Anrede gebraucht, zu der nichts, nichts ihn berechtigte, die im Gegenteil dieser Frau gegenüber nichts als eine Verletzung der schuldigen Achtung war.
Mit aller Kraft raffte sie sich auf. Und es gelang ihr wirklich, etwas wie ein Lächeln mühsam hervorzuquälen.
„Eine momentane Schwächeanwandlung – nichts weiter,“ sagte sie mit leisem Seufzer.
Er hatte vorhin, um sie zu stützen, die Hand um ihre Taille gelegt. So lehnten sie jetzt dicht aneinander, ganz dicht. Keines regte sich, keines sprach ein weiteres Wort. Und doch fühlten sie nur zu deutlich, wie ein Strom unaussprechlicher Seligkeit von Herz zu Herzen floß, wie ihre Pulse schneller und schneller jagten.
Der Augenblick, den sie beide nach diesen vier Wochen, die sie, nur auf sich angewiesen, in dem kleinen Fischerdorfe verlebt hatten, so sehr fürchteten, war da.
Endlich erwachte sie wie aus einem wunderbaren Traum. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; [22] zaghaft machte sie sich von ihm los und sagte mit ihrer weichen, süßen Stimme:
„Seien wir verständig, mein Freund. Wir wissen, daß wir einander nie angehören können, nie! Und – ich danke Ihnen, Heinz, danke Ihnen aus vollem Herzen dafür, daß Sie diese Minute stillen Selbstvergessens nicht ausgenutzt haben – nicht das taten, was ein wenig ehrenhafter Charakter vielleicht gewagt hätte. Unsere Lippen sind rein geblieben, damit auch unsere Freundschaft. Und die wollen wir uns erhalten – bitte – bitte.“
Mit festem Druck fügten sich ihre Hände ineinander.
Heinz Gersters Kehle war wie zugeschnürt, jeder Nerv bebte an ihm. Alles in ihm bäumte sich auf gegen das Schicksal, das sie trennte, das ihre Wege nie zusammenführen würde, nie.
Da sprach sie schon weiter, gab seinen Gedanken eine andere Richtung.
„Lieber Freund, Sie haben mich schon so oft gebeten, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen. Vielleicht tue ich’s heute. Kommen Sie nachmittags zu mir in das kleine Gärtchen unter die breitästige Linde. Sie sollen sehen, daß ich Vertrauen zu Ihnen habe. Das soll mein Dank sein. – Und noch etwas anderes. Bleiben Sie jetzt bitte hier und geben Sie acht, ob wirklich einer der Schiffbrüchigen gerettet ist. Nachher erzählen Sie mir alles, nachher. Auf Wiedersehen.“
Leicht, federnden Schrittes ging sie über die Planken der Bootsbrücke hin. Versonnen schaute Doktor Gerster ihr nach.
Ein tiefer, qualvoller Seufzer entrang sich seiner Brust.
„Warum kann es nicht so sein, warum?“ dachte er, mit dem Geschicke hadernd, das ihn gerade hier in dem kleinen Fischerdorfe zufällig das Weib kennenlernen [23] ließ, daß er niemals, niemals vergessen würde.
Frau Käti war inzwischen in die Dünen einbogen, wo im Schatten eines größeren, zur Reparatur an Land geschleppten Kutters neben einem jungen, weiß gekleideten Mädchen ein etwa sechs Jahre alter Knabe im Sande spielte. Der Kleine, eine wahre Ausgeburt von Häßlichkeit, mit einem übergroßen Kopf und krankhaft verzerrten Zügen, streckte beim Anblick der Mutter die dünnen Ärmchen aus und rief mit seiner schrillen, quäkenden Stimme:
„Ricki, Kuchen – Kuchen – Kuchen –“
Unaufhörlich wiederholte er das letzte Wort und zeigte dabei mit einem freudigen Lächeln, das sein mißgestaltetes Antlitz noch mehr verzerrte, auf verschiedene Sandtürmchen, die er mit Hilfe von Holzformen hergestellt hatte.
Bei dieser Begrüßung, die der bedauernswerten Frau so recht wieder die ganze Größe ihres Unglückes vor Augen führte, vermochte Käti Deprouval die heißen Tränen gerade in ihrer jetzigen Stimmung nicht mehr zurückzuhalten.
Wildes Schluchzen ließ ihren zarten Körper wie im Krampf erbeben. Achtlos setzte sie sich nieder, vergrub das tränenfeuchte Gesicht in beide Hände und gab sich ihrem Schmerze zügellos hin.
Das junge Mädchen, die Erzieherin des kleinen Richard, redete ihr tröstend zu. Alles vergeblich. – Schließlich nahm sie mit sanfter Gewalt die Fassungslose in ihre Arme und streichelte ihr beruhigend über das blonde, nur von einem dünnen Schleier verdeckte Haar. Das half. – Langsam versiegten die Tränen, die Hände gaben das feine Gesichtchen frei.
„Aber liebe, liebe Frau Deprouval, woher nur wieder dieser Anfall wilder Verzweiflung?“ sagte Rita Meinas leise und nahm Kätis Hände tröstend in die ihren.
[24] Frau Käti nickte traurig vor sich hin.
„Wenn Sie wüßten,“ sagte sie leise und preßte die Finger des jungen Mädchens mit fast schmerzhaftem Druck. „Oh dieses Entsetzen, wenn so plötzlich die Vergangenheit vor einem wieder auftaucht, wenn Erinnerungen wachwerden, die mich mit Abscheu und Grauen erfüllen –“
Und plötzlich, ganz unvermittelt, sprang sie dann auf und sagte hastig:
„Kommen Sie, Rita, wir wollen gehen. Es ist zu heiß hier am Strande.“
In demselben Augenblick näherte sich wieder eines der Fischerboote, die nach der Brigg hinausgefahren waren, dem Stege. Fluchtartig eilte Frau Käti davon, indem sie ihr unglückliches, schwachsinniges Kind mit sich zog.
Heinz Gerster hatte den alten Fischer Iversen bei Seite genommen und suchte von ihm zu erfahren, weswegen sie so plötzlich wieder umgekehrt und nach dem gestrandeten Fahrzeug zurückgerudert waren.
„Ja, sehen Sie, Herr Doktor,“ sagte der Alte, „das war nu ’ne dolle Sach’. Also wir fanden da drüben an Bord einen einzigen Herrn, einen Passagier der „Karola“. So heißt nämlich die Brigg. Die anderen, ja, die hat alle die See verschlungen – alle. Die Leichen werden wohl bald an den Strand getrieben werden. Aber ob grad’ hier bei uns, ist fraglich. Der Herr von der „Karola“ packte denn nu seinen Koffer in unser Boot, und wir stießen ab. Mit ’en Mal, dicht an ’en Bootssteg, bückt er sich und sagt so recht barsch: „Augenblicklich umkehren. Ich hab’ was vergessen. Zehn Mark gibt’s, wenn Ihr Euch beeilt.“ – Na, zehn Mark!! Wir taten’s. Dann kletterte er wieder allein auf die „Karola“ zurück. Wir [25] warten und warten. Er kommt nicht wieder. Und dann steckt er plötzlich den Kopf über die Reling und ruft „Achtung!“ Und damit ist er auch schon unten im Boot. – Was, denken Sie, hat er geholt? Eines der Schiffsfernrohre, Herr Doktor! Ne komische Sach’, nicht wahr?! Und, während wir dann an Land paddeln, läßt er das Glas nicht von den Augen, sucht damit immer den Strand ab.
„Einsame Küste hier,“ meint er zu mir.
„Freilich, Herr. Auf zehn Meilen ist unser Dorf das einzige,“ sag ich.
„Habt Ihr auch Badegäste?“ fragt er nach ’ner Weile.
„Waren gegen hundert hier, sind aber schon wieder weg,“ sag ich zu ihm. „Nur vier haben bis jetzt ausgehalten,“ setzt’ ich hinzu.
„So. Wohl Herren alles?“ fragt er wieder.
„Nee – das gerade nich. Eine Münchener Dame mit ihrem Kinde und eine Erzieherin und der Doktor Gerster,“ geb’ ich zur Antwort.
Da wurde er ganz still. Und mit einem Mal verlangt er, wir sollen ihn nicht am Bootssteg, sondern weiter unten am Strand absetzen.
Nu, wir taten ihm den Gefallen. Und dann mußte ihm Johann Petersen gleich einen Wagen bestellen. Er wollte sofort nach Schülp zum Herrn Landrat fahren, dem er wichtiges mitzuteilen habe. Nachher würd’ er denn zurückkommen und dem Gemeindevorsteher seine Aussage zu Protokoll geben, nämlich über die Strandung. Das muß so sein, Herr Doktor. Seinen Koffer ließ er hier. Und dann fuhr er mit des Kreuzwirts Wagen davon. Abends sei er wieder zurück, sagt er noch.“
Heinz Gerster schlenderte darauf sehr nachdenklich seiner Sommerwohnung zu, die er bei dem Pfarrer des Dorfes gemietet hatte.
[26] Nach dem Mittagessen legte er sich in dem schattigen Garten in seine Hängematte und versuchte die Zeit bis zum Kaffee zu verschlafen.
Endlich konnte er sich auf den Weg zu der Frau Käti Deprouval machen.
Er fand das Nest leer.
„Plötzlich abgereist,“ sagte ihr Wirt achselzuckend. „Hier – diesen Brief soll ich Ihnen abgeben, Herr Doktor.“
Heinz Gerster riß den Umschlag auf und las – las – –
In unser beider Interesse halte ich es für das Beste, ohne langen Abschied von Ihnen zu gehen. Suchen Sie mich zu vergessen! Es muß sein. Und – nochmals danke ich Ihnen für alles das, was Sie mir gegeben haben durch Ihre zarte, vornehme Aufmerksamkeit, Ihre sorgende Freundschaft.
Leben Sie wohl! Auf ewig!
Heinz Gerster atmete schwer. Ihn fröstelte plötzlich. Und dann eilte er seinem Heime zu. Ohne rechts oder links zu blicken schritt er hastig dahin. Käti hatte recht. Er mußte vergessen! – Sie war ja nicht frei, hatte einen Gatten, ein Kind! Und dies Vergessen sollte ihm seine Arbeit bringen. Schon so oft war diese seine beste Trösterin gewesen.
Fritz Schaper hatte seinen Entschluß, sofort nach Danzig zu fahren, ausgeführt. In Danzig angelangt, frühstückte er zunächst auf dem Bahnhof, brachte seinen äußeren Menschen in Ordnung und begab sich dann sofort auf das Einwohnermeldeamt, wo er erfuhr, daß Albert Wendel einen Bruder gehabt habe, der vor sieben Jahren unter Zurücklassung eines einzigen Kindes, einer Tochter, gestorben sei. Diese Tochter habe inzwischen Danzig verlassen. Ihr neuer Wohnsitz sei unbekannt. Weitere Verwandte besitze der verstorbene Minenbesitzer offenbar nicht, meinte der Beamte, mit dem der Detektiv verhandelte.
Schaper bedankte sich für die freundliche Auskunft und wollte schon das Büro verlassen, als der gefällige Herr ihn nochmals heranwinkte.
„Sie sind jetzt der zweite, der sich nach der Familie Wendel erkundigt,“ sagte er mit schlauem Augenzwinkern. „Das hängt wohl mit dem Aufruf zusammen, der in den Zeitungen stand, nicht wahr?“
„Der Zweite?“ meinte Schaper mit schnell erwachtem Argwohn. „Ich weiß nur, daß der Bevollmächtigte jenes Albert Wendel hier in Danzig telegraphisch nach Verwandten des Verstorbenen angefragt hat.“
„Gestern war schon ein Herr hier,“ erklärte der Beamte wichtig. „Er fragte genau dasselbe wie Sie. Nur legitimiert hat er sich nicht. Er sagte, er sei ein Freund des Minenbesitzers. – Nicht wahr, Herr Schaper, hier spielt wohl eine Erbschaft mit? In dem Aufruf stand ja nichts davon. Aber – man kombiniert sich doch so allerlei zusammen.“
[28] „Ich vermag Ihnen über diesen Punkt nichts bestimmtes anzugeben,“ erwiderte der Detektiv vorsichtig. „Ich habe nur den Auftrag erhalten in der Form, wie ich es Ihnen mitteilte, d. h. ich soll feststellen, wer noch von der Familie Wendel lebt. Alles andere geht mich auch nichts an.“
Eine Viertelstunde später schickte Fritz Schaper dem Vorsteher des Standesamtes seine Karte hinein. Er wurde sofort vorgelassen. Und hier bekam er schon genaueren Aufschluß.
Der Holzkaufmann Markus Albert Erich Wendel hatte zwei Söhne gehabt. Der Ältere, Albert Erich Wendel, war unvermählt geblieben. Der Jüngere, Markus Gottlieb Wendel, hatte sich im Jahre 1892 verheiratet. Aus dieser Ehe war nur eine Tochter entsprossen, die am 2. Februar 1893 geborene Charlotte Marie Gertrud Wendel. Markus Wendel jun. hatte zuletzt Breitgasse Nr. 14 gewohnt und war dort auch verstorben.
Schaper notierte sich all dies genau. Dann wandte er sich noch mit einer letzten Frage an den Standesbeamten.
„War gestern vielleicht schon ein Herr hier, der sich ebenfalls nach der Familie, die mich so sehr interessiert, erkundigte?“
„Allerdings. Der Betreffende stellte sich als alter Freund des Minenbesitzers vor und erklärte, er wolle den Angehörigen des Verblichenen dessen letzte Grüße übermitteln.“
Schaper war über diese Antwort nicht weiter erstaunt. Er hatte sie eigentlich vorausgesehen. Also verfolgte noch ein anderer Mensch dasselbe Ziel wie er. Wer konnte dies aber sein? Fraglos doch niemand, der von dem Oberingenieur Pareawitt beauftragt war?! – Der Detektiv überlegte. Er mußte klarsehen.
[29] „Würden Sie so liebenswürdig sein und mir den Herrn beschreiben,“ bat er den Beamten.
„Aber gern, Herr Schaper,“ beeilte sich der Standesbeamte zu erwidern. „Der Betreffende war etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte ein frisches, gebräuntes Gesicht, kleines, dunkelblondes Bärtchen und noch dunkleres, gescheiteltes Haar, schmale, feingeformte Nase – und das fiel mir auf – selten schmale, zarte Hände.“
„Irgend ein besonderes Kennzeichen merkten Sie nicht?“ forschte Schaper weiter, indem er alles in sein Notizbüchlein eintrug.
Der Gefragte zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, ob’s Ihnen wichtig erscheint, Herr Schaper. Jedenfalls hatte der Herr auf dem – ja, es war der linke – also auf dem linken oberen Eckzahn eine Goldkrone, die beim Sprechen deutlich sichtbar wird.“ –
Der Detektiv winkte, als er sich wieder auf der Straße befand, eine gerade vorüberfahrende Taxameterdroschke heran und rief dem Kutscher die Adresse zu, die er vorhin von dem Standesbeamten gehört und sich notiert hatte.
Das Haus Breitegasse Nr. 14 war eines jener alten, schmalen Häuser, deren eigenartiger Baustil in der Architektur direkt mit „Danziger Patrizier-Form“ bezeichnet wird.
Der Besitzer, ein pensionierter Steuerrat, bewohnte die Hochparterre-Gelegenheit. Fritz Schaper hatte Glück. Der alte Herr, ein redseliger Junggeselle, war zu Hause. Auch ihm gegenüber wies sich der Detektiv durch seine Papiere aus, worauf der Steuerrat ihn höflich zum Platznehmen einlud.
„Dürfte ich einige Fragen an Sie richten, Herr Rat?“ begann Schaper die Unterredung.
„Bitte. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.“
„Wie lange sind Sie schon Besitzer dieses Hauses?“
[30] „Seit achtzehn Jahren.“
Schaper atmete auf. Hier befand er sich also an der richtigen Quelle. Mit wenigen Worten brachte er nun sein Anliegen vor.
Der alte Herr nickte freundlich.
„Was ich weiß, sollen Sie erfahren. – Die Wendels sind eine alteingesessene Danziger Familie und waren früher mit die reichsten der Danziger Patrizier-Geschlechter. Vielleicht ist Ihnen das in die Mauer eingelassene Schild über der Haustür in die Augen gefallen. Es ist ein Wappen, das der Familie Wendel, die als eine der wenigen Danziger Familien zur Führung eines solchen berechtigt ist. Mit Markus Wendel, dem Vater der „feindlichen Brüder“, – Sie werden bald verstehen, weshalb ich diesen Ausdruck gebrauche, – begann der Niedergang des Geschlechts. Die Wendels bewohnten damals noch dieses ganze Haus. Ihre Gastfreundlichkeit war berühmt, nicht minder ihre an Verschwendungssucht grenzende üppige Lebensweise. Mit einem Wort: Das Holzgeschäft, das bis dahin glänzend gegangen war, verkrachte plötzlich, und die Wendels standen buchstäblich vor dem Nichts. Hätten nicht gute Freunde sie unterstützt, so wären sie ganz untergegangen, obwohl die beiden erwachsenen Söhne den Eltern nach Möglichkeit halfen. Denn die beiden alten Wendels überlebten den Schicksalsschlag nicht lange. Es kann so um das Jahr 1890 gewesen sein, als sie kurz hintereinander starben. – Ich muß an dieser Stelle nachholen, daß die beiden Brüder, die nicht sehr gut miteinander standen, in demselben Geschäft, einer Zuckerexportfirma, tätig waren. Wie es leider schon öfter geschehen ist, wollte es ein unglücklicher Zufall, daß sie sich bald nach dem Tode der Eltern in dasselbe junge Mädchen verliebten, eine ziemlich begüterte Waise, die jedoch lange schwankte, wem von ihren beiden so nahe verwandten [31] Verehrern sie den Vorzug geben sollte. Da passierte plötzlich eine Geschichte, die wohl nie völlig aufgeklärt werden wird, zumal inzwischen mehr denn zwanzig Jahre verstrichen sind. Bei der Zuckerfirma, die die Brüder als Korrespondenten beschäftigte, wurde eines Tages eine größere Geldsumme aus dem zufällig offenstehenden Geldschrank gestohlen. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich auf den Älteren, auf Albert Wendel. Er wurde auch verhaftet, mußte aber bald wieder aus Mangel an Beweisen freigelassen werden. Albert Wendel zog aus diesen Ereignissen die einzig richtige Konsequenz, als er merkte, daß alle Welt ihm aus dem Wege ging: er wanderte aus. Lange Jahre hat niemand etwas von ihm gehört. Erst durch den Aufruf in den Zeitungen erfuhren die Danziger, daß ihr Landsmann nach Südafrika gegangen war. – Vor der Abreise des älteren Wendel soll es zwischen den Brüdern zu einer erregten Aussprache, beinahe zu Tätlichkeiten, gekommen sein. Es wird erzählt, Albert habe seinem Bruder Markus geradezu vorgeworfen, selbst den Diebstahl begangen und nur deswegen den Verdacht auf ihn gelenkt zu haben, um ihm das Herz des von beiden umworbenen Mädchens abspenstig zu machen.“
„Eine Zwischenfrage, Herr Steuerrat,“ unterbrach der Detektiv den liebenswürdigen Alten. „Hat diese Aussprache denn einen Zeugen gehabt?“
„Bestimmt weiß ich das nicht. Die Wendels hatten eine Haushälterin, und die soll die Streitenden, als der Lärm ihr zu groß wurde, getrennt und – vorher wohl so ein wenig gelauscht haben.“
„Lebt die Frau noch?“ meinte Schaper interessiert.
