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relativen Gegensätzen unterscheiden und hatte er ein feines Gehör für das beziehungsweise Recht auch des Gegners. Melanchthon hatte ferner einen tief ökumenischen Zug, keiner hat wie er die Sorge für die Evangelischen aller Länder auf dem Herzen getragen, wie trauerte er über die Verfolgungen derselben in Frankreich und England! In einem von niemand nach ihm wieder erreichten Maß und Umfang hat er das Vertrauen der Evangelischen in der weiten Welt, in Großbritannien, Frankreich, Italien und der Schweiz wie in Ungarn, Polen und Skandinavien besessen. Er hatte eine Korrespondenz nach allen Seiten und mit allen europäischen Ländern, von deren Umfang der in 10 Quartbänden gesammelte und erhaltene Rest seiner Briefe einen Begriff geben kann. Er hat Berufungen erhalten nicht bloß nach Marburg, Heidelberg, Tübingen, Frankfurt a. O., sondern auch nach England, Frankreich, Dänemark und Polen. Melanchthon gehört aber immerhin der Kirche deutscher Reformation an, er unterscheidet sich sehr wesentlich von den Häuptern der reformirten Kirche, so befreundet er besonders mit Calvin war, durch seinen kirchlich konservativen Charakter, durch seine ausgesprochenen liturgischen Neigungen, durch seine Ehrfurcht vor kirchlicher Tradition, sofern sie nur nicht geradezu dem Worte Gottes zuwider war, durch seine Treue gegen die früheren kirchlichen Bekenntnisse, bezüglich deren bei ihm nie das mindeste Wanken stattfand; seine spätere prononcierte Betonung der menschlichen Freiheit auf religiösem Gebiete setzte ihn in unausgleichbaren Widerspruch mit den Leugnern derselben; und auch in einer spätern Lehranschauung, bezüglich deren Luther nicht mit ihm zufrieden war, die ihm aber doch keinen Anlaß gab, mit „dem hohen Manne, der so viel gearbeitet“, zu brechen, folgte Melanchthon durchaus nicht unbedingt den Reformirten, sondern nahm eine vermittelnde Stellung ein. Endlich müssen wir seinen universell wissenschaftlichen Charakter rühmen. Es ist geradezu staunenswert, welch ungeheures Wissen der Mann umfaßte, dessen Thätigkeit zu seinem eigenen größten Verdruß durch Reisen zu Konventen, Religionsgesprächen und Reichstagen, durch Wanderungen in Sachen höherer und niederer Schulen, durch seinen Briefwechsel und die von Fürsten, Städten und Einzelnen erbetenen Gutachten so sehr

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Adolf von Stählin: Philipp Melanchthon. J. A. Schlosser, Augsburg 1897, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_Philipp_Melanchthon.pdf/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)