Adolf von Stählin - Philipp Melanchthon

Textdaten
Autor: Adolf von Stählin
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Titel: Philipp Melanchthon
Untertitel: Fest-Rede gehalten bei der Melanchthonfeier in Augsburg am 14. Februar 1897
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: J. A. Schlosser
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Erscheinungsort: Augsburg
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Philipp Melanchthon.




Fest-Rede
gehalten bei der


Melanchthonfeier in Augsburg am 14. Februar 1897
von


D. Adolf von Stahlin
kgl. Oberkonsistorial-Präsident.




Zum Besten der Erbauung einer Augsburger Konfessionskirche.




Augsburg 1897.
J. A. Schlosser’'sche Buchhandlung
(F. Schott).


| |  Hochansehnliche Versammlung!


 Zur Feier des 400jährigen Geburtstages Melanchthons, der am 16. Februar 1497 in Bretten in der damaligen Kurpfalz, jetzt dem Großherzogtum Baden zugehörig, als der Sohn eines berühmten Waffenschmieds geboren wurde, sind wir hier versammelt. 400 Jahre sind ein ausgedehnter Abschnitt auch inmitten einer mit wunderbarer Schnelle dahineilenden Zeit. Welche Gedanken steigen in uns auf, wenn wir auch nur mit flüchtigem Blick diese 400 Jahre übersehen und dann stille stehen am fernen Rande dieses Zeitraums, an der Wiege eines Mannes, der nach mancher Segnung und Weissagung, die über ihn ergangen, von Gott seinen besonderen Weg geführt und in einer welt- und kirchengeschichtlich außerordentlich bewegten Zeit ein hochbegnadetes Werkzeug Gottes zur Lösung einer hohen Aufgabe geworden ist! Diese 400 Jahre tragen nach mehr als einer Seite die Spuren seines Wirkens. Bei einer Geburtstagsfeier sind wir immer bedacht, die ganze Vergangenheit in die Gegenwart zu rücken. Das ist nun auch heute meine Aufgabe, weniger das äußere Leben Melanchthons, das ohnedies allbekannt ist, als seine innere Entwicklung, sein Gesammtwirken und Gesammtwesen, die Segensfrucht, welche dieses vom Jahre 1497 bis zum Jahre 1560 sich erstreckende, unendlich reiche Leben geschaffen, vor unser Geistesauge zu rücken. Klare Erkenntnis dieser Segensfrucht, auch ernstes Gelöbnis treuer Bewahrung derselben, Aufnahme edler vorbildlicher Züge in dem Leben des Gefeierten in unser eigenes Leben – soll für den Wert unserer heutigen| Feier bürgen. Wer gedächte heute nicht der großartigen Geburtstagsfeier, die vor 14 Jahren zu Ehren unseres Luther über alle Länder und Weltteile sich verbreitete, einer Feier, wie sie kaum je einem Sterblichen zuteil geworden! Ganz in der gleichen Weise feiern wir diesmal nicht. Eine herrliche, erhebende Feier soll die Melanchthonfeier, denke ich, aber gleichwohl werden. Ueberall hat man sich zu derselben gerüstet, unzählige Federn haben sich in Bewegung gesetzt, Melanchthons Bild uns in lebendigen Zügen vor Augen zu stellen. Wie könnte Augsburg zurückbleiben? Das größte und segensreichste, wahrhaft unsterbliche Werk Melanchthons ist an Augsburg geknüpft – ich meine die von ihm verfaßte Augsburger Konfession. Wir denken aber heute nicht bloß an die kirchlichen Segnungen, die von Melanchthon ausgegangen, von denen jedes Kind bei uns etwas weiß. Der Gefeierte war eben aber nicht bloß ein Mann der Kirche, sondern auch der Schule, auch der Wissenschaft. Als charaktervoller Vertreter dieser drei Lebensmächte ragt er in die Gegenwart herein. Diese Lebensmächte haben auch dies zu Ende gehende Jahrhundert in großartiger Weise bewegt und bewegen es noch. Unsere Lebensinteressen sind heute noch mit denen Melanchthons tief verknüpft. Was freilich bei uns oft in tiefen Gegensätzen auseinandergeht, war bei Melanchthon ebenso charakteristisch durch das Evangelium innig, harmonisch geeint. Darum steht er vor uns auch als eine ehrwürdige, mahnende Friedenserscheinung. Vergessen wir aber eines nicht: halten wir die zarte Grenzlinie auch heute ein, an welche der Christ gerade bei dankbarster Erinnerung an geschichtlich hervorragende Männer gebunden ist. Soli deo gloria, Gott allein die Ehre, soll der Grundton auch dieser wenngleich nicht streng kirchlichen Feier sein. Die Himmel erzählen die Ehre Gottes. In den Lobpreis der Natur mischt sich aber noch in höhern Klängen die Geschichte als Verkündigerin göttlicher Herrlichkeit. Am Firmament der Geschichte leuchten auch Sonnen und Sterne; heute freuen wir uns in Luther und Melanchthon eines Doppelgestirns, das auf fernste Geschlechter erleuchtend und erwärmend gewirkt, und auch auf uns erleuchtend und erwärmend wirken möge. Beide sind Gottes Werk, Gott hat sie bei Namen gerufen, er hat sie mit seinen Gaben ausgerüstet,| er hat sie mit seinem Geiste erfüllt zu der von ihm bestimmten Aufgabe. Und wenn heute alles zur Ehre Gottes geschehen soll, so ist damit von selbst gegeben, daß wir bei aller Begeisterung für die Sache der Reformation uns von einer Gesinnung der Liebe und des Friedens leiten lassen. Wir würden uns ja sonst am Gedächtnis Melanchthons versündigen, der bei aller Bekennertreue der friedfertigste unter allen Reformatoren war. Wir leben ja nicht von der Polemik gegen andere, sondern von den reichen Gütern unseres Hauses.

 Man darf wohl sagen: in der ganzen Geschichte findet sich nichts dem Gleiches, daß zwei durch Naturanlage, durch Lebensführung und ursprüngliche Lebensrichtung so sehr verschiedene Männer wie Luther und Melanchthon nicht nur zur Gemeinschaft eines großen Werks zusammengeführt, sondern auch für dasselbe zur tiefsten, innigsten Geistesgemeinschaft verbunden wurden. Wir erkennen in der Vereinigung der beiden Männer zu ihrem gemeinsamen und doch wieder verschiedenen Werke die besonderste göttliche Leitung. Luther ist der schöpferische Urheber, Melanchthon der unentbehrliche Mitarbeiter der Reformation. Ein Melanchthon allein hätte keine Reformation zu stande gebracht, aber ohne Melanchthon wäre die Reformation auch nicht zu der geschichtlichen Durchführung gekommen, die ihren Erfolg und Bestand für immer sicherte. Luther ist Genius von der Fußsohle bis zum Scheitel, Melanchthon ein außerordentliches Talent, der talentvollste Mann seiner Zeit. Luther ist unbedingt der Höhere und Größere, es ist aber auch etwas Großes, einem der größten Männer, die über die Erde gezogen, zur notwendigen Ergänzung zu dienen. Größe werden wir auch Melanchthon nicht absprechen. Die Größe der beiden Männer verkündet aber vernehmlich genug die Größe des Werkes, zu welchem göttliche Vorsehung sie bestimmt und zusammengeführt.