„Ja. Im städtischen Altenheim. Sie ist inzwischen ein steinaltes Mütterchen geworden, dabei aber geistig und körperlich noch recht rüstig. Frau Helene Anton heißt sie. Ich kenne sie persönlich, da ich [32] ja von dem jüngeren Wendel nachher dieses Haus kaufte und sie ihm damals noch die Wirtschaft führte.“
„Danke, Herr Steuerrat. Das Weitere reime ich mir schon selbst zusammen. Markus Wendel heiratete die junge Dame, und beider Kind ist Charlotte Wendel.“
Der alte Herr lächelte. „Na, so alles wissen Sie doch noch nicht, Herr Schaper. Über Markus Wendel ist nämlich noch so manches zu berichten.“
„Die jungen Eheleute, hauptsächlich aber wohl der Ehemann, gefielen sich nicht mehr in diesem alten Hause,“ begann er wieder. „Sie zogen nach Neugarten in einen der modernen Prachtbauten, während ich das Wendelsche Palais, wie die Danziger es großartig nennen, erwarb. Die Ehe war keine glückliche. Bald drang so allerlei an die Öffentlichkeit, was auf den jüngeren Wendel kein gutes Licht warf. Er spielte, trieb sich in allerlei fragwürdigen Lokalen die Nächte über umher und – brachte es fertig, daß er nach zehn Jahren nicht nur das Vermögen seiner Frau vergeudete, sondern auch seine Anstellung verloren hatte und nun als von allen früheren Bekannten nach Möglichkeit gemiedener Versicherungsagent kärglich sein Leben fristen mußte. Bald nach diesem pekuniären Zusammenbruch starb seine Frau, und er blieb mit seinem damals zwölfjährigen Töchterchen allein zurück. Vielleicht über sein verfehltes Dasein gewöhnte er sich nur allzuschnell das Trinken an. Trotzdem arbeitete er mit bewundernswerter Energie weiter. Als er dann fünf Jahre später starb, hinterließ er seinem Kinde wenigstens soviel, daß Charlotte Wendel, ein selten hübsches, kluges Mädchen, ihre Studien weiterfortsetzen und das Lehrerinexamen machen konnte. Darauf verschwand sie aus Danzig. Wohin, weiß niemand. Jedenfalls dürfte sie aber den Namen Wendel abgelegt haben. Sonst hätte die Polizei, die nach ihrem [33] Verbleib eifrig geforscht hat, sie auffinden müssen.“
Schaper waren gerade die letzten Sätze besonders interessant.
„Daß sie den Namen ihres Vaters nicht mehr führt, ist trotzdem wohl nur eine Vermutung, Herr Steuerrat,“ meinte er mit einem forschenden Blick auf den alten Herrn.
Dieser rückte verlegen sein Sammetkäppchen zurecht.
„Ich spreche über diese Sache nicht gern,“ sagte er zögernd. „Wenn ich wüßte, daß ich der jungen Dame durch eine kleine Indiskretion nützen könnte, würde ich sie ja schon auf mich nehmen.“
„Sie nützen ihr bestimmt,“ erklärte Schaper ernst. „Mein Wort zum Pfande!“
„Hm, das hat der Herr, der gestern bei mir war, auch gesagt. Und hinterher hat mir meine Offenheit doch leidgetan –“
Der Detektiv horchte hoch auf. – Wieder der andere, der ihm zuvorgekommen war! Wer in aller Welt konnte dieser Mensch nur sein?! Und – welche Zwecke verfolgte er?! Dieser Sache auf den Grund zu gehen, hielt Fritz Schaper für seine Pflicht.
Und so wandte er sich denn in freundlich überredendem Ton an den Steuerrat, der mißmutig vor sich hinschaute.
„Das, was Sie einem Manne, der sich bei Ihnen nur als Freund des verstorbenen Albert Wendel eingeführt hat, erzählt haben, können Sie mir, der Ihnen seine Legitimationen vorwies, doch erst recht anvertrauen. – Offenheit gegen Offenheit, Herr Rat. Charlotte Wendel winkt eine Millionenerbschaft. Das ist der Kernpunkt dieser Angelegenheit. Nur muß ich um Ihre strengste Verschwiegenheit bitten.“
Der alte Herr lächelte zufrieden.
[34] „Nun denn: Die Wahrheit ist, daß das junge Mädchen der Frau Anton, ihrer ehemaligen Amme und späteren Vertrauten, kurz vor ihrem Verschwinden aus Danzig erzählt hat, daß ihr Vater ihr auf dem Sterbebett ein Geheimnis gebeichtet habe, welches so furchtbar gewesen sei, daß sie den mit so traurigen Erinnerungen zusammenhängenden Namen für alle Zeit von sich werfen wolle und in der Fremde unerkannt sich ein neues Leben aufzubauen gedenke.“
Schaper schloß in scharfem Nachdenken halb die Augen. Er wußte, was Markus Wendel seinem Kinde gebeichtet hatte. Der Schuldige war also tatsächlich nicht der ältere sondern der jüngere der Brüder gewesen.
„Herr Rat, das, was Sie mir soeben mitteilten, hat Ihnen die alte Frau berichtet, nicht wahr?“ fragte er jetzt.
„Ja. Und ich glaube kaum, daß bisher noch ein dritter davon etwas wußte. Die Anton ist mir zu Dank verpflichtet. Ich habe ihr den Platz im Altenheim besorgt, als es ihr sehr schlecht ging.“
„Den jetzigen Namen oder den neuen Aufenthaltsort Charlotte Wendels kennen Sie nicht?“ Der Detektiv beobachtete bei dieser Frage genau das Gesicht des vor ihm Sitzenden.
„Nein, wirklich nicht. Möglich, daß die Anton Bescheid weiß. Es ist aber schwer etwas aus ihr herauszulocken, wenn sie nicht sprechen will.“ –
Schaper verabschiedete sich. Der Steuerrat geleitete ihn noch bis in den Flur hinaus, wo sich die Herren mit freundlichem Händedruck trennten.
Eine ganze Stunde hatte sich der Detektiv mit der alten Frau in der guten Stube des Vorstehers des Altenheims unterhalten. Diese Unterredung war wieder einmal eine von denen gewesen, bei der Fritz Schaper mit allen Mitteln seines scharfen Verstandes gekämpft hatte. Daß die Greisin tatsächlich geistig noch vollkommen frisch war, merkte er bereits nach den ersten Antworten, die sie ihm mit größter Zurückhaltung und recht unfreundlich gab.
Sie wisse nichts, garnichts – dabei blieb sie.
Da hatte der Detektiv andere Saiten aufgezogen. Er fühlte geradezu, daß die Alte, die sich weinerlich immer wieder auf ihr schwaches Gedächtnis berief, von irgend einer Seite beeinflußt war. Sofort hatte er an den Herrn gedacht, dessen Spuren er schon an allen in Betracht kommenden Stellen begegnet war. Und daher sagte er der Greisin dann sehr energisch auf den Kopf zu, daß der Herr, der gestern bei ihr gewesen sei, sie durch ein Geldgeschenk zum Schweigen verpflichtet habe.
Die Anton spielte recht geschickt die Erstaunte. Es wäre niemand zu ihr gekommen, alles wäre Unsinn. – Worauf Schaper zu dem Vorsteher ging, der dann auch bestätigte, daß am Tage vorher kurz nach dem Mittagessen ein Fremder ebenfalls eine längere Unterredung mit der Anton gehabt habe.
Als der Detektiv dann der Alten wieder gegenübertrat und ihre Lüge nachwies, bekam es die Greisin mit der Angst.
Sie gab alles zu. Der fremde Herr hätte ihr zwanzig Mark geschenkt unter der Bedingung, daß sie [36] seinen Besuch möglichst verheimliche. Und wie ihr Schaper nun sozusagen als Pflaster für die eben ausgestandene Angst noch ein Goldstück in die Hand drückte, da hatte er in wenigen Sekunden auch das Letzte erfahren, was er wissen wollte.
Charlotte Wendel, die Millionenerbin, befand sich seit zwei Jahren als Erzieherin bei einer Familie in München unter dem Namen … Rita Meinas. Straße und Hausnummer konnte die Greisin jedoch nicht angeben, da das junge Mädchen ihrer Vertrauten in der Zwischenzeit nur einmal geschrieben und ihr in dem Briefe aufs strengste anbefohlen hatte, diesen sofort zu verbrennen, was die treue Person auch pflichtschuldigst getan hatte, ohne sich die Adresse irgendwie zu merken.
Diese Angaben hatten so sehr den Stempel der Wahrheit getragen, daß Fritz Schaper an ihrer Richtigkeit auch nicht einen Moment zweifelte.
Fraglos wäre er noch befriedigter von der jetzt wieder ganz vergnügten Alten geschieden, wenn nicht eben auch … der Andere, dieser Fremde mit den Frauenhänden und der goldenen Zahnkrone, dieselben Erfolge bei seinen Nachforschungen gehabt hätte wie er selbst. – –
Von dem Altenheim begab sich Schaper ungehindert nach der Post und ließ folgendes Telegramm an seinen Bürochef Lemke[3] befördern:
„Hiller sofort nach München. Rita Meinas Erzieherin bei Familie feststellen und sperren. Auf mein Eintreffen warten. Nachricht Hauptpost.“
„Sperren“ war ein bei dem Detektivinstitut Argus eingeführtes Geheimwort und bedeutete: Lebensweise, Verkehr, Gewohnheiten des Betreffenden feststellen und ihn nicht aus den Augen lassen. –
In aller Behaglichkeit nahm Schaper hierauf in dem berühmten Danziger Ratskeller eine reichliche [37] Mahlzeit ein. Der Personenzug nach Stolp in Pommern, der auch in Gauben hielt, ging ja erst um 3 Uhr nachmittags ab.
Gegen 7 Uhr abends traf der Bummelzug in dem Städtchen ein. Dieses lag, wie der Detektiv schon unterwegs von einem Mitreisenden erfahren hatte, beinahe zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt, so daß Schaper kurz entschlossen den einzigen Hotelwagen benutzte. Sehr zu des Kutschers Erstaunen kletterte er jedoch nicht in das Innere des schon recht klapperigen Marterkastens, sondern suchte sich den luftigeren Platz neben dem Rosselenker aus.
„Den köstlichen Augustabend genieße ich lieber in der freien Luft als in Ihrer stickigen Glaskutsche,“ sagte er freundlich zu dem biederen Pommern, indem er ihm aus seiner Zigarrentasche drei Exemplare „mit Binden“ hinreichte.
Bald befanden sich die beiden auf dem Bock in recht lebhafter Unterhaltung. Und als der Wagen vor dem sauberen Hotel „Zu den drei Kronen“ hielt, hatte Schaper aus dem harmlosen Menschen alles hervorgeholt, was dieser nur über die Mönchsabtei und ihren Bewohner wußte.
Eine Stunde später machte sich der Detektiv, der sich in das Fremdenbuch als Franz Schneider, Güteragent, Berlin eingetragen hatte, auf den Weg zu dem Kaufmann Wernicke, dessen Kolonialwarengeschäft sich gerade gegenüber am Markt befand.
Ernst Wernicke saß mit seiner besseren Hälfte in dem Vorgärtchen auf der weißgestrichenen Bank.
Nachdem er den Gast in sein Privatkontor geleitet und zum Platznehmen aufgefordert hatte, hielt es Schaper für angebracht sein Inkognito zu lüften.
„Ich habe Sie eben ein bißchen beschwindelt, [38] Herr Wernicke,“ meinte er gemütlich. „Ich bin nämlich alles andere als Güteragent und heiße auch nicht Franz Schneider. Mein wahrer Name ist Fritz Schaper, Privatdetektiv, Berlin.“
Der Kaufmann riß ordentlich die wässerigen Augen auf. Dann kam ihm die Sache aber anscheinend äußerst spaßig vor und er lachte, daß ihm ordentlich die Weste wackelte.
„Ne, können Sie aber schwindeln, Herr Schaper … Ich hätte meinen Kopf gewettet, daß Sie so ein Berliner Landräuber sind, wie wir die Agenten hier nennen. Sie erzählen ja auch gleich große Geschichten von Ihren Absichten auf größere Terrains … Ne, so was …!“
„Das geschah alles nur Ihrer Frau Gemahlin wegen, Herr Wernicke. Hier darf nämlich niemand meinen Beruf ahnen, – ich sage: niemand, auch Ihre Gattin nicht! Verstehen Sie mich …?“
„Freilich Herr Schaper. Auf mich können Sie sich in dieser Beziehung wirklich verlassen.“
Der Detektiv nickte dem Kaufmann freundlich zu.
„Ich sehe, wir verstehen uns, Herr Wernicke. Und nun an die Arbeit. Wie verhält sich die Sache nun eigentlich mit diesem famosen grauen Gespenst …?“
Der Kaufmann hob wie warnend die Hand.
„Sie sollten nicht spotten …!“ sagte er ernst. „Die Geschichte ist wirklich mehr als unerklärlich. Wenn ich die Erscheinung nicht selbst gesehen hätte, so würde ich auch darüber lachen. So aber …“
Schaper hatte schon eine ironische Bemerkung auf der Zunge, unterdrückte sie aber noch im letzten Moment. Statt dessen sagte er:
„Der Bericht, den Ihr Mieter Herr Müller mir eingeschickt hat, ist recht unvollständig. – Ist das Gespenst z. B. erst nach dem Einzuge des Privatgelehrten [39] in die Mönchsabtei aufgetaucht oder schon vordem gesehen worden?“
„Am besten, ich erzähle Ihnen im Zusammenhang, was ich darüber weiß, Herr Schaper. – Ich kaufte das alte Klostergrundstück vor sechs Jahren. Daß die Leute schon immer erzählten, daß es dort umgehe, störte mich nicht. Schon als Kind – ich bin geborener Gaubener – kannte ich die Geschichte des Abtes, der in seinem Grabe in der Lebensbaum-Allee keine Ruhe finden soll und der von Zeit zu Zeit zu nächtlicher Stunde, gehüllt in ein graues, schleppendes Gewand, durch den Garten wandelt.
Als Herr Müller dann vor etwa einem halben Jahre nach Gauben kam, sagte ich ihm ehrlich die Wahrheit, weswegen das alte Gebäude bisher leer gestanden habe. Er lächelte sehr überlegen und … zog ein. Bald darauf ließ er mich durch seinen Diener nach der Abtei bitten und erzählte mir, auf welche Weise er sich überzeugt habe, daß das Gespenst wirklich vorhanden sei.“
„Das hat er mir geschrieben,“ unterbrach Schaper ihn hier. „Bitte schildern Sie mir nun, was Sie selbst gesehen haben.“
„Ja – ich habe die Erscheinung geschaut. Auf meine Augen kann ich mich verlassen,“ meinte Wernicke mit Nachdruck. „Ich hatte mit Herrn Müller verabredet, daß ich gelegentlich zu ihm kommen wolle, damit wir gemeinsam im Garten aufpassen könnten. Es war am 28. Mai. Das Datum werde ich so leicht nicht vergessen. Gegen 9 Uhr abends wanderte ich nach der Abtei hinaus. Ich traf es insofern schlecht an, als der Diener Hartung mit einem Erkältungsfieber zu Bett lag. Der Kranke, den ich ebenfalls begrüßen ging, wollte nun durchaus aufstehen, um sich bei der Wache beteiligen zu können. Aber Müller ließ das nicht zu. Und so mußten wir beide allein [40] in der finsteren Nacht in den großen Garten hinabschleichen. Wir setzten uns im Schatten einer Linde mit weitüberhängenden Ästen auf eine Bank und warteten. Nach einer Stunde etwa – es mag gegen elf Uhr gewesen sein – packte Müller plötzlich meinen Arm und flüsterte ganz heiser … „da … da …“ – der Mond war gerade von Wolken entblößt, und in dieser Dämmerung erblickte ich ganz deutlich eine hohe Gestalt, die beinahe feierlich langsam auf die Kapelle zuschritt.“
„Danke. Das übrige hat mir Ihr Mieter genau mitgeteilt. Die Acetylen-Laterne verlöschte plötzlich, Müller stand wie festgebannt und der Geist verschwand in der Kapelle. – Und was taten Sie währenddessen, Herr Wernicke?“
„Ich … ich saß an allen Gliedern zitternd auf der Bank, vermochte mich nicht zu rühren, war wie gelähmt,“ stotterte der dicke Herr, „und hätte nimmer gewagt der Erscheinung gegenüberzutreten wie Herr Müller dies riskierte,“ fügte er ehrlich hinzu.
Fritz Schaper strich sich nachdenklich über das Kinn. Und erst nach einer geraumen Weile fragte er …
„Herr Müller hat Ihnen wohl mitgeteilt, daß ich den Fall hier übernehmen will?“
„Ja. Gestern schickte er Hartung zu mir. Er selbst ist nämlich krank.“
„Krank? Seit wann denn?“
„Seit fünf Tagen, soweit ich mich erinnere. Gesichtsreißen und Gicht, sagte Hartung.“
Wieder schaute der Detektiv grübelnd vor sich hin.
