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Artikel „Reuß, Eduard“ von Gustav Anrich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 579–590, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reu%C3%9F,_Eduard&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 20:15 Uhr UTC)
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Reuß *): Eduard R., der größte protestantische Theologe des Elsaß im 19. Jahrhundert, ward in Straßburg am 18. Juli 1804 geboren. Sein aus Pirmasens stammender Vater Ludwig Christian hatte hier 1790 einen Tuchladen eröffnet und war nach schwierigen Anfängen zu einem behaglichen Wohlstande gelangt; seine Mutter, Margarete Bauer, eine hervorragende Frau, war die Tochter eines Straßburger Buchhändlers und Verlegers. Der Knabe trat, nachdem er die Pfarrschule der Neuen Kirche besucht, 1812 in die unterste Classe des [580] Protestantischen Gymnasiums ein, dessen siebenjährigen Cursus er absolvirte. Das gesammte Unterrichtswesen krankte noch an den Nachwehen der Revolutionszeit; im Gymnasium bewegte sich der geistlose Unterricht in alten ausgetretenen Geleisen. So erarbeitete sich der talentvolle Knabe, der mit spielender Leichtigkeit den ersten Platz behauptete, das beste durch eigene Arbeit. Sein Hauslehrer, der tüchtige Philologe Lachenmeyer, später Professor am Protestantischen Seminar, führte ihn in die Geisteswelt der alten Classiker ein, seine von der Mutter ererbte poetische Anlage that das übrige. Er lebte und webte in den alten Dichtern und Historikern, wurde auch in den deutschen und französischen Classikern heimisch, führte lateinische Tagebücher, und das Büchersammeln ward seine Passion.

Mit 15 Jahren verließ der Jüngling als princeps juventutis die alte Sturm’sche Schule. Um das zu einem Specialstudium berechtigende Diplom eines Bachelier-ès-lettres zu erwerben, galt es, vorerst einen zweijährigen Cursus in Philosophie, Philologie und Geschichte durchzumachen, entweder am Königlichen Lyceum oder, und das war der Bildungsgang der künftigen protestantischen Theologen, am Protestantischen Seminar. R. ging den letzteren Weg, einfach weil die meisten seiner Freunde ihn gingen. Auch hier erlebte der zarte und schüchterne Student zunächst nur Enttäuschungen. Hätte er die richtigen Meister gefunden, er wäre ohne Frage mit Leib und Seele Philologe geworden und geblieben; seine ganze Begeisterung galt den Classikern, und er versuchte sich selbst in lateinischen und griechischen Versen. Aber die trockene, geistlose Art, in der in Straßburg die Philologie betrieben wurde, stieß ihn ab. Wußte doch nicht einmal der als Herausgeber classischer Texte berühmte Johannes Schweighäuser seine Hörer in den Geist der Antike einzuführen. Von Sprachvergleichung wußte niemand etwas, und als der Student in einem wissenschaftlichen Cirkel einige elementare Begriffe von vergleichender Grammatik erörterte, auf die er von selbst gerathen war, wurde er von seinen Commilitonen ausgelacht.

Nach bestandenem Baccalaureatsexamen ließ sich der junge R. in der theologischen Facultät einschreiben. Was ihn dazu veranlaßte, war weder innerer Beruf für das geistliche Amt, noch besonderes religiöses Interesse. Die spießbürgerliche Moral des theologischen Vulgärrationalismus, die ihm im Gymnasium und im Confirmandenunterrichte vorgetragen worden, hatte ihn völlig kalt gelassen; nur die schlichte Frömmigkeit der Mutter wirkte in ihm nach. Er folgte vielmehr auch diesmal wieder einfach dem Beispiel seiner älteren Freunde. Bald aber kam der Moment, da die theologischen Probleme und damit auch die Frage der Berufswahl in ihrem ganzen Ernst vor seiner Seele standen. Die Folge war eine schwere innere Krise, die der Jüngling in halbjähriger Zurückgezogenheit auf dem väterlichen Landgute durchkämpfte. In dieser Krise erwachte sein religiöses Innenleben und mit ihm der begeisterte, hoffnungsfreudige Drang, etwas zu wirken in der Welt. Und in der Zuversicht, sich damit den Weg zu solchem Wirken zu bahnen, entschied sich R. nach reiflicher Erwägung endgültig für die Theologie. Die Classiker wurden ihm darum nicht fremd, und noch dem Innenleben des gereiften Mannes verlieh das Nebeneinander von biblischer und classischer Lebensweisheit ein humanistisches Gepräge.

Für das Studium der Theologie bestanden damals und bis 1870 zwei Anstalten nebeneinander. Nachdem die alte deutsche Universität in der Revolutionszeit untergegangen, war 1802 zur Ausbildung der Geistlichen das Protestantische Seminar errichtet worden, das gleich der alten Universität finanziell auf den Kanonikaten des Thomas-Stifts beruhte und darum zur [581] Rechtsnachfolgerin derselben erklärt worden war. Neben dieser kirchlichen Schule war aber 1818 eine kleine staatliche theologische Facultät errichtet worden, die indeß so gering dotirt war, daß ihre wenigen Professuren mit den entsprechenden des Seminars fast immer durch Personalunion verbunden waren. An beiden Anstalten aber sah es traurig aus. Mit Haffner, Dahler, Redslob ging eine Docentengeneration zur Neige, die wissenschaftlich nie auf der Höhe gestanden und im Alter völlig stagnierte; einzig Friedr. Bruch, Reuß’ späterer langjähriger College, der eben in seinen Anfängen stand, wußte die akademische Jugend zu fesseln. Der Lehrplan war lückenhaft, Seminare gab es nicht, und keiner der Professoren trat in persönliche Beziehungen zu den Studenten. So wurden, was die wissenschaftliche Ausbildung betrifft, bei dem Mangel an jeglicher Leitung diese Jahre für den jungen Theologen trotz allen Fleißes eine Zeit des unsicheren Tastens und des Irrens. Ein wahrer Abscheu gegen die landläufige rationalistische Exegese, die ihm Haffner in ihrer ganzen Plattheit darbot, begleitete ihn fortan durchs Leben. In anderer Hinsicht aber waren gerade diese Jahre für den Jüngling besonders sonnig und grundlegend. Er war der Mittelpunkt der gesammten Studentenwelt, namentlich aber eines gleichstrebenden, idealgesinnten Freundeskreises. In dieser enthusiastischen Atmosphäre erwuchsen in ihm Glaube, Schaffensdrang, Zukunftsfreudigkeit; dankbar hat er bekannt, daß ihn Gott damals durch Freunde erzogen.