 Beider Männer Bereitung zur Reformation war eine verschiedene. Luther wurde geraden Wegs zum tiefsten und innersten Mittelpunkt der Reformation geführt, Melanchthon auf einem für ihn und andere notwendigen, für die Kirche heilsamen Umweg. Im 15. Jahrhundert betrieb man wohl auf großen, glänzenden Conzilien eine Reformation an Haupt und Gliedern. Auf diesem Wege| kam aber nichts zu stande. Das Werk der Reformation entsprang in tiefer Verborgenheit und Abgeschiedenheit, in der engen Klosterzelle, wo ein einzelner wie seit Paulus und Augustinus keiner mehr die Tiefe menschlicher Sünde, obwohl er selbst stets unsträflich gelebt, aber auch die Höhe göttlicher Gnade erfahren hatte und unter zermalmenden Kämpfen die Unzulänglichkeit all unserer Werke für unser ewiges Heil erkannt, aber auch im rechtfertigenden Glauben an Christi Werk und Verdienst zu starker, freudiger, weltüberwindender Heilszuversicht hindurchgedrungen war. Das war unser Luther; mit dieser aus Gottes Wort geschöpften Erfahrung war in ihm ein gebundener Riese frei geworden. Die „Freiheit eines Christenmenschen“, die ihm zugleich Gebundenheit an Gottes Wort und den lebendigen Gott selbst war, die er auf sein Panier geschrieben, ließ ihn anfangs an nichts weniger als eine Opposition gegen die bestehenden kirchlichen Gewalten denken; von ihr aus wurde er aber von selbst in dem ihm aufgedrungenen Kampfe weiter und weiter geführt zu einer Reformation von innen heraus. Hier liegen die Quellen nun auch dessen zu Tage, was man Glaubens- und Gewissensfreiheit nennt, wie auch der befreienden Wirkung, welche auf das ganze natürliche Lebensgebiet ausging. Luther hat nicht bloß die Kirche, er hat auch die Welt reformiert. Der mächtige Aufschwung auf dem Gebiete des natürlichen Lebens in den letzten Jahrhunderten bis herein in die Gegenwart ist ohne die Reformation nicht denkbar.
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 Ganz anders war die Lebensführung Melanchthon’s. In jener Zeit ging ein Ruf, ein hoher Freudenruf durch die abendländische Christenheit: Kunst und Wissenschaft leben wieder auf, feiern eine Wiedergeburt. Die sogenannte Renaissance hat Großes besonders in Italien vollbracht. Mit diesem Rufe war ein anderer ebenso lauter Ruf innig verwandt und nah verbunden: Die antike Welt mit ihrer Schönheit und ihrem edlen Maße steht von den Toten auf: es war die Zeit, wo fast jedes Jahr lang vergessene Schriften römischer und griechischer Klassiker ans Licht gezogen und mit Begeisterung aufgenommen wurden. Es war die Blütezeit des Humanismus. Eine Gefahr drohte nun aber. Viele der Humanisten, zumal in Italien, wandten sich wie trunken vom Geiste des Altertums| einem offen ausgesprochenen Heidentum zu. Anders war es in Deutschland, wo gerade die tüchtigsten Humanisten zwar den Reformgedanken der Zeit huldigten, aber nicht mit Christentum und Kirche brechen wollten. Auch hier leuchtet uns ein Doppelgestirn: Erasmus und Reuchlin. Wir können sie als Bahnbrecher der Reformation bezeichnen: der eine erschloß den Grundtext des neuen, der andere den des alten Testaments; einer Reformation von innen heraus standen sie aber ferne. Melanchthon entwickelte nun seine außerordentlichen Gaben auf dem Nährboden des Humanismus; seine ersten Lehrer waren Humanisten, Reuchlin war sein Großoheim, der nach dem frühern Tode seines leiblichen Vaters ein zweiter Vater für ihn und der fürsorgende Leiter seiner humanistischen Studien wurde. Der Vater Melanchthon’s hatte in Monheim – es war damals Krieg zwischen Kurpfalz und Baiern – aus einem vergifteten Brunnen getrunken, kränkelte infolge davon und starb, da sein Sohn erst 9 Jahre alt war. Sein Ende war ein sehr erbauliches.
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 Im Gegensatz zu Luther hatte Melanchthon im übrigen eine überaus glückliche Kindheit und Jugend. Seine Jugend war von „außerordentlichem Bildungsglück bestrahlt“. Noch nicht 13 Jahre alt, bezog er die Universität Heidelberg, mit 15 Jahren erhielt er den ersten akademischen Grad, er wurde Baccalaureus, mit 16 Jahren wanderte er nach Tübingen in die Nähe seines väterlichen Reuchlin, der in Stuttgart wohnte, mit 17 Jahren wurde er Magister, mit 21 Jahren gab er eine griechische Grammatik heraus, die über hundert Jahre in den Schulen gedient hat. Neben den alten Klassikern betrieb er fast die ganze damalige Fakultätswissenschaft. Nicht um Geistlicher zu werden, aber in angeborenem Wissenstrieb drang er zur Theologie vor. Neben der Scholastik lernte er auch die heilige Schrift kennen. Durch Reuchlin erhielt er eine lateinische Bibel, die er mit Entzücken studierte, später auch das griechische neue Testament; er lernte den Brief an die Römer im Griechischen auswendig. Später äußerte er: „Als Jüngling schon war der biblische Text mir geläufig; ich las ihn eifriger als es jetzt von den jungen Leuten geschieht.“ Der 17-Jährige hielt bereits Vorlesungen über lateinische Sprache und lateinischen Stil, dem 19-Jährigen wurde| der Lehrstuhl der Beredsamkeit und Geschichte übertragen. Die bedeutendsten Männer wandten ihr Auge auf ihn. Der „König der Wissenschaften“, Erasmus, bewunderte den 19-Jährigen: „Beim ewigen Gott“, rief er aus, „zu welchen Hoffnungen berechtigt dieser Jüngling und fast noch Knabe Philipp Melanchthon, der in beiderlei Sprachen fast gleich ausgezeichnet ist! Was ist das für ein Scharfsinn, was für eine Reinheit und Anmut des Stils, was für ein Reichtum des Gedächtnisses, welch mannigfaltige Belesenheit, und welche Zartheit und Reinheit eines wahrhaft königlichen Geistes!“ Dem bewundernden Worte des Erasmus folgte die auszeichnende That Reuchlin’s, wenn auch zunächst nur gleichfalls in der Gestalt des Wortes. Auf das Begehren des Kurfürsten Friedrich des Weisen von Sachsen, ihm einen geeigneten Mann für die Professur der griechischen Sprache in Wittenberg zu benennen, bezeichnet ihm Reuchlin niemand anders als Melanchthon und empfahl ihn, „seinen gesippten Freund“, als einen Stifter der Menschlichkeit. Der Kurfürst weilte um diese Zeit in Augsburg, wo Kaiser Maximilian seinen letzten Reichstag hielt, und wünschte Melanchthon auf seiner Reise nach Wittenberg noch zuvor hier zu sprechen. Er wandte sich deshalb abermals an Reuchlin, dieser antwortete entgegenkommend und meinte, Melanchthon würde der hohen Schule und dem Kurfürsten „gewißlich zur Ehre, Lob und Nutzen dienen, denn er wisse unter den Deutschen keinen, der über ihm sei, ausgenommen Herr Erasmus von Rotterdam und der ist ein Holländer.“ An Melanchthon schrieb er die bekannten Worte, die wie eine über ihn ergangene Weissagung lauten: „Ich will Dich jetzt nicht poetisch anreden, sondern mit jener wahren Verheißung, die Gott dem gläubigem Abraham gab: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will, und ich will dich zum großen Volke machen und sollst ein Segen sein. Dies sagt mir der Geist; dies hoffe ich von dir, mein Philipp, du, mein Werk und mein Trost. Komme also frohen und heitern Mutes! Eile aber, damit der Fürst nicht vor dir von Augsburg abreise. Die Sachen der Fürsten sind wandelbar.“ Die Weissagung ist ja wunderbar in Erfüllung gegangen. So machte sich denn der 21-Jährige auf den Weg, der ihn über| Bretten und Stuttgart zunächst nach Augsburg führte. Hier stellte er sich dem Kurfürsten vor, gewann dessen Gunst und die Freundschaft seines Hofpredigers, des edlen Spalatin, so genannt von seinem Geburtsort Spalt in Mittelfranken. Augsburg war also gewissermaßen die entscheidende Haltstelle auf der Welt- und kirchengeschichtlich denkwürdigen Wanderung des Magister Philippus nach Wittenberg. Mit welchen Erwartungen wurde er hier empfangen! Es kam aber „ein kleines unscheinbares Männchen“ mit etwas seltsamen Gewohnheiten. Manche waren enttäuscht. Er nahm sich aus „wie ein Knabe, nicht über 18 Jahre alt, so er neben dem Martino ging.“ Auf diese teilweise Enttäuschung folgte aber die glänzendste Rechtfertigung. Die mit allem Jugendfeuer vorgetragene Antrittsvorlesung am 29. August 1518 über die Verbesserung des akademischen Unterrichts wurde mit Begeisterung aufgenommen und machte einen außerordentlichen Eindruck. Die Rede lautete wie das Programm seiner neuen, ihm selbst noch nicht vollbewußten Thätigkeit, wie die Weissagung eines neuen Geistesfrühlings, der durch Rückkehr zu den klassischen Studien und zu den reinen Quellen der heiligen Schrift erblühen werde. Melanchthon kam nach Wittenberg als Humanist, dem nur etwa der berühmte Erasmus vorgezogen wurde, und wurde hier Theologe von Grund aus, ohne aufzuhören, Humanist zu sein. Es vollzog sich allmählich in Melanchthon eine Verbindung von Humanismus und Christentum, evangelischem Christentum, wie sie tiefer, inniger, harmonischer kaum in irgend einer anderen Persönlichkeit in alter und neuer Zeit sich gefunden. Der Mittler dieses Bundes, welcher der Reformation in eminenter Weise zu gute kam, war Luther. Eine Ahnung davon gibt sich kund in der einzigartigen gegenseitigen Bewunderung, mit der die Geister beider Männer gleich anfangs sich grüßten. Nach jener Rede ging Luther auf Melanchthon zu, reichte ihm die Hand und sagte: „Seid uns hochwillkommen in Wittenberg, Magister Philipp! Der Herr segne euern Eingang und eure Arbeit und lasse euch zu einem rechten Segen unter uns werden!“ Ueberallhin, mündlich und schriftlich verbreitete nun Luther Melanchthon’s Ruhm. Er nannte Melanchthon einen bewunderungswürdigen Menschen, an dem fast alles übermenschlich sei, einen Mann, der viele Martini aufwiegen| werde, er meint, er werde für den Philippus nur ein Vorläufer sein. Melanchthon preist auf der anderen Seite Luther als seinen teuersten Vater, als den göttlichsten Mann, den dermalen der Erdkreis trägt; „er möchte lieber sterben, als sich von diesem Manne losreißen lassen“: „Des Martinus Studien, seine fromme Wissenschaft und den Martinus selbst liebe ich, wenn irgend etwas auf Erden, mit ganzer Macht der Seele und hänge mit aufrichtigstem Herzen an ihm.“ Er nannte ihn einen Elias, einen Herakles, den Mann voll heiligen Geistes. Das war der Geistes- und Herzensbund beider Männer, der später vorübergehend etwas gelockert, aber nie gelöst wurde. Luther empfing von Melanchthon viel, er besuchte auch seine Kollegien, ungleich mehr empfing aber Melanchthon von Luther; von ihm erst wurde er in die Tiefe evangelischer Erkenntnis, in die neue christliche Gedankenwelt eingeführt. Ohne Luther wäre Melanchthon über Erasmus nicht hinausgekommen, wenn er sich auch dessen Voltaire’schen Zug nie angeeignet hätte. Anfangs wurde er durch Luthers übermächtigen Einfluß fast aus den Angeln gehoben. Nachdem er den Schwerpunkt seiner Persönlichkeit wieder gefunden, wurde er mehr und mehr, wiedergebend, was er empfangen und in seine Individualität eingeführt hatte, in gesunder, ausgleichender Vermählung humanistischen und evangelischen Wesens, der formende, gestaltende, sichtende, ordnende Geist der Reformation. Luther war der schauende, Melanchthon der dialektische Geist, Luther war der Prophet, Melanchthon der Lehrer, der Mann der Wissenschaft. Seine Aufgabe war es, die neuen Erkenntnisse, die in Luthers Schriften zerstreut sich fanden, wissenschaftlich zu formen, zu gliedern und zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen. Das hat er nun ganz besonders in der ersten, von ihm verfaßten evangelischen Glaubenslehre gethan, die schon im Jahre 1521 erschien. Dieses Buch machte trotz gewisser Einseitigkeiten das größte Aufsehen, so daß Luther, dem in diesem Buche die von ihm erschlossene, von ihm ausgegangene Wahrheit in abgerundeter Form, in klaren Umrissen, in harmonischer Ausgestaltung entgegentrat, es als das beste Buch seit der Apostel Zeiten, das des Kanons würdig sei, bezeichnete. Das Werk hat vom Jahre 1521 bis 1525 allein 17, im 16. Jahrhundert überhaupt 100 Auflagen erlebt; der Buchdrucker| Sigismund Grimm in Augsburg fügte seiner Ausgabe vom Jahre 1524 ein Bild, den kämpfenden Herkules darstellend, bei. Spalatin hat das Buch ins Deutsche übersetzt. Es ist nun ferner gewiß keine Beeinträchtigung der Größe Luthers, der, wie Ranke sagt, selbstherrschender, gewaltiger aufgetreten ist, wie kein anderer Schriftsteller in keiner Nation der Welt, wie auch keiner die vollkommenste Verständlichkeit und Popularität, gesunden, treuherzigen Menschenverstand mit so viel echtem Geist, Schwung und Genius vereinigt hat wie er, wenn zugleich behauptet wird, daß Luthers derbe Popularität und zu Zeiten maßlose Polemik viele namentlich unter Gebildeten und Gelehrten, unter Staatsmännern und Fürsten auch abstieß. Hier trat nun Melanchthon mildernd, ermäßigend, berichtigend durch seine ruhige, objektive, leidenschaftslose, anknüpfende Weise ein. Vielen hat er hiedurch die Thüre zum Evangelium aufgethan. An Mannesmut und Entschiedenheit fehlte es dabei Melanchthon nicht. Gleich im Anfang trat er Angriffen auf Luther, die von Rom und Paris ausgingen, mit allem Nachdruck entgegen. Endlich muß Melanchthon als der eigentliche Organisator des evangelischen Kirchenwesens betrachtet werden. Es handelte sich um die Einführung und Durchführung der Reformation, um die Sicherung derselben für Gegenwart und Zukunft durch angemessene Ordnungen. Es war dies eine hochwichtige, aber auch unendlich schwierige Arbeit. Die Hauptarbeit hatte hier Melanchthon. Luther nannte ihn wohl den Atlas, der alles trägt. Auf diesem Gebiete entwickelte Melanchthon einen feinen architektonischen Sinn, eine zarte seelsorgerliche Rücksichtnahme auf das gegebene Bedürfnis, eine glückliche Verbindung des dogmatischen und ethischen Moments. Er hat Kirchen- und Lehrordnungen nicht bloß in Kursachsen, sondern auch in Hessen, Mecklenburg, am Rhein, in der Pfalz, in Brandenburg, in dem herzoglichen Sachsen zur Einführung gebracht. Melanchthon war der Theologe, der Apologet (der wissenschaftliche Verteidiger), der Organisator (Kirchenordner) der Reformation.
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 In der kursächsischen Kirchenordnung, einem Musterwerk für so viele andere, war nun auch der Schule in sehr wirksamer Weise gedacht. Auch auf pädagogischem Gebiet tritt uns in Melanchthon ein ergreifendes Bild der Einigung des Humanismus und des| Evangeliums, des gelehrten Virtuosen und des Christen entgegen. Um echt menschliche und wahrhaft christliche Unterweisung und Bildung war es ihm überall zu thun. Die ganze Schule überhaupt im protestantischen Deutschland ist ohne Uebertreibung geredet, Melanchthon’s Schöpfung, wenn er selbstverständlich auch an mittelalterliche Einrichtungen anknüpfen konnte und mußte. Die gelehrte Schule insbesondere wurde mit bewundernswerter Weisheit und Thatkraft auf denselben Grundlagen, an erster Stelle den klassischen Studien, aufgerichtet, auf denen sie noch gegenwärtig ihren sicheren Bestand hat. Das Ferment des Evangeliums sollte aber zugleich das Ganze durchdringen. Er erteilte die maßgebenden Ratschläge für die zu errichtenden Unterrichtsanstalten, wie er z. B. das Gymnasium in Nürnberg und wohl auch in Augsburg einrichtete, er bildete die Lehrer zu, er empfahl die geeigneten Leute, aus seiner unmittelbaren Unterweisung und Anregung gingen ausnahmslos die großen Musterschulmänner jener Zeit hervor, ein Johann Sturm in Straßburg, ein Valentin Trozendorf in Goldberg, ein Michael Neander in Nordhausen, ein Hieronymus Wolf in Augsburg. Letzterer war in Ottingen im Ries geboren und wirkte im großen Segen 23 Jahre lang als Rektor des St. Anna-Gymnasiums dahier. In einer seiner Schriften hält er eine aus vollem Herzen fließende Lobrede auf seinen hochverehrten Lehrer Melanchthon. Wolf war in Augsburg hochangesehen und stand zu den vornehmsten Familien im innigsten, vertrautesten Verhältnis. Er war ein sehr bedeutender Philologe und hat sich um die Feststellung des Textes der griechischen Redner, vor allem des Demosthenes große Verdienste erworben. Durch sein Leben geht eine eigentümliche Tragik, ein schwermütiger Zug, aber auch tiefe Religiosität; seine Sorge, sagt er in seiner Selbstbiographie, sei auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit, seine Sehnsucht auf das himmlische Vaterland gerichtet.
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 Nicht minder bedeutend und weittragend ist Melanchthon’s Wirksamkeit für die Universitäten, sind doch nicht weniger als drei Universitäten: Marburg, Königsberg und Jena unter seinem Beirat entstanden, andere wie z. B. Heidelberg und Rostock hat er reorganisirt. Er hat unablässig gearbeitet für die rechte Gliederung und Harmonisierung der verschiedenen Fakultätswissenschaften, er konnte| es um so mehr, als er in seiner eigenen Lehrthätigkeit fast alle Fakultäten vereinigte, er hat durch seine akademische Thätigkeit die sämtlichen Disziplinen in innige, freundliche Beziehung zur neuen, reformatorischen Theologie gesetzt.

