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Artikel „Stieve, Felix“ von Karl Mayr-Deisinger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 524–534, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stieve,_Felix&oldid=- (Version vom 10. Oktober 2024, 12:06 Uhr UTC)
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Stieve: Felix St., Historiker, geboren am 9. März 1845 zu Münster, † am 10. Juni 1898 zu München, stammte aus rein westfälischer Familie. Einer seiner Vorväter war im 18. Jahrhundert in Paderborn vom Protestantismus zum Katholicismus übergetreten. Jugendbildner und Geistliche, gelehrte und religiöse Interessen finden sich seit langem in der Familie. Der Vater hat sich zunächst als hervorragender Schulmann bewährt, als einer jener Gymnasialdirectoren, die den Ruhm des preußischen Schulwesens ausmachen, die ihren Schülern einen unausrottbaren Idealismus für geistige Güter überlieferten. In einem kurzen, scharf umrissenen Lebensbild hat der Sohn ihn geschildert, wie er seit dem Jahre 1852 in Breslau als Regierungs- und Schulrath wirkend, die Verfolgung der Philosophie Anton Günther’s durch Rom, die Mißhandlung seines Freundes, des Domcapitulars Anton Baltzer durch den Fürstbischof Förster erlebte, und, obwohl er niemals aus seiner anticurialistischen Gesinnung einen Hehl gemacht hatte, dennoch im J. 1866 als vortragender Rath in die katholische Abtheilung des preußischen Cultusministeriums berufen wurde. Er gehörte jenem freien, aus der Romantik hervorgegangenen Katholicismus an, der sich bis zum Vaticanum als katholisch betrachten durfte, der mit unerschütterlicher Hoffnung an die Entwicklungsfähigkeit des Katholicismus, seine Aussöhnung mit der modernen Bildung glaubte und die absolutistischen Neigungen der Curie als eine national bedingte Erscheinung ansah, die keineswegs für das Wesen der Kirche maßgebend sei. Das hinderte diese Kreise nicht, mit strenger Gläubigkeit an den Dogmen zu hängen und sich trotz aller augenblicklichen Mängel und trotz aller „providentiellen Stürme“ für die Kirche zu begeistern und ihren Glauben in der Welt durch die That zu bekennen. Diese Empfindungen und Gedankenkreise wurden auch für den Sohn ausschlaggebend: in ihnen wuchs er heran; sie bestimmten seine Anschauungen und damit sein Geschick wie seine Wirksamkeit. Von seiner früh verstorbenen Mutter hatte er ein überaus weiches, Bewegungen leicht zugängliches Gemüth geerbt; seines Vaters blitzartig raschen Verstand, seine Gradheit und Festigkeit besaß auch er; leider nicht, wie er oft beklagte, infolge einer Gehirnentzündung, die er als Knabe durchmachte, den vollen Umfang seines phänomenalen Gedächtnisses, das ihm z. B. erlaubt hatte, eine Reihe provinzialer Gymnasien zu inspiciren und über sie zu berichten, ohne daß er sich auf der Reise auch nur die geringste Notiz über die Zustände hätte zu machen brauchen. Unter der liebevollen Leitung des Vaters, zu dessen Hausfreunden neben Baltzer auch der warme, geistvolle und heitere Reinkens und der junge Historiker Cornelius zählte, entwickelte sich St. frühzeitig. Mit 17 Jahren hörte er bereits an der Breslauer Universität Geschichtscollegien. Oft gedachte er später in Dankbarkeit seiner ersten [525] Lehrer, des trefflichen Junckmann und des gütigen Richard Röpell, dessen Andenken noch jüngst Eduard Meyer wieder erneuert hat. In Berlin, wo er das nächste Jahr zubrachte, fand der streng katholische Student weder zu Ranke noch zu Droysen einen persönlichen Weg. Doch blieben ihm des Letzteren großartige Vorlesungen dauernd im Gedächtniß. Vom Seminar Ranke’s und seiner Art, sich mehr mit sich selbst als mit den Schülern zu beschäftigen, wußte niemand eindrucksvoller als St. zu erzählen. Nach Berlin sollte er noch zwei katholische Universitäten besuchen, wofür Innsbruck wegen Julius Ficker[WS 1] und München als Hochburg des freien Katholicismus gewählt wurde. In München fand er Cornelius wieder und damit seinen eigentlichen Lehrer, in dessen Vorlesungen und Hause traf er auch auf eine Geistesstimmung, die der in seines Vaters Kreis entsprach. Karl Adolf Cornelius, erst vor ein paar Jahren als katholischer Gegenprofessor Sybel’s von Breslau nach München berufen, war eine bezaubernde Persönlichkeit: tiefgründig veranlagt, ganz und gar katholisch, aber anticurialistisch, furchtlos und geistvoll, heiterem Lebensgenuß nicht abgewandt; in seinen wissenschaftlichen Anschauungen von herbster Strenge, ein Mann von hinreißender Lebendigkeit, eine Künstlernatur, deren