Auf die Straßburger Studienjahre folgten die Wanderjahre. Nachdem R. im August 1825 sein theologisches Examen bestanden, verbrachte er den Winter in Göttingen, den folgenden Sommer in Halle. Hatte ihn auf der hannoverschen Hochschule bloß der alte Eichhorn angezogen, so wurde der Aufenthalt in Halle, wo er bei Wegscheider und Gesenius wie ein Kind im Hause verkehren durfte, für seine Entwicklung von entscheidender Bedeutung; denn hier erst gingen ihm Methode, Geist und Ziele wahrhaft wissenschaftlicher Theologie auf. Nachdem er den Winter zu Hause verbracht, begab sich R. im Frühjahr 1827 zu fast einjährigem Aufenthalte nach Paris, um bei dem berühmten Sylvestre de Sacy orientalische Studien zu treiben. Er hatte hier das Glück, mit den Größen des französischen Protestantismus in persönliche Beziehung treten zu dürfen, und das noch größere, in seinem um einige Jahre älteren Landsmanne Joh. Jak. Bochinger, der ebenfalls zu Studienzwecken hier weilte, den reifen und erfahrenen Freund zu finden, durch dessen Einfluß Ziele und Richtung des eigenen Lebens sich fester gestalteten.

Im April 1828 kehrte der junge Gelehrte endgültig in seine Vaterstadt zurück. Seine erste Thätigkeit bestand darin, im Gymnasium ein Jahr lang vertretungsweise Unterricht in den classischen Sprachen zu ertheilen, wobei es sich fügte, daß er in der ersten Classe Wilh. Baum, Ed. Cunitz und Ch. Schmidt, seine nachmaligen Collegen, unter seine besten Schüler rechnen durfte. Schon im Herbst dieses Jahres begann er an die Ausführung seines Lebensprogramms heranzutreten, indem er mit Bochinger die „Theologische Gesellschaft“ gründete. Im folgenden Jahre bestand er seine Licentiatenprüfung und trug sich gerade mit dem Plane der Gründung eines kirchlichen Blattes, als die Julirevolution ausbrach. Sie warf R. für ein Jahr in die Politik; 1831 war er einige Monate hindurch Redacteur einer conservativen Zeitung, die sich indeß nicht halten konnte. Nach dieser „größten Dummheit seines Lebens“ versuchte er sich zuerst zu Hause vor engeren Kreisen von Studenten in kleineren Vorlesungscyklen und begann dann, auf Bruch’s Zureden und sofort mit großem Erfolg, am Protestantischen Seminar Vorlesungen zu halten. 1834 wurde er, gerade als er, infolge von Ueberarbeitung zusammengebrochen, wochenlang zwischen Tod und Leben schwebte, zum außerordentlichen, 1836, zum ordentlichen [582] Professor am Seminar ernannt. 1838 wurde er zugleich zum Professor an der Facultät bestellt, wobei das Curiosum zu vermerken ist, daß er 26 Jahre lang einfacher chargé de cours blieb, weil er das französische Doctordiplom nicht besaß, noch darum einkommen wollte; erst 1864 wurde die Sache durch die Collegen geregelt und R., der längst eine Berühmtheit war, zum professeur titulaire ernannt. Nachdem seine äußere Stellung gesichert war, gründete R. im Mai 1839 seinen Hausstand, indem er seine Nichte Julie Himly heimführte.

Die Vorlesung über Moral, die er an der Facultät zu halten gehabt hätte, seinem Collegen Bruch überlassend, concentrirte sich R. an beiden Anstalten auf das Neue Testament, nebenbei auch Encyklopädie, Symbolik und Geschichte der protestantischen Theologie vortragend und zu Hause gelegentlich einen Cursus im Arabischen haltend. Sein erstes größeres Werk, die 1842 erschienene „Geschichte der H. Schriften Neuen Testaments“, trug ihm im Frühjahr 1843 von seiten der Jenenser Facultät den theologischen Doctortitel ein, dem ein halbes Jahr später ein ehrenvoller Ruf auf den Lehrstuhl von Baumgarten-Crusius folgte. Nach längerem Schwanken schlug ihn R. aus. Die schmerzlichen Erfahrungen des Jahres 1848, in dessen allgemeinem Trubel R. allein den Muth fand, den Studenten ob ihres an die Professoren gerichteten Ultimatums die gebührende Antwort zu ertheilen; der Ingrimm über die politischen Zustände des zweiten Kaiserreiches und die nunmehr systematisch betriebene Verwelschung des Elsasses; die auch unter der Studentenschaft sich ständig ausbreitende orthodox-confessionelle Strömung, von deren Anhängern er sich zum Theil gemieden sah – das alles ließ ihn in den folgenden Jahren seinen glücklichen Entschluß manchmal bedauern. Denn auch im Straßburger Lehrkörper fühlte sich R. damals vereinsamt. Bruch war eine von der seinigen zu verschiedene Natur, als daß sich ein näheres Verhältniß zwischen diesen beiden Männern hätte herausbilden können, und die Collegen erwiesen sich seinen oft etwas ungestümen, aber nothwendigen Reformvorschlägen unzugänglich. So war R. damals vielfach der unbequeme Neuerer, der Mann der Opposition, und fällte über Zustände und Personen herb ironische Urtheile.

