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Artikel „Weizsäcker, Karl“ von Adolf Jülicher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 27–38, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Weizs%C3%A4cker,_Karl_von&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 15:16 Uhr UTC)
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Weizsäcker: Karl W., protestantischer Theologe, † 1899.

Karl Heinrich W. ist geboren am 11. December 1822 zu Oehringen, der Hauptstadt der ehemaligen Grafschaft Hohenlohe in dem fränkischen Theil Württembergs, wo seine Familie seit Alters heimisch war. Sein Vater Christian Ludwig Friedrich W. war 1822 Diakonus in Oehringen, wurde später Stiftsprediger daselbst, starb aber schon im J. 1831. Seine Mutter, eine Tochter des Fürstlich Hohenlohe-Oehringenschen Hofraths Ludwig G. K. Rößle, hatte nun für die Erziehung der hinterlassenen Kinder zu sorgen; über den 1828 geborenen jüngeren Sohn Julius W., den berühmten Historiker s. A. D. B. XLI, 637; ein älterer Bruder Hugo starb vierzehnjährig als Zögling des Blaubeurener Seminars. Die Mutter, eine tapfere, fromme Frau, hat den größten Einfluß auf die innere Entwicklung ihrer Söhne geübt, in dankbarer Liebe haben sie ihr angehangen; sie ist 1861 in Tübingen gestorben.

Karl W. war bei der Geburt ein so schwächliches Kind, daß er am zweiten Tag die Nothtaufe erhielt; auch während der Knaben- und Jünglingsjahre hat er viel mit Krankheit zu kämpfen gehabt, und eine völlig feste Gesundheit hat er erst seit den 60er Jahren genossen. Nachdem er den ersten Unterricht auf dem Lyceum in Oehringen empfangen hatte, fesselte ihn von 1835–38 eine Entwicklungskrankheit an das Zimmer, vielfach auch an das Bett. Während dieser Zeit ist er fast nur durch Selbstunterricht gefördert worden; seine Confirmation wurde dadurch auch bis Ostern 1838 hinausgeschoben. Das Glaubensbekenntniß, das der Fünfzehnjährige aus diesem Anlaß niedergeschrieben hat, ist durch Günther (Monatsschrift für Pastoraltheologie 1897, S. 13–15) zur Veröffentlichung gelangt; es ist in der That mehr als ein Zeugniß für die damals herrschende Art der Frömmigkeit, vielmehr trotz aller Anlehnung an übliche Formeln ein Beleg für den ungewöhnlichen Ernst, mit dem Karl W. sich auf diesen Act vorbereitet hatte: in der warmen, fast lebhaften Fassung, die den von W. 1855 für die Protestantische Real-Encyklopädie übernommenen Artikel „Confirmation“ auszeichnet, dürfte eine Bestätigung dessen liegen, daß unter den vielfachen Leiden jener Jahre seine religiöse Reife weit vorangeschritten war.

Nach einjähriger Vorbereitung bestand der Wiederhergestellte im Sommer 1839 das Eintrittsexamen für das niedere Seminar in Schönthal und ging von hier aus mit dem Zeugniß der Reife Herbst 1840 – schon vor Vollendung des 18. Lebensjahrs, trotz aller Krankheiten! – um Theologie zu [28] studiren, nach Tübingen. Dem Tübinger Stift, wo er Genossen wie August Dillmann zur Seite hatte, gehörte er bis zum Frühjahr 1845 an. In Tübingen lehrten damals außer F. Chr. Baur – und dem Privatdocenten ZellerHr. Ewald, Kern, Chr. Fr. Schmid und Landerer; nach Kern’s Tod vom Winter 1842/43 an Joh. Tob. Beck, der bekannte Pietist. Wahrlich sehr verschiedene Menschen; den stärksten Eindruck auf W. scheinen Baur und Schmid gemacht zu haben; letzterer, von dem Storr’schen Supranaturalimus herkommend, durch Aneignung Schleiermacher’scher Gedanken der Typus einer neuen Art von Vermittlungstheologie geworden mit deutlicher Vorliebe für das confessionell Lutherische. Im Mai 1845 begann für W. die Vicariatszeit; zunächst wurde er dem Decan Ziegler[WS 1] in Urach beigegeben, übernahm im October für ein Semester die Functionen des erkrankten Professors Schmoller am niederen Seminar zu Blaubeuren, und war im April 1846 Gehülfe des Stadtpfarrers in Eßlingen, Prof. Hochstetter[WS 2]; – wiederholt bedurfte er in diesen Jahren eines Urlaubs zu Erholungszwecken. 1847 dagegen erhält er auf ein Jahr den üblichen Urlaub zum Besuch deutscher Universitäten, bleibt aber nur kürzere Zeit in Berlin. Er erwarb sich in diesem Jahre den philosophischen Doctorgrad, habilitirte sich auch in der theologischen Facultät zu Tübingen und versah gleichzeitig die Stelle eines Repetenten am Stift. Aber schon 1848 gab er alle diese Stellungen auf und übernahm die Pfarre in Billingsbach (Decanat Langenburg, im Hohenlohischen); seine Nomination ist datirt vom 22. Mai 1848. Jetzt gründete er seinen Hausstand durch die Verheirathung mit Sophie Auguste Dahm, einer Tochter des Oberhelfers Dahm in Eßlingen. Aus dieser Ehe sind außer einer kurz nach der Geburt verstorbenen Tochter drei Kinder entsprossen, die den Vater überlebt haben, Sophie, die Frau des verstorbenen Oberhofpredigers Prälaten D. Bilfinger in Stuttgart, Carl[WS 3], seit Jahren königl. württembergischer Staatsminister, und Marie, verheirathet mit dem Staatsrath Professor Dr. Bruns in Tübingen. Als ihre Mutter am 3. September 1884 in Tübingen gestorben war, haben die Kinder und Enkel, die dem Vereinsamten nahe blieben, in etwas den Verlust ersetzen können: an häuslichem Glück ist K. Weizsäcker ein schönes Theil beschieden gewesen.