stimmungsvolle Schilderungen im Colleg von innerstem Miterleben und Pathos getragen waren, dabei in naher Verbindung mit Döllinger, den schon damals die Wogen umbrandeten. Mit Enthusiasmus schloß sich St. Cornelius an, den bereits eine Schar junger Gelehrter, wie Ritter, A. Stern und Druffel umgab. Mit warmer Liebe erwiderte bald auch der Lehrer die Begeisterung des Schülers, in dem er mit Freude die specielle Begabung des Historikers, den raschen Blick für das Wesentliche und die plastische Fähigkeit erkannte. Cornelius wollte diese Eigenschaften für eine anziehende Aufgabe nutzbar machen und schlug dem kaum Zwanzigjährigen vor, den oberösterreichischen Bauernaufstand von 1626 in einer Dissertation kritisch darzustellen. Dieser Plan erwies sich freilich als ein Mißgriff, hervorgegangen aus Unkenntniß des Materiales. Der Gegenstand war viel zu umfangreich, der Stoff zu schwierig, das Material nur zum Theil am Ort. St. schloß daher seine Studien mit einer schon früher begonnenen Arbeit über „Lambert von Avignon“ in Breslau im Frühjahr 1867 ab. In dieser nur theilweise gedruckten Schrift zeigt sich bereits im Keim das später von St. mit Bewußtsein weitergebildete Streben, auf dem Wege erhöhter Thatsachenkritik die Personen in ihrer seelischen Eigenart zu erfassen. Im folgenden Sommer wandte er sich sogleich wieder den Bauernkriegstudien zu; und auch da werfen schon die späteren Grundsätze ihr Licht voraus. St. trachtete für den Gegenstand allen überhaupt auffindbaren Stoff heranzuziehen; im Sommer durchwanderte der hochaufgeschossene junge Westfale acht Wochen lang das nach dem Kriege, insbesondere für den „Preußen“, nicht ganz ungefährliche oberösterreichische „Landl“, um in Städten, Märkten, Klöstern, Dörfern und Schlössern den Chroniken, Taufbüchern, Sterberegistern und Acten nachzufragen, zuweilen auf kleinen Speichern oder in „sengender Sonnengluth“ bereits zum Einwickeln bestimmte Papiere zu durchforschen. Zwischen den Mühen lächelte ihm freilich auch manche Freude, besonders in den Klöstern Wilhering und St. Florian, deren wissenschaftlich interessirte und humane Prälaten er bei der schließlichen Herausgabe der Darstellung im J. 1891 mit warmen Worten rühmte. „Wie Frühlingssonnenschein“ glänzten in seinem Andenken jene Tage. Mit einer Ausbeute heimgekehrt, die der aufgewendeten Arbeit nicht recht entsprach, folgte St. im Herbst 1867 der Aufforderung seines Lehreres, als Hülfsarbeiter für die von der Historischen Commission geplanten „Briefe und Akten zur Geschichte des dreißigjährigen Krieges“ einzutreten. Damit waren für Stieve’s wissenschaftliche [526] Zukunft die Würfel gefallen. Bis zum Antritt seiner Professur, fast 20 Jahre lang, galten seine Arbeiten ausschließlich diesem Gebiete.

Im J. 1860 hatte Cornelius in der Historischen Commission gleich drei große Unternehmungen angeregt, die Herausgabe der Briefe hervorragender katholischer und protestantischen Theologen des 16. Jahrhunderts, die Correspondenz Gustav Adolf’s während des deutschen Krieges und die Correspondenz bairischer Fürsten von 1550–1650 in der Art der Archives de la maison de Nassau-Orange. Für die mittlere Aufgabe, der der Haupttheil seiner Exposés gewidmet war, glaubte er Gelehrte gewinnen zu können, für das an letzter Stelle genannte Thema vermochte er derartiges nicht in Aussicht zu stellen. Trotzdem wählte die Commission gerade dieses. Noch am nämlichen Tage erstattete Ranke König Maximilian persönlich Bericht; dieser genehmigte den Plan und befahl zur sofortigen Inangriffnahme einen Betrag von 1000–1500 fl. einzustellen. Auf Ranke’s Antrag gesellte man Cornelius zur Ausführung Sybel und Löher bei. In den nächsten Jahren ist Löher mit den älteren bairischen Correspondenzen des 16. Jahrhunderts, Sybel, der schon 1861 so glücklich war, Kluckhohn zu gewinnen, mit den pfälzischen Correspondenzen der nämlichen Zeit und Cornelius selbst mit den Vorarbeiten für die jüngere Abtheilung der Wittelsbacher Briefe des 17. Jahrhunderts beschäftigt. Die Berichte der Leiter dieser Abtheilungen an die Commission bestätigen, daß man mit diesem Unternehmen fast unbekanntes Land betrat. Man hatte kaum eine Ahnung von dem ungeheuren Material, das der Forschung harrte, und es zeigte sich bald, daß die Archive zu weit mehr aufforderten als zu einer bloßen Zusammenstellung interessanter Actenstücke. Es ist desshalb auch wohl begreiflich, daß für das Unternehmen nicht von Anfang an ein für alle Theile passender und ausreichender Plan entworfen werden