Nicht als ob solche trübe Stimmungen seinen überaus beweglichen Geist eigentlich beherrscht hätten. Der stille Zauber der Natur auf dem ererbten väterlichen Landsitze – eine Stunde vor der Stadt am Eingang des Dorfes Neuhof gelegen –, den er sich damals zum Tusculum einrichtete, hob die manchmal eintretende Muthlosigkeit, und Arbeit und Beruf gaben seiner Seele immer wieder neuen Schwung. Die fünfziger Jahre ließen ihn die Uebermittelung deutscher theologischer Wissenschaft an den französischen Protestantismus als neue Lebensaufgabe ergreifen, das Jahr 1860 reifte auf Veranlassung seines Verlegers in ihm den Entschluß, mit den Freunden Baum und Cunitz die kritische Gesamtausgabe der Werke Calvin’s zu unternehmen. Gleichzeitig bot sich R. Gelegenheit, sein Verwaltungs- und Organisationstalent auf einem neuen Felde zu bethätigen. Auf das Drängen der Lehrerschaft selbst übernahm er 1859–65 die Leitung des Protestantischen Gymnasiums, das, seit der Neuordnung von 1802 dem Protestantischen Seminar unterstellt, regelmäßig einen der Professoren des Seminars zum Gymnasiarchen oder, wie man neuerdings etwas mißverständlich sagte, zum Director hatte. Indem er hier nothwendige Reformen einführte und nach dem großen Brande von 1860, der das alte Dominicanerkloster völlig in Asche legte, mit Einsetzung aller Kräfte den Wiederaufbau und die Reorganisation der Anstalt betrieb, hat er eine neue Blütheperiode der alten Sturm’schen Schule eingeleitet.

Die sechziger Jahre brachten mit dem Tode von Jung 1863, von Fritz und Matter 1864 bedeutsame Veränderungen im Lehrkörper. Ihre nächste Folge [583] für R. war die, daß er, am Seminar das Neue Testament seinem Freunde Cunitz überlassend, als Nachfolger von Th. Fritz das Alte Testament als Hauptfach übernahm. Ihre weitere Folge, daß, als mit durch Reuß’ Verdienst die Anschläge der Pariser Partei auf die Facultät abgeschlagen waren, gerade vor Thoresschluß die glänzendste Zeit der Straßburger Schule anbrach, die Zeit, da neben R. und Bruch Tim. Colani als glänzendster französischer Docent am Seminar und an der Facultät wirkte, Ch. Schmidt das ihm zukommende Fach der Kirchengeschichte erhalten hatte und Aug. Sabatier in seinen Anfängen stand. Es ist die Zeit, die R. infolge ihres regen wissenschaftlichen Lebens und des im Docentencollegium herrschenden Solidaritätsgefühles als die glücklichste Epoche seiner öffentlichen Wirksamkeit bezeichnet hat.

Die Ereignisse von 1870, mit denen ein Herzenswunsch von R. in Erfüllung ging, brachten neue Verhältnisse. An den schwierigen Verhandlungen über die Neuorganisation des theologischen Unterrichts, des Thomasstifts und des Protestantischen Gymnasiums hervorragend betheiligt, trat R. als deren erster Decan in die theologische Facultät der 1872 eröffneten neuen Universität ein, welche Facultät als theologische Lehranstalt die Fortsetzung zugleich der alten Facultät und des Seminars darstellte. Er hat ihrem Lehrkörper, über Altes wie Neues Testament lesend, noch 16 Jahre activ angehört. In der Universität, wo ihm die neuen altdeutschen Collegen stets besondere Verehrung bezeugten, in der Facultät und in dem neuorganisirten Thomascapitel, dem er in den siebziger Jahren zwei Mal als Director vorstand, war er gleichsam die lebendige Tradition. Seine Arbeitskraft blieb staunenswerth; in rascher Folge erschienen von 1874 an neben der rüstig fortschreitenden Calvinausgabe die 16 Bände seines französischen Bibelwerks. Das Jahr 1878 bescheerte ihm das schönste Fest seines Lebens, das Jubiläum seiner „Theologischen Gesellschaft“, wobei es R. zu besonderer Freude gereichte, daß eine große Zahl alter Schüler aus allen theologischen Lagern sich einträchtig um ihn scharte. Es folgte 1879 mit dem Licentiatenjubiläum die Huldigung der gesammten gelehrten Welt vor dem Altmeister, der die Curie damit präludirte, daß sie drei Tage zuvor sein Bibelwerk auf den Index setzte. Bei aller Geistesfrische konnte es nicht ausbleiben, daß, namentlich seit der schweren Erkrankung von 1880, auch ein R. dem Alter seinen Tribut zahlen mußte. Die neuen Verhältnisse in seinem engeren Heimathlande wie die Entwicklung von Welt und Wissenschaft brachten doch vieles, das ihm nicht sympathisch war. Seinem Unmuth über die immer mehr ins Einzelne gehende, oft minutiös werdende Art der biblischen Wissenschaft gab er sogar litterarischen Ausdruck; neuen Anschauungen und Hypothesen war er kaum mehr zugänglich. In seiner Art, seinen Arbeiten und seinen im hohen Alter eine mehr populäre Form annehmenden Vorlesungen blieb er der Vertreter einer früheren Generation, der, wie er selbst sagte, die Gegenwart fremd zu werden begann. Sein Ideal wäre gewesen, auf dem Katheder zu sterben; doch mußte er schließlich selbst einsehn, daß die Kräfte zur Fortführung der Lehrthätigkeit nicht mehr ausreichten. Es war ein denkwürdiger Tag, als er am 25. Juli 1888 seine letzte Vorlesung hielt. Nach wie vor aber blieb die Arbeit sein Leben. Neben der Calvinausgabe unternahm er eine deutsche Bearbeitung seines Bibelwerks. Als er eben das Neue Testament in Angriff nahm, waren seine Kräfte erschöpft; am 15. April 1891 schlief er friedlich ein. –