 Wollen wir dabei nicht vergessen, wie viel, wie unablässig Luther, auch hier wieder im allgemeinen grundlegend, für Schule und im engsten Zusammenhang damit für Haus und Familie ratend und mahnend durch mündliches Wort und herrliche Schriften, vor allem das gewaltige Schreiben an die Ratsherren aller Städte Deutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, vom Jahre 1524, gewirkt hat! Man könnte ihn den Seelsorger seines Volkes auch nach dieser Seite hin nennen, während Melanchthon der große Lehrer Deutschlands ist und bleibt.

 Döllinger sagt von Luther, „keiner hat seinem Volke mehr gegeben als jemals in christlicher Zeit ein Mann seinem Volke gegeben hat: Sprache, Volkslehrbuch, Bibel, Kirchenlied, und alles, was die Gegner ihm zu erwidern oder an die Seite zu stellen hatten, das nahm sich matt und kraft- und farblos aus neben seiner hinreißenden Beredsamkeit, er redete, sie stammelten.“ Luther lebt in all dem unter uns fort, wie in so vielen seiner Worte, die gesättigt vom Geiste der Schrift, quellend aus lebendigster Erfahrung, in ihrer wunderbaren Anschaulichkeit, ihrer phantasievollen und zugleich konkreten Gestaltung wie ein frischer Labetrunk zumal unter Not und Anfechtung auf uns wirken. An unmittelbarer Volkstümlichkeit steht Luther weit über Melanchthon. In so manchem lebt aber auch Melanchthon, sei es mittelbar oder unmittelbar, unter uns Evangelischen fort, vor allem in der Konfession, die von ihm verfaßt und hier in Augsburg am 25. Juni 1530 nachmittags 3 Uhr überreicht wurde. Spalatin äußerte sich über dies Ereignis: „An diesem Tage ist der allergrößten Werke eines geschehen, die je auf Erden geschehen.“ Wir müssen dies bestätigen; die Größe eines Werkes bemißt sich auch nach der Größe der geschichtlichen Situation, unter welcher es vollbracht wurde. Unwillkürlich erheben wir uns bei der Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag auf eine gewisse weltgeschichtliche, kirchengeschichtliche und geistliche Höhe. Das 16. Jahrhundert war wie kein anderes von der religiösen Idee| beherrscht. Trotz all der kriegerischen Verwicklungen im Westen und Osten, dort mit Frankreich, hier mit den Osmanen, drängte sich die kirchliche Frage immer wieder in den Vordergrund; auf fünf Reichstagen war bereits über sie verhandelt worden. Gegenwärtig stand nun der Kaiser Karl V., dessen riesiges Reich sich über drei Weltteile erstreckte, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hatte mit Frankreich und dem Papst Friede geschlossen, von letzterem sich auch in Bologna krönen lassen. Jetzt oder nie sollte die religiöse Frage zum Austrag kommen. Seinem Machtbewußtsein entsprach der damalige Einzug in Augsburg zum Reichstag. Unter einem Pomp ohnegleichen, mit einem glänzenden Gefolge von geistlichen Würdenträgern, Kurfürsten, Fürsten und Herren mit ihren reisigen Mannen, unter einem prächtigen dreifarbigen Baldachin, welchen sechs Herren vom Augsburger Rate trugen, ritt er am 15. Juni 1530 gegen Abend durch das Lechthor in die Stadt ein.
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 Das Wort Luther’s hatte in der ganzen abendländischen Christenheit gezündet, sein Werk war aber auf dem ersten Reichstag zu Worms 1521 in den stärksten Ausdrücken verurteilt und über ihn und seine Anhänger die Acht ausgesprochen worden. Das Wormser Edikt schwebte fort und fort wie eine drohende Wolke über dem Haupte der Evangelischen. Der Kaiser hatte sich nunmehr verpflichtet, mit allen Mitteln „den neuen Meinungen ein Ziel zu setzen.“ Gleichwohl lautete die Einladung zum Reichstag ganz friedlich. Den Evangelischen mußte gegenüber alten und neuen Verunglimpfungen ihrer Sache alles an einer kräftigen, auch den Gegner überzeugenden Verteidigung liegen. Die von Melanchthon zu verfassende Schrift, an der er unablässig arbeitete, trug deshalb den Namen Apologie. Sie war Apologie (Verteidigung) und Bekenntnis zugleich. Dieses Bekenntnis ward nun nicht auf einer Synode, nicht auf einem Konzil, sondern vor der erlauchten Vertretung des mächtigsten Reiches der Welt abgelegt. Nicht Theologen allein, Fürsten, Vertreter der Städte, Staatsmänner, eine evangelische Gemeinde standen hinter demselben. Melanchthon selbst, der Verfasser, verband in seiner Person das geistliche und weltliche, das theologisch-kirchliche und gemeindliche Element: er war ja nie ordinirter Kleriker, hat nie gepredigt, gehörte zweien| Fakultäten an. Und das Bekenntnis selbst? Es gibt kein Bekenntnis, das so umfassend und zugleich so sicher von dem Charakter eines wirklichen Bekenntnisses getragen, so entschieden und so versöhnlich und friedfertig, so echt evangelisch und so echt katholisch zugleich wäre, letzteres nach seinem allgemeinen Sinne, im Sinne der bestimmten Vertretung der allgemeinen Christenwahrheiten, das so glücklich und harmonisch das Alte mit dem Neuen verbände, die alte Wahrheit im Lichte der neuen schriftgemäßen Erkenntnis, vor allem im Lichte der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben aus Gnaden um Christi willen zur Darstellung brächte wie die Augsburger Konfession. Wir stehen wahrlich, blickend auf den Tag von Augsburg, auch auf kirchengeschichtlicher Höhe und auch auf einer sonderlichen geistlichen Höhe. Gerade weil damals die religiösen Fragen mit den staatlichen so innig verflochten waren, weil unaufhörliche Bedrohungen stattfanden, gehörte großer Bekennermut dazu, festzustehen und die Sache des Evangeliums würdig und unerschüttert zu vertreten. Die evangelischen Fürsten und z. B. auch der Vertreter der Stadt Nürnberg haben damals die ernste Probe bestanden. Einer der Fürsten meinte, er wolle seinen Herrn Christus bekennen, und koste es ihn den Kurhut, der andere sagte dem Kaiser ins Angesicht, ehe er verleugne, wolle er lieber vor ihm niederknien und sich den Kopf abschlagen lassen. Die Evangelischen setzten auch durch, daß ihre Sache im Widerspruch mit dem Vorhaben der Gegner vor allen andern auf dem Reichstag verhandelt wurde, daß die Konfession nicht bloß überreicht, sondern auch vorgelesen, daß aber nicht das lateinische Exemplar, wie der Kaiser anfangs forderte, sondern das deutsche verlesen würde, da man, wie der Kurfürst von Sachsen meinte, auf deutscher Erde stehe und deshalb auch deutsch zu verhandeln habe. Und als dann die Konfession durch den kurfürstlichen Kanzler Dr. Beyer laut und kräftig in der Kapitelstube der bischöflichen Residenz zur Verlesung kam, so daß auch die im Schloßhof stehende Menge es verstand, da war, abgesehen von dem günstigen Eindruck, den dieselbe auch auf katholische Stände machte, eine große That gethan, keine bloß kirchenpolitische, sondern eine echt kirchliche, echt geistliche That. Einer hat nun für letzteren Charakter sonderlich mitgeholfen, obwohl er| leiblich nicht zugegen war, Luther, der gebannte und geächtete, der als solcher auf dem Reichstag nicht erscheinen durfte, sondern auf der Feste Koburg zurückbleiben mußte; aber hier verharrt er in dem unerschütterlichen Glauben, daß die Sache der Evangelischen Gottes und Christi Sache sei, steht vor seinem Gott in gewaltigem Gebetsringen, bewahrt sich den Frieden unter allen Stürmen und Anfechtungen der Zeit, kann deshalb auch, obwohl tief durchdrungen vom gewaltigen Ernst der Lage, in eigentümlichem Humor und fröhlicher Laune scherzen über den Reichstag, welchen die Krähen und Dohlen in einem Gehölz vor seinem Fenster abhalten, kann an sein vierjähriges Söhnchen den köstlichen Brief schreiben, schaut den nächtlichen Sternenhimmel an und wundert sich, daß er nicht zusammenstürze, weil er keine Säulen sehe, und zieht seinen teuren Philippus, der sich in der Sorge fast verzehrt, mit starker Glaubenshand aus der Tiefe seiner Verzagtheit empor und mahnt ihn, nicht mehr sorgen zu wollen, als derjenge sorgt, dessen Sache zu treiben sie beide gewürdigt sind. Fürwahr, Spalatin hat recht, wenn er von dem Tage zu Augsburg schreibt: „An diesem Tage ist der allergrößten Werke eines geschehen, die je auf Erden geschehen.“ Es leuchtete an ihm wie ein Abendrot mittelalterlicher Herrlichkeit, aber auch wie das Morgenrot eines neuen Tages. Die Geburtsstunde einer evangelischen Kirche hatte geschlagen. In und mit dem damals abgelegten Bekenntnis, in und mit dem lautern Evangelium, das dieses enthält, hat sie trotz aller erlittenen Niederlagen gesiegt. Tausende haben für dieses Bekenntnis Gut und Blut dahingegeben, einen tausendfachen Widerhall hat dieses Bekenntnis in Lebenszeugnissen aller Art gefunden. Es ist das Grundbekenntnis der lutherischen Kirche geworden, hat aber weit über deren Grenze hinaus Einfluß gewonnen. Es ist und soll bleiben unseres Glaubens Grundlage, wie es die Grundlage unserer rechtlichen Existenz ist.
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 Luther hat Melanchthon, als er ihn in Koburg abholte, als Konfessor, als Bekenner begrüßt. Das war er, das blieb er. Den heroischen Geist Luthers hatte allerdings Melanchthon nicht, auch in Augsburg zagte, schwankte er öfters. Er hat dem Kardinal Campegius ins Antlitz gesagt: Wir können nicht weichen und die Wahrheit nicht verlassen, ist Gott für uns, wer mag wider uns| sein? und hat dann doch einen Brief an ihn geschrieben, der ebenso, ja vielleicht noch mehr zu beklagen ist, als der bekannte Brief an Carlowitz. Melanchthon stand felsenfest auf den altchristlichen Bekenntnissen, unerschüttert auf dem Bekenntnis des Evangeliums. Aber in eines konnte er sich nicht finden: die Auflösung der bestehenden Kirchenverfassung. Er fürchtete hievon die größte Zerrüttung der Kirche, die Übermacht der Fürstengewalt in ihr, die äußerste Zersplitterung derselben. Im Zusammenhang hiemit stand seine große Vorliebe für die reichen Formen und Sinnbilder des bisherigen Gottesdienstes, die er sich unwillkürlich idealisirte. Seine Annahme der Vereinbarkeit des Evangeliums mit dem bisherigen äußeren Kirchenbestande, wenn auch nur nach menschlichem Recht, war ein Irrtum; hier sah Luther weit klarer, als Melanchthon, wenn er auch früher hie und da eine ähnliche Anschauung kundgegeben hatte. Jene Ansicht enthält einen tiefen, innern, sachlichen Widerspruch, und deshalb war Melanchthon’s Verhalten öfters auch ein persönlich widerspruchvolles. Ganz besonders trat dies bei den Verhandlungen über das sogenannte Interim hervor.