konnte, noch begreiflicher, daß sich gemäß dem wechselnden Charakter des Materiales und der Individualität der Hauptbearbeiter fast für jede Abtheilung erst im Laufe der Zeit eine vorher nicht erkennbare Scheidung des Stoffes und eine besondere Art der Behandlung herausbildete. So konnte Cornelius der Commission im J. 1863 berichten, daß Moriz Ritter mit den pfälzischen Acten zur Vorgeschichte der protestantischen Union beschäftigt sei, während er selbst interimistisch die bairischen Correspondenzen mit Ausnahme der vorläufig Dr. Lossen übertragenen Donauwörther Executionsacten vorgenommen habe. Als St. im Herbst 1867 eintrat, schien es, als ob Cornelius einen ersten, bis zum Jahre 1608 reichenden Band der bairischen Acten herausgeben könne; der junge Hülfsarbeiter hatte deshalb mit der Stoffsammlung des folgenden zweiten Bandes zu beginnen, von dem man glaubte, daß er die Jahre 1611–1618 umfassen würde. Bis heute sind aber aus diesen ursprünglich beabsichtigten zwei Bänden acht starke Volumina, mit Einrechnung anderer Veröffentlichungen in Buchform, die zur Entlastung des für die Commission gesammelten Materiales ausgegeben wurden, elf Bände geworden, zahlreicher Abhandlungen nicht zu gedenken. Im J. 1869 gab Cornelius in der Commission gar der Hoffnung Ausdruck, daß St., der inzwischen mit seinem Lehrer das Archiv in Bernburg und die kaiserliche Bibliothek in Paris ausgebeutet hatte, die Durchsicht der bairischen Papiere bis zum Jahre 1619 im nächsten Jahre beendet haben werde. Hieraus geht bereits hervor, welche Erweiterung und Vertiefung Stieve’s Arbeit den ursprünglichen Absichten gegeben hat. Die Pfade in die Acten hat ihm Cornelius wohl gewiesen; aber sein System hatte er selbst zu begründen. St. führte dabei, wie es scheint, schon im zweiten Jahre seiner Thätigkeit eine grundstürzende Aenderung ein. Er richtete seine Aufmerksamkeit nicht mehr bloß [527] auf die bairischen und die Liga-Correspondenzen, sondern auch auf die Reichspolitik, und in der Commission scheint sich hiergegen kein Widerspruch geregt zu haben. Ja St. trachtete noch nach mehr: nicht bloß die Politik Baierns und des Reiches wollte er aufhellen, sondern zur Vermeidung irrthümlicher Auffassungen auch die Motive der Gegenspieler nach Möglichkeit aufdecken. An eine rasche Veröffentlichung war bei einem so weit ausgreifenden System freilich nicht zu denken. Auch bringt es das Wesen solcher Unternehmungen, an denen sich mehrere Kräfte gleichzeitig in die Hände arbeiten, mit sich, daß das gesammelte Material nicht immer auch von dem verwendet werden kann, der die mühselige Durchackerung der Actenmassen im Archiv vollzogen hat, und so beruhte schon im 2. und 3. Bande der Briefe und Acten, die Ritter bearbeitet hat, ein Theil auf den Forschungen, die St. theils mit Cornelius, theils allein in auswärtigen Archiven ausgeführt hatte.

Bevor er selbst von den allmählich sich sammelnden Schätzen etwas an die Oeffentlichkeit gelangen lassen konnte, trafen die politischen und kirchlichen Ereignisse des Jahres 1870 Stieve’s Herz mit voller Wucht. Wie die meisten seiner Glaubensgenossen war auch er bis dahin großdeutsch gewesen. Selbst die Katastrophe des Jahres 1866 hatte ihn nicht umzustimmen vermocht. Nun gestaltete der französische Krieg seine Anschauungen vollständig um und machte ihn zeitlebens zu einem begeisterten Anhänger des Reiches unter Preußens Führung. Ein Bruder, dem er sich durch gleiche Gesinnung eng verbunden fühlte, zog mit ins Feld und starb an einer Wunde, die er beim Sturm auf St. Privat erhalten hatte. Der Verlust schnitt ihm ins Leben. Wie er aber über dieses Blutopfer dachte, verrieth seine Entrüstung, als einst bei einem Fackelzug für den Universitätsrector Planck, seinen väterlichen Freund, ein ungeschickter studentischer Redner davon sprach, Planck habe leider einen Sohn in Frankreich verloren. Heftig fuhr Stieve auf: er hätte sagen müssen, die Familie habe die Ehre gehabt, dem Reich einen Sohn zu opfern. Brachte ihm die Umwandlung seiner politischen Gesinnung einen dauernden Gewinn, so erlitt sein Gemüth durch die Stürme vor und nach dem vaticanischen Concil eine Katastrophe, unter deren Wirkungen er, wie Alle, die ihm näher standen, wissen, sein ganzes Leben gestanden hat. Von den bitteren Enttäuschungen jener Jahre schrieb sich sein geringes Vertrauen auf die Charakterstärke der Zeitgenossen her, und er hatte stets mit sich zu ringen, um der oft andringenden Verbitterung und Neigung zur Menschenverachtung in sich zu wehren.