Eine Reihe von Eigenschaften, die man in dieser Weise nicht oft vereinigt findet, machen R. zu einem Lehrer und Gelehrten eignen Gepräges. Mit voller Unabhängigkeit des Urtheils, scharfem kritischem Blick, raschem Orientirungsvermögen auf den verschiedensten Gebieten verband er feinstes Formgefühl und [584] künstlerische Gestaltungskraft. Er war ein Meister des deutschen Stils, dem er wie sein Freund Karl Hase ein ganz persönliches Gepräge zu geben wußte; insonderheit machten ihn poetisches Gefühl und feines Anempfindungsvermögen zum genialen Uebersetzer orientalischer Poesie. Unterstützt wurden diese Gaben durch eine nie versiegende Arbeitsfreudigkeit und eine bei seiner schwächlichen Constitution doppelt in Erstaunen setzende zähe Arbeitskraft. Der unglaublich fleißige Gelehrte, der sich zu fast mechanischer Zeitausnutzung zwang und auch die trockenste Tagesarbeit mit peinlicher Genauigkeit leistete, war aber andrerseits ein Mann der genialen Intuition. Er hat grundlegende Erkenntnisse mehr divinatorisch erschaut als streng methodisch bewiesen, und mit an dieser Eigenart liegt es, daß er nicht im eigentlichen Sinne schulebildend gewirkt hat.

Wer im Elsaß den Namen Reuß nennt, denkt immer in erster Linie an den akademischen Lehrer. Sein freier Vortrag auf dem Katheder war, dem Verständniß der Hörer sich anpassend, schlicht sachlich, fast populär, dabei aber immer reich an geistvollen Bemerkungen und treffenden Charakteristiken, immer auf die Hauptsachen gerichtet, den kritischen und philologischen Einzelfragen wenig Raum gönnend, von Polemik fast absehend. Wo es aber der Stoff mit sich brachte, konnte er sich begeistert und begeisternd zu wirklicher Beredsamkeit erheben. Es redete hier ein Mann, das war das Geheimniß seines Erfolges, der von seinem Stoffe ganz hingenommen war; versichern doch solche, die R. in seiner großen Zeit gehört, unter den deutschen Theologen kaum einen gefunden zu haben, der ihm an spontaner rednerischer Kraft und Eindrucksfähigkeit gleichgekommen wäre. Und dieser Meister des Wortes ist nach einigen Mißerfolgen als Candidat der Kanzel völlig ferne geblieben, weil er, nicht im Stande, eine Rede zu memoriren, sich für unfähig erklärte, zu predigen! Das wichtigste aber war, daß R. im Unterschiede von seinen Collegen nicht bloß auf dem Katheder mit seinen Schülern verkehrte. Gerade die schmerzlichen Erfahrungen der eigenen Studienzeit ließen es die erste That des angehenden Privatdocenten sein, mit seinem Freunde Bochinger 1828 die „Theologische Gesellschaft“ ins Leben zu rufen, in deren Leitung ihn nach Bochinger’s frühem Tode (1831) seit 1836 sein Freund Cunitz unterstützte. In den beiden Sectionen dieser Gesellschaft, der theologischen und der philologischen, haben viele Generationen von Studirenden wissenschaftlich arbeiten und discutiren gelernt, insonderheit aber vielseitige persönliche Anregung empfangen. Als Archiv für wissenschaftliche Arbeiten von Mitgliedern der Gesellschaft waren die „Beiträge zu den theologischen Wissenschaften“ bestimmt, die R. und Cunitz eine Zeit lang herausgaben (6 Bde. 1847, 51–55). So gebührt dieser Gesellschaft, die in ihrer theologischen Section auch nach 1870 weiterblühte und von R. im Frühjahr 1886 mit ihrer 2000. Sitzung geschlossen wurde, ein Platz in der elsässischen Culturgeschichte.