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 Der Reichstag von Augsburg brachte keine Vereinbarung zu stande. Der Versuch, das Augsburger Bekenntnis zu widerlegen, mußte mißglücken. Melanchthon schrieb dagegen die Apologie der Augsburger Konfession, ebenfalls eine meisterhafte, herrliche Schrift, ausgezeichnet durch hohe Klarheit und wohlthuendste Glaubenswärme. Sie ist gleichfalls unter die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche aufgenommen worden. Die Not der Zeit ließ es nun aber zu immer neuen Friedensverhandlungen kommen. Endlich sollte aber doch das Schwert zwischen dem Kaiser und den Protestanten entscheiden. Es entschied zunächst gegen sie, in der Schlacht bei Mühlberg siegte der Kaiser, die Häupter des schmalkaldischen Bundes, zu dem die Evangelischen sich vereinigt hatten, wurden gefangen genommen; die politische Macht des Bundes schien für immer gebrochen. Der Kaiser ließ nun eine Vergleichsformel zur Einigung von Katholiken und Protestanten aufstellen, das Augsburger Interim, das dann zum Leipziger Interim gemildert wurde. Melanchthon widerstand dem ersteren, der Kaiser verlangte seine Auslieferung; letzteres anzunehmen, ließ er sich endlich bewegen.| Nach ihm sollte katholische Verfassung und katholischer Kultus möglichst restituirt werden, die evangelische Lehre sollte unangetastet bleiben, konnte aber, eingezwängt in die anderweitigen Bestimmungen, nicht zu klarer, unmißverständlicher Ausprägung gelangen. Melanchthon hatte an den theologischen Beratungen über das Leipziger Interim teilgenommen, aber nur die unanstößigen Lehrartikel waren von ihm verfaßt. In Bezug auf die sogenannten Mitteldinge bemühte er sich wesentlich um Ermäßigung, dem Kaiser galt er auch jetzt noch als die Seele des Widerstands; derselbe forderte abermals seine Landesverweisung, die aber der Kurfürst mannhaft zurückwies. Daß er sich dem unglücklichen Kompromiß nicht grundsätzlich widersetzt hat, war der größte Fehlgriff seines Lebens, den er selbst am meisten hat büßen müssen. Er hat später diesen Fehler offen eingestanden und es beklagt, sich von jenen trugvollen Beratungen nicht zurückgezogen zu haben. Das Interim kam so viel als nicht zur Einführung, einzelne Gemeinden und Theologen haben sich aufs äußerste widersetzt; besonders hat Flacius den an sich vollberechtigten Widerstand organisirt. Die Reformationsgeschichte nahm jedoch überhaupt einen ganz andern, unvermuteten Gang durch das plötzliche kriegerische Eingreifen des Kurfürsten Moritz, es kam der Passauer Vertrag und dann der Augsburger Religionsfriede auf Grund der Augsburger Konfession zu stande, der den protestantischen Ständen des Reichs die konfessionelle Parität gewährte. Die ganze Geschichte der evangelischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert ist ein großartiges Drama, voll der bedrohlichsten Verwicklungen; wenn die Verwicklung den äußersten Grad erreicht hatte, fand sich jedoch durch höhere Hand eine unerwartete, entscheidende Lösung zu Gunsten der Protestanten. Schon vor dem Siege seines Kurfürsten hatte Melanchthon die evangelische Lehre mit aller Entschiedenheit nach zwei Seiten hin verteidigt, besonders geschah dies in „der Wiederholung der Augsburger Konfession“, welche für das Tridentiner Konzil bestimmt war. Und auch früher, z. B. auf den Religionsgesprächen zu Worms und Regensburg ist er tapfer und entschieden aufgetreten. Der Theologe Titius, ein Schüler Calixt’s, sagte gewiß richtig: „Philippus hat geirrt, sein Irrtum lag aber in seinem Naturell, nicht in seiner Gesinnung,| er irrte aus angeborener Willfährigkeit und Milde, nicht aus Arglist, aus allzugroßer Arglosigkeit, nicht aus Haschen nach Gunst.“ Lauterkeit und Gewissenhaftigkeit verleugnete Melanchthon nie.
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 Man hätte nun glauben sollen, daß nach jener kirchlichen und weltgeschichtlichen Lösung der Streit ruhen werde. Das geschah aber nicht. Es kamen andere Lehrunterschiede dazu, um derentwillen Melanchthon bis an sein Ende schweren Angriffen ausgesetzt war. Wir gehen auf diese Streitigkeiten nicht ein, sind auch nicht in der Lage, für alle Aufstellungen Melanchthon’s einzutreten. Die Art, wie gestritten wurde, war nicht die richtige, die Gegner Melanchthon’s verirrten sich auf der anderen Seite zum Teil in die größten Übertreibungen. Aber zur allgemeinen Charakteristik Melanchthon’s müssen wir noch anführen: er hatte in seiner gesamten Geistesrichtung einen tief ethischen (sittlichen), geschichtlichen, ökumenischen (auf das Ganze gerichteten), universell (umfassend) wissenschaftlichen Zug. Er betonte mit allem Nachdruck den sittlichen Charakter des Christentums, wie er auch der erste protestantische Theologe war, der die Sittenlehre bearbeitet hat. Er hob mit höchster Energie das Moment der Freiheit auf dem Gebiete des religiösen Lebens auch im Gegensatz zu seiner früheren Anschauung hervor, die ethische Vorbedingung des Glaubens wie die ethische Lebensentwicklung auf Grund des Glaubens in guten Werken und neuem Gehorsam, ohne welche der Glaube kein echter und wahrer sein würde. Hiedurch hat Melanchthon sich ein großes Verdienst erworben, was die letzte Bekenntnisschrift unserer Kirche auch thatsächlich anerkennt. „Melanchthon war ein vorzugsweise ethisch gerichteter Geist. Der ethische Gesichtspunkt beherrschte vor allem auch seine theologischen Arbeiten“, sagt sehr richtig ein bedeutender Theologe. Melanchthon hatte ferner eine durchaus geschichtliche Richtung, an geschichtlicher Auffassung der Dinge war er allen Reformatoren überlegen, er war in der Kirchengeschichte, namentlich der Geschichte des Altertums ungemein bewandert, sein ganzes Streben ging darauf hinaus, die evangelische Lehre als die ur- und allgemein christliche zu erweisen. Er hat auch die erste Dogmengeschichte geschrieben. Wie manchem alten Kirchenlehrer hat er eine Lobrede gehalten! Vermöge seiner geschichtlichen Anschauung konnte er auch zwischen absoluten und| relativen Gegensätzen unterscheiden und hatte er ein feines Gehör für das beziehungsweise Recht auch des Gegners. Melanchthon hatte ferner einen tief ökumenischen Zug, keiner hat wie er die Sorge für die Evangelischen aller Länder auf dem Herzen getragen, wie trauerte er über die Verfolgungen derselben in Frankreich und England! In einem von niemand nach ihm wieder erreichten Maß und Umfang hat er das Vertrauen der Evangelischen in der weiten Welt, in Großbritannien, Frankreich, Italien und der Schweiz wie in Ungarn, Polen und Skandinavien besessen. Er hatte eine Korrespondenz nach allen Seiten und mit allen europäischen Ländern, von deren Umfang der in 10 Quartbänden gesammelte und erhaltene Rest seiner Briefe einen Begriff geben kann. Er hat Berufungen erhalten nicht bloß nach Marburg, Heidelberg, Tübingen, Frankfurt a. O., sondern auch nach England, Frankreich, Dänemark und Polen. Melanchthon gehört aber immerhin der Kirche deutscher Reformation an, er unterscheidet sich sehr wesentlich von den Häuptern der reformirten Kirche, so befreundet er besonders mit Calvin war, durch seinen kirchlich konservativen Charakter, durch seine ausgesprochenen liturgischen Neigungen, durch seine Ehrfurcht vor kirchlicher Tradition, sofern sie nur nicht geradezu dem Worte Gottes zuwider war, durch seine Treue gegen die früheren kirchlichen Bekenntnisse, bezüglich deren bei ihm nie das mindeste Wanken stattfand; seine spätere prononcierte Betonung der menschlichen Freiheit auf religiösem Gebiete setzte ihn in unausgleichbaren Widerspruch mit den Leugnern derselben; und auch in einer spätern Lehranschauung, bezüglich deren Luther nicht mit ihm zufrieden war, die ihm aber doch keinen Anlaß gab, mit „dem hohen Manne, der so viel gearbeitet“, zu brechen, folgte Melanchthon durchaus nicht unbedingt den Reformirten, sondern nahm eine vermittelnde Stellung ein. Endlich müssen wir seinen universell wissenschaftlichen Charakter rühmen. Es ist geradezu staunenswert, welch ungeheures Wissen der Mann umfaßte, dessen Thätigkeit zu seinem eigenen größten Verdruß durch Reisen zu Konventen, Religionsgesprächen und Reichstagen, durch Wanderungen in Sachen höherer und niederer Schulen, durch seinen Briefwechsel und die von Fürsten, Städten und Einzelnen erbetenen Gutachten so sehr| zersplittert war. Er beherrschte die Wissenschaft seiner Zeit. Er besaß ein riesiges Gedächtnis, was er gelesen, hielt er fest und stand ihm das einmal Aufgenommene überall zu gebote. Diese Gabe hat auch Luther besonders an Melanchthon bewundert. Wenn er nicht bloß eine griechische, sondern auch eine lateinische Grammatik verfaßte, die über zwei Jahrhundert im Brauche war und in diesem Jahrhundert noch ihren Einfluß geübt hat, und zugleich Bahn brechende theologische Werke schrieb – welch eine kaum glaubliche Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit geistiger Beschäftigung tritt uns hier entgegen! Wie wunderbar