Während der drei Jahre, die er in der Landgemeinde Billingsbach mit ihren Filialen als Pfarrer wirkte, hat er sich gleichmäßig weitergebildet als Prediger wie als Theologe; den Aufgaben des Dorfpfarrers hat er sich ausgezeichnet gewachsen gezeigt. Ungeduldiges Streben nach weiteren Zielen lag ihm fern. Wie durch einen Zufall wird er – als Dritter von neun vorgeschlagenen Candidaten – von König Wilhelm I. 1851 als Hofkaplan (und Gardefeldprediger) nach Stuttgart berufen, wo sich bald um seine Kanzel „eine erlesene Hörerschaft“ sammelte. 1856 wurde er im Nebenamt Hülfsarbeiter im Ministerium des Kirchen- und Schulwesens, 1859 außerdem außerordentliches Mitglied des Consistoriums mit dem Titel Oberconsistorialrath, und er hat die mannichfaltigen Verwaltungsgeschäfte mit ebenso viel Geschick, Sicherheit und Freude geführt, wie er als Seelsorger und Hofprediger ganz andersartige Gaben bewährte, ohne daß eines das andere beeinträchtigte.

Ich weiß nicht, ob er in diesen Jahren von 1848–1860 ein akademisches Lehramt als Ziel im Auge behalten hat. Mühe hat er sich nicht darum gegeben. Die wissenschaftlichen Interessen in ihm waren so kräftig und seine Begabung so zweifellos, daß er natürlich seit 1850 sich an der öffentlichen Discussion theologischer Probleme betheiligte, zuerst mit einigen Recensionen, u. a. in Reuter’s Repertorium. 1853 gab er die „Biblische Theologie des Neuen Testamentes“ von Chr. Fr. Schmid, seinem früheren Lehrer, heraus, [29] auf Grund von Schmid’s Aufzeichnungen und den Nachschriften zuverlässiger Hörer seiner Vorlesungen. Das Buch hat vier Auflagen erlebt (noch eine fünfte, von Heller besorgte, erschien 1886), es hat damals wirklich eine Lücke in der Litteratur dieser Wissenschaft ausgefüllt. Was ein pietätvoller und sachkundiger Editor mit den ihm überlieferten Manuscripten nur irgend im Interesse des Autors und der Leser thun konnte, hat W. gethan; über weite Strecken hin würde Niemand glauben, ein opus posthumum zu lesen, und die vorangeschickte Biographie und Charakteristik Schmid’s wie insbesondere seiner Neutestamentlichen Theologie behalten ihren Werth. Daß uns Heutige Schmid’s Theologie mit ihrer „Vorgeschichte Jesu“, ihrer „Lehre des Paulus“, ihrem „petrinischen Lehrbegriff“ wenig befriedigt, ist zum guten Theil der Erfolg der Weiterarbeit, die W. selber dem Gegenstande gewidmet hat, und aus der sich ganz neue Forderungen an Form und Inhalt dieser Disciplin ergaben.

Im J. 1854 begann Herzog’s Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche zu erscheinen: im Mitarbeiterverzeichniß des ersten Bandes begegnet sofort W., und zu den ersten fünf Bänden (1854–56) hat er denn auch eine Reihe von Artikeln beigesteuert. Zum Theil kirchengeschichtliche und zwar aus den verschiedensten Zeitaltern, wie Hegesippus, Dionysius von Alexandrien, Barmherzige Brüder, Agrippa von Nettesheim, Caesarius von Heisterbach, Cochläus, Cassander, Cajetan, Contarini, Berleburger Bibel; aber auch dogmatische und ethische, z. B. Bosheit, Gehorsam, Gesetz, Heilsordnung. Sie sind großentheils in die 2. Auflage 1877 ff. übernommen und dort um einige wie J. B. Hirscher und Chr. F. Schmid vermehrt worden; für die 3. Auflage 1896 ff. hat W. offenbar bei den meisten eine Umarbeitung gewünscht, aber nicht selber ausführen wollen. Daß er bereits in der ersten Auflage von 1856 an zurücktrat, hat schwerlich einen anderen Grund als den, daß er die Redaction der 1856 neubegründeten – und bis 1878 fortgeführten – Jahrbücher für deutsche Theologie übernehmen mußte. Der Kreis der Gründer, Liebner in Dresden, Dorner und Ehrenfeuchter in Göttingen, Landerer und Palmer in Tübingen, Weizsäcker in Stuttgart, zeigt lauter Namen von gelehrten Theologen vermittelnder Richtung, die weder mit den Theologischen Jahrbüchern Baur’s noch mit Hengstenberg’s Evangelischer Kirchenzeitung gehen wollten und mit ihrem Unternehmen vornehmlich der unbefangenen Erörterung dogmatischer Fragen mittelst gründlicher dogmengeschichtlicher und symbolischer Forschung zur Vermeidung des ewigen Parteigezänks eine Thür zu öffnen gedachten. W. betheiligt sich wie bei der Realencyklopädie nicht etwa sogleich mit neutestamentlichen Forschungen: 1856 bietet er S. 131–196 Studien „zu der Lehre vom Wesen der Sünde“, 1858, S. 153–188 antwortet er auf die Frage: Um was handelt es sich im Streit um die Versöhnungslehre?, womit er in einen Streit der Erlanger mit der Rostocker Orthodoxie einzugreifen scheint, aber doch nur, um die einfache Rückkehr zu der Lehrweise sei es Anselm’s, sei es der Reformation für unmöglich zu erklären und als ein an Luther selber geübtes Unrecht zu erweisen. Größeres Aufsehen erregten freilich seine Abhandlungen 1857, S. 154 bis 208: Das Selbstzeugniß des johanneischen Christus, und 1859, S. 685 bis 767: Beiträge zur Charakteristik des johanneischen Evangeliums. Auf das dogmatische Absehen des Verfassers, eine Grundlegung der Christologie, achtete man weniger als auf das Resultat historisch-kritischer Untersuchung, wonach von der Kritik der Abstand zwischen dem vierten Evangelium und den synoptischen überschätzt würde, und Christus bei Johannes so wenig als bei Marcus ein transscendentes Selbstbewußtsein zeigt. Baur selbst erhob noch Einspruch gegen diese Escamotirung der Logoslehre als des Schlüssels zum [30] vollen Verständniß der Reden Jesu bei Johannes (1859, Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart), Strauß erfüllte sich mit Verachtung für den reactionären Landsmann. Heute entdeckt man auch ohne feinere Augen, wie weit 1858 und 59 der Schüler K. Weizsäcker über seinen Lehrer Schmid schon hinaus gekommen war und eben unter fortwährender Auseinandersetzung mit den Baur’schen Grundsätzen; er ist schon jetzt um vieles freier, d. h. negativer, als z. B. Bernh. Weiß[WS 4] in seinem johanneischen Lehrbegriff – vgl. Weizsäcker in den Jahrbüchern 1862, S. 619–708 über die johanneische Logoslehre –, es fällt ihm nicht ein, die verwandtschaftlichen Beziehungen der johanneischen zur philonischen Logoslehre zu bestreiten; die litterarische Abhängigkeit des 4. Evangelisten von den drei Synoptikern steht ihm ebenso fest wie die Umfärbung der Jesusworte ins Johanneische, aber er hält eine Vereinigung der beiden Charakterbilder Jesu behufs Erkenntniß des Lebens Jesu für möglich und meint, daß man das Johannesevangelium am leichtesten erklären könne, wenn man seinen Inhalt „geschichtlich“, soll heißen, als wirkliche Geschichte zu verstehen sucht.