„Haben Sie den Geist noch ein zweites Mal gesehen, Herr Wernicke?“ fragte er darauf.
„Nein. Verspüre auch keine Lust dazu. Ich war froh, als ich wieder daheim in meinem Bett lag.“
Schaper erhob sich. „Dann will ich nicht weiter [41] stören. Grüßen Sie bitte Herrn Müller von mir. Leider muß ich morgen früh schon weiterreisen. Aber in einigen Tagen komme ich wieder her.“
Wernicke machte ein sehr enttäuschtes Gesicht.
„Ich hoffte, Sie würden die Sache nun sofort aufklären,“ meinte er.
„Geht beim besten Willen nicht. Ich muß zunächst eine andere sehr dringende Sache erledigen.“
„Und Sie kommen wirklich wieder?“
Schaper lachte. „Denken Sie etwa, ich fürchte das graue Gespenst …? Nein, bester Herr Wernicke! Ich bin schon mit anderen, gefährlicheren Geistern fertig geworden. – Auf Wiedersehen also …!“
Wenn der Kaufmann aber gedacht hatte, daß der Detektiv jetzt behaglich in den „Drei Kronen“ einen Abendschoppen trinken würde, so täuschte er sich gründlich. Nur dazu, um mit Herrn Ernst Wernicke eine Stunde zu verplaudern, war Fritz Schaper wahrlich nicht nach Gauben gekommen. Im Gegenteil. Keine zwei Stunden später, nachdem es völlig dunkel geworden war, schwang sich eine schlanke Gestalt über die hohe, verwitterte Mauer der Mönchsabtei in den Garten hinab und schlich lautlos auf das düstere Gebäude zu, durch dessen Fensterladen nur im Erdgeschoß ein einzelner schmaler Lichtstreif zu sehen war.
Daß der Privatgelehrte Müller sich keine Hunde hielt, hatte Schaper schon von dem Hotelkutscher erfahren. Mithin konnte er sich ziemlich frei bewegen. Er gedachte das Terrain zunächst einmal allein zu besichtigen. Denn daß hier bei dieser Gespenstergeschichte irgend ein grober Schwindel vorlag, dessen war er gewiß. Damals als er den Brief des Privatgelehrten sorgfältig gelesen hatte, tauchte sofort der ziemlich naheliegende Verdacht in ihm auf, daß Müller mit Hilfe seines Dieners den Geisterbeschwörer spielte. Diese Annahme glaubte er jetzt [42] aber wieder verwerfen zu müssen. Wernicke hatte ihm ja bestätigt, daß das graue Gespenst schon vor dem Einzuge des Privatgelehrten beobachtet worden war. Und genau dasselbe hatte er auch von dem Hotelkutscher gehört. Der Spuk war mithin älter. Doch – wozu wurde er überhaupt in Szene gesetzt? Der, der hier den Geist zeitweise so vortrefflich mimte, mußte damit doch irgend einen bestimmten Zweck verfolgen! Nur um seine Mitmenschen zu narren würde sich doch kein Mensch der nicht unbeträchtlichen Gefahr aussetzen einmal gefaßt und zum mindesten weidlich verprügelt, wenn nicht gar wegen groben Unfugs angezeigt zu werden …? Nein, hier spielten sicher noch andere Dinge mit. Suchte man Wernicke die Mönchs-Abtei vielleicht absichtlich zu verleiden, damit er sie ganz billig weiterveräußere? – Jedenfalls hatte der Detektiv sich vorläufig noch keine abschließende Meinung über diese Angelegenheit bilden können. Möglicherweise brachte ihm dieser nächtliche Ausflug bereits die nötigen Aufschlüsse. – –
Beinahe zwei Stunden vergingen, bevor Fritz Schaper wieder auf der Gartenmauer auftauchte und langsam den Rückweg nach der Stadt einschlug.
Vormittags mit dem D-Zug, dem er mit dem Bummelzug bis Stolp entgegengefahren war, setzte er seine Reise fort. Um vier Uhr traf er auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin ein, und drei Stunden später saß er schon wieder in einem Schlafwagenabteil und rollte der Hauptstadt des Bayernlandes entgegen.
Der Briefträger, der die Aspernstraße in München zu besorgen hatte, wunderte sich nicht wenig, daß heute wirklich einmal ein Brief für das hübsche Fräulein mit unter den Postsachen war, welches in Nr. 19 bei der freundlichen Frau Deprouval als Erzieherin nun schon seit Jahren wirkte, ohne daß jemals auch nur ein einziges Schreiben, keine Postkarte, – einfach nichts, garnichts, an das liebreizende Persönchen zu bestellen gewesen wäre.
Der biedere Beamte klingelte jetzt bei Frau Deprouval, die in der ersten Etage zur linken Hand eine elegante Vierzimmerwohnung innehatte.
Dem öffnenden Mädchen bedeutete er dann, daß für Fräulein Rita Meinas ein Einschreibebrief da sei und daß die junge Dame den Empfang bestätigen müsse.
Ritas Augen weiteten sich vor Schreck, als das Mädchen ihr die Bestellung ausrichtete und hinzufügte, der Briefträger warte im Flur.
Und dann saß sie in ihrem Stübchen mit den freundlichen hellen Möbeln und starrte nur immer auf den großen Briefumschlag aus starkem Papier, der ihre Adresse trug … Ein Irrtum war ausgeschlossen. Da stand es klar und deutlich – „Rita Meinas bei Frau Deprouval, München, Aspernstraße 19, 1. Etge.“ … Wer – wer konnte nur an sie geschrieben haben, an sie, die alle Beziehungen zu der Vergangenheit abgebrochen, die keine Freunde besaß, die nur auf den Verkehr mit ihres Zöglings Mutter, der gütigen Frau Deprouval, angewiesen war? …
Endlich raffte sie sich auf. Vorsichtig schnitt sie [44] den Umschlag heraus. Außerdem enthielt der Brief auch noch eine Anzahl von Zeitungsausschnitten, – auffällig gedruckten Annoncen anscheinend. Unwillkürlich nahm sie eine von diesen zunächst zur Hand und überflog sie. …
Staunen, ungläubige Verwunderung malte sich in ihren Zügen. Noch immer hingen ihre Blicke auf der Druckschrift, besonders auf den Worten „Albert Erich Wendel“.
Und dann griff sie hastig nach dem Schreiben selbst. Dieses zeigte in der linken Ecke einen Aufdruck in englischer Sprache, wodurch der Brief als eine Mitteilung des Generalkonsulats Englands in Berlin legitimiert wurde. Oben in der Mitte stand außerdem links von dem Absenderort und dem Datum das Wort „Geheimabteilung“. – Das Schreiben lautete folgendermaßen:
„Vor längerer Zeit, etwa zwei Monaten, hatte das hiesige englische Generalkonsulat von dem in Kimberley lebenden früheren preußischen, nunmehr englischen Untertan, dem Minenbesitzer Albert Erich Wendel, aus Danzig stammend, den Auftrag erhalten, nach etwaigen Verwandten forschen zu lassen. Daraufhin wurde, nachdem die Erkundigungen in der Vaterstadt des Albert Wendel ergebnislos ausgefallen waren, in eine ganze Anzahl deutsche Zeitungen ein Aufruf eingerückt, dessen Inhalt Sie aus den beigefügten Ausschnitten ersehen. Niemand meldete sich. Nunmehr wurde nochmals in Danzig versucht, den jetzigen Aufenthalt der einzigen hier in Betracht kommenden Person, des Fräulein Charlotte Wendel, in Erfahrung zu bringen. Endlich glückte dies. Inzwischen ist der zu großem Vermögen gelangte Albert Erich Wendel, getrieben von der Sehnsucht [45] nach der Heimat, selbst nach Deutschland gekommen, um die einzige Verwandte, die er besitzt und die seine Erbin werden soll, in die Arme zu schließen. Leider erkrankte er kurz nach seiner Ankunft schwer und mußte in ein Sanatorium gebracht werden. Sein Wunsch ist nun, Sie recht bald bei sich zu sehen.“
So lautete der Inhalt der ersten Seite.
Als Rita jetzt das Blatt umschlug, fielen ihre Blicke sofort auf einen Hundertmarkschein, der durch zwei übergeklebte Papierstreifen auf der dritten Seite festgehalten wurde.
Mit atemloser Spannung beendete sie ihre Lektüre dann.
„Wir können Ihnen in Hinblick auf die Millionenerbschaft, die Ihrer wartet, nur raten, sofort, d. h. womöglich schon mit einem der nächsten Züge, nach Berlin zu kommen, zumal wir Ihnen nicht verhehlen wollen, daß es Ihrem Oheim nicht allzubest geht. Zu Ihrer Bequemlichkeit geben wir Ihnen als Nachtrag die betreffenden Schnellzüge an und fügen als Bevollmächtigte Albert Wendels einhundert Mark als Reisekosten usw. bei. Den Zug, den Sie benutzen werden, wollen Sie an Mr. Thomas Morrisson, Berlin, Bellevuestraße 8, 2. Etage telegraphisch melden, damit Sie vom Bahnhof abgeholt werden können. Um Ihrem Oheim den Ernst seiner Erkrankung zu verheimlichen, werden wir Ihnen noch hier in Berlin Verhaltungsmaßregeln mitteilen.
Von dem Inhalt dieses Schreibens lassen Sie am besten niemanden oder doch nur völlig vertrauenswürdige Personen etwas wissen. Es sind nämlich allerlei Machenschaften im Gange, die Ihnen die Erbschaft entreißen sollen. Ebenso verhalten [46] Sie sich auf der Reise recht vorsichtig. Alles Nähere erfahren Sie mündlich. Bringen Sie sämtliche Papiere mit, die zu Ihrer Legitimation dienen können.
Wenige Minuten später stand Rita – oder besser Charlotte Wendel, wie wir das junge Mädchen jetzt nennen wollen, Frau Käti Deprouval gegenüber.
Diese saß mit von Weinen geröteten Augen in der von Blumen aller Art bestellten Fensterecke ihres kleinen Salons. In ihrem Schoß lag ein Brief, dessen Schrift die niederfallenden Tränentropfen hie und da halb verlöscht hatten.
Charlotte Wendel entging dies alles in ihrer großen Aufregung. Erst stockend, dann fließender beichtete sie dieser Frau, die ihr mehr Freundin als Brotherrin war, das Geheimnis ihres Lebens, sprach von ihrer Familie, von dem Tode ihres Vaters, von dessen Geständnis auf dem Sterbebett und schließlich auch von ihrem Entschluß ihren Namen zu wechseln und fortan den einer ihr selbst unbekannten Rita Meinas zu führen, deren Papiere sie im Schreibtisch ihres Vaters gefunden hatte. Und dann zeigte sie der erstaunt zuhörenden Frau Deprouval den heute erhaltenen Brief und gab ihn ihr zu lesen.
„Sie sehen,“ sagte sie in ihrer schlichten Art, „daß ich unbegrenztes Vertrauen nicht nur in Ihre Großherzigkeit habe, die es mir nicht nachtragen wird, daß ich unter einem angenommenen Namen in Ihr Haus gekommen bin, sondern auch in Ihre Verschwiegenheit, die ich vorläufig in dieser seltsamen Erbschaftsgeschichte bewahrt sehen möchte.“
[47] Frau Käti schloß das junge Mädchen liebevoll in ihre Arme.
„Sie kennen mich, liebe Rita – nein, jetzt muß ich wohl Charlotte sagen –. Wie sollte ich Ihnen wohl etwas verargen, das ich vollständig begreife. Und meiner Diskretion sind Sie ebenso sicher. – Was gedenken Sie nun zu tun, Liebste?“ fügte sie herzlich hinzu.
„Das, was meine Pflicht ist. Mein Vater hat seinem Bruder manch’ trübe Stunde bereitet, hat ihn eigentlich aus der Heimat vertrieben. Die Schuld meines Vaters an dem nach Möglichkeit gutzumachen, der mein einziger Verwandter, mein Onkel ist, halte ich für eine selbstverständliche Aufgabe, der ich mich ohne Säumen, unbeeinflußt von den etwaigen pekuniären Vorteilen, unterziehen möchte, – wohlverstanden, falls Sie es mir gestatten, sofort abzureisen.“
„Aber natürlich gestatte ich’s,“ beeilte Frau Deprouval sich zu erwidern. – Und nach kurzer Pause fügte sie etwas verlegen hinzu … „Ich selbst habe ebenfalls die Absicht, München für einige Zeit, vielleicht für immer zu verlassen.“ –
Bereits mit dem Mittagszuge reiste das junge Mädchen nach Berlin ab, nachdem mit ihrer Herrin verabredet worden war, daß diese ihr alles weitere hauptpostlagernd nach der Reichshauptstadt mitteilen solle.
Kaum war Frau Deprouval aber vom Bahnhof zurück, wohin sie die ihr persönlich so nahestehende Erzieherin ihres unglücklichen Kindes geleitet hatte, als sie auch schon mit allem Eifer die Vorbereitungen zu ihrer eigenen Reise traf.
[48] „Wir sollten uns kennen? …“
Fritz Schaper schaute den blonden, schlanken Herrn, der ihn so unvermittelt angesprochen hatte, fragend an.
„Bekannt kommen Sie mir allerdings vor,“ meinte er unsicher.
„Ah – jetzt besinne ich mich,“ rief der Andere erfreut. „Sie sind Fritz Schaper, der berühmte …“
„Pst! Um Himmels willen, Verehrtester! Posaunen Sie nur nicht noch meinen Beruf in alle Welt aus. – Ich bin in Geschäften hier,“ fügte er leise hinzu.
Der blonde Herr nickte verständnisinnig. Und dann sagte er lächelnd …
„Denken Sie bitte mal an unseren gemeinsamen Freund Bert Matra … Geht Ihnen nun eine Leuchte auf?“
Der Detektiv streckte ihm jetzt die Hand hin.
„Grüß Gott, Herr Gerster, Herr Heinz Gerster, berühmtester aller modernen Novellendichter! – Sie sehen, ich kenne mich schon aus. – Was treiben Sie denn hier in München? Matra erzählte mir doch letztens, Sie wollten bis zum Herbst in irgend einem kleinen Nordseebade bleiben und fleißig sein …“
Heinz Gerster machte ein ganz trübseliges Gesicht.
„Sie wissen –: wollen und vollbringen ist manchmal zweierlei. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten in dem einsamen Nest. Warum – das erkläre ich Ihnen vielleicht später. Nein, nicht vielleicht …! Bestimmt tue ich’s. Denn Sie schickt mir wahrhaftig der Himmel in den Weg. Sie müssen mir jemanden finden helfen, der verschwunden ist.“
Schaper schaute den jungen Schriftsteller daraufhin so merkwürdig an.
„Wohnte die Person, von der Sie eben sprachen, [49] etwa in diesem Hause, vor dessen Tür wir jetzt stehen?“ fragte er interessiert.
„Allerdings. – Wie können Sie das aber wissen, Sie Perle aller Detektivs?“
„Sehr einfach. Ich suche nämlich selbst jemanden in dieser Riesenkaserne. Und da der Portier mir soeben mitgeteilt hat, daß von den Einwohnern in den letzten Tagen nur Frau Deprouval nebst Söhnchen und die Erzieherin des letzteren unbekannt wohin verreist sind, war das Kombinieren nicht allzu schwer.“
„Aus dieser Antwort geht hervor und zwar mit tödlicher Sicherheit, daß es eine der beiden Damen ist, auf die Sie es abgesehen haben,“ meinte Heinz Gerster eifrig.
„Freilich. – Doch, wir wollen weitergehen. Oder haben Sie in dem Hause noch etwas zu tun?“
„Ja. Warten Sie einen Augenblick. Ich war nämlich schon heute morgen hier, und da sagte mir die Portierfrau, daß ihr Mann einen Brief für mich habe. Den will ich mir jetzt abholen.“
Der junge Schriftsteller kehrte schon nach wenigen Minuten zurück.
„Gott sei Dank. Ich habe den Brief. Ich fürchtete schon, der Mann hätte ihn vielleicht verbummelt.“
Langsam schritten sie die Aspernstraße hinunter und bogen in die Maximilianstraße ein.
Gerster, der seiner Ungeduld nicht länger Herr werden konnte, bat den Detektiv um Entschuldigung, zog den Brief hervor, riß den Umschlag auf und … zog eine ganze Anzahl Blätter des sogenannten überseeischen Briefpapiers heraus, die eine feste, energische Frauenhand mit ziemlich engen Zeilen bedeckt hatte.
„Nein,“ meinte der junge Schriftsteller da, „all das kann ich unmöglich hier auf der Straße überfliegen. Bitte – kommen Sie mit in ein Restaurant. [50] Wir haben ja ohnedies mancherlei zu besprechen.“
In einer Nische des nahen Hoftheater-Restaurants fanden sie ein ihnen genehmes Plätzchen. Und hier las Heinz Gerster wehen Herzens Frau Kätis Brief, während der Detektiv für beide ein Menü nach der Speisekarte zusammenstellte.
Erst nachdem sie gespeist hatten, tauschten sie ihre Erlebnisse aus. Da sie beide das gleiche Interesse hatten, den neuen Aufenthaltsort der Damen, die bisher Aspernstraße Nr. 19 gewohnt hatten, möglichst schnell auszukundschaften, erzählte Fritz Schaper seinem Tischgenossen ohne Scheu alles das, was sich auf den Fall Wendel bezog.
