ADB:Baumgarten-Crusius, Ludwig Friedrich Otto
Karl Wilhelm. Mit diesem seinem fast drei Jahre älteren Bruder durchlief er die Fürstenschule zu Grimma, deren Rector Sturz im Jahre 1805 dem siebenzehnjährigen sagte: „Mache er daß er fortkommt, hier kann er nichts mehr lernen.“ In Leipzig, wo sein Bruder mitdem theologischen Studium anfangend zur Philologie überging, fing B. mit dieser an, angeschlossen mehr an Beck als an Gottfr. Hermann, doch auch dessen Unterricht benutzend; später hörte er wol auch Wolff, Keil u. a. und war seit 1807 Mitglied des Collegium philobiblicum, aber noch mehr als Vorlesungen förderte ihn, was ihm schon von hier an zu einer erst mit seinem Todestage endigenden Lebensgewohnheit wurde, das rastlose Alles um sich her gering achtende Studiren aus Büchern, deren Inhalt ihm bei seinem fabelhaften Gedächtnisse stets unvergeßlich blieb. Auch zur Vorbereitung auf ein theologisches Examen im Jahre 1808 reichte dies mit aus, nach welchem Reinhard seinen Vater selbst aufforderte, den Sohn „die akademische Laufbahn wählen zu lassen“; aber in der philosophischen Facultät habilitirte er sich im Jahre 1809, und seine ersten sogleich stark besuchten Vorlesungen hatten Plato und die Systeme der neueren Philosophie zum Gegenstande; schon nach diesen Antecedentien wurde er auf Beck’s und Eichstädt’s Empfehlung 1812 als außerordentlicher Professor der Theologie nach Jena berufen. Damit endigt schon seine äußere Geschichte, denn Jena, wo er dann 1817 eine ordentliche Professur erhielt und nachher in die ersten Stellen aufrückte, verließ er nicht wieder, auch nicht auf Ferienreisen, deren er bei seiner starken Gesundheit nicht bedurfte und die er bei seinem Bedürfniß unausgesetzter Arbeit nicht ertragen hätte; wie Kant keine Stadt als Königsberg gesehen hatte, so auch B. kein anderes Land als Sachsen; drei Geschäftsreisen an die die Universität Jena erhaltenden sächsischen Höfe waren seine einzigen Reisen von Jena aus in 31 Jahren. Auch seine im Jahre 1817 geschlossene Ehe änderte an seiner Lebensweise fast nichts, denn während er, unfähig von seiner täglich 12 bis 14stündigen [163] Arbeitszeit etwas abzugeben, seiner Schwiegermutter die Pflege seiner einzigen Tochter und beinahe auch die seiner Frau fast gleichgültig und darüber scherzend allein überließ, führte er ohne Unfriede mehr neben als mit den Seinigen sein gewohntes Gelehrtenleben völlig ununterbrochen fort, fern auch von sonstiger Geselligkeit, geschützt vor Misere der Alltäglichkeit auch durch seinen Wohlstand und seine Bedürfnißlosigkeit, in Frieden mit allen Menschen, wenn auch ohne viel Berührung mit ihnen, sicher im Selbstgenuß seiner unausgesetzten Anstrengung und ihres reichen Ertrages, glücklich durch den bloßen Anblick seiner Zuhörer, wenn auch ohne viel Verkehr mit ihnen, Unterbrechungen der Arbeit etwa durch Besuche nicht zu ernsten Reden sondern als Pausen benutzend, wo er sich mit liebenswürdiger Heiterkeit und reichem Humor einer spielenden Behandlung der sehr vielen Dinge, welche ihm als Kleinigkeit erschienen, hingab. Aber eben dieser Studiengang bei dieser Lebensweise und die unermeßliche Belesenheit, welche davon die Frucht bei ihm war, der Weg besonders durch die ganze griechische Philosophie bis zu den Neuplatonikern bereitete ihn am besten für die theologische Wissenschaft vor, in welche nun seine ganze Bildung und fast auch sein Charakter aufging, für die Dogmengeschichte. „Es winken sich die Geister aller Zeiten“, diese Worte ließ er einst im Facsimile unter sein lithographirtes Portrait setzen; sie bezeichnen den „Schatz, wo sein Herz war“, die nicht skeptische sondern optimistische Freude an einem Consensus für das Höchste in allen Menschengeistern, und noch etwas mehr an der tausendfachen Vielgestaltigkeit ihrer Sprachen dafür, deren Nüancen er mit unübertrefflichem Scharfsinn auseinanderzuhalten und in ihrem Verhältniß zu einander zu bestimmen wußte, aber viel zu sehr als berechtigten Reichthum anerkannte, als daß er sich hätte bemühen mögen eine davon als alleinige Wahrheit zu erweisen oder gar exclusiv und parteinehmend blos für sie zu streiten. Diese Vertiefung in das Specielle und Einzelne sicherte ihn vor dem Fehler des oberflächlichen Generalisirens, hielt ihn aber auch von urtheilsvoller Würdigung und Verarbeitung seines reichen historischen Stoffes zu weit entfernt; und wo ihm dieser unbezwungen durch ein nach wichtig und unwichtig unterscheidendes Urtheil über den Kopf wuchs, litt dann auch seine Darstellung, welche er auch noch durch den edeln Gelehrtenstolz beschädigte, daß er in seinen Schriften nicht gern Wohlbekanntes (und dazu rechnete er viel) wiederholen mochte und nur Schriften gab, worin er die Hauptsachen, welche zu Glück am bekanntesten sind, nicht genug hervorhob oder ganz wegließ, auch lieber feine Andeutungen und Anspielungen als umständliche Auseinandersetzungen darin lieferte. Hiedurch haben seine Werke ihre Brauchbarkeit mehr für die Kenner des Faches, welchen sie allenthalben werthvolle Berichtigungen im Einzelnen anzubieten haben, als für die Lernenden, und haben wol deshalb eine viel geringere Ausbreitung erhalten; so sein „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ (Jena 1832), sein „Compendium der Dogmengeschichte“ (Leipzig 1840–46); so seine „Einleitung in die Dogmatik“ (Leipzig 1820) und sein „Grundriß“ derselben (Jena 1830); so sein „Lehrbuch der christlichen Sittenlehre“ (Leipzig 1826), ebenso die in seinen „Opusculis academicis“ 1836 vereinigten ausgezeichneten Abhandlungen und so auch seine „Grundzüge der biblischen Theologie“ (Jena 1828). So war denn auch in seinen akademischen Vorlesungen seine Darstellung oft gelungener und fließender als in seinen Büchern, da er bei Zuhörern nicht wie bei den Lesern, für welche er schrieb, die Hauptsachen voraussetzen also weglassen konnte; in seinen exegetischen Vorträgen übte er auch nicht die sonstige Schonung gegen fremde Meinungen, welche sein eigenes Urtheil darüber ungewiß lassen konnte, sondern hier entschied er sich im Gefühl seiner philologischen Sicherheit immer sehr bestimmt. Mit den Jahren würde er zu seinem Reichthum an Wissen auch immer mehr die Herrschaft darüber, die [164] Vollendung der Form gewonnen haben. Desto größer war der Verlust für seine Universität, welche er in schwierigen Lagen muthig und einsichtsvoll zu vertreten wußte, wie für die Wissenschaft, daß er ganz plötzlich ohne eine Krankheit vorher in der Fülle seiner Kraft von einem Schlage getroffen wurde, der sein Leben augenblicklich endigte.
Baumgarten: Ludwig Friedrich Otto B.-Crusius, geb. zu Merseburg 31. Juli 1788, † zu Jena 31. Mai 1843, Bruder von- Ueber B. schrieben: W. Grimm im Neuen Nekrolog der Deutschen 1843, I. S. 515–34, E. Henke in Bruns’ Repert. f. theol. Litt. I. S. 89–96, Ed. Schwarz in Herzog’s Encycl. I. S. 472, K. Hase vor dem von ihm herausg. Bd. 2 von Baumgarten’s Compendium der Dogmengeschichte. Eine lat. Gedächtnißrede von A. Eichstädt (Jena 1843 in 4.) steht auch in Illgen’s Zeitschr. f. hist. Theol. 1844 S. 156–88. Ein vollständiges Verzeichniß von Baumgarten’s Schriften und Abh. ist dem Nekrolog von Grimm angehängt.