Bis zum Jahre 1870 war er ein treuer Sohn der Kirche gewesen. Als Student hatte er da und dort Theil genommen an der Gründung katholischer Studentenverbindungen, und noch auf den Archivreisen hatte er, getreu den Ermahnungen seines Vaters, überall die Pfarrer besucht und sich zu deren Gesellschaft gehalten. Daß er dabei von äußerlicher Frömmigkeit nichts hielt und z. B. in französisch geschriebenen Briefen voll Anmuth und Liebe seine fromme Schwester, die sich damals strengen Kasteiungen zuneigte, von dem Gedanken abzubringen suchte, daß, wie er sich ausdrückte, der Teufel sich ihren Leib als Sommerwohnung ausgesucht habe, spricht nicht gegen seine religiöse Gesinnung, da er auch hierin die Meinung der freieren deutschen Katholiken theilte, wie sie im Kreise seines Vaters und seines Münchener Lehrers allgemein waren. Den stürmischen Wechsel von Hoffnungen und Befürchtungen im Herbst 1869 erlebte er nach der Rückkehr von seiner Pariser Studienreise in München, mitten im Schoße der Bewegung selbst. Die Spannung wuchs, als er in den ersten Monaten des folgenden Jahres sich zu Studienzwecken nach Berlin begab und im Hause seines Vaters sich zahlreiche hervorragende [528] Katholiken, Gelehrte, Beamte und Politiker, trafen, die, wie Windthorst und Reichensperger, ihr Gewissen durch die immer deutlicheren Ankündigungen der Absichten Roms bedrückt fühlten. Aller Hoffnung stand unentwegt darauf, daß „Gott seine Kirche nicht verlassen werde“, und die Dogmatisirung der Infallibilität sich noch in letzter Stunde vereiteln lasse. Da traf Tausende, die gleich ihm dachten und fühlten, wie ein Donnerschlag die Kunde des 18. Juli. In Schrecken und Schmerzen sah der 25jährige seine Ideale zusammenstürzen: die Kirche war anders als er sie sich sammt denjenigen, die er am meisten verehrte, vorgestellt hatte. Noch mehr. Er hatte für selbstverständlich gehalten, daß die Männer, die sich vorher mit solcher Entschiedenheit ausgesprochen, auch fernerhin ihrer Ueberzeugung treu blieben. Da erlebte er in Gegenwart seines Vaters am 19. Juli, daß der erste, den sie von den Freunden sprachen, Peter Reichensperger, ohne weiteres seine Ueberzeugung verleugnete und seine sofortige Unterwerfung ankündigte. Ihm folgten Unzählige. Rücksicht auf Lebensruhe und weltliche Vortheile, da und dort auch Liebe zur angestammten Kirche beschwichtigten die Gewissen. Auf St. machten die Vorgänge den tiefsten Eindruck. Er konnte nicht verehren, was er gestern verworfen. Charakter und Wille bäumten sich auf. Raubten ihm aber die Erlebnisse das Vertrauen auf die katholische Generation der Gegenwart, so stählten sie auch sein Inneres. Er war damals noch in keineswegs glänzenden Verhältnissen; aber kein Schielen nach der Zukunft konnte ihn schwankend machen. Da er sich nicht zur Hoffnung seines Vaters zu bekennen vermochte, daß auch diese „Verirrung der Kirche nur vorübergehend sein werde“, trat er, nach München zurückgekehrt, in die altkatholische Gemeinde ein. Ihrer äußeren Gemeinschaft blieb er auch treu bis zum Ende, obgleich er ihr schließlich innerlich fernstand und die Rückkehr seiner Nachkommen zum protestantischen Bekenntniß einleitete. Lange und eingehend hat er sich nach dem erschütternden Jahr mit Kirchengeschichte und Theologie befaßt und die curialen Ansprüche nach rückwärts verfolgt. Es erging ihm dabei, wie er es von Döllinger schildert: es fiel ihm wie Schuppen von den Augen; er glaubte allmählich zu erkennen, daß der Papalismus schon seit mehr als 1200 Jahren den Kern der kirchlichen Entwicklung ausmachte. In der folgenden Zeit hat er sich immer mehr vom positiven Bekenntniß zurückgezogen; freilich geschah es nur mit innerem Kummer, aber keine weichliche Empfindsamkeit für den Glauben seiner Jugend konnte ihn zurückhalten, der durch innere Arbeit errungenen Ueberzeugung zu folgen. Die heroischen Anstrengungen jenes Häufleins Aufrechter, die sich im Altkatholicismus zusammenhielten und der Sauerteig für die Zukunft sein wollten, bezeichnete er später in dem Aufsatz „Bedeutung und Zukunft des Altkatholicismus“ resignirt und milde als einen „edlen Irrthum“.