R. vor Allem ist es gewesen, der mit Bruch und Ch. Schmidt der Straßburger Facultät unter den Stätten theologischer Wissenschaft den Ehrenplatz wieder erobert hat, den sie im 17. Jahrhundert behauptete. Ein großer Theologe war er freilich nur in dem historischen Theile der theologischen Wissenschaft. Das war nicht nur eine Folge der strengen Selbstbeschränkung auf sein Gebiet, die er sich zur Pflicht gemacht hatte, sondern hing mit seiner ganzen geistigen Art aufs engste zusammen. Es war seine Schranke, daß er, zu abstrakt philosophischem Denken nicht geschaffen, nicht bloß philosophischer Erklärung des Welträthsels und speculativer Begründung der Religion gegenüber ein unüberwindliches Mißtrauen hegte, sondern auch die principielle Bearbeitung der religiösen und ethischen Probleme kaum gebührend zu würdigen [585] vermochte und daher der systematischen Theologie keinerlei Sympathie entgegenbrachte. Denn wenn er selbst gelegentlich von dieser Schranke seines Wesens spricht, so hat man das Gefühl, daß die leise Ironie seines Bedauerns im Grunde weniger dem eigenen Unvermögen als den in Rede stehenden Disciplinen selber gilt. Ein Gelehrter von europäischem Ruf dagegen wurde R. als einer der ersten, und jedenfalls der geistvollste und formgewandteste Vertreter der kritischen Bibelwissenschaft in und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Er pflegte seine Ansichten langsam ausreifen zu lassen, bis er mit ihnen ans Licht trat. Seine erste Arbeit waren die feinsinnigen „Ideen zur Einleitung in das Evangelium Johannis“ (Denkschrift der Theol. Gesellschaft zu Straßburg 1840), mit denen er der Begründer der These wurde, daß das vierte Evangelium nicht einen historischen Bericht, sondern eine Lehrschrift in geschichtlicher Form darstelle. Es folgte sein Hauptwerk auf neutestamentlichem Gebiete, die „Geschichte der H. Schriften Neuen Testaments“. In der ersten Auflage von 1842 eine Skizze, gewann sie in der zweiten von 1853 (3. Aufl. 1860, 4. 1864) ihre endgültige Gestalt, von der der Verfasser auch in den letzten Auflagen (5. 1874, 6. 1887) nicht abgehen wollte, obwohl seine inzwischen doch mannichfach veränderte Auffassung einzelner Schriften eine weitgehende Umarbeitung des grundlegenden ersten Theils erfordert hätte. Schon rein litterarisch eine Leistung, suchte das Werk die Disciplin der sog. Einleitung ins Neue Testament zu einem organischen Ganzen zu gestalten, indem es nacheinander behandelte: die Entstehung der neutestamentlichen Schriften, ihre Sammlung zu einem Canon, die Geschichte der Handschriften, der Uebersetzungen und des gedruckten Textes, endlich die Geschichte des Gebrauchs dieser Schriften in der christlichen Theologie, d. h. die Geschichte der Exegese. Der erste Theil gestaltete die Geschichte des neutestamentlichen Schriftthums zu einer vollständigen Litteraturgeschichte des Urchristenthums, eine methodologische Neuerung, die, principiell wie geschichtlich betrachtet, den richtigsten Weg betrat, aber freilich weder dem Titel entsprach noch zu den folgenden Abschnitten des Buches paßte, die ausschließlich das neutestamentliche Schriftthum zum Gegenstande hatten. Waren schon in diesem Werke die sonst nicht in die sog. Einleitung einbezogenen Partien, insbesondere die Geschichte der Exegese, die wissenschaftlich bedeutendsten, so hat R. in der Folgezeit auf dem Gebiete der mittelalterlichen Bibelgeschichte Bahnbrechendes geleistet mit seinen Untersuchungen über „die deutsche Historienbibel vor der Erfindung des Bücherdruckes“ (Beiträge zu den theol. Wissensch. VI, 1855; auch separat) und über die Geschichte der französischen Bibel im Mittelalter und die ersten Drucke derselben (Fragments littéraires et critiques relatifs à l’histoire de la Bible française, in Colani’s Revue de théologie, première série Bd. 2, 4–6, 14, 1851–53, 1857; troisième série Bd. 3–5, 1865–67). Andrerseits hat er in seiner Bibliotheca Novi Testamenti Graeci (1872) die Entwicklungsgeschichte des gedruckten griechischen Textes aufgehellt, indem er eine Liste von 584 gedruckten Ausgaben bot, diese zu Ausgabenclassen gruppirte und ihr gegenseitiges Verhältniß durch Vergleichung von tausend wichtigen Stellen nachwies, eine für Reuß’ Benedictinerfleiß und Sammeleifer besonders bezeichnende Arbeit, die nur Einer leisten konnte, der wie er selber ein halbes Tausend griechische Ausgaben des Neuen Testaments besaß.

Die innere Seite der im ersten Theile der „Geschichte“ geschilderten Entwicklung brachte für ein französisches Publicum zur Darstellung die „Histoire de la théologie chrétienne au siècle apostolique“ (2 Bde. 1852, 3. Aufl. 1864). Vorangegangen war ihr seine Studie über „die [586] Johanneische Theologie“ (Beiträge zu den theol. Wissensch. I, 1847, 2. Aufl. 1851), deren mystische Gedankenwelt R. mit besonders glücklichem Anempfindungsvermögen zu erfaßen wußte. In den beiden Hauptwerken geht das Bestreben des Verfassers dahin, die Entwicklung des Urchristenthums geschichtlich zu begreifen. Das führt ihn zu einem Geschichtsbilde, das als Ganzes wie in vielen Einzelheiten sich mit der Conception der Tübinger Schule berührt, aber bezüglich der Echtheitsfragen und der zeitlichen Ansetzung der einzelnen Schriften weit conservativeres, in der Charakteristik der verschiedenen Richtungen soz. vermittelnderes Gepräge aufweist. R. hat die Probleme weniger scharf gefaßt und zugespitzt als die Tübinger, von denen er sich übrigens ignorirt sah; er imponirte nicht wie jene durch die Straffheit und Kühnheit eines geschichtlichen Aufrisses, dessen einzelne Phasen sich wie mit logischer Nothwendigkeit auseinander zu ergeben schienen. Aber eben weil er weniger a priori construirte, ließ ihn sein geschichtlicher Instinkt vielfach richtiger sehen und der concreten Mannichfaltigkeit besser gerecht werden, insonderheit die Entstehung des gemeinchristlichen Bewußtseins der werdenden katholischen Kirche anders und für eine viel frühere Zeit verständlich machen als den Tübingern möglich war. Gerade dieser historische Sinn, den weder dogmatische noch philosophische Voraussetzungen in der concreten Verlebendigung der Vergangenheit beirrten, ist es auch gewesen, der R. als einem der Ersten die Forderung rein historischer Exegese nicht bloß zu stellen, sondern zu verwirklichen ermöglichte.