„Leider ist nun mein Angestellter, den ich hier nach München geschickt hatte, um die Wohnung Charlotte Wendels feststellen zu lassen, genau um zwei Stunden zu spät gekommen. Heute morgen langte ich dann hier mit dem D-Zug an, wurde von meinem Angestellten schon auf dem Bahnhof empfangen und eilte nachher direkt nach der Aspernstraße, um persönlich nochmals mein Glück bei Frau Deprouval zu versuchen. Der Portier aber zuckte bedauernd die Achseln, als ich ihm mitteilte, wen ich aufzusuchen beabsichtigte. Die Dame sei gestern abend für längere Zeit mit ihrem Söhnchen und dem Dienstmädchen nach dem Süden gefahren, erklärte er. Und mehr vermochte ich nicht festzustellen, obwohl ich den Mann wie eine Zitrone ausquetschte. – Pech, verwünschtes Pech, lieber Gerster, das wir beide gehabt haben. Und das Schlimmste: Ich ahne, daß der Mensch, der sich vor mir in Danzig so angelegentlich nach Rita Meinas erkundigte, hier seine Hand mit im Spiele hat. Wer weiß, was für eine Teufelei hier angestellt werden soll. Denn – Charlotte Wendel ist eine Millionenerbin und ich habe schon einmal einen Fall zu bearbeiten gehabt, wo Leute nicht vor einem Morde [51] zurückschreckten, um die Erbschaft an sich zu reißen.“
Heinz Gerster hatte mit gespanntester Aufmerksamkeit dem ausführlichen Bericht des Detektivs gelauscht, ohne ihn jedoch auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Jetzt sagte er ganz erregt, indem er auf den vor ihm liegenden Brief Käti Deprouvals deutete …
„Vielleicht führt dieses Schreiben Sie auf die Spur Charlotte Wendels. Bevor ich es Ihnen jedoch vorlese, hören Sie die Geschichte einer … unglücklichen Liebe, die in einem holsteinischen Fischerdorfe beginnt, bei der das Scheitern einer Brigg eine Rolle spielt und die nun … mit einem wehen Akkord ausklingt … Es kann nicht sein …“
Nachdem Heinz Gerster alles berichtet hatte, was ihm der Aufenthalt an der holsteinischen Küste Heiteres und Trübes gebracht hatte, nahm er den Brief Frau Kätis zur Hand.
Vor einer Stunde erhielt ich Ihre Zeilen, die mir Ihre baldige Ankunft hier in München anzeigen. – Heinz Gerster, warum quälen Sie mich so …? Warum sprechen Sie zu mir von Ihrer Liebe, Ihrer Sehnsucht, – zu mir, die Ihnen nie etwas sein darf, … nie! Warum ließen Sie es nicht bei jenem Abschied bewenden, jenen Minuten, wo wir selbstvergessen mit klopfenden Herzen dicht aneinander lehnten …? Wozu stören Sie meinen schwer erkämpften Herzensfrieden? Hätten Sie doch Erbarmen mit mir gehabt …! Ich gebe es ehrlich zu: Ich bin nicht stark genug, Ihnen nochmals gegenüberzutreten. Deshalb fliehe ich … Und nur eine flehentliche Bitte formen meine Lippen: Vergessen Sie mich, suchen Sie mich nicht! – Ich kann Ihr Weib nie werden. Wirklich – es kann [52] nicht sein! Um Sie hiervon zu überzeugen, sollen Sie meine Lebens- meine Leidensgeschichte erfahren. Schon damals in unserem holsteinischen Idyll hatte ich dieselbe für Sie niedergeschrieben. Und doch wagte ich es nicht, diese Blätter meinen Abschiedszeilen beizufügen. Ich fürchtete, daß Sie vielleicht den zur Rede stellen könnten, der gewisse gesetzliche Anrechte auf meine Person besitzt, daß ein Streit entstehen und Sie vielleicht meinetwegen in Ungelegenheiten geraten würden. Daß ich für den, den ich meinen Gatten nennen muß, nichts empfinde, werden Sie aus gewissen Andeutungen in unserer Unterhaltung herausgehört haben; auch weshalb unsere Ehe so schnell in Trümmer zusammenbrach und nur noch äußerlich aufrechterhalten wurde, dürften Sie ahnen. Heute werden Sie alles verstehen. Und alles verstehen heißt hier für Sie … alles entschuldigen, was ich tue, um Ihnen auszuweichen. Es ist ja doch nichts anderes als eine Flucht, diese meine plötzliche Abreise, – eine Flucht, die mir dadurch erleichtert wird, daß Rita Meinas heute gleichfalls auf eine dringende Nachricht hin nach Berlin verreisen mußte und zwar auf unbestimmte Zeit. – Soeben habe ich mich, wie mir leider zu spät einfällt, einer kleinen Indiskretion schuldig gemacht. Ich sollte Ritas Reiseziel nicht verraten. Daher – halten auch Sie das eine Wort „Berlin“, das ich nicht gern unleserlich machen möchte, was ja wie ein Mangel an Vertrauen aussehen könnte, geheim.
Und nun, lieber, einziger Freund – leben Sie wohl! Ich bin mit meiner Kraft zu Ende …
[53] Heinz Gerster griff nach den anderen Blättern, die die Liebesgeschichte dieser vom Schicksal so hart bedrängten Frau enthielten. Aber Fritz Schaper unterbrach ihn jetzt mit einer Bemerkung, die er nicht unterdrücken konnte.
„Wie merkwürdig doch der Zufall spielt,“ sagte er zufrieden lächelnd. „Dieses eine Wort, lieber Gerster, – dieses absichtslos in den Brief eingestreute … „Berlin“ wird und muß uns auf die Fährte beider Damen führen – ich betone: beider Damen! – Hören Sie jetzt meinen Vorschlag. Das, was Frau Deprouval über ihren Lebensweg berichtet, kann ich nachher im Zuge lesen. Wir wollen keine Minute unbenutzt verstreichen lassen, nachdem wir jetzt wissen, wo wir mit unseren weiteren Nachforschungen mit Aussicht auf baldigen Erfolg beginnen können. Ich habe mir zu 4 [Uhr][4] meinen Angestellten, der noch auf dem Bahnhof nach Charlotte Wendel Erkundigungen einziehen sollte, in den Wartesaal zweiter Klasse zur Berichterstattung bestellt. Um 5 Uhr geht der Luxuszug nach Berlin ab. Wie wär’s, wenn wir den benutzen? – Denn jetzt hier in München noch Frau Deprouval suchen, – das könnte uns eine Woche und mehr aufhalten. Sicherer ist, wir sehen zu, Fräulein Wendel zu finden. Haben wir die erst, haben wir auch die andere, da sie doch fraglos in Verbindung miteinander bleiben. Außerdem sage ich Ihnen auch ganz offen: Meine Pflicht ruft mich nach der Reichshauptstadt. – Ich wittere, wie ich schon erwähnte, ein Komplott zum Schaden der jungen Erbin. Die Sache muß ich erst klarstellen. – Nun, wie denken Sie darüber, lieber Gerster?“
„Einverstanden,“ meinte der Schriftsteller seufzend. „Ohne Ihre Hilfe vermag ich ja doch nichts auszurichten.“
Der Angestellte des Detektivinstituts hatte über Charlotte Wendel nichts in Erfahrung bringen können. Auf Gersters Bitten hin ließ Schaper jedoch seine Hilfskraft noch vorläufig in der Isarstadt, damit der äußerst gewandte Mensch hier ebenfalls Erkundigungen nach dem Verbleib Frau Deprouvals einziehen könne.
Der Luxuszug, den die beiden Herren benutzten, war, wenigstens was die Rauchabteile anbetraf, nur wenig besetzt. Schaper, der sozusagen auf der Eisenbahn zu Hause war, da sein Beruf ihn ständig von einem Ort zum andern hetzte, hatte dem Schaffner durch ein Trinkgeld einen deutlichen Wink gegeben, daß sie gern in ihrem Abteil allein bleiben möchten. Während der Schriftsteller dann die neuesten Zeitungen durchblätterte, las der Detektiv die engbeschriebenen Seiten, auf denen die Leidensgeschichte eines armen Weibes verzeichnet stand.
Meine Geburtsstadt ist Hamburg. Dort betrieb mein Vater Ferdinand Tomsen ein gutgehendes Kaffee-Engrosgeschäft. Meine Eltern, deren einziges Kind ich blieb, ließen mir eine vorzügliche Erziehung zuteil werden, obwohl sie es mit mir bei meinem etwas eigenwilligen Charakter nicht ganz leicht hatten. Als ich gerade sechzehn Jahre geworden war, starb mein Vater. Meine Mutter, eine stille, feine Frau, die sich viel literarisch beschäftigte, verkaufte die Firma und zog mit mir in einen Meerort hinaus. Unser kleines Heim war bald der Mittelpunkt eines Kreises[5] von Künstlern und Gelehrten, die zum größten [55] Teil begeisterte Anhänger des Spiritismus – geradeso wie auch meine Mutter – waren. Jede Woche wurden in unserem Salon mit Hilfe eines wirklichen Mediums, das später als Betrügerin entlarvt ward, spiritistische Sitzungen abgehalten. Meine Mutter wurde durch diese Sitzungen, in denen unter anderem auch der Geist meines Vaters des öfteren erschienen sein soll, derart nervös und reizbar, daß ich sie flehentlich bat, ihre Verbindung mit den Spiritistenkreisen abzubrechen. Doch sie war bereits so tief in die Rätsel dieser mit übernatürlichen Dingen sich beschäftigenden Glaubenslehre verstrickt, daß sie auf meine gutgemeinten Ermahnungen nicht mehr hörte.
Zu den Gästen, die ständig in unserem Hause verkehrten, gehörte nun ein junger Amerikaner, der sich angeblich zur Erlernung der deutschen Sprache und Gewerbebetriebe in Hamburg aufhielt. Charles Deprouval entstammte einer im 18. Jahrhundert nach den Vereinigten Staaten ausgewanderten französischen Familie. Seine Manieren, sein einschmeichelndes Wesen, nicht minder sein anziehendes Äußeres verschafften ihm überall Eingang in die besten Kreise der sonst sehr zurückhaltenden Hamburger Gesellschaft. Auch Deprouval war Spiritist, aber wohl kaum aus Überzeugung. Mich, das damals siebzehnjährige Mädchen, behandelte er mit einer achtungsvollen Herzlichkeit, die mir wohltat, da ich fast gar keine Freundinnen besaß. Bald merkte ich, daß sein Interesse für meine Person nicht so ganz harmlos war, daß er … als Bewerber um meine Hand auftrat. Mir, dem unerfahrenen, halben Kinde schmeichelten diese Huldigungen eines Mannes, dem die Frauen allerlei Freiheiten gestatteten und der doch achtlos an ihnen vorüberzugehen schien. Eines Morgens – es war nach einer am Abend vorher abgehaltenen spiritistischen Sitzung – sagte mir meine Mutter, daß [56] mein Vater ihr durch das Medium habe raten lassen, sie solle Charles Deprouvals Bewerbung um meine Hand unterstützen. Diese Erklärung des geliebten Toten war ausschlaggebend. Obwohl ich in des jungen Amerikaners Nähe stets ein gewisses Gefühl ängstlicher Scheu empfand, verlobte ich mich dennoch mit ihm. Jetzt, als seine Braut verlangte ich zu den spiritistischen Sitzungen sofort zugelassen zu werden. Ich wollte mir eben persönlich ein Urteil über die Phänome, die sich in den Sitzungen zeigten, bilden. Doch mein Bräutigam schlug mir meine Bitte rundweg ab. Ich sei noch zu jung, meinte er. Und dabei blieb es.
Mein achtzehnter Geburtstag war auch mein Hochzeitstag. Wir bezogen eine Wohnung gegenüber der Villa meiner Mutter und – hatten dann schon am dritten Tage unserer Ehe den ersten heftigen Streit miteinander. Mein Vater war nämlich so vorsichtig gewesen, mir über mein Erbteil im Betrage von 150 000 Mark erst vom vollendeten 21. Jahre ab die freie Verfügung zu gewähren. Diese Bestimmung stand in seinem Testament. Und daran war nicht zu rütteln. Nur die Zinsen konnte ich nach Gutdünken verbrauchen. Mein Gatte, der hiervon keine Ahnung besaß und in dem Glauben gelebt hatte, daß das Vermögen mir unbeschränkt gehöre, machte mir eine furchtbare Szene, als ich ihm die Wahrheit mitteilte, die ihm nur durch einen Zufall bisher verborgen geblieben war. Er verlangte dann von mir, ich solle in Hinblick auf die spätere mir frei zur Verfügung stehende Summe ein Darlehn von 30 000 Mark aufnehmen, da er sich an einem überseeischen Geschäft finanziell zu beteiligen wünsche. Um des lieben Friedens willen erklärte ich mich einverstanden. Aber mein Vormund, ein Hamburger Justizrat, der zufällig von meiner Absicht hörte, widersprach und die Sache zerschlug sich. Seitdem hatte ich wahre Höllentage durchzumachen. Bereits nach [57] einem Monat waren mir hinsichtlich des wahren Charakters meines Gatten alle Illusionen geschwunden. Einzelheiten will ich verschweigen. Dabei war Charles ein so schlauer Heuchler, daß er mich in Gegenwart dritter stets mit größter Zärtlichkeit behandelte[6] und so den Eindruck hervorrief, als ob unsere Ehe durch kein Wölkchen getrübt sei.
Zu meines Gatten engsten Freunden gehörten zwei Amerikaner, die ich von vornherein mit starkem Mißtrauen beobachtete. Es waren dies ein gewisser Doktor Timpsear und ein angeblicher Weltreisender Thomas Shepperley. Welcher Art die Beziehungen waren, die diese drei Männer verbanden, vermochte ich zunächst nicht festzustellen. Jedenfalls wurden Timpsear und Shepperley dann sehr bald in den Spiritistenkreis eingeführt. Und nun begann die Zeit, an die ich nur mit Schaudern zurückdenken kann.
Auf Dr. Timpsears Veranlassung wurden die Sitzungen im Hause meiner Mutter, jetzt dreimal wöchentlich, abgehalten. Diese, die ohnehin mit ihren Nerven dicht vor dem völligen Zusammenbruche stand, war infolge der ständigen Aufregungen, die die Geistererscheinungen verursachten, bald dem Irrsinn nahe. Umsonst flehte ich meinen Gatten an, Rücksicht auf meine Mutter zu nehmen. Mit heuchlerischen Worten suchte er mir klarzumachen, daß er keinen Einfluß auf sie besitze. Dies war eine direkte Lüge. Mich hatte er freilich mit der Zeit völlig aus ihrem Herzen verdrängt, dafür aber selbst eine Macht über sie erlangt, die man geradezu dämonisch nennen kann.
Dann kam der Schreckenstag. Urplötzlich brach bei meiner Mutter der Wahnsinn aus. In diesem Zustande nahm sie Gift, nachdem sie einen Brief geschrieben hatte, der nur die Worte enthielt: „Ich tue es, um mit ihm, der sich so nach mir sehnt, dauernd vereint zu sein.“ – Nach dem Begräbnis fand die [58] Eröffnung des Testamentes der unglücklichen Frau statt. Es war ein sogenanntes eigenhändiges Testament, und es besagte, daß ich auf das Pflichtteil gesetzt und mein Gatte der Universalerbe sei. Gegen meinen Willen focht mein Vormund diese letztwillige Verfügung unter der Einwendung an, die Erblasserin sei bei Niederschrift der Urkunde nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Ein ganzes Jahr dauerte der Prozeß, der von meinem Vormund für mich gewonnen wurde. In den Verhandlungen kamen Dinge zur Sprache, die mir bewiesen, daß Charles nichts war, als ein gewissenloser Erbschleicher, der mit Hilfe der spiritistischen Sitzungen und des von ihm bestochenen Mediums meine Mutter seinen Wünschen gefügig gemacht hatte. Leider waren seine beiden Haupthelfershelfer Timpsear und Shepperley, als sie kaum von dieser für sie so ungünstigen Wendung erfuhren, schleunigst geflohen. Sonst hätte der Staatsanwalt wohl genügend Belastungsmaterial gegen die drei Freunde zusammenbekommen, um sie unter Anklage zu stellen.
Gleich nach diesen Vorfällen reichte ich gegen meinen Gatten, obwohl inzwischen mein unglückliches Kind geboren war, die Scheidungsklage ein. Bei dem Versöhnungstermin vor dem Richter verstand er es jedoch noch einmal, mich mit schönen Worten zu umgarnen. Flehentlich bat er mich, ich solle doch im Interesse unseres Kindes bei ihm bleiben. Ich gab schließlich nach, obwohl mein Vormund mich dringend warnte. Freilich hatte ich meinem Gatten erklärt, daß wir nie mehr zusammen, sondern nur nebeneinander leben könnten. Und so geschah es auch. Wir sahen uns nur bei den Mahlzeiten. Jeder hatte seine Zimmer, die der bewohnte.
Da das Vermögen meiner Mutter mir zugefallen war, konnten wir, obwohl ich von beiden Erbschaften [59] vorläufig nur die Zinsen unbeschränkt verbrauchen durfte, weil das Gericht aus Vorsicht auch über mein Muttererbteil in dieser Weise entschieden hatte, recht behaglich leben. Charles, der früher stets behauptet hatte, selbst begütert zu sein, ließ sich von mir völlig unterhalten. Irgend eine feste Anstellung hatte er nicht. Was er eigentlich trieb, wußte ich nicht. Es war mir auch gleichgültig. – Dann merkte ich eines Tages, daß die Schokolade, die ich zum Frühstück trank, sehr sonderbar schmeckte. Argwöhnisch wie ich war, goß ich sie fort und schickte nur ein Fläschchen von dem Inhalt der Tasse einem Chemiker zur Untersuchung. Zwei Tage später hatte ich den Bescheid: Die Schokolade war stark mit Arsenik durchsetzt. Das Gift würde genügt haben, einen Menschen zu töten.
Durch Befragen der mir treu ergebenen Köchin erfuhr ich, daß mein Mann sich damals in der Küche etwas zu schaffen gemacht hatte, als bereits die Tasse Schokolade für mich auf dem Tablett stand. – Dies genügte mir. Kurz erschlossen schrieb ich ihm einen Brief, indem ich ihm den Vorschlag machte, er solle für immer ins Ausland gehen. In diesem Falle würde ich ihm zur Begründung einer Existenz 50 000 Mark in bar auszahlen. Sollte er sich dagegen weigern, so könne er gewiß sein, daß ich abermals auf Scheidung unserer Ehe dringen würde, die ich jetzt infolge neuen Belastungsmaterials gegen ihn ohne weiteres auch erreichen würde. Inzwischen war ich mit meinem Kinde – aus Angst vor weiteren Nachstellungen, zu einer Freundin gezogen. – Umgehend traf seine Antwort ein: Er war einverstanden. – Im Büro meines Vormundes wurde dann eine Urkunde aufgesetzt, in der mein Mann sich gegen Zahlung der genannten Summe verpflichtete, nie mehr nach Deutschland zurückzukehren und außerdem auf die Erbschaft nach meinem Tode verzichtete. Letzteres zu unterzeichnen sträubte er sich [60] sehr lange. Aber mein Vormund bestand darauf – wohl in meinem Interesse, damit mein Leben nicht weiter von diesem Menschen, der beinahe zum Giftmörder geworden war, aus habsüchtigen Motiven bedroht sein solle.