Durch die Ereignisse zum Manne geschmiedet, warf er sich bald wieder in die Actenstudien. Noch im Sturmjahr 1870 beschrieb er in der Abhandlung „Die Reichsstadt Kaufbeuern und die bairische Restaurationspolitik“ einen Vorgang, der für die Beurtheilung der bairischen Politik in der Donauwörther Angelegenheit wichtige Anhaltspunkte gab. Seine Arbeiten betrieb er mit solcher Rastlosigkeit, daß er infolge eines ernstlichen Anfalles sich ein halbes Jahr völlige Ruhe auferlegen mußte. Im J. 1875 habilitirte er sich in München mit dem „Kampf um Donauwörth“, der als 1. Band eines größeren Werkes geplant wsir, worin der Ursprung des dreißigjährigen Krieges behandelt werden sollte. Die darin zu Tage tretende Art Stieve’s, eine erdrückende Fülle von Details plastisch, klar und anregend in übersichtliche Reihen zu ordnen, dabei nirgends in ödes Actenreferat zu verfallen, die Personen mit [529] seinem Sinn für ihre Eigenthümlichkeiten nüchtern und vorurtheilsfrei hinzustellen, endlich die kritische Sichtung eines massenhaften Urkundenmaterials verschafften dem jungen Autor rasch Geltung. Sie steigerte sich nach dem Erscheinen der „Politik Baierns 1591–1607“. Ursprünglich war von der historischen Commission beabsichtigt, der mit dem Jahre 1608 einsetzenden eigentlichen Actenpublication der katholischen Reihe eine Einleitung voranzuschicken, die „vom Standpunkt der deutschen Geschichte aus“ eine Uebersicht des Wichtigsten aus der politischen Thätigkeit des Herzogs Maximilian geben sollte. St. gelang es jedoch, Cornelius und die Commission zu überzeugen, daß die vorhandene unkritische und veraltete, ja z. Th. ärmliche Litteratur weder für die bairische noch für die Reichsgeschichte einen zureichenden Hintergrund für eine kurze Einleitung biete, daß vielmehr dieser Hintergrund erst geschaffen werden müsse. So trat an die Stelle einer gedrängten Einleitung eine auf zwei starke Bände vertheilte Geschichte Baierns und der Reichspolitik, die mit dem Sommer 1591 beginnt, als der 18jährige Herzog Maximilian an den Regierungsgeschäften theilzunehmen begann. Da es St. nicht vergönnt war, spätere Lebenspläne durchzuführen, sind die zwei Bände, die in den Jahren 1878 und 1883 erschienen, durch Gegenstand und Behandlung sein Hauptwerk geblieben. Ihren Ruhm hat diese grundlegende und zugleich erschöpfende Arbeit von der zuverlässigen, an keiner charakteristischen Einzelheit vorübergehenden Forschung, von der durchsichtigen, einprägsamen Darstellung und der Kraft ihrer stets auf intimstes und unbefangenstes Studium begründeten Schilderung der Personen. Gewöhnliche Menschen von mäßiger Begabung, auch wenn sie Fürstenhüte und Insuln trugen, zu heroisiren, davor wurde St. durch natürliche Menschenkenntniß und durchdringenden Scharfsinn bewahrt. Das Verdienst war nicht klein. Was man bis dahin von der behandelten Epoche wußte, war sehr bescheiden. Schattenhaft schwankten die Gestalten und die wenigen, bekannten Ereignisse in ungewissem Schein. Nun sah man plötzlich weite Strecken in hellem Licht. Wilhelm V., Kaiser Rudolf, die geistlichen Fürsten, voran der Kurfürst von Köln, die österreichischen Erzherzöge, Herzog Maximilian selbst erschienen zwar nicht als Helden, aber als begreifbare Menschen, ganz im Wesen ihrer Zeit haftend, umgrenzt von den Bedingtheiten ihrer Epoche. Die Sprache ist knapp und prunklos, deutlich mehr Lessing als Goethe zuneigend und, dem ganzen Wesen Stieve’s entsprechend, mehr auf Wahrheit als Glanz ausgehend. Manche Theile des Werkes gingen freilich weit über den Titel hinaus; so wenn er auch die Restauration Innerösterreichs wie die Reichstage aufs ausführlichste behandelte und nicht nur die Flugschriften über den Religionsfrieden, sondern auch die wegen ihrer Unerquicklichkeit seit Häberlin-Senckenberg’s Reichsgeschichte allgemein gemiedene, von St. zuerst wieder ans Tageslicht gezogene Fehdelitteratur der Jesuiten und Evangelischen über Jesuiten, Papst und Lutherthum beleuchtete. Aber diese Ausführungen, in denen St. gleichfalls wie bei den Actenarbeiten „auf den kleinsten Punkt die größte Kraft“ gesammelt hatte, brachten Farbe und Kraft in das Bild und haben, wie insbesondere die Behandlung der Flugschriften, befruchtend auf die Forschung gewirkt. Mit dem nächsten Band der Serie, dem 6. der ganzen Reihe, begann nun die Actenpublication, da die Commission auf Stieve’s Vorschlag, die weiteren Bände ebenso als Darstellungen wie den 4. und 5. Band erscheinen zu lassen, nicht einging. St. war der Ansicht, daß die Commission dem Anschwellen der Acteneditionen steuern solle und daß, wie er sich auf dem Historikertag in Frankfurt aussprach, sich überhaupt in zwei darstellenden Bänden nicht mittheilen lasse, was in Regestenform fünf bis [530] sechs Bände füllen würde. Nachdem aber einmal die Commission die Veröffentlichung der Acten beschlossen, gab St. dem Bande eine Gestalt, die seiner bisherigen Gepflogenheit, die Dinge nach allen Seiten zu erörtern, entsprach. Er stellte sich bei der Redaction die Aufgabe, nicht eine „Blüthenlese von Acten“ zu geben, sondern die fortlaufende Entwicklung allseitig durch die Acten sichtbar zu machen, in den Auszügen den gesammten Inhalt des Actenstückes und soviel als möglich auch die Färbung wiederzugeben. Erschienen ist der VI. Band, der die bairische und die Reichsgeschichte des Jahres 1608 bis zur Gründung der Liga behandelt, erst im J. 1895, da die schon im J. 1869 in Aussicht genommene Reise nach Simancas zur Feststellung der deutsch-spanischen Beziehungen von 1608–1620 erst