begegnete sich seine lehr- und schriftstellerische Gabe! In der ersten Zeit nannte er wohl Wittenberg im Kolleg ein armes, elendes Nest, in dem man nicht einmal etwas Ordentliches zu essen bekomme, und was ist Wittenberg durch ihn geworden! Vorher hatte es 200 Studierende; durch ihn stieg die Zahl zu Zeiten bis auf 2000, da auch Greise und Männer ihn hörten; nicht bloß aus allen Gegenden Deutschlands, sondern auch aus Polen, Böhmen, Ungarn, Skandinavien, England, Holland, Frankreich, Italien und selbst Griechenland strömten Studierende nach Wittenberg. Sein Auditorium war ein europäisches. An seinem gastlichen Tische wurde einmal in dreizehn Sprachen gesprochen. Noch in seinem Todesjahr las er sechs Kollegien. Seine Vorlesungen erstreckten sich über Exegese des alten und neuen Testaments, die vornehmsten griechischen und lateinischen Klassiker, ferner alle Hauptzweige der Philosophie, Physik, Dialektik, Ethik, Weltgeschichte. Und über alle diese Dinge und noch anderes, wie z. B. Psychologie und Politik hat er auch geschrieben. Nun ist es ja wahr, Melanchthon war mehr klar als tief, er war weniger produktiv als dialektisch veranlagt. Luther war ihm z. B. als Schriftausleger weit überlegen. Gleichwohl muß Melanchthon als ein wissenschaftliches Ingenium ohnegleichen betrachtet werden. Er dachte nach sicherer Nachricht daran, eine Encyklopädie der Wissenschaften zu schreiben, er kam nicht dazu, sein Wissen ist aber ein wahrhaft encyklopädisches, und alles, was er schrieb, war nicht bloß lichtvoll, sondern auch anmutend, anregend und praktisch fruchtbar. Karl von Raumer sagt von seinen Lehrbüchern, daß in denselben eine pädagogische Weisheit von bleibendem Wert für alle| Zeiten enthalten sei. Er hat über alle Gebiete und Ordnungen des menschlichen Lebens sich geäußert. Luther mag auch hier für ihn eine gewisse fundamentelle Bedeutung gehabt haben, Melanchthon hat aber ebenso das Verdienst, die granitenen Gedanken Luthers geglättet und in ein Ganzes eingefügt zu haben. Wie vortrefflich äußert er sich über Familie und Staat, über Kunst und Wissenschaft, bei ersterer gedenkt er mit größter Anerkennung Albrecht Dürer’s, bei letzterer hebt er deren große Bedeutung auch für das staatliche Gemeinwesen hervor. Sehr interessant sind seine Kundgebungen über Musik, besonders aber über Geschichte. Er ist nach dieser Seite ein edler, deutscher Patriot, er rühmt die deutsche Vorzeit, die großen deutschen Kaiser und beklagt es, daß deutsche Geschichte so wenig auf den Schulen betrieben werde. Noch wenige Monate vor dem Tode vollendete er ein historisches Werk. Schön, edel spricht er sich auch über Karl V. aus, obwohl er der Gegner der Evangelischen war. Kurfürst Moritz hat er vor einem Bündnis mit Frankreich gewarnt. Auch so entlegene Disziplinen wie Botanik, Anatomie, Astronomie waren ihm nicht fremd, bei letzterer verirrte er sich nach der Weise seiner Zeit allerdings in höchst seltsame Anschauungen, in welchen ihm Luther nicht folgen konnte. Die Königin der Wissenschaften war ihm aber die Theologie, zu welcher er alle übrigen Wissenschaften in Beziehung setzte. Es war ein durchgreifendes Streben in ihm, alles Menschliche mit dem Christlichen in Verbindung zu setzen und die Verbindungslinien beider Sphären aufzuweisen. Wenige werden Melanchthon an Vielseitigkeit in diesen letzten Jahrhunderten gleichkommen oder gar ihn übertroffen haben. Ich kenne nur einen, den großen Leibnitz. Es bleibt ein Hauptverdienst Melanchthon’s, daß er die eigentliche Wissenschaft, wissenschaftliche Forschung, wissenschaftliches Leben im weitesten Sinne des Wortes der evangelischen Kirche in die Wiege legte, daß er den Bund von Protestantismus und Wissenschaft geschlossen, besiegelt, geweiht hat – ein Bund, von dessen unerschöpflichen Segensfrüchten die Geschichte bis auf diese Stunde zeugt. Gewiß, Luther war noch mehr als Theologe und Mann der Wissenschaft. Aber Melanchthon hat in höherem Grade, als oft angenommen wird, auf die ganze Geistesentwicklung der folgenden| Jahrhunderte eingewirkt, und manche seiner Anschauungen sind auch auf solche übergegangen, die Luther’s Lehre mit besonderer Strenge festzuhalten beflissen waren.
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 Gönnen Sie mir noch einige Worte über den persönlichen Charakter Melanchthon’s! Melanchthon war, wie eine der Gedächtnisreden bei seinem Tode schon im 16. Jahrhundert sagte, ein vir ἠθικὸς, ein durch und durch christlich-sittlicher Charakter. Wie er das ethische Moment in seiner gesamten Thätigkeit zum entschiedensten Ausdruck gebracht hat, so war er selbst auch durch und durch vom ethischen Geist des Christentums durchdrungen – ich wage die Behauptung, wie kein anderer der Reformatoren. Daß bei ihm alles auf Glauben beruhte, wissen wir. An Glaubenswärme und Innigkeit hat ihn keiner übertroffen, auch Melanchthon war ein Mann des Glaubens und Gebets. Einer seiner Lieblingssprüche war: in ihm leben, weben und sind wir – von diesem Worte machte er den vollen christlichen Gebrauch, daß sein Leben ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott, ein unablässiges Gebet, eine ununterbrochene Fürbitte für andere, für die ganze Kirche wurde. Wir haben noch das Gebet, das er alle Morgen sprach: er liebte auch hier eine feste, sichere Form. Er hat einmal seine Sorglichkeit gewissermaßen dadurch entschuldigt, daß sie ihn fort und fort zu Gott im Gebet führe. Tief rührte es ihn, daß, als er einmal in großer Bekümmernis über die Lage der Kirche unter Thränen vor Gott stand, sein Töchterlein ihn überraschte und ihm die Thränen mit seiner Schürze aus den Augen wischte. Sein ganzes Wesen atmete Liebe, Milde, Freundlichkeit, unerschöpfliche Herzensgüte. Nicht zu leugnen ist, daß ihm zugleich eine gewisse natürliche Reizbarkeit eignete, die er aber mit Macht bekämpfte. Er erstrebte in allem Mäßigung und Harmonie. Er war glücklich verheiratet mit einer Tochter des Bürgermeisters in Wittenberg; Luther hatte ihn zur Ehe gedrängt aus Sorge um seine Verpflegung. Er war der edelste, liebreichste Gatte und Vater. Unter den zahllosen Besuchen, die er erhielt, kam auch einmal ein Franzose zu dem berühmten Mann und fand ihn an der Wiege seines neugeborenen Kindes, in der einen Hand ein Buch haltend, in der andern das Wiegenband, mit dem er das Kind schaukelte. Der| Fremde hielt mit seiner Überraschung nicht zurück; Melanchthon setzte ihm auseinander, wie beides sich wohl zusammenreime. Den Seinen hinterließ er seinen Namen und dessen Segen. Im Dienste der Wissenschaft und der Kirche sich verzehrend, hat er, so leicht er es vermocht hätte, keine Reichtümer gesammelt. Gern führte er das Wort des Achilles im Munde: „mein sei das Mehr des Werkes, das Gold dem, den es gelüstet.“ Sein Schwiegersohn Sabinus kam einmal nach Rom und besuchte den berühmten Kardinal Bembo. Dieser erkundigte sich angelegentlich nach seinem berühmten Schwiegervater. Unter anderem fragte er ihn: „wie viel Gehalt hat Magister Philippus?“ 300 Gulden, war die Antwort. „O undankbares Germanien“, sagte der Kardinal, „das einen solchen Mann so übel belohnt“. „Wie viel Zuhörer?“ 1500, erwiderte Sabinus. Darüber wunderte sich der Kardinal noch mehr, da solches wohl selbst auf der Universität Paris kaum vorkomme. Anfänglich namentlich war sein Haushalt besonders kümmerlich; er hatte nur 100 Gulden Gehalt und konnte in den ersten vier Jahren seiner Frau kein neues Kleid anschaffen. Später wurde durch das Bemühen Luthers seine ökonomische Lage eine bessere. Ungeachtet dessen übte er eine geradezu fabelhafte Freigebigkeit. Der Herzog in Preußen dachte ihm ein Geschenk zu und fragte bei dem Schwiegersohne Peucer an, ob es Geld sein dürfte. Die Antwort war, das würde er doch schon wieder andern ausgeteilt haben, ehe er davon genießen könnte. Sein Busenfreund Camerarius erzählt, „es gehörte bei Melanchthon zur Hausordnung, niemandem etwas auszuschlagen“. Einer seiner ersten Biographen schreibt von ihm: Philippus diente gerne jedermann, dem einen schrieb er einen Empfehlungsbrief, dem andern eine Vorrede zu einem Werke. Seine Dienstwilligkeit ging so weit, daß er manchem Dozenten auch die Vorlesungen verfaßte. An allerlei Kreuz fehlte es ihm nicht, er war oft kränklich, er litt früher an Schlaflosigkeit, später an einem besonders schmerzlichen Übel. Er war eben auf einer seiner vielen Reisen, als ihm die Botschaft nachgesendet wurde, seine Gattin sei gestorben, er antwortete ruhig und gefaßt trotz tiefsten Schmerzes: ich werde ihr bald nachfolgen. Das Haus war ihm eine heilige Stätte, ebenso der Hörsaal, da alles bei ihm auf| die höchsten Ziele gerichtet war. „Dieselbe Gemütsstimmung, sagte er, mit der wir den Tempel betreten, müssen wir auch in die Schule mitbringen, nämlich um hier göttliche Dinge zu lernen und anderen mitzuteilen. Kommt jemand zur Schule, nur um hier etwas Gelehrsamkeit mitheimzunehmen und sich derselben zum Gewinn oder eitlem Ruhm zu bedienen, der wisse, daß er den heiligen Tempel der Wissenschaft entweiht.“ Gegen seine Schüler hatte er die väterlichste Gesinnung, und unterstützte die Notleidenden mannigfach. „Ich kann mit Wahrheit versichern“, sagt Melanchthon selbst in einer akademischen Rede, „daß ich mit väterlicher Liebe und Zuneigung alle Studierenden umfasse, und von allem, was ihnen Gefahr bringt, sehr ergriffen werde.“ Die Ausländer, die nicht deutsch verstanden, lud er alle Sonntage zuerst in sein Haus, dann in den Hörsaal zu erbaulichen biblischen Betrachtungen in lateinischer Sprache ein; hieraus entstund seine Postille. Er hatte im eigenen Hause lange Zeit noch eine Privatschule.