Wenn Sie, lieber Freund, für den ich diese mich teilweise so tief demütigende Geschichte niederschreibe, mich nun fragen – und das liegt ja so sehr nahe, weshalb ich mich von meinem Gatten unter diesen Umständen nicht scheiden ließ, so antworte ich ehrlich: lediglich meines Kindes wegen! – In dem Prozeß hätte die vergiftete Schokolade fraglos eine große Rolle gespielt. Alle Welt hätte[7] erfahren, welch ein verworfener Charakter der Vater meines kleinen Richard war, dieser Vater, der des versuchten Giftmordes wegen unfehlbar für lange Jahre ins Zuchthaus gewandert wäre. Und das alles wollte ich dem unschuldigen Kinde ersparen. Es sollte sich später seines Namens nicht zu schämen brauchen, nicht den Schimpf mit sich herumschleppen, daß der, dem es sein Leben verdankte, für alle Zeit gebrandmarkt sei. – Freilich, wenn ich damals schon gewußt hätte, wie es um die geistigen Fähigkeiten meines Kindes stand, eben daß es niemals auch nur Durchschnittsintelligenz besitzen würde, dann – dann – – Doch das ist nun zu spät.
Mein Mann verließ Europa. Vier Jahre lang hörte ich nichts von ihm, nichts. Und dann kam jener Vormittag, an dem wir beide auf dem Bootsstege standen und nach der gescheiterten Brigg hinüberschauten, an dem Sie mich plötzlich stützen mußten, da eine Anwandlung von Schwäche mich befiel. Sie ahnten nicht, aus welchem Grunde mir plötzlich die Sinne zu schwinden drohten.
Der, den das Boot der Fischer als einzigen Geretteten an das Land brachte, war er – er.
Auch er muß mich erkannt haben. Ich sah das [61] Erschrecken in seinen Mienen, sah, wie er sich bückte, sein Gesicht zu verbergen suchte. Und das Boot machte kehrt, ruderte zum Schiffe zurück. Er wollte mir also ausweichen.
Die Vergangenheit war lebendig geworden. Und vor dieser Vergangenheit flüchtete ich noch an demselben Tage nach München zurück.
Der, den ich meinen Gatten nennen muß, hat bis jetzt nichts von sich hören lassen. Ich fürchtete, daß er mir schreiben, vielleicht selbst zu mir kommen würde. Tage sind seitdem vergangen. Ich wage aufzuatmen.
Das ist meine Lebensgeschichte. Die letzten Absätze habe ich erst soeben hinzugefügt. Nun wissen Sie alles.“
Langsam faltete Fritz Schaper die Briefbogen zusammen und schob sie in den Umschlag zurück.
„Armes Weib,“ sagte er leise, als er den Brief Heinz Gerster dann zurückreichte. „Ihr hat der richtige Berater gefehlt. Längst – längst hätte sie sich von diesem Schurken freimachen müssen. Allerdings auch ihre Furcht vor einem öffentlichen Skandal, den dieser Ehescheidungsprozeß sicher heraufbeschwören würde, ist verständlich.“
Der junge Schriftsteller nickte traurig vor sich hin.
„Wenn sie sich mir nur früher anvertraut haben würde,“ meinte er aufseufzend.
Schaper streckte ihm tröstend die Hand hin. „Lieber Gerster, daß die Frau es nicht tat, geschah doch nur deswegen, weil sie fürchtete, daß ein gewisser Jemand mit der Gattin eines solchen hartgesottenen Verbrechers nichts mehr gemein haben wolle. Die Frau liebt Sie. Und sie wollte sich wenigstens Ihre Freundschaft erhalten –“
„Welche Torheit, welche Kurzsichtigkeit,“ murmelte [62] der andere wehmütig. „Ich würde sie heiraten, und wenn ihr Mann ein Mörder wäre –“
„Vielleicht ist er’s auch,“ sagte Schaper ernst.
Der Zug brauste mit schwindelerregender Eile durch die schnell hereinbrechende Nacht.
Der Detektiv hatte wohl eine Viertelstunde fast regungslos dagesessen und sich die Sachlage überlegt. Immer wieder dachte er an die beiden Namen, die auch in seinem Leben bereits eine gewisse Rolle gespielt hatten und die nun hier sich ihm wieder aufdrängten: Doktor Timpsear und Thomas Shepperley! Jede Einzelheit jenes Dramas, das die Zeitungen damals unter dem Sensationstitel: „Die Mumie der Königin Semenostris“ besprochen hatten, tauchte in seiner Erinnerung wieder auf. Nun, jedenfalls warf es kein besonders günstiges Licht auf Charles Deprouval, daß er diese beiden Männer offenbar schon seit längerer Zeit gekannt hatte.
Immer fester bissen sich Fritz Schapers Gedanken, diese an scharfsinniges Kombinieren so sehr gewöhnten Gedanken, in der Materie seines neuesten Falles, Albert Wendel fest. Und hin und wieder schweifte auch sein Denken ab zu jener geheimnisvollen Geschichte, die Heinz Gerster ihm von dem geretteten Passagier der Brigg „Karola“ erzählt hatte, von dessen unauffälligem Verschwinden aus dem holsteinischen Fischerdorfe, das darauf hindeutete, daß der Mann kein ganz reines Gewissen haben konnte. Und dann besann er sich auch auf die Einzelheiten, die der Oberingenieur Pareawitt ihm von der Testamentserrichtung des Millionenbesitzers berichtet hatte. Da war ja jener schurkische [63] Buchhalter als Zeuge zugegen gewesen, der nachher versucht hatte, Vermögenswerte der Erbschaftsmasse beiseite zu schaffen und später entflohen war. Dies alles hatte sich in Südafrika zugetragen, und die „Karola“, die gescheiterte Brigg, war doch, wie der Schriftsteller bestimmt wußte, ebenfalls aus einem dortigen Hafen gekommen.
Der Detektiv fuhr ordentlich hoch von seinem Sitz, so daß Heinz Gerster ganz erschrocken von seiner Zeitung aufblickte.
„Gerster,“ rief er erregt, „wissen Sie, was ich eben gefunden zu haben glaube? Nichts anderes als den Faden, der den Fall „Wendel“ mit Ihrer Liebesgeschichte verbindet!“
Der Schriftsteller schaute ihn daraufhin ungläubig an. Dann meinte er zögernd:
„Eine Verbindung besteht ja schon insofern, als Charlotte Wendel bisher als Rita Meinas bei Frau Deprouval gelebt hat.“
„Es gibt noch eine zweite – vielleicht,“ entgegnete Schaper eifrig. „Ich vermute, daß der Mann, der in Danzig vor mir Erkundigungen nach der Millionenerbin eingezogen hat, Charles Deprouval ist!“
Heinz Gerster legte schleunigst die Zeitung weg.
„Nein – wirklich?! Das wäre ja mehr als ein merkwürdiges Zusammentreffen,“ sagte er interessiert. „Wie sind Sie denn zu dieser Annahme gelangt? Fraglos haben Sie doch Ihre guten Gründe dazu.“
„Allerdings, die habe ich. – Auf diese Vermutung hat mich die gestrandete Brigg gebracht. Hören Sie, wie ich mir die Sache zusammenreime. – Unterstellen wir, daß Deprouval nach seiner erzwungenen Auswanderung aus Deutschland nach Afrika gegangen ist und dort bei dem Minenbesitzer Albert Wendel als Buchhalter eine Anstellung gefunden hat. Als Wendel [64] seinen letzten Willen diktiert, ist Deprouval als Zeuge dabei. So erfährt er von den Bestimmungen des Testaments jedes Wort, auch den Umstand, daß Verwandte des Erblassers in Danzig gesucht werden sollen. Zunächst will er nun von der Hinterlassenschaft des Minenmagnaten einen Teil an sich reißen. Das mißlingt. Er muß fliehen und wird von der Polizei verfolgt. Aus diesem Grunde kann er sich in einem größeren Hafen auf einen der Tourendampfer nicht einschiffen. Er geht also nach Port Elisabeth, einem unbedeutenden südafrikanischen Hafen, und zahlt dem Kapitän der Brigg „Karola“ das Passagiergeld, der den kleinen Gewinn gern einsteckt. In der Ostsee gerät der Segler dann in einen Orkan, scheitert, und die Besatzung mit Ausnahme von Deprouval ertrinkt. Er, der in der Absicht, selbst die Erben Albert Wendels aufzusuchen, nach Europa gekommen ist, begegnet kurz vor der Landung seinem Weibe. Er hofft, daß sie ihn nicht erkannt hat, läßt sich nach der Brigg zurückrudern und wartet, bis seine Gattin den Strand verläßt. Dann sucht er das Weite. In den nächsten Tagen taucht er in Danzig auf. Er erfährt hier alles, was er wissen will. Zwei Tage darauf reist Charlotte Wendel plötzlich nach Berlin. Sie bittet Frau Deprouval, daß diese das Ziel ihrer Reise nicht verrät. Beweis – die eine Bemerkung in dem Briefe der Dame. Mithin handelt es sich bei dieser Fahrt um eine Angelegenheit, die geheim bleiben soll. Und der, der das junge Mädchen nach der Reichshauptstadt kommen ließ, dürfte ebenfalls Charles Deprouval sein. – Sie schaun so ungläubig drein! – Lieber Gerster, bedenken Sie das eine: die Zeitverhältnisse stimmen so tadellos, die einzelnen Abschnitte meiner Kombinationen passen so genau zusammen, daß das nicht alles Zufall sein kann!“
[65] Trotzdem schüttelte der Schriftsteller zweifelnd den Kopf.
„Es sind doch schließlich nur Vermutungen,“ meinte er. „Es kann so sein – kann aber auch nicht so sein.“
„Gut, ich erkenne Ihre Bedenken an, möchte Ihnen aber doch nur eins vorhalten: Gerade, daß Charlotte Wendel jetzt, ausgerechnet zwei Tage nachdem der Fremde in Danzig auftauchte, nach Berlin gefahren ist, gibt mir die Überzeugung, daß meine Annahme stimmt. Ich stelle mir die Sache so vor. Deprouval ist sofort nach Beendigung seiner erfolgreichen Ermittlungen von Danzig nach München gefahren. Hier erfuhr er, daß zu seinem Pech die Millionenerbin, an die er sich zu irgendwelchen Zwecken heranmachen wollte, bei seiner Frau als Erzieherin in Stellung war. Mithin erschien es ihm zu gefährlich, seine weiteren Pläne in der Isarstadt sozusagen unter den Augen seiner Gattin zur Durchführung zu bringen. Er fuhr also schleunigst nach Berlin zurück und verstand es, das junge Mädchen dorthin zu locken, wahrscheinlich durch einen Brief, in dem er ihr gewisse Andeutungen über die ihrer wartenden Erbschaft machte. Eine Depesche hätte diesen Zweck nicht erreicht. Es muß ein längeres Schreiben gewesen sein. – Nun, Verehrtester, was sagen Sie hierzu?“
„Ich bewundere ehrlich Ihren Scharfsinn. Und die Möglichkeit, daß Ihre Schlüsse stimmen, gebe ich gern zu. Mehr nicht.“
„Sind Sie aber hartnäckig!“ lachte der Detektiv. „Trotzdem hoffe ich noch aus dem Saulus einen Paulus zu machen, und zwar sehr bald. Ich werde gleich nach unserer Ankunft in Berlin eine Kabeldepesche an die Polizei in Kimberley aufgeben und um das genaue Signalement des Buchhalters, der die Erbschaftsräubereien [66] versucht hat, bitten, ferner um Aufschluß darüber, was über den Verbleib des Mannes bekannt geworden ist. Der Mensch, der in Danzig nach Charlotte Wendel Umfrage hielt, besaß einige besondere Kennzeichen: sehr kleine, frauenhafte Hände und einen Eckzahn mit einer Goldkrone. – Wollen sehen, was ich für Antwort aus Kimberley bekomme. Ich jedenfalls wette schon heute, daß jener Buchhalter und der Danziger Spion kein anderer als Deprouval ist.“
Als der Luxuszug in den Bahnhof Friedrichstraße einlief, beugte sich Schaper weit zum Fenster hinaus, um nach seinem Bürovorsteher Lemke Ausschau zu halten, den er sich kurz vor der Abreise von München durch ein Telegramm herbeordert hatte.
Lemke hatte seinen Herrn und Gebieter bald erspäht und belud sich dann, nach der ersten Begrüßung, mit dessen Reisetasche und -decke.
„Wie wär’s,“ meinte Schaper, als sie die Treppe zum Ausgang hinunterschritten, „wenn wir noch einen Schoppen im „Heidelberger“ genehmigten? – Ich habe einen Mordsdurst.“
Die beiden anderen, die der Detektiv in seiner legeren Art einander vorgestellt hatte, waren einverstanden.
So bogen sie denn in die Friedrichstraße ein und gingen das kurze Stück bis zu dem bekannten Restaurant zu Fuß.
Und dann betraten sie den „Heidelberger“. Schaper entdeckte in dem kleinen Garten einen freien Tisch. Nachdem der Kellner die Gläser gebracht hatte, begann der Detektiv sofort als guter Geschäftsmann mit seinem Bürovorsteher von den Dingen zu sprechen, die ihm am meisten am Herzen lagen.
„Sie dürfen mir das nicht verargen, lieber Gerster,“ entschuldigte er sich bei diesem. „Aber gerade in meinem Beruf muß ich jede Minute auf dem Laufenden [67] sein.“ – „Briefe eingegangen?“ wandte er sich dann an Lemke.
„Bitte. Habe alles mitgebracht.“
„Sonst was neues?“
„Zwei neue Aufträge. Einer davon sehr lohnend.“
Während Schaper nun die Briefe durchsah – es war ein ziemlicher Stoß – unterhielten sich die beiden anderen halblaut.
Plötzlich lachte der Detektiv hell auf, so daß seine Tischgenossen beinahe erschreckt zusammenfuhren.
„Diese Gespenstergeschichte dort hinten in Pommern wird immer interessanter,“ sagte er dann, zwei der Briefe mit den Fingerspitzen hochhaltend. „Die Freundschaft zwischen dem Privatgelehrten Müller und dem dicken Kaufmann Wernicke scheint einen Riß bekommen zu haben. – Lieber Gerster, Sie sind ja in die Sache eingeweiht. Da wird es Sie also nicht allzusehr langweilen, wenn ich Ihnen zwei famose Herzensergüsse aus Gauben vorlese. – Herr Müller schreibt: „Sehr geehrter usw. Zu meinem Bedauern erfuhr ich von Herrn Wernicke, daß Sie gestern hier in unserem Städtchen gewesen sind, ohne sich zu mir bemüht zu haben. Sollte Sie etwa meine Krankheit davon abgehalten haben? Das würde mir sehr leidtun. Ich hätte Sie sehr, sehr gern persönlich gesprochen. Nun muß ich das, was ich Ihnen mündlich mitteilen wollte, auf diesem Wege zukommen lassen. Ich will mich kurz fassen. – Obwohl ich meinen Verdacht nicht begründen kann, so werde ich doch das Gefühl seit einigen Tagen nicht los, daß Wernicke bei den Geistererscheinungen in meinem Garten nicht ganz unbeteiligt ist. Wie gesagt – es ist dies eine bloße Vermutung von mir, die zu beweisen mir vorläufig unmöglich ist. Aber ich halte mich doch für verpflichtet, Ihnen hiervon Mitteilung zu machen. Im Interesse einer schleunigen Aufklärung der geheimnisvollen Angelegenheit würde [68] ich Ihnen raten, Ihre nächste Ankunft hier in Gauben nur mir ankündigen zu wollen, da ich sonst offen gestanden fürchte, daß das Gespenst es vorziehen wird, sich während Ihrer Anwesenheit nicht zu zeigen. Weiter bitte ich Sie aus demselben Grunde, den Personenzug nach Stolp nur bis Zerzewa, eine Station vor Gauben, zu benutzen und von dort aus mit einem leicht zu beschaffenden Fuhrwerk bis in die Nähe der Mönchs-Abtei zu fahren, wo ein Nachtquartier für Sie jederzeit bereit ist. – Um Ihnen zu zeigen, wie viel mir an der baldigen Erledigung dieser immerhin recht merkwürdigen Geschichte gelegen ist, gestatte ich mir, das Honorar, soweit ich es zahle, auf dreihundert Mark zu erhöhen unter der Bedingung, daß Sie meinen vorhin geäußerten Wünschen pünktlich nachkommen. – Ihrer gefälligen Antwort entgegensehend – Hochachtungsvoll – Friedrich Müller.“
„So – das wäre Schreiben Nummer eins! Nun das Gegenstück dazu. – Vorher aber: Prosit, meine Herren!“
Darauf las Fritz Schaper auch den zweiten Brief vor.