im J. 1893 von einem seiner Schüler ausgeführt wurde. Auch im neuen Bande dehnte er zur Vermeidung von Irreführungen die Mittheilungen auf Ereignisse aus, die, wie der österreichische Hausstreit und die politisch-kirchlichen Verhältnisse Oesterreichs, nicht zur Reichsgeschichte gehörten, aber doch tief eingreifenden Einfluß auf sie übten. Vier Jahre vor dem 6. Bande hatte St. endlich den „Oesterreichischen Bauernaufstand des Jahres 1626“ herausgegeben. Er glaubte, an dieses Buch dürften die strengsten Forderungen als Maßstab angelegt werden, die er je in Bezug auf Vollkommenheit des Quellenmateriales, kritische Behandlung und Darstellung geltend gemacht habe. Besondere Freude hatten ihm dabei die Ergebnisse für Kritik und Methode bereitet. Seine Ansichten von der auf materiellen und seelischen Zuständen beruhenden Unzulänglichkeit der Nachrichtenvermittlung jener Zeit, seine niedrige Einschätzung der seit Ranke immer noch als Quellen ersten Ranges geltenden Venezianischen Depeschen hatte er bei erneuter Prüfung an dem reichen Material des Bauernaufstandes durchaus bestätigt gefunden. Der Nachweis einer Reihe von Fälschungen bei den vertrauenswürdigsten Zeugen dünkte ihm geradezu eine Parodie auf die kritische Methode mittelalterlicher Forschung, und es erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, daß Sybel seine Zweifel an der Sicherheit mittelalterlicher Feststellungen aufs lebhafteste bestärkte und ihm kurz vor der Ausgabe des Bauernkrieges sagte: „Von den Thaten der mittelalterlichen Kaiser läßt sich höchstens sagen: meine Ansicht ist, daß sich die Sache so und so verhalten hat; aber zu behaupten: das ist so gewesen – daß ist eine Unverschämtheit.“ Ottokar Lorenz, für dessen geistreiches Wesen St. viel Sympathie besaß, bewunderte am „Bauernaufstand“ neben der Beherrschung der „überwältigendsten Einzelnheiten“, die der Autor aus Hunderten von Quellen zusammengebracht und die ihm z. B. bei Schlachtbeschreibungen die Identificirung von Höfen, Fußwegen und Brücken erlaubte, mit Recht auch die seltene Erzählerkunst des Verfassers. Aber mehr als alle Anerkennung der Fachgenossen erfreute es ihn, daß sein alter Freund Professor Jodl in Wien an dem Buch die „schier volksthümliche Schreibweise“ hervorhob. Denn durch sie hoffte er, der keinen Standeshochmuth kannte, das Resultat der mühseligen Gelehrtenarbeit, deren Werkstätte er in einem gesondert ausgegebenen Theil den Fachgenossen öffnete, auch dem oberösterreichischen Bauern zugänglich zumachen, dem Bauern, den er liebte, weil seine Vorväter tapfer und zäh für ihre religiöse Ueberzeugung gefochten und keine Verfolgung ihre Standhaftigkeit hatte erschüttern können. Mit dem Herzog Maximilian von Baiern hatte sich St. länger und eingehender als sonst jemand befaßt, so daß sich ein Aufriß seiner Persönlichkeit gleichsam von selbst als Thema bot, als er in der Akademie der Wissenschaften, die ihn im J. 1878 zum außerordentlichen Mitgliede gewählt hatte, im J. 1882 die Festrede zu halten hatte. Daß der Schilderer eine Persönlichkeit um so besser zu begreifen vermag, je näher sein eigenes Wesen ihr steht, bewährte sich auch hier: der Jesuitenzögling war für [531] St. keine sympathische Persönlichkeit; aber die strenge Selbstzucht des besonnenen Herrschers, die Unterdrückung eines feurigen Gemüthes zu Gunsten einer als Pflicht erkannten Arbeit, die Kraft einer sittlichen Ueberzeugung, von der St. zu sagen pflegte, daß sie allein den Menschen frei von Menschenfurcht mache und zum Bewußtsein seiner Fähigkeiten bringe, – all das fühlte St. als verwandte Züge. Größe vermochte er ihm nicht zuzusprechen, aber ehrliche Hochachtung zollte er dem Herzog ob seiner herben Pflichterfüllung und seinem von Grundsätzen beherrschten Handeln, dem der gemeine Eigennutz gewöhnlicher Seelen fern war. Neben diesen Arbeiten ging zur Entlastung der Publicationen der historischen Commission, für die St. mit Emsigkeit allmählich ein fast unübersehbares Material aufgethürmt hatte, eine Reihe von Abhandlungen einher, unter denen die „Verhandlungen über die Nachfolge Kaiser Rudolf’s II.“ (1879), „das kirchliche Polizeiregiment unter Maximilian I.“ (1876), die Abhandlung über die Fälschung des Stralendorfischen Gutachtens (1885) und die reichen „Wittelsbacher Briefe“ (8 Abtheilungen, 1885–1895), in denen jene überaus intimen Familiencorrespondenzen vereinigt wurden, die mehr culturgeschichtliches als politisches Interesse besaßen, besonders hervorgehoben seien. Zahlreiche Artikel, die er für die „Allgemeine deutsche Biographie“ schrieb, boten seinem Darstellungsdrang willkommene Gelegenheit. Manche Schilderungen, von denen die bedeutendsten, so jene Rudolf’s II. und Ferdinand’s II., in seinen gesammelten „Aufsätzen und Vorträgen“ wieder abgedruckt wurden, sind von medaillenhafter Präzision.