Auf seinem Lieblingsgebiete, dem des Alten Testaments, ist R. erst später mit größeren Arbeiten hervorgetreten. Seine Gabe genialer Intuition aber hat sich hier am glänzendsten bethätigt. Schon 1834 – ein Jahr vor dem Erscheinen von Wilh. Vatke’s Biblischer Theologie, die um ihres Hegel’schen Gewandes willen leider auch R. unbeachtet ließ – hatte er die die herkömmliche Vorstellung von der Entwicklung der israelitischen Religion und Litteratur umstürzende These aufgestellt, das Gesetz sei jünger als die Propheten, die Psalmen jünger als beide. Doch hatte er diese Ansicht nur gelegentlich in Recensionen angedeutet und 1850 in Ersch und Gruber’s Encyklopädie eine auf dieser Voraussetzung beruhende Skizze der israelitisch-jüdischen Religionsentwicklung gegeben (Sect. II, Bd. 27, Art. Judenthum), die um ihres versteckten Ortes willen keine weitere Beachtung fand. Eben im Jahre 1834 aber hatte sich unter seinen Schülern Karl Heinr. Graf befunden, der, als Professor an der Landesschule in Meißen in fortgehendem wissenschaftlichem Austausch mit dem zum Freunde gewordenen Lehrer, in seinem Werke „Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments“ (1866) diese Anregungen bahnbrechend ausbaute; ein weiterer Schüler von R., August Kayser, zuletzt sein College († 1885), schloß sich ihm an („Das vorexilische Buch der Urgeschichte Israels“ 1874). Eine auf dieser neuen Grundlage fußende Gesammtdarstellung ließ R., der bereits in seinem französischen Bibelwerk seine inzwischen weiter ausgebaute Geschichtsauffassung vertreten hatte, erst 1881 als „Geschichte der H. Schriften Alten Testaments“ erscheinen (2. Aufl. 1890), drei Jahre nachdem Jul. Wellhausen als der siegreiche Anwalt der bisher sog. Graf’schen Hypothese aufgetreten war. Dieses die gesammte israelitische und jüdische Litteratur- und Religionsgeschichte im Rahmen der nationalen und culturellen Entwicklung in genialem Wurfe zur Darstellung bringende Werk ist fraglos Reuß’ glänzendste Leistung; längst in Angriff genommen, bietet es den Ertrag seiner Arbeit auf alttestamentlichem Gebiete. Allerdings aber war es so lange im Pulte zurückgehalten worden, daß es gegenüber dem, was im letzten [587] Jahrzehnt erarbeitet worden war, in vielen Einzelfragen einen etwas älteren Stand der Forschung widerspiegelte.

Am längsten wird Reuß’ Name genannt werden in Verbindung mit der monumentalen Gesammtausgabe der Werke Calvin’s, die er mit seinen Collegen und Freunden Joh. Wilh. Baum und Ed. Cunitz 1860 unternahm (59 Quartbände 1863–1900; Corpus Reformatorum Tom. 29–87). Sie veranlaßte ihn zu mehreren wissenschaftlichen Reisen, führte ihn insonderheit jahrelang in den Herbstferien nach Genf. Dem Organisationstalent und der, wie er es nannte, Expedirfähigkeit von R. war das rasche Voranschreiten des Riesenwerkes vor allem zu verdanken. Und, da Baum († 1878) schon bald nach 1870 unheilbarer Krankheit verfiel und Cunitz 1886 starb, hat R., zeitweise mit Unterstützung jüngerer Theologen, auch hier die meiste Arbeit geleistet; so sehr, daß nach seinem Tode die letzten 12 Bände von Alfr. Erichson aus seinem Nachlasse veröffentlicht werden konnten.

Wichtiger aber als alle diese gelehrten Leistungen ist die Thatsache, daß R. in erster Linie es gewesen ist, der dem französischen Protestantismus die Resultate, insonderheit aber die Methode und den wissenschaftlichen Geist der deutschen historisch-kritischen Bibelwissenschaft vermittelt hat.