„Sehr usw.! Kurz nach Ihrer Abreise habe ich zufällig etwas erfahren, was Sie fraglos interessieren wird. Der Bahnhofsvorsteher Hillgard in Gauben ist mein Freund und Regimentskamerad. Hillgard erzählte mir nun folgendes. – Der Diener Hartung meines Mieters Müller hat sich in der letzten Woche regelmäßig vor Ankunft jedes Zuges auf dem Bahnhof eingefunden und ist Reisenden, die hier in Gauben ausstiegen, stets heimlich gefolgt, um festzustellen, wo sie blieben. Auch an dem Tage, als Sie hier eintrafen, hat der den Bahnsteig aus der Ferne überwacht. Und der Hotelkutscher der „Drei Kronen“ hat ihm, kaum daß Sie Ihr Zimmer aufgesucht hatten, sagen müssen, wer Sie seien. Mit einem Wort: Es macht auf mich den [69] Eindruck, als ob Friedrich Müller gern sofort wissen möchte, wenn Sie hier sind. Daß es sich bei diesem Spionieren nur um Ihre Person handeln kann, geht aus folgendem hervor. Der Diener Hartung ist bisher nie auf dem Bahnhof gewesen, jedenfalls höchstens in dem halben Jahr, seit er mit seinem Herrn hier wohnt, drei bis vier Mal und dies dann nur zu dem Zweck, um eilige Briefe in den Bahnhofskasten zu werfen. Erst an dem Tage, an dem Sie Friedrich Müller mitteilten, daß Sie es versuchen wollten, dem Gespenst nachzuspüren, begannen Hartungs Patrouillengänge nach dem Bahnhof, die er täglich fünf Mal unternehmen mußte und die erst aufhörten, als Sie hier gewesen waren. – Weitere Bemerkungen an diese Tatsache will ich nicht knüpfen. Jedenfalls sehen Sie, daß wir hier in Gauben auch die Augen offenhalten können. Und das werde ich jetzt erst recht tun. Denn, unter uns gesagt, als ich Müller erzählte, daß Sie bei mir waren und wiederkommen würden, da es Ihnen jetzt an der nötigen Zeit fehle, tauschte er mit seinem Diener einen Blick aus, den ich nicht bemerken sollte, der mir aber doch nicht entging. Und in diesem Blick lag soviel Spott und höhnischer Triumph, daß ich plötzlich, hinsichtlich des grauen Gespenstes, zu einer ganz anderen Ansicht gelangt bin. – Ihnen bei Ihrer Erfahrung wird es nicht schwer fallen, aus alledem Ihre Schlüsse zu ziehen und Ihr Vorgehen so einzurichten, daß Sie auch wirklich Erfolg haben. – Das Schönste ist – der Herr Privatgelehrte hält mich als Kleinstädter anscheinend für einen – rechten Einfaltspinsel. Mag er. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. – Nebenbei bemerkt, war Müller am Tage Ihrer Abreise bereits wieder völlig gesund. Ich traf ihn an seinem Schreibtisch sitzend und behaglich eine Pfeife rauchend, an. – Hochachtungsvoll ergebenst – Ernst Wernicke, Kolonialwarenhändler.“
[70] Als Schaper jetzt den Brief auf den Tisch zurücklegte, konnte Heinz Gerster nicht länger ansichhalten.
„Und über die beiden Schreiben lachen Sie so belustigt?“ meinte er ganz vorwurfsvoll. „Ich denke, die Sache wird durch diese Mitteilungen nur noch komplizierter. Manches in den Briefen regt doch geradezu zu dem Verdacht an, daß es sich bei diesen Geistererscheinungen um mehr als einen bloßen Schabernack handelt. – Das Letztere nahmen Sie doch bisher an, nicht wahr?“
„Tue ich auch noch,“ entgegnete der Detektiv gemütlich. „Freilich, um einen Schabernack, über dessen tiefere Absichten ich mir noch nicht klar bin. Aber auch das werde ich herausbekommen!“
Bald darauf verließen die drei Herren das Restaurant und fuhren ein jeder nach seiner Wohnung, nachdem der Schriftsteller dem Detektiv noch versprochen hatte, sich morgen in dessen Büro einzufinden.
Kurt Hiller, der Angestellte des Detektivinstituts Argus, den Schaper in München zum Zwecke weiterer Nachforschungen nach dem Verbleib Frau Käti Deprouvals zurückgelassen hatte, war von den Leuten Fritz Schapers vielleicht die beste und geriebenste Arbeitskraft. Nachdem sein Herr aus der Isarstadt mit dem Luxuszug abgereist war, suchte er eins der großen Bräuhäuser am Platzl auf und legte sich bei einem Liter echten Müncheners und mehreren Paaren Weißwürsten mit Kraut einen Feldzugsplan zurecht. Es dauerte nicht lange, da war er auch schon mit sich einig. Ja, so mußte es gehen – das war der einzige Punkt, an dem sich diese Sache angreifen ließ.
[71] Am nächsten Morgen suchte er dann seinem Plane gemäß den Portier des Hauses Aspernstraße 19 auf. Dieser, ein behäbiger Pfälzer, ließ sich mit spielender Leichtigkeit ausholen.
Ja, die Anna, die bei der Frau Deprouval seit zwei Jahren als „Mädchen für alles“ diene, habe natürlich einen Schatz. Mit dem habe er sich schon so manches Mal unterhalten. Freilich, wo der wohne, wisse er nicht, nur daß er Schlosser sei und eine feste Anstellung in der Elektrizitätszentrale habe. – Der Name? Hm, er wolle sich mal besinnen. – Richtig – Alois Pilcherer.
Mehr brauchte Hiller, der dem Portier ein wunderbares Märchen aufgebunden hatte, um ihn gesprächig zu machen, nicht zu wissen. Auf dem Einwohnermeldeamt erfuhr er ja alles Weitere. –
Alois Pilcherer, ein waschechter Bayer, gemütlich, wenn er nüchtern war, grob und händelsüchtig nach dem sechsten Liter, konnte sich zunächst gar nicht von seinem Staunen erholen, als er abends um sieben in seinem Kämmerchen, das er bei der Witwe Aschbauer allein bewohnte, den Besuch eines elegant gekleideten Fremden erhielt, der ihn in höchst verdächtiger Weise in reinstem Hochdeutsch anredete.
„Herr Pilcherer, nicht wahr?“ fragte Hiller, indem er nach dem lauten „Herein,“ ungeniert in die kleine Dachkammer trat.
Der Schlossergeselle nickte nur.
Der Detektiv stellte sich ihm als Fachkollege, als Maschinenschlosser, vor, der hier in München Arbeit suche, und in der kleinen Kneipe an der nächsten Ecke spielte sich dann der zweite Akt der Komödie ab, bei der der brave Alois doch schließlich der Geleimte war. Da es Hiller nach sehr kurzer Zeit gelang zu erfahren, daß sich Pilchrers Braut mit ihrer Herrschaft in Karlsbad befand.
[72] Als Fritz Schaper am nächsten Morgen sein Büro gegen zehn Uhr betrat – er hatte sich einmal wieder gehörig ausschlafen wollen – meldete Lemke ihm sofort, daß Kurt Hiller aus München, vor etwa einer Stunde, antelephoniert und die jetzige Adresse der Frau Deprouval angegeben habe.
Schaper schaute bei dieser Nachricht recht ungläubig drein. Aber bald belehrte ihn sein Bürovorsteher, daß an diesem wunderbar schnellen Erfolg Hillers nicht mehr zu zweifeln sei.
„Famos!“ rief der Detektiv da. „Verbinden Sie mich mal schleunigst mit Herrn Gerster. Inzwischen sehe ich das Kursbuch ein. – Da haben wir’s schon. Karlsbad-Berlin – sehr günstig. – Donnerwetter, das ginge –!“
Als der junge Schriftsteller sich gegen halb zwölf in dem Detektivbüro einfand, wurde ihm der Bescheid [eröffnet][8], daß Herr Schaper soeben verreist, morgen früh neun Uhr aber bestimmt wieder zurück sei.
Pünktlich stellte er sich dann am folgenden Morgen bei Schaper ein und wurde auch sofort vorgelassen. Der Detektiv, der etwas müde und abgespannt aussah, begrüßte ihn mit warmer Herzlichkeit, bat ihn Platz zu nehmen und sagte darauf ganz unvermittelt:
„Frau Käti läßt herzlich grüßen, lieber Gerster. Es geht ihr gut und sie erwartet Sie heute oder morgen bei sich.“
Kein Wunder, daß der junge Schriftsteller zur Bildsäule erstarrte.
„Ist das Ernst oder Scherz?“ fragte er nach einer Weile unsicher, indem er den Detektiv ängstlich forschend anblickte.
„Mit Berufsdingen scherze ich nie. Frau Deprouval hält sich zur Zeit in Karlsbad, Hotel Kaiserhof, auf,“ erwiderte Schaper mit feinem Lächeln.
„Mithin waren Sie gestern dort,“ meinte Gerster [73] leicht gereizt. „Warum nahmen Sie mich nicht mit?“
Der Detektiv legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. „Weil ich erst das Terrain für Sie vorbereiten wollte, lieber Gerster,“ entgegnete er offen. „Frau Käti weiß jetzt durch mich, daß Sie treu zu ihr halten, mag in der Vergangenheit auch noch so viel Trauriges passiert sein und mag die Zukunft vielleicht nicht weniger Schmachvolles bringen. Sie wird nun die Scheidung sofort einleiten, was ja das einzig Richtige ist. So, wie die Dinge liegen, ist sie in spätestens einem Vierteljahr frei.“
Heinz Gerster streckte jetzt dem Detektiv beide Hände hin. Sein ehrliches Gesicht strahlte förmlich.
„Ich danke Ihnen, Schaper, danke Ihnen aus übervollem Herzen. Doch nun erzählen Sie. Sie können sich denken, wie ich vor Neugier brenne –“
„Nun: 11 Uhr 10 Minuten gestern vormittag nach Karlsbad, halb sechs Ankunft dort, halb sieben im Kaiserhof bei Frau Käti. Zusammen soupiert, alles erledigt, mit Nachtschnellzug wieder in Berlin!“
Gerster hatte schon seine Uhr hervorgeholt.
„Dann benutzte ich denselben Zug,“ erklärte er. „Sie müssen mich schon entschuldigen, lieber Schaper.“
Er griff nach Hut und Stock.
„Einen Moment noch,“ meinte der Detektiv. „Es dürfte Sie interessieren, daß ich mit meiner Vermutung, hinsichtlich der Reise Charlotte Wendels nach Berlin, recht hatte. Das junge Mädchen ist durch einen Brief aus München fortgelockt worden, der von Anfang bis zu Ende nichts als Schwindel war. Zum Glück besann sich Frau Deprouval auf die Adresse des Absenders, eines angeblichen Konsulatssekretärs Morrisson, hier, Bellevuestraße 8. Am besten, ich komme sofort mit. Denn diese Fährte muß verfolgt werden, so lange sie warm ist. Es handelt sich hier nämlich [74] fraglos um eine Schurkerei des Herrn Charles Deprouval.“
„So ist wirklich Deprouval dieser Fremde, der in Danzig –?“
„Er ist’s. Frau Käti bestätigte die mir bekannten Personalien bis ins einzelne.“ –
Ein Auto brachte die Herren dann nach der Bellevuestraße, wo Schaper ausstieg, während der Schriftsteller nach seiner in Charlottenburg gelegenen Wohnung weiterfuhr, um noch schnell seinen Koffer zu packen. –
In Nr. 8 befand sich in der zweiten Etage eine vornehme Fremdenpension. Dort läutete der Detektiv. Die Besitzerin des Pensionats, der er seine Legitimation vorzeigte, erklärte sich nach einigem Zögern zu jeder Auskunft bereit.
So erfuhr Schaper denn, daß ein Engländer, der sich Tarpy Morrisson nannte und Konsulatssekretär war, eine Woche in der Pension gewohnt habe, bereits aber wieder abgereist sei und zwar in Begleitung einer Dame, die er für seine Schwester ausgegeben und die in einem zweiten Zimmer nur eine Nacht logiert hatte.
Schaper hatte eine ähnliche Antwort erwartet.
„Könnte ich das Zimmer Morrissons mir einmal ansehen?“ fragte er nach kurzem Nachdenken.
„Bitte, es ist noch frei.“
Das Zimmer war elegant eingerichtet, besaß zwei Fenster und machte einen recht behaglichen Eindruck. Der Detektiv unterzog es einer sehr gründlichen Musterung, entdeckte jedoch nicht die kleinste Kleinigkeit, die für ihn wertvoll gewesen wäre. Schließlich gab er das Suchen auf.
„Und das Zimmer der Schwester Morrissons?“ fragte er unverfroren.
[75] „Das ist leider schon wieder vergeben,“ meinte die Pensionsinhaberin kühl.
„Vielleicht könnte ich es trotzdem sehen. – Wer wohnt denn dort?“
„Ein Offizier. – Aber ich möchte doch bitten, daß Sie meine Gäste nicht stören. Ihr Verlangen geht wirklich zu weit,“ sagte die Dame etwas ungeduldig.
Schaper war so leicht nicht abzuschütteln. „Sie wissen nicht, gnädige Frau, was bei der Untersuchung, die ich führe, alles auf dem Spiel steht,“ erklärte er ernst. „Mit dem Offizier werde ich mich schon auseinandersetzen.“ –
Der Oberleutnant, ein Feldartillerist, der zu der Hochzeit eines Freundes von Stettin herübergekommen war, saß gerade beim Morgenkaffee. Schaper stellte sich vor und brachte dann seine Bitte an.
„Aber gewiß gestatte ich das,“ meinte der Oberleutnant liebenswürdig. „Bitte – das Zimmer steht Ihnen zur Verfügung.“
Wieder begann dieses peinlich genaue Absuchen. Der kaminartige Ofen, die Fächer des Schreibtisches, des Waschtisches, die Schreibunterlage, der Papierkorb – nichts blieb verschont. Wieder vergeblich. Schon wollte Schaper sich verabschieden, als der Offizier, der den Detektiv mit leicht begreiflichem Interesse beobachtet hatte, etwas von oben herab sagte:
„Als Sie vorhin den leeren Papierkorb aufhoben und hineinschauten, flatterte ein Schnitzel unter den Sessel da –“
Schon hatte Schaper das Papierstückchen in der Hand. Es war der obere Teil eines Briefumschlages mit der halben, entwerteten Marke. Und auf dieser, mitten durchgerissenen, Marke war noch deutlich der Absendeort des Stempels zu lesen.
Dem Detektiv gab es einen förmlichen Ruck durch den Körper.
[76] Nein, das war keine Sinnestäuschung – da stand klar und deutlich – „Gauben“.
Zehn Minuten später saß Fritz Schaper wieder in seinem Arbeitszimmer vor seinem Schreibtisch. Auf dem roten Tuchbezug lagen all die Papiere ausgebreitet, die den Fall des „grauen Gespenstes“ betrafen: Das erste Schreiben des Privatgelehrten, die eigenen Aufzeichnungen des Detektivs über seinen Besuch in dem Städtchen und bei Wernicke, und schließlich die beiden Briefe, in denen die beiden Männer sich gegenseitig verdächtigten.
Der Detektiv hatte sich eine Zigarre angezündet und blies langsam die blauen Rauchwölkchen von sich. Seine Gedanken umspielten ununterbrochen dieses eine Rätsel: Wie kam das Papierstückchen, dieser Überrest eines aus Gauben stammenden Briefes, in den Papierkorb jenes Zimmers? Die Pensionsinhaberin hatte ihm versichert, daß bei ihr noch nie jemand aus Gauben gewohnt habe. Sie kenne das Nest gar nicht. Weiter hatte er sie dann gefragt, wer vor dem angeblichen Fräulein Morrisson das Zimmer innegehabt habe. – Eine Argentinierin einen Monat lang, deren Gatte zur preußischen Armee abkommandiert war. Die Dame habe stets nur Briefe aus der Heimat erhalten. –
Mithin: Wie war der Schnitzel in den Papierkorb geraten, wie – wie? – Eigentlich gab es nur eine Lösung, die ihm aber so weithergeholt schien, daß er sie immer wieder verwarf. Und diese Lösung war, daß zwischen dem Fall „Albert Wendel“ und dem des „grauen Gespenstes“ irgendwelche Beziehungen bestanden! – Nahm man z. B. an, daß der Privatgelehrte Müller mit Deprouval bekannt sei, so ließ sich das Auftauchen des Brieffragmentes in der Pension der Bellevuestraße unschwer erklären. Deprouval und Morrisson waren ja ein und dieselbe Person. Und [77] konnte der angebliche Konsulatssekretär nicht den Brief aus Gauben im Zimmer „seiner Schwester“ vernichtet, dabei aber gerade das eine Stückchen übersehen haben?
Wohl eine Stunde verging über diesem nutzlosen Grübeln, mit dem Fritz Schaper sein Hirn zermarterte. Er fand eine ihm zusagende Erklärung nicht. Überhaupt – hier gab es ja noch so manche Fragen zu lösen. Wie war z. B. Deprouval in den Besitz des mit dem Aufdruck des englischen Generalkonsuls versehenen Briefbogens gelangt? Und die Hauptsache: Was hatte dieser hartgesottene Schurke mit Charlotte Wendel vor? Gedachte er wirklich die Erbschaft an sich zu reißen? Und wenn, auf welche Weise?
In dieser unangenehmen Lage rief er sich seinen Bürovorsteher herbei und beriet mit diesem, was man nun zunächst tun solle. Lemke, ein alter Praktiker in dem vielseitigen Detektivberuf, horchte hoch auf, als Schaper ihm die Geschichte von dem Brieffragment erzählte. Dann rückte er mit seinem Vorschlag heraus.
„Wie wär’s, Herr Schaper, wenn Sie jetzt sofort nach Gauben fahren und sich dort so ein wenig um die Mönchsabtei und ihre Bewohner kümmern würden? Indessen könnten wir hier mit all unseren verfügbaren Kräften nach dem Verbleib Deprouvals und der jungen Dame forschen lassen. So verlieren wir keine Zeit und sind auf beiden Schauplätzen tätig.“
„Genau denselben Gedanken hatte auch ich,“ meinte Schaper. „Gut. Dann geht also die Jagd auf der Eisenbahn wieder los. Doch – was hilft’s?! Ich reise also mit dem Mittagszuge. Abends sieben Uhr geben Sie eine Depesche an Müller nach Gauben auf, daß ich morgen mit dem letzten Zuge dort eintreffe. Auf diese Weise habe ich die kommende Nacht und den Tag ganz für mich. Natürlich fahre ich nicht als Fritz Schaper, sondern in irgend einer Verkleidung.“
Die kleine Bahnstation Zergewo in Pommern, liegt etwa drei Meilen von dem Städtchen Gauben entfernt. – Aus dem Zuge, der kurz nach acht Uhr abends, von Berlin kommend, in dem Marktflecken eintrifft, stieg ein älterer, in einen dunklen Pelerinenmantel gekleideter Herr aus, der mit seiner goldenen Brille, dem wenig gepflegten, grauen Vollbart und der vornübergebeugten Haltung wie ein Dorfschulmeister aussah. Das bescheidene Männchen, das nur eine beschabte Handtasche bei sich trug, schaute sich suchend um, worauf er den Bahnsteig verließ und der Chaussee zustrebte.