Damals starb plötzlich Baur am 2. December 1860. Die reinen Tübinger wollten keinen Andern zum Nachfolger haben als Ed. Zeller. Wenn sonst an Weizsäcker, Sigwart, Wagenmann – später als Verfasser kirchengeschichtlicher Säcular-Erinnerungen viel gelesen – gedacht wurde, so schien es ihnen gleichgültig, ob unter den Blinden einer mehr oder weniger blind sei. Ostern 1861 wurde K. Weizsäcker auf Baur’s Lehrstuhl berufen, und hat dort fast 38 Jahre hindurch allein die historische Theologie in seinen Vorlesungen vertreten, nach Tübinger Brauch mit Einschluß von neutestamentlichen Anhängseln, Einleitung in das Neue Testament, apostolisches Zeitalter, Apostelgeschichte. Aeußerlich ist fortan der Gang seines Lebens wie seiner Arbeit ein ruhiger gewesen. Zwei Mal, 1867 und in dem Jahr, wo Tübingen sein 400jähriges Jubiläum feierte, 1877 hat er die Würde des Rectors der Universität bekleidet: 1877 schrieb er das 172 Seiten umfassende Festprogramm der evangelisch-theologischen Facultät: „Lehrer und Unterricht an der evang.- theologischen Facultät der Universität Tübingen von den Reformatoren bis zur Gegenwart“, eine Fundgrube von interessanten, bisweilen pikanten Materialien zur deutschen Gelehrtengeschichte. Nach dem Tode Palmer’s hatte er, der mit der Professur auch eine Frühpredigerstelle übertragen bekommen hatte, die Predigtthätigkeit wieder auszuüben begonnen und ist damit bis etwa 1886 fortgefahren. Als Stiftsinspector hat er von 1877–1889 wie in anderer Form als Mitglied der württembergischen Landessynode sich um die Kirche seiner Heimath Verdienste erworben durch klugen Rath und mühsame Arbeit. Als im December 1889 der Kanzler der Universität Tübingen v. Rümelin gestorben war, wurde zu seinem Nachfolger W. berufen; das Amt brachte ihm auch Sitz und Stimme in der Kammer der Abgeordneten. An Ehrenbezeugungen aller Art fehlte es ihm jetzt noch weniger als zuvor; sein König ertheilte ihm die höchsten Orden und Auszeichnungen, an denen er seine Freude hatte, ohne sie zu überschätzen. Die Kanzlerwürde war in ihm gefürstet durch eine Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit und durch wissenschaftlichen Weltruhm. Im Sommer 1898 nahten die Vorboten des Todes. W. fühlte sich öfters matt, hielt aber noch im Winter 1898/99 die gewohnten Vorlesungen. Im Juni 1899 erkrankte er schwer; nun ging es zu Ende. Da hätte er gern noch so viel Zeit gefunden, um seine Gedanken über Religion und Christenthum wie in einem Testamente für seine Zeitgenossen zusammenzufassen. Aber es war zu spät; in der Frühe des 13. August 1899 ist er still entschlafen.

[31] Unstreitig sind seine drei größten Werke die der neutestamentlichen Wissenschaft gewidmeten. 1864 erschienen von ihm „Untersuchungen über die evangelische Geschichte, ihre Quellen und den Gang ihrer Entwicklung“. Sie waren lange vergriffen gewesen, als sie A. Bilfinger 1901 mit geringfügigen Zuthaten nochmals herausgab; der Erfolg bewies auch, daß das Buch, inzwischen durch kein besseres ersetzt, in vielem ihm Eigenthümlichen noch unentbehrlich war. 1875 gab W. zum ersten Mal heraus: „Das neue Testament übersetzt“. Eine zweite Auflage von 1882 enthielt reichliche Verbesserungen; die Ausgaben, die sich von da an in rascher Folge drängten, zeigen bis zur 9., die er auf dem Sterbebette vorbereitet hatte, wie er unermüdlich bestrebt war, jede Kleinigkeit in diesem Werk seinem Plan entsprechend zu gestalten: in Kautzsch’s Textbibel des Alten und Neuen Testaments 1899 wird das Neue Testament einfach in der letzten Form von Weizsäcker’s Uebersetzung gegeben, weil darin, wie E. Kautzsch[WS 5] richtig bemerkt, „die Aufgabe einer den heutigen Ansprüchen genügenden Verdeutschung lange vor unserer Bearbeitung des Alten Testaments zu allgemeiner Befriedigung gelöst war“. Das dritte Werk schloß wieder mehr an die „Untersuchungen“ von 1864 an: „Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche“, 1886; hiervon kam eine zweite neu bearbeitete Auflage 1892 heraus; eine dritte 1901 ist in der Hauptsache Abdruck der zweiten.