Seine Jugend war in eine Zeit gefallen, da das Elsaß nach Sprache und Cultur noch ein wesentlich deutsches Land war, obwohl sich seine Bewohner seit der Revolutionszeit politisch durchaus als Franzosen fühlten. Und R. war sich nicht nur stets bewußt, mit seiner Wissenschaft im deutschen Geistesleben zu wurzeln, sondern er gehörte zu den wenigen, die die Ueberzeugung verfochten, daß der Elsässer nur durch Festhalten an deutscher Art und Sprache sein geistiges Sein zu bewahren im Stande sei. In seiner Vorrede zu den Gedichten seines Landsmanns Daniel Hirtz hatte er 1838 der eindringenden französischen Art sein trotziges „Wir reden deutsch“ entgegengehalten und diesem Worte eine beredte und herzbewegende Auslegung gegeben. Und in der Napoleonischen Zeit erfüllte ihn die rasche Verwelschung des Elsasses, in der er sich als einer der letzten Vertreter einer untergehenden Welt vorkam, mit Trauer und Bitterkeit. Das hinderte ihn indeß nicht, französischer Art gerecht zu werden und dem französischen Protestantismus seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Um der französischen Studenten willen hielt er seit 1849 einen Theil seiner Vorlesungen in französischer Sprache. Sein Colleg über die Theologie des Neuen Testaments, mit dem er begann, machte solchen Eindruck, daß die Studenten aus Genf und Montauban ihn in Adressen um dessen Veröffentlichung angingen. Auch andere Anzeichen deuteten darauf hin, daß im französischen Protestantismus, der sich seit seiner Neuconstituirung entweder an einem phrasenhaften rationalistischen Moralismus oder einer kindlichen théologie du réveil hatte genügen lassen, der wissenschaftliche Geist, der ihn einst ausgezeichnet, sich von neuem regte. R. verstand diese Zeichen der Zeit und hielt es für seine Pflicht, der neuen Aufgabe, die Zeit und Ort seines Wirkens ihm stellten, seine Kräfte zu widmen. So begann mit seiner „Histoire de la théologie chrétienne au siècle apostolique“ (2 Bde., 1852, 3. Aufl. 1864), die in manchen französischen Kreisen wie eine Offenbarung wirkte und ins Englische, Holländische und Schwedische übersetzt wurde, seine theologische Schriftstellerei in französischer Sprache. Zu ihrer Fortsetzung hatte er die Gründung einer französischen theologischen Zeitschrift ins Auge gefaßt. Als dieser Plan sich zerschlug, wurde er der bedeutendste Mitarbeiter an Colani’s Revue de théologie et de philosophie chrétienne, die allerdings dem eignen Plane nicht ganz entsprach. Er hat in ihren drei Serien (1850–69) 44 z. Th. sehr umfangreiche Artikel veröffentlicht, von denen einige, [588] besonders die „Histoire du Canon des Écritures saintes“ (1863, 2. Aufl. 64), auch als Buch erschienen. Den Abschluß und theilweise die Zusammenfassung dieser Arbeiten bildete das große französische Bibelwerk („La Bible, traduction nouvelle avec introductions et commentaires“, 16 Bde. 1874–81). R., der einzige Theologe des 19. Jahrhunderts, der die ganze Bibel übersetzt und erklärt hat, bewährte in diesem auf den weiteren Kreis der Gebildeten berechneten Werke seine Virtuosität, schwierige kritische Probleme klar und durchsichtig darzustellen und auch die Einzelauslegung anziehend zu gestalten. Von der deutschen Bearbeitung, dem letzten Unternehmen des 85jährigen Gelehrten, konnte das Alte Testament aus dem Nachlasse herausgegeben werden (Das A. T. übersetzt, eingeleitet u. erläutert von E. R., herausgeg. v. Alfr. Erichson u. Ludw. Horst, 6 Bde. 1892 ff.). Es ist ewig schade, daß diese deutsche Bearbeitung nicht ein Menschenalter früher erschienen ist. Denn die, zumeist aus viel früherer Zeit stammende, freie Uebersetzung, zumal die schon früher erschienene des Buches Hiob („Hiob“ 1888), offenbart in glänzender Weise Reuß’ Sprachmeisterschaft und Uebersetzungskunst. Sie vermag besser als alle andern dem Gebildeten einen Eindruck von der Größe insonderheit der poetischen Litteratur des Alten Testaments zu vermitteln, während die Wirkung des französischen Bibelwerkes dadurch beeinträchtigt wurde, daß es eben nicht aus dem Geiste der französischen Sprache herausgeboren war. Das ändert nichts an der Thatsache, daß an der Neubegründung einer wissenschaftlichen Theologie im französischen Protestantismus Ed. Reuß in erster Linie schöpferisch betheiligt war. Hierin liegt letztlich seine geschichtliche Bedeutung. –

R. war ein überaus beweglicher und vielseitiger Geist. In seiner Jugend ein weiches Gemüth von enthusiastischer Empfänglichkeit, hat er sein Leben lang von dem Capital seiner Jugendfreundschaften gezehrt. In Straßburg fand er nach Bochinger’s frühem Tode (1831) fast für sein ganzes ferneres Leben seinen alter ego in Eduard Cunitz, dem er sich nicht nehmen ließ die Gedenkrede zu halten, und mit seinem Schüler Heinrich Graf im fernen Meißen verband ihn bis zu dessen Tode (1869) eine in regelmäßigem Briefwechsel sich bekundende innige Freundschaft (Ed. Reuß’ Briefwechsel mit K. H. Graf, herausgeg. v. K. Budde u. H. J. Holtzmann 1904). Leere Geselligkeit und jegliche Art von Repräsentation waren ihm ein Greuel. Wo er sich aber in einem Kreise wohl fühlte, wie z. B. auf den von ihm öfters besuchten Orientalistenversammlungen, da sprühte er in der Unterhaltung wie als Gelegenheitsredner von Geist und Witz. In seinen Aeußerungen trat dann wohl auch der satirische Zug zu Tage, der ihm oft um den Mund spielte und sich gelegentlich auch in der einen oder andern wissenschaftlichen Arbeit geltend machte (Vgl. bes.: „Der 68. Psalm, ein Denkmal exegetischer Noth und Kunst“, Beiträge zu den theol. Wissensch. III, 1851; auch separat), und dieser Umstand vor allem hat ihm die Todfeindschaft des immer pathetischen Heinr. Ewald eingetragen.