Rüstig schritt Schaper, denn niemand anders als der Detektiv war der Alte, dahin. Die Chaussee lag völlig verlassen da. Die Nacht war dunkel, der Himmel mit leichten Wolken bedeckt. Das störte den Detektiv nicht. Er hatte sich längst an nächtliche Einsamkeit gewöhnt.
Die Mönchsabtei befand sich auf der anderen Seite der Stadt. Soweit hatte Schaper den Situationsplan noch von seinem ersten Besuche in Gauben her im Kopf. So bog er denn von der Chaussee auf ein abgeerntetes Roggenfeld ab und umging in großem Bogen den Ort. Nach einer guten halben Stunde war er dann an der rückwärtigen Mauer des einsamen Gehöftes angelangt.
Schaper blieb stehen und lauschte. Jenseits der hohen Steinmauer, deren Feldsteine dicht mit einer grünen Moosschicht bedeckt waren, hatte er ein Geräusch gehört. Es klang wie das Knarren von Balken, die hin und herbewegt wurden.
Der Detektiv stand jetzt im Schutze eines Gestrüpps von wilden Rosen, die sich zum Teil an einem [79] verkrüppelten Birnbaum hochgerankt hatten und ihm daher vorzügliche Deckung boten. Langsam zog er seinen Pelerinenmantel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn vor sich auf den Boden. Dasselbe tat der mit dem grauen Anzug, den er über einen anderen, etwas engeren und dunkler gefärbten gezogen hatte. Darauf entnahm er seiner Reisetasche eine erdfarbene, weiche Reisemütze und vertauschte sie gegen den schwarzen, steifen Hut. Auch die Brille wanderte als oberstes Stück auf den Kleiderhaufen. Alle übrigen Requisiten seines Handwerks trug Fritz Schaper bei sich: die Mehrladepistole, die elektrische Taschenlampe, ein Taschenstemmeisen und ein paar feingearbeitete Nachschlüssel. – Auf seine dünnsohligen Schnürstiefel konnte er sich verlassen. Die knarrten nicht.
Lautlos, wie ein Schatten, huschte er nun auf die Mauer zu. Da – wieder dasselbe Geräusch. Er stand eine Weile und horchte. In unregelmäßigen Zwischenräumen wiederholte sich dieses dumpfe Knarren. Bisweilen krachte es auch wie von brechendem Holz. – Es half nichts. Er mußte hinüber. – So suchte er sich denn eine bequeme Stelle aus, wo er die Mauer unschwer übersteigen konnte.
Fünf Minuten später lag er seine acht Meter von der Prior-Kapelle entfernt in einem dichten Gebüsch und starrte unverwandt nach dem halbverfallenen Gemäuer hinüber. Ein paar Gestalten bewegten sich dort. Hin und wieder blitzte auch der Lichtschein einer Laterne auf. Dann knarrten Balken, ertönten dumpfe Schläge. Er hörte auch leise sprechen. Aber die Worte verstand er nicht. Jetzt schleppen zwei Mann eine Leiter zu der Eingangstür der Kapelle, während ein dritter ihnen leuchtete. Die Leiter wurde aufgerichtet, und einer der Männer kletterte bis zu dem spitzen, schweren Ziegeldach empor. Rasselnde, quietschende Töne. – Eine Säge, dachte Schaper. – Und [80] dann vernahm er ein leises Kichern, etwas wie ein schadenfrohes Lachen.
Der Detektiv hielt den Atem an. Wo hatte er nur dieses teuflische Kichern schon gehört, wo nur, wo? – Da, wieder dieses halb unterdrückte, widerliche Gelächter. Und der heimliche Lauscher sann und sann. Kein Zweifel, dem Mann dort war er bereits begegnet, und zwar hatte er dieses niederträchtige Kichern bei einem Anlaß vernommen, bei dem er beruflich tätig gewesen war.
Da wurden Fritz Schapers Gedanken durch die Vorgänge bei der kleinen Prior-Kapelle wieder abgelenkt. Die drei Männer dort schafften jetzt die Leiter fort. Man merkte, daß sie bemüht waren, möglichst wenig Geräusch zu machen. Still schritten sie mit ihrer Last durch die Gänge des Gartens hin und lehnten die Leiter dann an die Rückwand des Hauptgebäudes, wo sie sie stehen ließen. Der Detektiv, der ihnen nachgeschlichen war, bemerkte jetzt, wie sie durch die Hintertür in das Haus schlüpften. Und gleich darauf hörte er auch das Kreischen eines Schlüssels, der zweimal im Schloß herumgedreht wurde.
Längere Zeit umkreiste er dann noch das Haus, um festzustellen, ob etwa der dritte der Männer die Mönchsabtei wieder verließ. Aber alles blieb ruhig. Nur zwei Fenster in der ersten Etage zeigten sich erleuchtet. Diese waren jedoch mit dichten Vorhängen verschlossen, sodaß Schaper den Gedanken, einen hohen Baum des Parkes als Beobachtungsposten zu erklettern, schnell wieder fallen ließ. Die Leiter, die ihm diesen Plan erleichtert hätte, nützte ihm nichts. Sie war für einen einzelnen Menschen zu schwer, wie er schon bei seinem ersten Besuch des einsamen Gehöftes ausprobiert hatte.
„Die Zeit ist gekommen,“ dachte der einsame Lauscher und schlich im Schatten der Baumgruppen unhörbar [81] auf die Kapelle zu. Im Eingang derselben blieb er einen Moment stehen und schaute sich um. Nichts – nichts. Still und schweigend lag der große Garten da.
Fritz Schaper lächelte. Das war doch die Stunde der Gespenster?! Wo blieb denn nun der graue Geist, der hier sein Unwesen treiben sollte?! – Und ruhig drückte der Detektiv den Schieber seiner Taschenlampe hoch, sodaß urplötzlich ein heller Lichtkegel in den Innenraum des verwahrlosten Gotteshauses fiel. Eilig durchschritt er jetzt die Kapelle und machte erst vor der Rückwand des Sakristei-Anbaues halt. Er kannte ja die Örtlichkeit. Zum zweiten Mal befand er sich nun in dieser baufälligen Ruine. Heute wollte er sich die Entdeckung, die er schon damals in jener Nacht, nach seinem Besuch bei dem Kaufmann Wernicke, gemacht hatte, genauer ansehen. – Dort an der Rückwand erhob sich ein großer Schrank, hergestellt aus festen Eichenbrettern. Die Tür hing nur noch in einem Gelenk und lehnte mit der oberen Kante altersschwach an der Mauer. Dieser Schrank, der mit dicken eisernen Klammern wie für die Ewigkeit an der getünchten Wand befestigt war, hatte früher fraglos die Altargeräte und die Meßgewänder enthalten. Jetzt war er völlig leer. Selbst die Zwischenbretter fehlten. Nur deren Stützen waren noch vorhanden.
Schaper faßte mit der rechten Hand in die obere hintere Ecke, und mit einem Mal bewegte sich die hölzerne Rückwand mit leisem Geräusch nach rückwärts und gab eine dunkle, gähnende Öffnung frei. Gebückt schlüpfte der Detektiv ein und schob die geheime Tür wieder zu. Er befand sich jetzt in einem schmalen, gemauerten Gang, der wie eine Kellertreppe steil abwärts führte. Ohne sich um die verstaubten Spinngewebe, die kreuz und quer über die enge Stiege gespannt waren, zu kümmern, eilte er die Stufen hinab, [82] die noch recht gut erhalten waren. Am Fuße der Treppe blieb er stehen und ließ den Lichtschein seiner Laterne langsam über die einzelnen, mit Staub fingerhoch bedeckten Stufen hingleiten. Deutlich waren in dieser grauen Staubschicht eine ganze Anzahl von Fußspuren eingedrückt.
„Aha,“ brummte Schaper vor sich hin. „Dies ist also der Ort, wohin der Geist so geheimnisvoll verschwindet. – Nun, wollen sehen, ob dieses geheime Versteck uns noch mehr verrät.“
Der Gang verlief jetzt in gerader Richtung weiter. Nach ungefähr zwanzig Meter wurde eine zweite, nur bedeutend schmälere Treppe sichtbar, die in die Höhe führte und vor einer niedrigen Tür endete, deren Verschlußmechanismus hier auf dieser Seite ganz frei lag und aus einer Anzahl eiserner Schieber, die offenbar frisch geölt waren, bestand. Der Detektiv brauchte nicht lange zu probieren. Schon öffnete sich das Türchen geräuschlos nach innen. Vorsichtiger Weise hatte der nächtliche Eindringling die Laterne vorher ausgeknipst. Atemlos lauschte er jetzt in die Finsternis hinein. Nichts regte sich. Minutenlang verharrte er in derselben Stellung. Dann erst wagte er es, Licht zu machen. Der weiße Kegel beleuchtete die getäfelte Wand eines breiten Korridors. Und einen Teil dieser Täfelung bildete die niedrige Tür zu dem verborgenen Verbindungweg nach der Prior-Kapelle.
Schaper wußte genug. Lautlos, wie er gekommen, verschwand er wieder. Gleich darauf tauchte er im Innenraum der Kapelle auf.
„Möchte nur wissen, was die drei hier zu sägen und zu hämmern hatten,“ dachte er mißtrauisch und beleuchtete überall die Wände und auch die Decke, die von dem spitzzulaufenden Dach gebildet wurde. Wie er dann den mit Schutt und Fußbodentrümmern bestreuten Boden absuchte, fand er gerade unter einem der [83] Fenster, deren Glasscheiben längst herausgefallen waren, ein kleines Häufchen Sägemehl. Noch vier andere solcher Häufchen des gelblichen Holzpulvers entdeckte er, und alle diese lagen gerade unter den durch Wind und Wetter völlig aus ihrer Lage verschobenen Hauptstützbalken des Daches.
Schaper war mit einem Mal sehr nachdenklich geworden. Und dann kletterte er kurz entschlossen an dem Fensterkreuz empor und beleuchtete den einen der Stützbalken. Als er, bestaubt und beschmutzt und mit zerschundenen Händen, wieder zu ebener Erde angelangt war, lag in seinen Augen ein drohendes Flimmern.
„Unglaublich – unglaublich!“ murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin. „Doch – ich muß Gewißheit haben –“
Nunmehr umschritt er langsam von außen das alte Bauwerk, welches stellenweise so dicht mit Efeu überwuchert war, daß die grünen Blätter einen undurchdringlichen Vorhang bildeten. Trotzdem tastete Fritz Schapers Hand Zentimeter für Zentimeter die Mauer ab. Da, wie er an die Rückseite gekommen war, umspannten seine Finger plötzlich einen dicken Strick, der anscheinend vom Dache herunterhing. Es war derselbe Strick, den des Detektivs scharfe Augen oben um den mittelsten Dachträger geschlungen, bemerkt hatten. –
Die Nacht verbrachte Fritz Schaper in einem nahen Getreideschober. Eingehüllt in seinen Mantel, schlief er traumlos und fest. Gegen neun Uhr morgens erwachte er. Nachdem er den zweiten Anzug wieder übergestreift und sich, so gut es ging, gesäubert hatte, schritt er auf Umwegen der Chaussee zu und wanderte zu Fuß bis zum nächsten größeren Dorfe, das eine Postagentur besaß. Hier gab er eine Depesche an seinen Bürovorsteher auf.
[84] „Erwarte Hiller und Maschke mit Schließzeug, abends Bahnhof Zergewo. – Schaper.“
Das Telegramm wurde sofort expediert.
Dann fragte der Detektiv den Lehrer, der die Postagentur verwaltete, nach dem besten Gasthaus des Dorfes. Er hatte ja noch reichlich Zeit und wollte mit möglichst frischen Kräften den Ereignissen entgegengehen, die seiner in der folgenden Nacht warteten.
Erst Nachmittags gegen vier Uhr verließ der Detektiv das Kirchdorf und schlug den Weg nach Zergewo ein. Dieser führte zum Teil durch einen dichten Wald. Hier suchte er sich ein verstecktes Plätzchen und nahm dort mit seinem äußeren Menschen eine gründliche Umwandlung vor. Der eine Anzug, ebenso die Pelerine des Mantels wanderten eng zusammengerollt in die Handtasche. Den schwarzen Filzhut behielt er auf. Das war eine zu alltägliche Kopfbedeckung, um ihn verraten zu können. Die goldene Brille wurde gegen einen Nickelkneifer ausgetauscht, ebenso die graue Perücke und der Bart gegen solchen von blonder Farbe.
Der, der nun hinter den Büschen hervortrat und seinen Weg nach Zergewo fortsetzte, hatte mit dem alten Herrn vom Abend vorher nicht die geringste Ähnlichkeit mehr. Mithin war es ausgeschlossen, daß die Bewohner der Mönchsabtei selbst nur durch ein Spiel des Zufalls davon erfuhren, daß der Detektiv schon einen ganzen Tag in der Umgegend von Gauben geweilt hatte, ehe er sich bei ihnen vorstellte.
Als abends kurz nach acht Uhr der Berliner Personenzug in Zergewo einlief, stand Schaper auf dem [85] Bahnsteig, gemütlich eine Zigarre rauchend. Aus einem Abteil dritter Klasse stiegen jetzt zwei Herren aus, die sich erst suchend umschauten, dann vor dem blonden Fremden mit dem Nickelkneifer stehen blieben und anscheinend irgend etwas fragten.
Niemand bemerkte, daß Schaper einem der Leute einen Zettel zusteckte und leise dazu sagte:
„Hier, Ihre Verhaltungsmaßregeln.“
Laut aber fügte er hinzu:
„Ja, gewiß, einen Wagen können Sie hier leicht bekommen. Der Gastwirt Schubert besitzt einen Einspänner, der bringt Sie in zwei Stunden an Ihr Ziel.“ –
Gleich darauf kletterte Schaper in ein Abteil zweiter Klasse und machte es sich in einer Ecke bequem.
Die Fahrt bis Gauben dauerte nur eine knappe halbe Stunde. Auf dem dortigen Bahnhof verließ der Detektiv den Zug und begab sich auf einem kleinen Umweg nach der Mönchsabtei, nachdem er einen Arbeiter, dem er auf der Chaussee begegnete, in genauer Durchführung seiner Rolle als mit den örtlichen Verhältnissen Unbekannter nach dem einsamen Gehöft gefragt hatte.
Bei völliger Dunkelheit langte er vor dem Torweg an. Schon von weitem hatte er den Lichtschein einer Laterne bemerkt, der sich vor der Eingangspforte der Gartenmauer auf und abbewegte. Jetzt sah er sich einem Manne gegenüber, der ihm zunächst in das Gesicht leuchtete und dann mürrisch sagte:
„Herr Schaper?“
„Ja, der bin ich.“
„Bitte, folgen Sie mir.“ Der Diener – nur er konnte es sein, der den Detektiv erwartet hatte – ging mit der Laterne voraus, nachdem er den Torweg wieder sorgfältig verschlossen hatte.
Im Hause angekommen, geleitete er den Gast in [86] ein Zimmer des Erdgeschosses, in dem eine Lampe auf dem Tische brannte und ein frisch bezogenes Bett neben anderen bescheidenen Möbeln stand.
Schaper stellte seine Reisetasche bei Seite, entledigte sich seines Mantels und wandte sich dann an Hartung, der abwartend an der Tür stehen geblieben war.
„Kann ich Ihren Herrn sprechen?“ fragte er, dem Manne vertraulich zunickend.
„Herr Müller liegt zu Bett,“ erwiderte der Diener kurz. „Trotzdem möchte er Sie sehen. Ich werde vorausgehen.“
Sie schritten dann den Korridor entlang an ein paar Türen vorbei. An der letzten des mit Steinfliesen belegten Ganges klopfte Hartung und öffnete auf ein leises Herein.
„Bitte, Herr Schaper.“
Dieser trat ein. In dem eisernen Feldbett richtete sich eine Gestalt mit zur Hälfte verbundenem Gesicht auf und streckte Schaper zur Begrüßung eine knochige Hand entgegen.
„Es freut mich, daß Sie gekommen sind,“ krächzte der Privatgelehrte mit heiserer Stimme. „Bitte setzen Sie sich zu mir,“ bat der Patient darauf. „Und entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie in dieser Weise empfange.“
„Tut mir leid, Herr Müller, daß es Ihnen so schlecht geht,“ meinte Schaper, indem er Platz nahm.
Der Kranke, der sich inzwischen wieder in die Kissen zurückgelehnt hatte, nickte matt.
„An alledem ist nur das graue Gespenst Schuld,“ sagte er ärgerlich.
„Hat sich dieser Geist denn in letzter Zeit wieder einmal gezeigt?“ fragte der Detektiv harmlos.
„Häufiger wie früher sogar. Gestern abend z. B. auch,“ krächzte der Privatgelehrte.
[87] „Haben Sie ihn gesehen oder Ihr Diener?“ meinte Schaper gleichgültig.
„Ich?! – Ich konnte mich gestern nicht rühren, so plagte mich die Gicht. – Nein, Hartung hatte das zweifelhafte Vergnügen.“
„Um welche Zeit läßt sich denn das famose Gespenst am häufigsten blicken?“ fragte der Detektiv.
„Zumeist so zwischen zehn und zwölf Uhr. Falls Sie schon heute nacht aufpassen wollen, würde ich Ihnen raten, sich kurz vor zehn in den Garten zu begeben.“
„Gewiß! Am liebsten schaute ich mir die sogenannte Prior-Kapelle etwas näher an.“
Müller glättete nervös die Falten der Decke.
„Davon würde ich abraten, Herr Schaper,“ sagte er unruhig. „Wenn das Wesen, das hier als Gespenst auftritt, wirklich aus Fleisch und Blut besteht, so wird es sich vielleicht dadurch, daß Sie vorher das Terrain besichtigen, abschrecken lassen und nicht zum Vorschein kommen.“
Der Detektiv wußte nur zu gut, weshalb er von der Kapelle ferngehalten werden sollte. Er hatte diesen Wunsch einer Inaugenscheinnahme der Örtlichkeit ja auch nur zum Schein geäußert.