Jene drei Werke scheinen ihrem Wesen nach ganz verschieden, wenden sich an verschiedene Leserkreise; das erste an mitforschende Theologen, das letzte an die Historiker überhaupt, das mittlere an alle Bibelleser. Weizsäcker’s Neues Testament hat denn auch dankbare Anerkennung in allen Lagern gefunden, es ist eines der wenigen modernen Bücher eines gelehrten Verfassers, denen eine Parteimarke anzuhängen unmöglich ist. W. hatte sich nicht etwa vorgenommen, Martin Luther’s deutsches Neues Testament zu verdrängen; den unersetzlichen Werth dieses Volksbuchs mit seiner Kraft der Erbauung erkennt er an, ohne Einschränkung. Aber er hat auch eingesehen, daß ein Verständniß der neutestamentlichen Schriften in ihrem Zusammenhang und ihrer Eigenart sich nur aus einer Uebersetzung gewinnen läßt, die, ganz in modernem Deutsch gehalten, dem Leser dieselben Eindrücke zu verschaffen suche, die die ältesten Leser aus der Ursprache erhielten. Jede Anlehnung an Luther’s Sprache, wie noch de Wette in seiner Bibelübersetzung sie geübt hatte, ist darum auszuschließen: alle Zuthaten der Ueberlieferung, auch die Eintheilung in Capitel und Verse, die das Verständniß manchmal heillos erschwert, werden, soweit der praktische Zweck es irgend zuläßt, beseitigt. Natürlich geht W. aus von dem Text, den er für den zuverlässigsten hält; bietet dann die Erklärung der Einzelheiten, wie er sie mit Hülfe der philologischen Arbeit so vieler Jahrhunderte zu rechtfertigen glaubt, und bindet vor allem in der Vertheilung der Zeichen z. B. für Anfang und Ende kleinerer oder größerer Abschnitte, für Hervorhebung der Stichworte, der Themen u. s. w., den Leser an seine eigene Auffassung von dem Zusammenhang der Textschrift, ihrem Gedankengang und den sie beherrschenden Interessen. Eine „absolut richtige“ Uebersetzung des Neuen Testaments kann eben Niemand geben; aber was ein Einzelner in Erfüllung des W. hier vorschwebenden Ideals zu leisten vermag, hat er in der That geleistet. Sein „Neues Testament“ ist ein classisches Werk der Uebersetzungslitteratur. Aufgebaut auf dem gründlichsten Verständniß der Texte, mit einem seltenen Feingefühl in der Wahl der entsprechenden deutschen Ausdrucksformen ausgeführt, kann diese Uebersetzung dem des Griechischen unkundigen Leser wirklich die Eindrücke verschaffen, die er beim ersten Lesen gewinnen würde, wenn die Sprache des Paulus seine Muttersprache wäre. Für den Theologen [32] aber ist es ein sonderlicher Genuß, das, was er bei seinem exegetischen Bemühen um diese Texte nur dunkel empfindet, von W. in klarem Wort ausgesprochen zu bekommen: dem Sachkundigen ersetzt diese Uebertragung in das heutige Deutsch streckenweis durchaus den Commentar; zum mindesten einen Commentar zu Weizsäcker, denn man bleibt nie darüber im Zweifel, wie W. die betreffende Stelle verstanden hat. Daß Weizsäcker’s Buch nicht mit der Zeit ein Volksbuch wie das N. T. von Luther werden kann, ist die Folge seiner Vorzüge; es ist dazu nur gerade so geeignet, wie es etwa der Römer- oder der Judasbrief im 20. Jahrhundert ist. W. nimmt den von ihm übersetzten Schriften nicht dadurch etwas von ihrer Ehre, daß er sie zu verbessern anfängt. Wo z. B. Paulus sich in einem Gedankenlabyrinth verliert, wo er einen Satz nur halb ausspricht oder in der Leidenschaft fast ein Zeichen gebraucht statt der Worte – da ergänzt W. nicht etwa zur Bequemlichkeit des modernen Lesers, sondern vergegenwärtigt ihm all diese Schwierigkeiten, Anstöße und Zweideutigkeiten: die Nachbildung wird so fein ausgeführt, daß man in Weizsäcker’s Neuem Testament beinahe den Pseudopaulus der Pastoralbriefe von dem der Korintherbriefe unterscheiden kann, wie viel mehr den Johannes der Apokalypse von dem des Evangeliums! Die Verschiedenheit der Geister in dem angeblich einen Buch der Neutestamentlichen Offenbarung, die Mannichfaltigkeit ihrer Sprachen, ihrer Interessen, Fähigkeiten, der starke Einschlag von zeitlich Bedingtem und heut schwer noch Genießbarem in mancher Schrift wird hier dem wohlgesinnten Leser drastisch vor Augen geführt, und so erhält Weizsäcker’s Buch zu seinem ästhetischen und exegetisch-wissenschaftlichen Werth noch einen seltenen und vornehmen pädagogischen: in diesem wird keiner seiner Nachahmer an ihn heranreichen.

In dem „Apostolischen Zeitalter“ hat W. die reifste Frucht seiner Lebensarbeit, der 64jährige, geboten. Es ist auf der einen Seite eine Zusammenarbeitung einzelner früherer Abhandlungen von ihm, z. B. gleich der vier in den Jahrbüchern für deutsche Theologie XXI, 1876 veröffentlichten: Die Anfänge christlicher Sitte, über die älteste römische Christengemeinde, die Versammlungen der ältesten Christengemeinden, Paulus und die Gemeinde in Korinth. Aber die alten Stoffe sind neu eingeschmolzen und ein Werk aus einem Guß geworden, ein Meisterstück von Geschichtschreibung in großem Stil. Wir finden den Erzähler ganz allein am Werk bei seinen Quellen, nirgends stört polemische Auseinandersetzung mit fremden Meinungen, keine gelehrte Notiz wird gemacht, die nicht unmittelbar das Verständniß fördert, nicht einmal ein Vorwort darf von der Sache selber ablenken. In einer Architektonik von herrlicher Einfachheit wächst der Bau empor: die älteste jüdische Gemeinde, der Apostel Paulus, die paulinische Kirche, die weitere Entwicklung (Jerusalem, Rom, Ephesus), abschließend eine Schilderung des Gemeindelebens in Versammlungen, Verfassung, Sitte – Alles in dem Buche, der Stil und die Auswahl der Belegstellen, das Verhältniß von Kritik und positiver Darstellung, von Andeutung des Problematischen und Herausstellung des sicher Erwiesenen sind von wunderbarer Zweckmäßigkeit. Die stolze Ruhe dieses Werkes läßt nichts von den lärmenden Schlachten ahnen, in denen solche Erkenntniß erstritten worden ist. Aber der Verfasser weist doch auch auf so viel Lücken in seiner Darstellung hin, auf so viel dunkle Stellen in der Entwicklung, auf das peinlich Fragmentarische unseres Wissens, daß ihn nicht etwa der Vorwurf trifft, den Leser in falsche Sicherheit gewiegt zu haben. Das Leben Jesu freilich, das fragmentarischste von allem, fällt nicht in den Rahmen seines Plans, er beginnt mit der Sammlung der Jünger nach ihrer fluchtartigen [33] Zerstreuung am Tage von Golgatha, und der hierdurch eingeleiteten Gründung einer Gemeinde von Christusgläubigen in Jerusalem.