R. gehörte nicht zu denen, die von ihrem Innenleben viele Worte machen. Am meisten ließ er davon durchblicken in seinen Reden an der jährlichen Festsitzung seiner „Theologischen Gesellschaft“, deren schönste er zu ihrem Jubiläum herausgab („Reden an Theologie Studirende“ 1878, 2. Aufl. 1879). Einen wirklichen Einblick in die schlichte Frömmigkeit, die den verborgenen Grund seines Wesens bildete, hat indessen erst sein Briefwechsel mit Graf geboten.

Das Ungenügen des landläufigen theologischen Rationalismus, den er in seiner Schul- und Studienzeit genugsam kennen gelernt hatte, war ihm bei dem reichen Gemüthsleben seiner Jugendjahre bald aufgegangen. Und gerade in diesem Enthusiasmus seiner Studentenzeit bekannte er „seinen Gott und [589] seinen Glauben gefunden zu haben, in sich selbst und in der Freundschaft“. Damit war gegeben einmal ein mystischer Zug, der alle edeln Kräfte und Aspirationen der eignen Seele als Gotteswirkungen empfand und in ihnen Gottes und der Gottesgemeinschaft inne wurde, andrerseits die Erfahrung, daß religiöses Leben nicht durch Lehre, sondern durch persönliche Berührung mit Höherstehenden geweckt werde. An der Spitze dieser Letzteren stand ihm, graduell, nicht generell von den andern verschieden, die Gestalt des historischen Jesus. Der Wirklichkeit seiner Erlösungskraft wurde er dadurch inne, daß er in geistiger Gemeinschaft mit ihm, als wäre er sein persönlichster Freund, zu leben und zu streben suchte. In solcher Gemeinschaft, gottgegebene Kraft nützend – „du sollst und du kannst, denn du sollst“ –, freudig und tapfer das Werk Gottes zu wirken in der Welt im Bewußtsein, daß Arbeit und Kampf das wahre Leben des Geistes ist, war die Grundstimmung seines Lebens; und ein Fortschreiten dieses Geistes in weiterem Wirken und Ringen erwartete er auch im jenseitigen Leben, ohne daß ihn der Dinge Lauf der barste Unsinn dünkte. Er hat gelegentlich seinen Standpunkt als einen durch den Eindruck der Persönlichkeit Jesu religiös erwärmten Kantianismus bezeichnet. Jedenfalls war diese schlichte und tapfere Frömmigkeit, die in den Worten Jesu die höchste Lebensweisheit erblickte, der paulinisch-augustinischen Auffassung des Christenthums, die eben im neuerstarkenden Pietismus und in andrer Weise dann in dem neuen lutherischen Confessionalismus ihre Auferstehung erlebte, durchaus und bewußter Weise entgegengesetzt.

R. wußte wohl, daß diese seine Art nicht für jedermann sei und wollte sie niemandem aufzwingen. Er vermochte die verschiedenen Richtungen als Historiker zu würdigen und wußte, daß sie ihre Zeit haben müßten. Ein Parteimann im engeren Sinne war er nicht, und jegliche Art von Radicalismus war ihm zuwider. Nicht nur daß ihm Schüler aus allen Lagern gleich lieb waren, wofern sie nur Ernst und Arbeitseifer bewiesen; auch seine kirchenpolitische Stellungnahme entbehrte eines conservativen Grundzuges nicht, der auch seinen politischen Anschauungen eignete. Es hängt dies damit zusammen, daß R. aristokratisch empfand und darum auf politischem wie kirchlichem Gebiet die durch den Stimmzettel ausgeübte Herrschaft der Masse für nicht minder gefährlich hielt als den Absolutismus. –

Wenigen Gelehrten ist es vergönnt gewesen, sich so völlig auszuleben wie R. Als am 17. April 1891 ein langer Zug seinem Sarge folgte, war das Gefühl allgemein, daß mit ihm ein Stück altelsässischer Tradition und einer jener theologischen Charakterköpfe dahingegangen sei, die in unserer Zeit fortgehender Specialisirung immer seltener werden. Seine werthvolle Bibliothek, die die größte Sammlung von Drucken des griechischen Neuen Testaments einerseits, von Calvindrucken andrerseits einschließt, ist durch Kauf in den Besitz des Thomas-Stifts (dem Cunitz als Mitbesitzer der Calviniana seinen Antheil testamentarisch vermacht hatte) übergegangen und der Straßburger Universitäts- und Landesbibliothek einverleibt. Seine von dem Berliner Bildhauer Herter in sprechender Aehnlichkeit modellirte Marmorbüste ziert den Lichthof des neuen Collegiengebäudes. Für die letzte Epoche der alten Facultät wird der Name Reuß als der ihres glänzendsten Sternes bezeichnend bleiben.

H. J. Holtzmann, Ed. Reuß. Nachruf. Protestantische Kirchenzeitung 1891, S. 385–393. – Th. Gerold, Eduard Reuß 1892 (Separatabdruck aus dem „Vogesengrün“ 1892); derselbe, Edouard Reuß, notice biographique 1892 (87 Seiten; die bis jetzt ausführlichste Biographie mit einem chronologischen Verzeichniß der Werke von Reuß). – P. Lobstein, Art. Reuß: Realencyclopädie [590] für protest. Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. XVI (1905), S. 691–696 (im Eingang wird hier noch eine Reihe von Nachrufen verzeichnet).

[579] *) Zu Bd. LIII, S. 304.