„Hm, Ihre Bedenken muß ich anerkennen,“ sagte er jetzt. „Lassen wir’s also.“
Müller nickte befriedigt.
Schaper erhob sich. Doch Müller hielt ihn noch zurück.
„Einen Augenblick. – Ich habe noch eine Bitte. – In welcher Weise Sie gegen das graue Gespenst vorgehen, falls es sich heute zeigen sollte, ist mir gleichgültig. Nur bitte keine Gewalttat, die mir als dem Mieter dieses Grund und Bodens und als Ihrem Auftraggeber Unannehmlichkeiten bringen könnte. Am besten, Sie beschränken sich heute darauf, die Erscheinung [88] zu beobachten, lassen sie ruhig in der Kapelle verschwinden und folgen ihr schnell. Wir erfahren so wohl am sichersten, wo der Geist eigentlich bleibt.“
Schaper kostete es jetzt wirklich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. – Kein Zweifel mehr: ihm galten die Vorbereitungen, die die drei Männer in der Nacht vorher getroffen hatten, ihm allein. Das ging klar aus der heuchlerischen Bitte dieses angeblichen Privatgelehrten hervor. Er sollte in die Kapelle gelockt werden, und dann – dann …
Den Detektiv überrieselte es eiskalt. Wirklich eine gütige Vorsehung hatte ihm den Gedanken eingegeben, heimlich zunächst einmal die Mönchsabtei und ihre Bewohner zu beobachten.
Seine Stimme klang gleichmütig wie zuvor, als er nun erwiderte:
„Dieselbe Absicht habe auch ich gehabt, Herr Müller. Von Gewaltanwendung, die strafrechtliche Folgen nachsichziehen könnte, kann natürlich keine Rede sein.“
„Denn also viel Glück zur Gespensterjagd, Herr Schaper – recht viel Glück!“ –
Schaper war mit dem Diener nach dem Garten gegangen, wo er neben demselben auf einer Bank verharrte. Jetzt, bei ruhigem Nachdenken, wurde ihm das Schurkische der Handlungsweise erst recht klar. Die ganze Situation spitzte sich zu einem Racheakt auf seine Person zu, das wurde ihm immer klarer.
Eine Bewegung Hartungs riß Fritz Schaper aus seinem Brüten auf.
Er blickte empor. Vor ihnen lag der mit gelbem Kies bestreute Weg, der zu der Tür der Prior-Kapelle führte. Mildes Mondlicht überstrahlte die Umgebung, schuf geheimnisvolle Schatten und reichte doch hin, um die Gestalt genau zu erkennen, die jetzt [89] langsam, feierlich aus dem Dunkel der Lebensbaumallee hervortrat.
Graue, schleierartige Gewänder, die noch ein Stück hinterher schleppten, umhüllten die Erscheinung, die in gemessenem Schritt an dem Versteck der beiden vorüberkam.
Hartung spielte jetzt den vor Angst und Schrecken völlig Fassungslosen.
Inzwischen war das graue Gespenst bis dicht vor die Kapellentür gelangt.
Da litt es Fritz Schaper nicht länger auf seinem Platz. Er riß die Taschenlaterne hervor und sprang auf. Der Geist drehte sich in der Tür der Kapelle um, hob wie warnend die Hand und war verschwunden. Keine fünf Schritt hinter ihm raste der Detektiv in das kleine Gotteshaus.
Schaper sprang die drei Stufen zu der Tür empor. Das Licht der elektrischen Laterne fiel in den unwirtlichen Raum hinein, traf auf die fliehende Gestalt.
Da – plötzlich – der Graue stolpert, schlägt lang mit dumpfem Krach zu Boden. Irgend ein Brett des zertrümmerten Fußbodens hat ihn zu Fall gebracht. Regungslos liegt er jetzt in dem Eingang zu der Sakristei.
Schon stand der Detektiv neben ihm.
Das Gespenst ist mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen, ist bewußtlos. Blut rinnt über sein Gesicht, das jetzt die kleine Lampe so grell bescheint. Ein Fremder, ohne Zweifel. Den Mann hat Schaper noch nie gesehen.
Mit einem Male richtet sich der Detektiv blitzschnell auf. Über ihm knistert und kracht es warnend in dem Gebälk des Daches. Ein Blick nach oben. Die schweren Balken scheinen sich zu bewegen.
[90] Da erst wird er sich der furchtbaren Gefahr bewußt.
Der dicke Strick an der Rückwand der Sakristei, der Diener, der draußen geblieben ist! – Daran denkt Fritz Schaper. Und mit zwei Sätzen steht er in dem mächtigen Eichenschrank, während hinter ihm schon der Dachstuhl zusammenkracht.
Die geheime Tür schließt sich hinter dem Detektiv, der hastig durch den unterirdischen Gang eilt und dann vor der von ihm nur einen Fingerbreit geöffneten zweiten Tür lauschend stehen bleibt. Jetzt tappten eilende Schritte den nur mäßig erhellten Korridor entlang. Ein Schatten huscht vorbei und verschwindet in dem Zimmer, wo der angebliche Kranke liegt.
Schaper, die Schußwaffe in der Hand, gleitet aus seinem Versteck hervor und schleicht sich näher. So hört er jedes Wort, das die beiden da drinnen wechseln. Er lauscht und stutzt sofort. Müller und der Diener sprechen englisch.
Jetzt vernimmt er eine erstaunte Stimme, die des Privatgelehrten.
„Wie meinst Du das, Tom? – Inwiefern mehr Glück, als wir es voraussehen konnten?“
„Weil wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe gefangen haben. – Also der Deprouval spielt das Gespenst vorzüglich. Als er in der Kapellentür steht, rennt der verd… Detektiv richtig hinterher. Ich schau’ mir die Geschichte von außen an, weil ich merkte, daß da irgend was nicht ganz programmmäßig verlaufen war. Der Schaper stand nämlich, als ich unsern schönen Glockenzug in Bewegung setzen wollte und dabei an der Tür vorbeihuschte, über eine am Boden liegende Gestalt gebeugt. – Begreifst du, Harry? Unser junger Freund war gestrauchelt und muß irgendwo hart aufgeschlagen sein, noch bevor er den rettenden Schrank erreicht hatte, durch den er spurlos verschwinden [91] sollte. Ich nun schleunigst um die Kapelle herum und das Tau genommen und – ein starker Ruck, da krachte die Falle auch schon zusammen.“
Der andere stieß sein scheußliches, so höllisch triumphierendes Kichern aus.
„Großartig, Tom, großartig! Jetzt steht die ganze Bude fraglos schon in Flammen. Meine drei chemischen Feueranzünder wirken sicher, unbedingt sicher. Da können die Herren von der superschlauen deutschen Polizei dann versuchen, aus den Brandtrümmern und den verkohlten Leichen sich ein Bild der Vorfälle zusammen zu reimen. Wird ihnen schwer fallen, fürcht’ ich!“
Wieder lachte er sein höhnisches, widerliches Lachen.
„Doch, Tom, nun zurück in den Garten. Wenn sie in Gauben den Feuerschein sehen, sind sie mit der Spritze bald hier. Ich bleibe im Bett. Was Du zu sagen hast, weißt Du ja.“
Der Detektiv huschte schleunigst davon. Die Haustür war nur angelehnt. Eilig lief er auf die Lebensbaumallee zu, wo er einen leisen, eigentümlichen Pfiff ausstieß. Sofort gesellten sich zwei Männer zu ihm, die bisher hier auf der Lauer gelegen hatten.
Der rötliche Feuerschein der brennenden Kapelle erhellte jetzt die Umgegend weithin, so daß Schaper und seine Leute sich vorsichtig im Schatten hielten. Mit wenigen Worten hatte er ihnen die nötigen Mitteilungen gemacht.
„Die Schurken sollen schon in Eisen liegen, bevor noch die Feuerwehr hier ist,“ flüsterte er, und dann schlichen sie davon. –
Tom stand vor der Haustür. Plötzlich fuhr er herum. Er hatte hinter sich ein Geräusch wie von leisen Schritten gehört. – Zu spät. Kein Schrei drang mehr aus seiner Kehle. Ein Mann hatte ihm [92] blitzschnell die Hand fest auf den Mund gedrückt, ein zweiter riß ihn nieder.
Dann lag er, gebunden und mit einem Knebel zwischen den Zähnen, hinten an der Gartenmauer. In seiner Nähe schritt langsam ein Wächter auf und ab. –
Der Privatgelehrte oben in seinem Bett lauschte. Kein Zweifel. Die Feuerwehr kam. Er hörte schon das Rasseln der Räder, den Klang einer schrillen Glocke, deren Klöppel hin und wieder bewegt wurde.
Da – was war das? – Die Tür öffnete sich. – Zwei Gestalten stürzten auf sein Bett zu. Er vermochte sich nicht zu rühren. Fesseln legten sich um seine Hände.
„Hiller, reißen Sie dem Mann die Bandagen vom Gesicht,“ befahl Schaper jetzt.
Der Gefangene leistete keinen Widerstand.
„Leuchten Sie!“
Hiller nahm die Lampe zur Hand und hielt sie so, daß der Lichtschein voll das bartlose Gesicht des Gefesselten traf.
Fritz Schaper beugte sich vor. Diese schmalen Lippen, dieses energische Kinn und die halb zugekniffenen Augen kannte er. Aber – wer war der Mann, wer? – Dann – er prallte förmlich zurück.
„Die Toten stehen auf!“ rief er fassungslos. „Hiller,“ wandte er sich an seinen Untergebenen, „wahrhaftig, wenn ich nicht wüßte, daß jener Amerikaner, jener Doktor Timpsear, in Berlin begraben liegt, ich würde darauf wetten, daß ich hier denselben Schurken vor mir habe. – Mann,“ schrie er den Gefangenen an, „antworten Sie mir! – Wer sind Sie, wer in aller Welt?!“
Doch der angebliche Privatgelehrte stierte nur immer geradeaus zu der Zimmerdecke empor. Keine Miene verzog er, kein Wort kam über seine Lippen.
Zwei Tage später schrien die Zeitungsverkäufer in den Hauptverkehrsstraßen der Reichshauptstadt mit längst heiser gewordenen Kehlen immer wieder die Sensationstitel aus, unter denen die verschiedenen Tagesblätter[9] Berlins den neuesten Kriminalfall behandelten.
Auch Heinz Gerster, der inzwischen wieder nach Berlin zurückgekehrt war, nachdem er sich mit der Geliebten über ihre Zukunftsabsichten ausgesprochen hatte, saß jetzt mit einer Zeitung in der Hand an einem der Marmortischchen des Cafes Kranzler und überflog mit atemloser Spannung den eingehenden Bericht über dieses in seiner Art wirklich einzig dastehende Verbrechen.
„– Erst durch das umfassende Geständnis des Komplicen des angeblichen Privatgelehrten ist jedoch das Dunkel, das noch über diesen zum Teil so geheimnisvollen Vorgängen schwebte, völlig gelüftet worden. Dieser Diener Hartung, in Wirklichkeit ein Amerikaner namens Thomas Shepperley, hat sein Geständnis wohl nur in der Hoffnung abgelegt, daß er dadurch mildere Richter finden dürfte. – Unsere Leser werden sich besinnen, daß vor etwa neun Monaten das kleine märkische Städtchen Buckow der Schauplatz einer Kriminalaffäre war, in deren Mittelpunkt als Hauptschuldiger ein gewisser Doktor Harry Timpsear stand, der sich dann bei seiner Verhaftung durch den rühmlichst bekannten Detektiv Fritz Schaper der irdischen Gerechtigkeit durch Selbstmord entzog, einen Selbstmord, welcher scheinbar durch ein Kügelchen Cyankali ausgeführt wurde. Scheinbar! – [94] Tatsächlich brachte sich Timpsear jedoch nur ein nur ihm bekanntes chemisches Präparat bei, das die Lebensfunktionen für eine bestimmte Zeit vollkommen zum Aussetzen zwingt und dem menschlichen Körper dabei alle Merkmale des wirklich eingetretenen Todes verleiht. Bekanntlich hatte nun der Amerikaner eine Art Testament hinterlassen, in dem er bestimmt hatte, daß seine Leiche seinem Freunde Thomas Shepperley zur Bestattung ausgeliefert werden sollte. Dieser Shepperley hat es dann verstanden, durch ihm von Timpsear schon vorher bezeichnete Gegenmittel den Scheintoten wieder ins Leben zurückzurufen. Statt des Verbrechers wurde darauf ein mit Steinen gefüllter Sarg beerdigt. Das Grab ist jetzt von der Polizei geöffnet und in der Tat leer gefunden worden. – Timpsear, der durch das Eingreifen des Detektivs Schaper sich in seinen verbrecherischen Plänen gestört sah, suchte sich nun an diesem zu rächen. Mit Hilfe gefälschter Ausweispapiere ließ er sich mit Shepperley in dem Städtchen Gauben nieder und benutzte hier den unter den Einwohnern verbreiteten Aberglauben von dem zeitweiligen Auftauchen eines grauen Gespenstes in dem Garten der Mönchsabtei für seine Zwecke, indem er dem Eigentümer des einsamen Gehöftes, dem Kaufmann Wernicke, zunächst den „Geist“ zeigte, den der zur selben Zeit anscheinend erkrankte Shepperley darstellen mußte. Zur Aufklärung dieser Gespenstergeschichte wurde sodann Fritz Schaper hinzugezogen. Inzwischen war der vorher genannte Charles Deprouval, der Charlotte Wendel mit Hilfe eines aus dem englischen Generalkonsulat entwendeten offiziellen Briefbogens nach Berlin gelockt hatte, mit dem jungen Mädchen heimlich bei Nacht von der Bahnstation Zergewo aus in der Mönchsabtei eingetroffen, wo ihr Timpsear als ihr Onkel vorgestellt wurde, der sich vor den Nachstellungen hartnäckiger Feinde dorthin geflüchtet haben [95] sollte. Charlotte Wendel wurde ein ganzer Roman erzählt, der so geschickt ersonnen war, daß sie alles blindlings glaubte und sich in einem Zimmer des Obergeschosses verborgen hielt, wie dies von ihr verlangt wurde, angeblich, damit ihres Onkels Feinde dessen Fährte nicht entdecken sollten. Das Weitere wissen unsere Leser bereits aus dem ersten Teil dieses Berichtes – wie die drei Verbündeten, Timpsear, Shepperley und Deprouval, die schon früher miteinander befreundet gewesen und in ständigem Briefwechsel geblieben waren, das Dach der Kapelle so herrichteten, daß es durch einen Ruck an dem Tau einstürzen und infolge der unter den Balken angebrachten chemischen Zündstoffe, die durch Zerbrechen von dünnen Glasröhren in Brand geraten, sofort auch in Flammen aufgehen mußte. Der Anschlag mißglückte jedoch. Deprouval fand den Tod in der brennenden Ruine, die beiden anderen Verbrecher wurden festgenommen und Charlotte Wendel, die eine halbe Gefangene gewesen war, befreit. – Es bleibt nur noch nachzuholen, welche Absichten Deprouval mit dem jungen Mädchen gehabt hat. Da er sie schlauer Weise veranlaßt hatte, all ihre Legitimationspapiere mitzubringen, da er ferner wußte, daß nur dem alten Weiblein in dem Danziger Armenhause etwas über den Aufenthaltsort des jungen Mädchens bekannt war, jener Frau, der er durch sein Geldgeschenk für immer den Mund verschlossen zu haben glaubte, so gedachte er, wie Thomas Shepperley gleichfalls eingestanden hat, Charlotte Wendel sehr bald zu beseitigen und im Garten der Mönchsabtei zu verscharren. An ihrer Stelle sollte dann irgend ein anderes gleichaltriges Mädchen, das er durch Bestechung für seine Pläne gewinnen wollte, sich als Erbin melden, die durch die Ausweispapiere als die Nichte Albert Wendels auch anerkannt wäre und den Nachlaß erhalten hätte, den [96] Charles Deprouval dann mit seinen Helfershelfern zu teilen beabsichtigte. Fraglos wären all diese schurkischen Pläne geglückt, die ja bis ins einzelne sehr sorgfältig vorbereitet waren, wenn nicht Timpsear und seinen Genossen der Mann wieder rechtzeitig die Larve vom Gesicht gerissen hätte, der schon damals dem Amerikaner die Verübung weiterer Untaten unmöglich gemacht hatte. Und dieser Mann ist kein anderer als Fritz Schaper, unser genialer Privatdetektiv. Jedenfalls haben die Behörden Vorsorge getroffen, daß dieses Mal Doktor Harry Timpsear der Gerechtigkeit kein Schnippchen schlägt. Sein Haupt dürfte dem Henker verfallen sein. Steht doch auf seinem Schuldkonto nicht allein der Fall „der Mumie der Königin Semenostris“, sondern auch der des „grauen Gespenstes“. Das Richtbeil wird so die Erde endlich von einem Scheusal befreien, das in seiner Person ebenso viel glänzende wissenschaftliche Fähigkeiten, besonders auf dem Gebiete der Chemie, wie unerhörtes verbrecherisches Raffinement vereinte.“
Band 1: Die rote Locke.
Band 2: Das graue Gespenst.
Band 3: Der Ring.
Band 4: Das Katzen-Palais.
Band 5: Der Fall Winternitz.
Band 6: Die bunte Krawatte.
Band 7: Das wandernde Licht.
Band 8: Das Bild mit den Glasaugen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Die fehlende Passage aus dem Satz wurde anhand der Vorlage des Doppelbandes Detektiv Schaper ergänzt.
- ↑ Vorlage: der.
- ↑ Vorlage: Lembke – Im gesamten übrigen Text wird ansonsten durchgehend der Name „Lemke“ verwendet.
- ↑ Vorlage ergänzt.
- ↑ Vorlage: Kreise.
- ↑ Die Zeile ist in der Vorlage verrutscht.
- ↑ Vorlage: hatte.
- ↑ Vorlage: fehlendes Wort ergänzt.
- ↑ Vorlage: Tagesblättern.