Der Standpunkt des Geschichtschreibers ist der rein historische: er mengt keine Reflexionen über die Stellung des Glaubens zu diesem oder jenem Stück Geschichte ein, und bringt an die Kritik seiner Quellen keine wie immer geartete religiöse Voraussetzungen mit. Das Johannes-Evangelium hat aufgehört, ihm eine theilweis geschichtliche Ueberlieferung enthaltende Quelle zu sein, es ist ihm nur noch der werthvollste Zeuge für die nachapostolische Entwicklung des Christenthums in Ephesus. In Echtheitsfragen bei den neutestamentlichen Briefen ist W. skeptischer, als man ihm zugetraut hätte; den Quellenwerth der Apostelgeschichte wagt er namentlich angesichts der Differenz von Apostelgeschichte 15 und Galaterbrief 2 nur sehr gering zu bemessen. Begreiflicherweise ragt in einem Buch über das Apostolische Zeitalter, auch wenn man dessen Grenzen nach uns zu weit absteckt (ca. 100 n. Chr.), die Gestalt des Paulus hoch hinaus über das Andere; vielleicht sogar etwas zu hoch, und dem Petrus, wie auch der von ihm inspirirten Jerusalemischen Gemeinde konnte stärkerer Einfluß zugewiesen werden. Sodann bleibt die urchristliche Welt, die wir bei W. kennen lernen, etwas isolirt; von ihren dauernden Beziehungen zu Andersgläubigen, Auseinandersetzungen mit Judenthum und Hellenismus, insbesondere auch von ihrer Abhängigkeit in religiösen und Culturangelegenheiten von denen draußen bekommt man wenig zu hören. In diesen beiden Richtungen mag die Zukunft, von Besserungen in Einzelheiten (wie die Composition der Johannes-Apokalypse) abgesehen, eine Ergänzung zu Weizsäcker’s Darstellung bringen. Aber das werden dann Früchte einer neuen Arbeitsperiode sein: was am Schluß des 19. Jahrhunderts die Forschung auf dem Gebiet des Urchristenthums allmählich und stückweise erkannt und festgestellt hatte, das hat W. zu einer Gesammtanschauung in eins gefügt, so daß durch den Zusammenhalt des Ganzen nun auch die einzelnen Bestandtheile erst volles Licht und rechte Werthschätzung empfangen.

Weizsäcker’s Untersuchungen über die evangelische Geschichte haben bei ihrem Erscheinen nur Wenigen ganz gefallen. Auf der kritischen Seite freute man sich wohl über die auffallend reservirtere Haltung des Verfassers in der johanneischen Frage, war aber mit dem Grundsatz, daß das Leben Jesu von uns nur mittelst einer Vereinigung johanneischer und synoptischer Traditionen reconstruirt werden könne, nicht zufrieden. Man lobte also eigentlich bloß die Zugeständnisse Weizsäcker’s an die negative Kritik; C. Schwarz gibt noch 1869 in seinem Buch „Zur Geschichte der neuesten Theologie“ dieser Stimmung bezeichnenden Ausdruck (S. 579): Anzuerkennen sei der Fortschritt in den Arbeiten des Mannes, der, zum nächsten Nachfolger Baur’s berufen, durch die Macht des von ihm entzündeten und in Tübingen noch fortwirkenden kritischen Geistes nur widerwillig ergriffen und fortgezogen worden; in seinem Werke von 1864 fänden sich sehr werthvolle Beiträge für die Evangelienfrage. „Und auch hier trotz der sehr ausdrücklichen und starken Betonung der Echtheit des johanneischen Evangeliums im Allgemeinen werden doch wieder im Einzelnen so viele Zugeständnisse gemacht, wird die weitgehende Herrschaft der Idee und der idealen Zusammenhänge gegenüber der Wirklichkeit, die einer späteren Zeit angehörende Färbung, die Einförmigkeit, Nebelhaftigkeit und unwahre Härte in der ganzen Stellung Jesu zu seinen Umgebungen und namentlich in seinen Reden, in so vollem Maße anerkannt, daß von der behaupteten Echtheit und Geschichtlichkeit gar wenig übrig bleibt.“ Gleichwohl hält für Schwarz W. mit der rein geschichtlichen Höhe Keim’s und vollends von Hausrath’s Neutestamentlicher [34] Zeitgeschichte keinen Vergleich aus. – Die älteren Freunde Weizsäcker’s wiederum waren über sein Zurückweichen vor den kritischen Angriffen auf die Glaubwürdigkeit der Evangelien bekümmert; Herm. Schmidt bemerkt 1866 (Prot. Realencyklopädie XX, Art. Baur und die Tübinger Schule) bei W. eine auf dem Standpunkt des Theismus nicht ganz erklärliche Scheu vor dem Wunder, und tröstet sich über die Thatsache, daß Männer wie Keim und W. an noch so vielen Fäden mit Baur zusammenhängen, nothdürftig mit der Ueberzeugung, daß sie eine im wesentlichen verschiedene Grundanschauung verträten: d. h., man gestand unwillkürlich ein, daß die Ergebnisse wahrhaft wissenschaftlicher Evangelienkritik auch bei wesentlich verschiedener Grundanschauung ziemlich gleich ungünstig für die kirchliche Tradition lauten.