Mit zunehmenden Jahren fühlte St. immer deutlicher, daß er zu mehr berufen sei als zu Actenedition und Specialistenthum. An Anerkennung der engeren Fachgenossen mangelte es ihm nicht, obgleich Mancher die Unerschrockenheit und den treffenden Witz seiner Zunge schwer überwand. Döllinger schätzte ihn hoch; die Akademie wählte ihn 1889 zum ordentlichen, die historische Commission 1883 zum außerordentlichen und 1887 zum ordentlichen Mitgliede. Die bewunderungswürdigste rednerische Begabung, die ihm die Natur in die Wiege gelegt, hatte er meisterhaft ausgebildet. Aber alle Versuche, den sprudelnd lebendigen, immer anregenden Docenten an eine Universität zu bringen, scheiterten an seiner confessionellen Stellung – bald daran, daß er nicht protestantisch, bald daran, daß er nicht katholisch war. Die Fehlschläge trug er mit Ruhe als unabwendbare Folgen seiner inneren Ueberzeugung. Es entsprach seiner wirklichen Gesinnung, wenn er einmal in seiner scherzhaften Art zu einem Schüler sagte: „Seien Sie überzeugt, daß ich den verdienten Hafer erst bekommen werde, wenn Sie meinen Nekrolog schreiben; aber fügen Sie dann auch bei, daß ich ihn gern entbehrt habe.“ Geschmerzt hat ihn nur, daß sich der Plan zerschlug, ihn nach Straßburg zu berufen. Denn nirgends, glaubte er, hätte er alles Brauchbare in sich besser zum Nutzen des Vaterlandes verwenden können als an diesem für das Deutschthum so wichtigen Platze. Allmählich gewöhnte er sich daran, München, wo er nun schon mehr als zwanzig Jahre weilte, als seine Heimath zu betrachten und lebte im Kreise der Collegen und seiner Schüler, denen er in wissenschaftlichen und menschlichen Dingen Berather und Freund war. Nachdem er seine tiefgeliebte Frau heimgeführt, machte er sich in München ansässig, erwarb in Schliersee einen Platz und baute sich darauf für Ferientage ein ländliches Haus.

Einen neuen Anstoß erhielt er durch seine Ernennung zum Professor am Münchener Polytechnikum, die Döllinger im J. 1885 durch einen persönlichen Besuch beim Cultusminister v. Lutz durchgesetzt hatte. Wer Stieve’s Persönlichkeit [532] in Umgang oder Briefwechsel nahetrat, seine phantasievolle innere Beweglichkeit kannte und sah, wie seine geradeaus gehenden, geistvollen Bemerkungen, deren Sinn ungesucht zuströmende, zuweilen groteske Bilder noch verdeutlichten, oft die schwierigsten Fragen von neuen Seiten überraschend beleuchteten, wie ihm Erfahrungen mit Menschen und Leben zu Hülfsmitteln für Erkenntniß der Vergangenheit wurden, und wie er beständig von geschichtlichen Problemen bewegt war, der wußte, daß in diesem fesselnden Manne, dessen Herz in Liebe für die Nation und ihre Freiheit erglühte, mehr steckte als ein Editor und daß er sozusagen nur die Hälfte seines Geistes für seine bisherigen Arbeiten anzuwenden gebraucht hatte. Der Wunsch seiner Freunde, daß diese reiche Natur ihr Pfund nicht auf die Dauer in Actenarbeiten vergraben, sondern sich umfassenden und allgemeiner interessierenden Problemen zuwenden möge, schien deshalb wohl berechtigt. Die Thätigkeit am Polytechnikum war einem solchen Umschwung günstig. Denn der Zwang, nun allgemeine deutsche und besonders Handelsgeschichte von der ältesten bis auf die neueste Zeit zu lesen, erweiterte seinen Interessenkreis ungemein. Er fühlte seine Schwingen wachsen und gewann die innere Sicherheit, daß er auch für größere Aufgaben geeignet sei. Hauptsächlich von den kurz vorher erschienenen Vorlesungen Karl Wilhelm Nitzsch’s über deutsche Geschichte wurde er mächtig angeregt. Bald fand er, daß für die nach möglichst weiten Ueberblicken verlangenden Hörer eines Polytechnikums ein Colleg über allgemeine Culturgeschichte noch weit wichtiger sei. Mit Vorliebe widmete er sich den umfangreichen Studien zu diesen Vorlesungen. Ja er gab zu diesem Zweck auch die ihm übertragenen Vorlesungen an der Akademie der Künste auf, die ihm sehr ans Herz gewachsen waren, weil diese zusammenfassenden Vorträge vor einem zunächst künstlerisch interessirten Hörerkreis seine Schilderungskunst erheblich gesteigert hatten und sein Bestreben um die historische Bildung der jungen Akademiker Verständniß und Begeisterung erweckte. In die culturgeschichtlichen Vorlesungen legte er sein ganzes Wesen; eine breite anthropologische Einleitung entwickelte seine seit dem Jahre 1870 immer freier gewordene, geläuterte Weltanschauung, die längst über alle Confessionen hinausgediehen war, aber mit unerschütterlicher Ueberzeugung an einem persönlichen Gott, an Freiheit und Unsterblichkeit festhielt. Diese Vorlesungen hatten gewaltigen Erfolg; die Zuhörer zählten bald nach Hunderten, unter ihnen gereifte und in Lebensmühen ergraute Männer. Ueberzeugt von der Bedeutung der Geschichte für die allgemeine Bildung, begrüßte er die steigende Antheilnahme der Volksschullehrer mit besonderer Genugthuung. Ja er versprach sich von ihnen mehr Erfolg als von den Mittelschullehrern, weil man durch sie unmittelbar auf das Volk zu wirken hoffen dürfe. Der Aufbau der Vorlesungen war streng genetisch und verfolgte die