 Demut gilt für eine christliche Grundtugend. Der Mann von unermeßlicher Wirksamkeit und unbegrenztem Ansehen war zugleich der demütigste, bescheidenste Mann. In Bezug auf seine theologischen Leistungen äußerte er sich auf gegebene Nötigung: „ja ich habe einiges deutlicher gemacht, als es zuvor war.“ Im Jahre 1526 wurde er von dem Nürnberger Hieronymus Baumgärtner aufgefordert, die Rektoratsstelle an dem zu gründenden Gymnasium zu übernehmen. Der zweite Grund, weshalb er ablehnte, war, weil er einer solchen Stelle nicht gewachsen sei. Bei Einweihung des Gymnasiums hielt er aber gleichwohl eine glänzende Rede. Auf die Würde eines Doktors der Theologie hat er stetig verzichtet; sie stand ihm zu hoch. Dem Berufe Luther’s, von dem Melanchthon. wie er selbst versicherte, das Evangelium gelernt, hat er wiederholt einen klassischen Ausdruck gegeben. Am Sarge Luther’s rief er ihm das Wort Elisas dem scheidenden Elias gegenüber nach: „mein Vater, mein Vater, Wagen Israel und seine Reiter.“

 Wo Demut und Liebe sich also vereinen, findet sich auch eine große Kraft der Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung. Diese hat Melanchthon in wahrhaft bewundernswerter Weise geübt.| Viel hat der Mann gelitten, er litt aber mit einer seltenen Hoheit des Geistes, mit unerschöpflicher Geduld! Was hat er nicht gelitten unter den Kriegsdrangsalen, der Auflösung der Hochschule in Wittenberg, der Verwüstung der evangelischen Kirche, da in Süddeutschland infolge des Interims 400 vertriebene Geistliche umherirrten, unter dem ihn besonders tief verwundenden inneren Zwist! Wie oft schwieg er auch unwürdigsten Angriffen gegenüber! Ich halte es, sagte er abwehrend zu drängenden Freunden, wie ehedem meine kleine Anna; sie war zu lange ausgeblieben, und der Vater fragte, was willst du nun sagen, wenn die Mutter schilt – Nichts! war die Antwort. Die Reinheit und Unschuld in dem ganzen Wesen Melanchthon’s bewunderte auch Luther. Es war ihm ein Adel, eine gewisse Vornehmheit des Benehmens, eine mit Anmut gepaarte Feinheit der Formen eigen, worin sein liebreiches, reines Gemüt seinen natürlichen Ausdruck fand. Alles Gewaltsame, Schroffe, Maßlose im Reden oder Handeln war seiner Harmonie bedürftigen Natur zuwider; er eiferte dagegen als cyklopisches Wesen. In seinem Wirken wie in seinem Charakter zeigt sich als Grundzug das Streben der Vereinigung des Menschlichen und Christlichen, der Verklärung des Menschlichen durch das Christliche. Was er im Leben gewesen, bethätigte er auch im Sterben. Von einer Amtsreise nach Leipzig zurückkehrend, kam er krank in Wittenberg an. Die Lebensgeister sanken. Die Sorge seines Lebens war auch seine Sorge in Krankheit und Todesnot: „in mir ist keine Kümmernis, nur Eine Sorge, daß die Kirchen in Christo Jesu einig werden möchten,“ sprach er. Für sich fand er Trost in dem Worte: Er hat ihnen Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden. Als ihm dies Wort vorgelesen wurde, rief er mit erhobenen Augen und Händen: „das steht immer vor meiner Seele.“ Ob er noch etwas begehre, fragte man; die Antwort war: „nichts als den Himmel, darum stört mich nicht mehr.“ So lange er noch atmete, wiederholte er öfters das Wort: in dich habe ich gehoffet Herr. So entschlief er am 19. April 1560, wie Luther 63 Jahre alt.
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 Verehrte Anwesende! Welche Männer stehen, geschichtlich angesehen, an der Spitze unserer Kirche, durch welche Größen hat| der Herr der Kirche dem lautren, reinen Evangelium wiederum die Bahn gebrochen, aber auch unter wie viel Leiden und Kämpfen! Welch’ eine Mahnung für uns zur Treue! Wir schwören aber weder auf Luther noch Melanchthon. Weder sie noch ihr Werk war fehlerlos. Das Höchste, das Erste und Letzte ist uns das ewige Wort Gottes, ist uns der Herr, vor welchem sich in Demut beugen alle treuen Zeugen durch alle Jahrhunderte und bald Jahrtausende, vor dem auch Luther und Melanchthon, die zu den größten aller Zeiten gehören, in Demut standen, dessen Werkzeuge sie allein zum Baue seines ewigen Reichs sein wollten.
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 Bleiben wir treu und fest im Glauben! Lernen wir von Melanchthon und auch Luther, daß der Glaube nach seinem letzten Motiv, nach seinem Entstehungsgrunde etwas durch und durch Ethisches, nicht äußere Unterwerfung, nicht bloß ein geschichtliches Fürwahrhalten ist, wohl aber eine innere Entscheidung aus tief innerem Bedürfnis, ein felsenfestes Vertrauen gegenüber der übernatürlich gewirkten Thatsache des Christentums, der wunderbaren Erscheinung der erlösenden Liebe Gottes in unserem Herrn und Heiland Jesu Christo. Ich kenne die Gegensätze unserer Zeit. Ich weiß aber auch, daß hier zu Lande, daß in dieser Stadt die wenigsten mit Glaube und Religion brechen wollen. Ich weiß, daß es in der Kirche aller Zeiten verschiedene Glaubensstufen gegeben: „bis wir alle hinan kommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes“, sagt selbst der hohe Apostel. Wir wissen auch, daß der ethische Geist des Protestantismus oft genug noch da nachwirkt, wo man in die Fülle und Tiefe evangelischen Christentums noch nicht eingedrungen ist. Wir weisen Niemand zurück, der auch nur mit leisestem Zuge noch an seinem Gott und Heiland hängt. Aber die Gemeinschaft steht über dem Einzelnen, die Kirche über dem einzelnen Gemeindeglied. In dem Maße als die Kirche aufhört bekennende Gemeinschaft zu sein, hört sie auch auf Kirche im vollen Sinne zu sein. Wir haben ein gutes Bekenntnis, abgelegt vor vielen Zeugen, das nach dieser Stadt zu ihrer bleibenden Ehre und ihrem dauernden Schmuck genannt ist; es ist in seinem Kerne unwiderlegt und wird unwiderlegt bleiben bis an’s Ende der Tage. Wir Diener der Kirche können und| sollen nicht schweigen von der ewigen Herrlichkeit des Evangeliums; es ist uns, wenn wir schwiegen, als müßten die Steine reden. So groß, so wunderbar, so allumfassend ist das Heil, das wir zu verkündigen haben. Gott lasse in dieser Stadt den Zeugen- und Bekennergeist nicht erlöschen! Gott schenke uns allen etwas vom Feuergeiste Luthers, vom Friedensgeiste Melanchthons!

