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einem Monat waren mir hinsichtlich des wahren Charakters meines Gatten alle Illusionen geschwunden. Einzelheiten will ich verschweigen. Dabei war Charles ein so schlauer Heuchler, daß er mich in Gegenwart dritter stets mit größter Zärtlichkeit behandelte[1] und so den Eindruck hervorrief, als ob unsere Ehe durch kein Wölkchen getrübt sei.

Zu meines Gatten engsten Freunden gehörten zwei Amerikaner, die ich von vornherein mit starkem Mißtrauen beobachtete. Es waren dies ein gewisser Doktor Timpsear und ein angeblicher Weltreisender Thomas Shepperley. Welcher Art die Beziehungen waren, die diese drei Männer verbanden, vermochte ich zunächst nicht festzustellen. Jedenfalls wurden Timpsear und Shepperley dann sehr bald in den Spiritistenkreis eingeführt. Und nun begann die Zeit, an die ich nur mit Schaudern zurückdenken kann.

Auf Dr. Timpsears Veranlassung wurden die Sitzungen im Hause meiner Mutter, jetzt dreimal wöchentlich, abgehalten. Diese, die ohnehin mit ihren Nerven dicht vor dem völligen Zusammenbruche stand, war infolge der ständigen Aufregungen, die die Geistererscheinungen verursachten, bald dem Irrsinn nahe. Umsonst flehte ich meinen Gatten an, Rücksicht auf meine Mutter zu nehmen. Mit heuchlerischen Worten suchte er mir klarzumachen, daß er keinen Einfluß auf sie besitze. Dies war eine direkte Lüge. Mich hatte er freilich mit der Zeit völlig aus ihrem Herzen verdrängt, dafür aber selbst eine Macht über sie erlangt, die man geradezu dämonisch nennen kann.

Dann kam der Schreckenstag. Urplötzlich brach bei meiner Mutter der Wahnsinn aus. In diesem Zustande nahm sie Gift, nachdem sie einen Brief geschrieben hatte, der nur die Worte enthielt: „Ich tue es, um mit ihm, der sich so nach mir sehnt, dauernd vereint zu sein.“ – Nach dem Begräbnis fand die


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W. von Neuhof: Das graue Gespenst. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_graue_Gespenst.pdf/58&oldid=- (Version vom 25.7.2016)