Epochemachend konnte Weizsäcker’s Buch schon nicht wirken, weil ihm gerade 1863 und 64 H. J. Holtzmann[WS 6] mit seinen Synoptischen Evangelien und Schenkel mit seinem Charakterbild Jesu zuvorgekommen waren: diejenigen, die Verständniß für seine mühsame und verdienstvolle Kritik an den Synoptikern und für den eigenen Werth des Buchs auch neben Holtzmann’s grundlegender Arbeit hatten, fanden in dem kurzen Lebensbild Jesu, das Holtzmann nach seiner Quelle A in § 29 (S. 468–496) entworfen, ihre Ansprüche besser befriedigt, einen faßlicheren und einheitlicheren Entwurf, als den im 2. Theil bei W. gezeichneten „Entwicklungsgang der Geschichte“. W. verlegt dem Johannes zu Liebe die Tempelreinigung in Jesu Anfänge, sie ist ihm eine kühne, die Laufbahn eröffnende That: daß nach einer so schroffen Provocation der Jerusalemiten die friedliche Laufbahn Jesu, die uns die Synoptiker über einen längeren Zeitraum hin malen, unhaltbar ist, sieht er nicht ein. Später hat er es eingesehen und auch insbesondere die Unvereinbarkeit der johanneischen Abschiedsreden mit den synoptischen zugestanden, so daß er sich geradeheraus von einem der Grundgedanken seines älteren Werks losgesagt hat. Und dennoch behält es seine Bedeutung nicht bloß durch die beiden ersten Abschnitte des ersten Theils, die von dem ältesten Evangelium, „der synoptischen Grundschrift“ und von der Redensammlung handeln, sondern auch durch die späteren. Ich kann nicht wie der Herausgeber der posthumen 2. Auflage, A. Bilfinger, sagen, weil das letzte Wort über die johanneische Frage noch nicht gesprochen ist, auch nicht, weil das im 2. Theil mit so feiner Zurückhaltung gezeichnete Bild der Persönlichkeit und des Wirkens Jesu seine Stelle noch lange neben anderen gleichartigen Versuchen behaupten sollte. Es ist vielerlei in allen Abschnitten des Buches überholt. Neue Probleme sind aufgestellt worden, alte präciser gefaßt als vor 40 Jahren: die Fortschritte der Textkritik haben die Grundlagen von Weizsäcker’s Argumentation mehrfach erschüttert: über die marcionische Variante im Vaterunser: „Dein heil. Geist komme zu uns und reinige uns“ hätte W. schon 1864 nicht mit einer kurzen Anmerkung wie auf S. 407 hinweggehen dürfen. In der Verwendung des Variantenapparates für die historische Kritik war ihm namentlich G. Volkmar weit überlegen, und eine gewisse Einseitigkeit liegt bei W. auch vor, wenn er so gar nicht über die Schranken des Kanons hinaus auf spätere, immerhin degenerirte Ueberlieferungen den Blick wenden will. Indeß weder um der Vollkommenheit des Ergebnisses noch um der Vollständigkeit des kritischen Materials willen sollen Weizsäcker’s Untersuchungen auch heut als eine Einführung in das Studium der Evangelienfrage von absonderlichem Werth empfohlen werden. Die Aufgabe, die er sich dort gestellt hatte, Verbindung der litterarischen Kritik mit der Realkritik, ist wenigstens praktisch noch immer nicht als Grundbedingung für die Lösung der beiderseitigen Aufgaben begriffen worden; wie solche Verbindung stattzufinden habe, lehrt aber W. mit besonderer Meisterschaft. Im [35] Wägen von Bedeutsamem und Gleichgültigem, im Ausscheiden und Fortlassen des Zufälligen und Formelhaften, in der Vertiefung in das Bezeichnende und Charakteristische einer Quellenschrift oder einer Persönlichkeit, in der Umsicht und Vorsicht, die lieber gar nichts als falsche Sicherheit erreichen mag, ist er vorbildlich; nicht minder in der vornehmen Haltung der Untersuchung, die so wenig in eine fromme Anhimmelung wie in spöttelnde Mißhandlung der Quellen verfällt: hier wird den strengsten Anforderungen der unparteiischen Wissenschaft nichts vergeben und auch das innere Verhältniß des Forschers zu seinem Stoff nicht hinter einer manierirten Kälte versteckt.

Hatte aber ein Mann von so eindringendem Scharfblick wie W. und von seinem unermüdlichen Fleiß die Aufgabe sich so richtig gestellt, so mußten ihm selbst nach und nach die Fehler in seinen Voraussetzungen zum Bewußtsein kommen, und er die Schalen vermittelungstheologischer Halbkritik vollends abwerfen. Man hat ihn nach dem Erscheinen des „Apostolischen Zeitalters“ als den würdigen Nachfolger auf dem Lehrstuhl Baur’s gefeiert und in weiteren Kreisen war es um 1890 kaum noch bekannt, daß W. einst nach Tübingen berufen worden war, um den „Hegelianismus linker Seite“ unter den Tübinger Theologen verdrängen zu helfen. Das ist ja anders gekommen, als die dachten, die es veranstalteten. Aber W. ist nicht schuldig an ihrer Enttäuschung. Was er zuletzt gewesen ist, ist er in einer gesunden, gleichmäßigen Entwicklung geworden, weil er zu frei und tief veranlagt war, um sich dauernd einer Wahrheit zu verschließen, die sich seinem wissenschaftlichen Gewissen aufdrängte. Er hat kein Damaskus erlebt wie Schenkel, er hat sich auch nicht die speculative Weltanschauung Baur’s angeeignet, er ist nur in den freilich zahlreichen und wichtigen Punkten auf die Seite des Historikers Baur hinübergetreten, wo die geschichtlichen Thatsachen, wie er sie immer genauer kennen lernte, ihn dazu zwangen. Mit einer kleinen Veränderung läßt sich auf W. ein Wort anwenden, das er von Chr. F. Schmid gebraucht hat: eines ist ihm lebenslänglich geblieben, das Ausgehen von der geschichtlichen Urkunde, und das hat ihm möglich gemacht, ohne Bruch gradlinig zum Besseren fortzuschreiten.

Ganz gewiß ist nun seine Bedeutung nicht erschöpft mit dem, was er in jenen drei großen Werken an Erkenntniß niedergelegt hat und dem, was sie an Einfluß noch lange üben werden. Ausgezeichnete Stücke sind z. B. die Untersuchungen über die Papstwahl von 1059–1130 und über die Decretale Licet de vitanda in den Jahrbüchern für deutsche Theologie 1872, S. 486–551 und 1873, S. 1–68; für die Dogmengeschichte „Die Theologie des Märtyrers Justinus“ (ebenda 1867, S. 60–119). Auch in seinen Besprechungen bedeutender Bücher aus der Gegenwart hat W. kostbare Schätze seines Wissens ausgetheilt. Er übte die Recensentenkunst nicht gern in der Art, daß er controlirte, Lob und Tadel aussprach und begründete, sondern so, daß er das Werk im Ganzen als eine Aeußerung des wissenschaftlichen Geistes charakterisirte und rubricirte, daß er ihm den Zusammenhang zuwies, in dem es zu würdigen sei; in der Regel wies er auch noch auf die neuen Aufgaben hin, die nach diesem Werke zu lösen seien. Wie der Recensent bei ihm unter der Hand zum Geschichtschreiber wurde, ist vortrefflich zu beobachten an seiner Besprechung von Rougemont, A. Coquerel, Pécaut, de Pressensé und Ed. Reuß. – fünf „französische Arbeiten im Gebiete der neutestamentlichen Theologie und Geschichte des Urchristenthums (Jahrbb. f. d. Theol. 1861, S. 142 bis 196). Vorzüglich gelang es ihm, das Bild eines Menschen streng wahrhaftig zugleich und doch mit der Zuthat von innerer Antheilnahme, ohne die es nicht Anschauungen schafft, zu zeichnen; so feinsinnig wie die Worte der Erinnerung [36] an Christian Palmer in den Jahrbb. f. d. Theol. 1875, S. 353–370, so wuchtig ergreifend sind die Gedächtnißreden auf F. Chr. Baur, die W. 1890 und 1892 gehalten. Die Pflicht, eine fremde Individualität aus ihr heraus zu verstehen, hat er sehr ernst genommen, und ich bezweifle, ob D. Fr. Strauß über W. so gerecht zu urtheilen vermocht hätte, wie es W. 1875 that in dem actenmäßigen Bericht über Strauß’ Entlassung aus dem württembergischen Kirchendienst. Es mag aus demselben ein Satz hier stehen, weil er die prinzipielle Stellung Weizsäcker’s zu allen Excommunicationsfragen und sein Bewußtsein über sein eigenes Verhältniß zur Kirche erkennen läßt: „Wenn man die ganze spätere Entwicklung von Strauß überblickt, wird man sagen müssen, daß der Ausschluß vom Kirchenamt und theologischen Beruf sich gerechtfertigt hat; es war kein wirklicher innerer Zug zu demselben in ihm. Und das darf man sagen, trotzdem daß ihm die Neigung zu theologischen Fragen wie ein character indelebilis anhaftete.“