 Halten wir weiter fest das Band der Liebe und des Friedens! Man hält uns oft genug unsere Uneinigkeit, unsere Zerrissenheit vor. Unsere wirkliche Einheit dürfte unzähligemal größer sein, als sie nach außen erscheint. Sie steht in unserer Landeskirche gerade in erfreulicher Blüte. Unsere evangelisch-lutherische Kirche hat ihre besondere Gabe und Aufgabe. Wuchern wir mit den Kräften, die uns Gott geschenkt, in festem gegenseitigen Zusammenhalt, werden wir nimmer müde in Übung der Liebe und Barmherzigkeit zur Versöhnung und Überwindung der klaffenden Gegensätze unserer Tage! Wir stehen an der Neige eines Jahrhunderts. Großes haben wir in demselben erlebt: Gottes Gnade war mit uns. Alles ruft aber nach Vertiefung und Mehrung der sittlichen und deshalb auch der religiösen Kräfte. Sittlichkeit ruht auf Religion. Wir brauchen das Evangelium nach allen Seiten hin. Welche Aufgaben sind zu lösen! Man möchte oft erschrecken vor ihrer Größe. Seien wir alle treu in unserem irdischen Berufe, den unsere Kirche bekanntlich besonders hochhält, in unserem allgemeinen Christenberuf, in dem Beruf, den jeder Protestant auch für die eigene Kirche hat, Männer, Frauen, Jünglinge und Jungfrauen!