Wechselwirkung von Allgemeinheit und Individuum unter dem Gesichtspunkt der Befreiung der Persönlichkeit zur Humanität im Sinne Herder’s und Goethe’s. Die konsequent collectivistische Betrachtungsweise hat er entschieden abgelehnt. Dazu war er viel zu sehr von dem Glauben an die Persönlichkeit und ihre Wirkung auf das Leben, von der Complicirtheit der Zustände durchdrungen. Immer stärker entwickelte sich während seiner Thätigkeit am Polytechnikum in ihm der Gedanke, daß das übertriebene Specialistenthum überwunden werden müsse; darum richtete er sein Seminar mehr darauf ein, Geschichtslehrer zu erziehen als „Forscher zu züchten“. Er selbst entschloß sich, seine Arbeiten an der historischen Commission, die ihn zu verschlingen drohten, endgültig abzuschließen und sich größeren, darstellenden Aufgaben zu widmen. Nach 27jährigem „Kärrnerdienst“ hielt er sich dazu für berechtigt. Er war voller Pläne: eine Biographie Wallenstein’s sollte den [533] Uebergang bilden; in zwei Akademievorträgen riß er eine Menge von Legenden zusammen, die sich um die Gestalt des Friedländers gesponnen hatten; einen „Ehrentempel deutscher Kritik“ nannte er ironisch seine Ausführungen. Auch Wallenstein hatte für ihn den Nimbus eines Großen schon längst verloren. Dann ging er mit dem Gedanken um, eine kurze, volksthümliche deutsche Geschichte zu schreiben, die nach seiner Meinung die Wissenschaft von Zeit zu Zeit der Nation nach dem jeweiligen Stande ihrer Erkenntniß schuldig war. Er traute sich zu, auch in einem einzigen knappen Bande das Nöthige sagen zu können und doch dabei Farbe und Leben nicht preisgeben zu müssen. Ja, obwohl er sich bis dahin in freilich nicht ganz gerechtfertigtem Mißtrauen auf sein Gedächtniß stets von activer Beschäftigung mit der Politik ferngehalten hatte, ließ er sich doch zu historisch-politischen Festreden bei zwei öffentlichen Geburtstagsfeiern Bismarck’s im J. 1895 und am 31. März 1898 gewinnen; in der einen setzte er den zweiten großen Otto mit Otto dem Großen als dem Gründer des alten deutschen Reiches in Beziehung; in der anderen erläuterte er an einem Rückblick auf das Jahr 1848 die Bedeutung des Kanzlers, an dem er vorzüglich die Selbstüberwindung und die Kraft bewunderte und den er überhaupt für den größten Staatsmann aller Zeiten hielt. Die tiefe und lang nachhallende Wirkung dieser prachtvollen Reden wurde durch die Erscheinung des Vortragenden an diesen Festabenden der Stadt erhöht. Da reckte sich die hohe Gestalt mit dem mächtigen Haupt, den warmen treuen Augen, der kühn vorspringenden Nase in voller Kraft straff auf – das Bild einfacher, auf sich selbst gestellter, stolzer Männlichkeit, ohne Dünkel, ohne Furcht. Absichtlicher Mache bedurfte er nicht. Die starke Empfindung, mit der sein großes Organ die klangvollen Sätze in den Saal rollte, bemächtigte sich vom ersten Augenblick an der Hörer und hielt sie in Spannung und Bann. Von da ab war St. in München ein populärer Mann. Aber das Schicksal waltete in unbegreiflicher Weise über diesem eben in neuem Aufstieg begriffenen Leben. Als sein Name seit jenem 31. März aufs neue am 10. Juni von Mund zu Mund flog, da erscholl die Klage um einen Toten. Schon in früheren Jahren hatte ihn einmal eine Lungenentzündung fast an den Rand des Verderbens gebracht. Als aber den frohgemuth Schaffenden wie ein Dieb in der Nacht eine neue befiel, war alle Aufopferung und Kunst der Aerzte vergebens. Er starb mannhaft wie er gelebt. Seinen vertrauten Freund Professor Schech, der die Behandlung leitete, fragte er auf Ehrenwort, wie lange er voraussichtlich noch zu leben habe. Schech mußte einen nahen Zeitpunkt nennen. Tief erschüttert, aber mit Ruhe gab er nun seine Wünsche kund und schloß ab. Die letzten Stunden, am 10. Juni 1898 nachmittags, gehörten ausschließlich seiner Frau. Als ihn eine unabsehbare Menge von Freunden, Collegen und Schülern unter Sonnenschein in die Erde senkte, ward die Bewunderung für den bedeutenden, gütigen und wohlthätigen Menschen laut, aber auch die grübelnde Trauer, daß ein solches Leben und eine solche Arbeit zum Torso bestimmt war.

Die Schriften Stieve’s bis 1895 finden sich in den Almanachen der bairischen Akademie der Wissenschaften verzeichnet, die späteren sind mit anderen kleineren Arbeiten vereinigt in den von Frau Agnes Stieve gesammelten und von Zwiedineck-Südenhorst eingeleiteten „Abhandlungen, Notizen und Reden“, Leipzig 1900. Von den Nekrologen seien hervorgehoben der von Zwiedineck-Südenhorst in der Zeitschrift für deutsche Geschichtswissenschaft, Jahrgang 1898, J. Friedrich’s Würdigung in den Sitzungsberichten der historischen Classe der bayer. Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1899, und die vorzüglichen „Erinnerungen an F. Stieve“ [534] von Dr. Alfred Altmann, die Stieve’s Entwicklung und Charakter in durchaus zutreffender Weise schildern. – Treffliche Bildnisse Stieve’s malten Alfred Zimmermann und Hermann Kaulbach.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Julius von Ficker (1826–1902), deutscher Historiker.