Also nicht durch die Abweichung in der Beantwortung theologischer Fragen – und Bekenntnißformeln würden auch dazu gehören –, überhaupt nicht durch etwas auf dem Gebiet der Wissenschaft Liegendes fühlt sich W. von Strauß geschieden, sondern dadurch, daß er bei jenem den inneren Zug zur Theologie, zum Christenthum, also ein Bedürfniß nach Bethätigung christlicher Frömmigkeit vermißt, das ihm selber etwas Selbstverständliches ist. In dieser Beziehung ist der Weizsäcker von 1892 auch kein anderer als der von 1853. Die Verschiebung seines theologischen Standpunktes nach der linken Seite hin hat ihn nie an seiner Zugehörigkeit zur Kirche zweifeln lassen. Er hat die Predigten nicht eingestellt, als er zu kritisch geworden war, sondern er hat das Predigen in Tübingen wieder aufgenommen, als seine neutestamentliche Kritik in den Grundzügen fertig und fest da stand. Und so gewiß seine späteren Predigten einen anderen Ton tragen als die der 50er Jahre und allerlei apologetische Absichtlichkeit aus der älteren Zeit in der späteren vergeblich gesucht würde, völlig unverändert geblieben ist die unbefangene Sicherheit seines Gottvertrauems, seiner Anhänglichkeit an die kirchliche Gemeinschaft, seines Glaubens an eine einzigartige Offenbarung Gottes in Christus. Er hebt das nicht etwa geflissentlich wieder und wieder hervor, am liebsten knüpft er an die Empfindungen natürlicher Frömmigkeit an und zeigt, wie in dem Erlöser Jesus diese unsere besten Triebe sich erst wahrhaftig und fruchtbringend entfalten. In seiner kerngesunden Seele ist die Harmonie zwischen Glauben und Wissen nie getrübt worden, wie ihn auch keine Schmerzen und Leiden von einer warmen Dankbarkeit gegen Gott, der es so gut und schön mit ihm gefügt habe, abbringen konnten. Ohne doppelte Buchführung zu treiben, hat er vielmehr das religiöse Leben und Erleben jederzeit als ein Gegengewicht gegen die zermürbende Thätigkeit des Kritikers hochgehalten: und seinem im Grunde conservativen Wesen fiel der Anschluß an die Ausdrucksformen vergangener Zeiten nicht schwer. Doch überließ er es Jedem, sich, wenn er nur überhaupt innerlich im Christenthum stand, den Beweis dafür auf eigene Art zu liefern: „wenn einer sich zutraut zu Christus zu halten, so mag er auch von sich aus schließen, daß wir es gerade so gut thun“ (II. Kor. 10, 7) hat er im J. 1880 unter sein Bild geschrieben. Das ist sein Glaubensbekenntniß.

Durch Reichthum der Gedanken, sinniges Eingehen hier auf den Text, dort auf die Vorgänge in einer kämpfenden Menschenseele zeichnen sich seine Predigten aus; sie haben nicht fortgerissen durch stürmische Gluth und nicht durch den Glanz der Rede bezaubert. Das gleiche gilt von den akademischen Vorlesungen Weizsäcker’s. Er hatte in der Regel einen durchaus ruhigen [37] Vortrag; keine gesuchten Pointen und keine geistreichen Ausblicke in die Gegenwart zogen die Aufmerksamkeit von der Sache ab, bisweilen forderte er von dem Zuhörer, den er auch nicht durch gelehrte Allüren blendete, eine gewisse Entsagung. Die großen Gestalten und Zeiten der Kirchengeschichte verstand er in großem Stil und mit vertiefter Hingebung zu behandeln, aber auch durch die Niederungen hin verfolgte er die öderen Wege: auf Auswahl des Fesselnden ließ er sich nicht ein. Es besteht ein großer Unterschied zwischen ihm und etwa Karl Hase. Für das Anekdotische blieb in seinen Vorträgen kein Platz. Er erzog seine Hörer nicht etwa zu zukünftigen Akademikern; den augenblicklichen Stand einer wissenschaftlichen Debatte ihnen vorzuführen und sie zum Kampf für oder wider anzuleiten, erschien ihm nicht als seine Aufgabe. Aber er lehrte sie den Hergang der Dinge, die Entwicklung im Ganzen und in vielem Einzelnen begreifen, richtig urtheilen, würdigen: er schärfte den Verstand, nöthigte zu eigenem Denken, auch wo es schien, als wenn er nur trockene Thatsachen mittheile. So war er gar nicht der Mann, Jünger für eine bestimmte Schule zu werben, wohl gar sich als Schulhaupt aufzuwerfen, er war ganz frei von dem Streben, Andern seine Meinung aufzudrängen. Aber wer das Zeug in sich hatte, eine eigene Meinung sich zu erwerben, wissenschaftliche Selbständigkeit zu lernen, der kam bei W. in die beste Schule.

Von dem öffentlichen Auftreten Weizsäcker’s erhalten wir dasselbe Bild. Es ist schade, daß die Reden, die er als Kanzler bei den festlichen Acten der Universität Tübingen gehalten hat, und die von ihm in der württembergischen Kammer gesprochenen nicht gesammelt vorliegen; die Lectüre dieser „Gelegenheitsreden“ würde dem, der nicht bloß ästhetisch angeregt sein will, sondern Nahrung für Geist und Gewissen sucht, einen großen Genuß gewähren. Von seinem bedeutenden Vorgänger im Kanzleramt, Rümelin, unterschied ihn nicht bloß das Temperament und das Fach; W. ist nicht so vielseitig wie Rümelin, nicht so unmittelbar fesselnd; vor allem aber, er lebt nicht so stark wie Jener in der Gegenwart und verfolgt nicht wie Rümelin, der mit ganzer Seele Politiker war, in allem den Zweck, auf die Gegenwart zu wirken. In der Betrachtung des Vergangenen, der Menschen und der Institutionen, einer Betrachtung, die in vollem Verstehen gipfelt, wachsen ihm die Schwingen, und selbst wo er, wie in der Frage nach der Ausscheidung der Privilegirten aus dem württembergischen Parlament, höchst actuelle Themen behandelt, vermeidet er jede Leidenschaftlichkeit; er vergegenständlicht die Sache, indem er sie über den Bannkreis der Parteiinteressen heraushebt und objectiv feststellt, wohin die Entwicklung sichtbar schon lange drängt, und wie wirkliche Rechte, alte und neue, trotz aller Umgestaltung unbeeinträchtigt erhalten bleiben können.