 Seien wir endlich stark in Hoffnung! Die Rede, daß es mit dem Protestantismus aus sei, beruht auf wunderlicher Selbsttäuschung. So wenig es mit Gottes Wort, mit dem ewigen Evangelium, mit der christlichen Kirche selbst je aus sein kann, so wenig wird es mit dem Protestantismus je aus sein. Unsere beste Apologie ist aber das, was wir durch Gottes Gnade sind, schaffen, leisten zum Heile der Kirche, der Gemeinden, unseres ganzen Volks. Die Fülle von Kräften, welche der Geist der Reformation erweckt hat, ist noch nicht erschöpft. Wir haben eine reiche Geschichte hinter uns und deshalb auch vor uns. Die| Gegensätze zwischen Protestantismus und Katholizismus wollen wir nicht verschärfen, es ist Gottes Wille, wie unsere Geschichte uns klar lehrt, daß beide Konfessionen in Deutschland neben einander bestehen; sie können von einander lernen, keine Konfession ist dazu da, die andern zu unterdrücken. Wir können auch auf so manchem Gebiete mit einander, auf einander zum Segen beider Gemeinschaften wirken. Wollen wir unserseits den konfessionellen Frieden aufrecht zu halten beflissen sein, wollen wir aber auch stets mannhaft eintreten für Recht, Ehre und Würde unserer Kirche!

 Vergessen wir an dem heutigen Tage und fernerhin auch nicht das Melanchthon-Haus in dem fernen Bretten!

 Gott segne Augsburg, Gott segne die evangelische Gemeinde dieser Stadt, Gott segne unsere ganze Kirche!

 Gott lasse die Konfessionskirche bald erstehen zu seiner Ehre, zur Ehre unserer Kirche, zum Schmucke dieser Stadt, zur Förderung unseres kirchlichen Lebens!




Kgl. Bayer[.] Hofbuchdruckerei von Gebrüder Reichel in Augsburg.