Ein Mann wie W. ist vor dem Localpatriotismus des Kleinstaaters und dem dort sich leicht einwurzelnden Kastengeist gesichert gewesen. Er dachte deutsch, ohne seinem engeren Vaterland den Rücken zu kehren, wie er christlich dachte, ohne seinen Platz in der lutherischen Landeskirche seiner Heimath aufgeben zu wollen. Unentwegt hat er zu den Idealen gestanden, für die er 1870 den Anfang der Erfüllung erlebte. Er war nur kein politischer Agitator, aus demselben Grunde wie er für keine kirchliche Partei oder theologische Richtung Agitation hätte treiben können: seine Ueberzeugungen standen unwandelbar fest, er sah die Dinge so klar, daß er durch keine Debatten über sie etwas hätte gewinnen können. Noch weniger mochte er Anderen ihre Ueberzeugung rauben; denen aber, die keine eigene besaßen, künstlich eine einzureden, widerstand ihm. Er hatte fast eine naturhafte Abneigung gegen die ewig unentschiedenen, zu keinem Entschluß fähigen, ziellos dahinwandelnden Menschen. [38] Und in Fällen, wo er diesen Defect des Willens wahrzunehmen glaubte, konnte er, der sonst so Nachsichtige und Wohlwollende, auch wohl ungerecht sein und unerbittlich ablehnend.

Als ein ungewöhnlich kluger Mann ist W. Jedem, der von ihm wußte, erschienen. Weil er so klug war – richtiger würde man es weise nennen – hat er nie die Grenzen seines Könnens überschritten und sich immer nur erreichbare Ziele gesteckt. Er war ein Menschenkenner, und weil er die Menschen, ihre Schwächen und Vorzüge oft besser als sie selber erkannte, wurde es ihm leicht, sie zu beeinflussen. Seine Weisheit verhinderte den Mißbrauch dieser seiner Macht über die Gemüther, die durch ein liebenswürdiges, verbindliches Wesen und vornehme Umgangsformen noch vergrößert wurde. Allein schon die Art, wie er in der theologischen Facultät ohne Reibungen mit J. T. Beck zusammengearbeitet hat, beweist, wie fern ihm der Ehrgeiz lag, als Dictator über Sklaven zu herrschen. Er hat den Kampf nicht gesucht, weil er den Frieden und die Ruhe höher schätzte; nur wenn die Freiheit ernstlich bedroht war, die er jedem Andern so gönnte, wie er sie für sich selber forderte, so war er zum Kampfe gerüstet. Vielen unnöthigen Streit hat er dadurch verhindert, daß er von ernstem Krieg die Gegner abschreckte, die seine Nachgiebigkeit in allen Angelegenheiten, die mit der Freiheit der Person nichts zu thun haben, immer wieder erprobten.

Und so stand er im letzten Decennium seines Lebens mit einer fast unbestrittenen Autorität da in seinem Land, an seiner Universität, in seiner Wissenschaft. Zu seinem 70jährigen Geburtstag wurde ihm eine Festschrift überreicht, an der ein Harnack, ein Holtzmann, ein Usener mitgearbeitet haben, Forscher aus den verschiedensten Lagern und Generationen. Und nachdem er von uns geschieden ist, wird sein Andenken weiterbestehen als das eines der bedeutendsten deutschen Männer des 19. Jahrhunderts, des Geschichtschreibers, der als echter Historiker, wie es Baur auch gewesen war, den Segen der Verbindung von neutestamentlich philologischer Forschung mit der allgemein geschichtlichen Schulung dargethan hat in seinen Meisterwerken, des Tübinger Professors, der in seiner Person eine wundervolle Harmonie von Frömmigkeit, strenger Wissenschaftlichkeit und weltmännischer Energie darstellt, die lebendige Antwort auf die Frage, ob theologische Facultäten noch an deutsche Universitäten gehören.

Quellen (außer den Reden, Aufsätzen und Schriften Weizsäcker’s und den im Text angeführten Werken): Mittheilungen aus der Familie und von Freunden K. Weizsäcker’s. – Staats-Anzeiger f. Württemberg 1899, Nr. 187, S. 1461. – Aug. Baur, Zur Erinnerung an K. Weizsäcker, in Protestantische Monatshefte 1899, S. 444–448. – Nachruf auf K. Weizsäcker von Alfred Hegler, in Schwäbische Kronik, Nr. 56 vom 3. Februar 1900. – Alfr. Hegler, Zur Erinnerung an K. Weizsäcker, in Hefte zur christlichen Welt Nr. 45, 1900 (69 Seiten, besonders eingehende, liebevolle Charakteristik). – Lic. R. Günther, Karl Weizsäcker als Prediger, in Monatsschrift f. Pastoraltheol. IV, 1. 2/3, 1907, S. 10–32, 64–78 (dahinter S. 73–78 eine Predigt Weizsäcker’s v. 16. Juli 1878 über Matth. 6, 1–18).


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Ludwig Ziegler (1778–1851); von 1826 bis 1850 Dekan des Kirchenbezirks Urach der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Zuvor 1823 bis 1826 Dekan in Creglingen, 1817 bis 1823 in Münsingen, wo er seit 1813 Stadtpfarrer war. Davor 1804 Präzeptor und seit 1812 zugleich zweiter Diakon in Göppingen.
  2. Christian Ferdinand Friedrich Hochstetter (1787–1860), evangelischer Geistlicher und Botaniker. Siehe den Artikel in der Wikipedia.
  3. Karl Hugo [Freiherr von] Weizsäcker (1853–1926), württembergischer Ministerpräsident.
  4. Karl Philipp Bernhard Weiß (1827–1918), evangelischer Theologe. Siehe den Artikel in der Wikipedia.
  5. Emil Kautzsch (1841–1910), evangelischer Theologe. Siehe den Artikel in der Wikipedia.
  6. Heinrich Julius Holzmann (1832–1910), badischer evangelischer Theologe. Siehe den Artikel in der Wikipedia.