ADB:Segesser, Philipp Anton von

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Artikel „Segesser, Philipp Anton von“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 594–605, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Segesser,_Philipp_Anton_von&oldid=- (Version vom 2. November 2024, 20:09 Uhr UTC)
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Segesser: Philipp Anton v. S., Staatsmann, Geschichtsschreiber, Publicist, geb. am 3. April 1817 in Luzern, † am 30. Juni 1888 ebendaselbst. Als Dienstleute der Herrschaft Oesterreich im Aargau treten in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Segesser zuerst urkundlich hervor, und zwar im Städtchen Mellingen an der Reuß, wo 1250 eine fragmentarische Abschrift des ältesten Jahrzeitbuchs einen Waltherus Segenser nennt; erst 1443 erhob Friedrich III. das Geschlecht in den Stand freier Dienstleute des Reiches. Dadurch daß der Mellinger Schultheiß Johann S. die Schwester des Bischofs Johann von Brixen, aus dem Hause der Schultheißen von Lenzburg (s. A. D. B. XIV, 200–202), zur Frau nahm, gewann er auch für sein Haus die auf diesem geistlichen Politiker ruhende Gunst der Habsburger, und mit dem Besitze wuchs das Ansehen unter den aargauischen Burgleuten. Aber nachdem schon 1508 eine zum ersten Male in Luzern ansässig gewordene Linie wieder erloschen war, faßte mit Bernhard S., dem 1565 verstorbenen eifrig katholischen Schultheißen von Mellingen und bischöflich Constanz’schen Obervogt zu Kaiserstuhl, 1536 das Geschlecht von neuem festen Fuß in Luzern durch Erwerbung des dortigen Ausburgerrechtes. Aus Bernhard’s erster Ehe stammen die Luzerner S., aus der zweiten eine 1810 im Mannsstamm erloschene, in den Reichsfreiherrnstand erhobene deutsche Linie, welche im Dienste der Bischöfe von Constanz und Eichstädt stand und später in Kurbaiern endigte. 1759 wurde in der Person des Ulrich Franz Joseph S. das Geschlecht zum ersten und einzigen Male vor der Revolution zum Amte des Staatsoberhauptes von Luzern berufen. Der Vater Segesser’s war ein Enkel dieses Schultheißen, aber, wie S. selbst in seinen „Erinnerungen“ ausführt, ein „armer Herr“, der von „einem mit dem Erbtheil der Schwestern belasteten, wenig erträglichen Gut und der schwach besoldeten Archivarstelle“ sich und seine Familie erhalten mußte. Trotz dieser erschwerenden Umstände erhielt S., der mit größter Liebe der Eltern gedenkt, eine sehr sorgfältige, den Ansprüchen des Standes, des Luzerner Patriciates, entsprechende Erziehung. 1838 bezog er, um sich der Rechtswissenschaft zu widmen, die Universität Heidelberg, ohne sich jedoch befriedigt zu fühlen, worauf erst Walter in Bonn, Savigny in Berlin ihn fesselten. Nach Ablegung des Advocatenexamens in Luzern 1840 folgte 1841 ein kurzer Aufenthalt in Paris. Dann trat S. noch im gleichen Jahre unter der neubestellten conservativ-demokratischen Regierung (s. A. D. B. XVIII, 470) in die Stellung eines Rathsschreibers oder Stellvertreters des Staatsschreibers ein. Die nun immer mehr in dem herrschenden System hervortretende Persönlichkeit, Siegwart-Müller (s. d. Art.), war S. nicht sympathisch; auch sonst zeigte sich der junge Beamte, der nur seine Stelle gewissenhaft zu versehen sich bestrebte, zurückhaltend: „Ich fand ein gewisses Gefallen daran, mit meinem damals noch stolzen und starren Charakter, Selbständigkeit der Gesinnung zur Schau zu tragen“ – urtheilte er später in seiner Selbstschau. Nach der Niederwerfung des ersten Freischaarenzuges, December 1844, hatte S. das Gefühl, daß eine bedingungslose Amnestie die Opposition am vollständigsten entwaffnen würde; statt dessen wurde eine endlose gerichtliche Untersuchung in das Werk gesetzt: „ein Belagerungszustand entstund, welcher keine gesunde politische Bewegung mehr aufkommen ließ“. In den Tagen des zweiten Freischaarenzuges, am 31. März und am 1. April 1845 war S. als Qfficier der Person des die Maßregeln zur Abwehr commandirenden Generals von Sonnenberg beigegeben. 1847 stand er, als der Sonderbundkrieg in Aussicht war, zuerst als persönlicher Adjutant dem Oberbefehlshaber General von Salis (s. A. D. B. XXX, 249–251), [595] zur Seite, betrachtete es aber, da er alsbald die sehr geringe Befähigung des tapferen und liebenswürdigen, aber als Stratege ganz unberufenen Reiterofficiers für die Aufgabe erkannte, als „eine wahre Erlösung“, da der Chef des Generalstabes, Oberst Elgger, ihn als Büreauchef des Stabes reclamirte. Als solcher konnte er freilich abermals die totale Hoffnungslosigkeit der zusammenhangslosen, durch allerlei persönliche Differenzen noch mehr verwirrten Kriegsleitung von Anfang an erkennen. Nach dem Zusammenbruch des Sonderbundes, am 23. November, blieb S. am 24. in Luzern, indem er den anfänglichen Gedanken, nach Unterwalden zu gehen, wo vielleicht der Widerstand fortgesetzt würde, aufgab. Doch war Segesser’s öffentliche Laufbahn für ein Mal abgeschlossen. Er schrieb in seiner Muße die nachher zu erwähnenden „Beiträge“ zur Geschichte der eben vergangenen Ereignisse, außerdem eine Beleuchtung der Gewaltthaten der unter dem Schutze des Sieges emporgestiegenen provisorischen Luzerner Regierung, die sich, erwachsen aus dem Stadtrathe von Luzern und zugezogenen radicalen Gesinnungsgenossen vom Lande, der Zügel bemächtigt hatte, eine Schrift, welche jedoch angesichts des herrschenden, S. persönlich zwar nicht treffenden Terrorismus Manuscript bleiben mußte. Dann verließ er die Stadt ganz und zog sich, um den Studien und dem Betrieb der Gutswirthschaft sich zu widmen, auf seine Besitzung Holzhof, zwei Stunden von Luzern landeinwärts entfernt, zurück.

Sehr unerwartet wurde S. im October 1848 auf den Boden der politischen Thätigkeit in einem weiteren Kreise, der durch die neue Bundesverfassung aufgeschlossen war, zurückberufen; als der einzige conservative Vertreter des Kantons Luzern war er im Wahlkreise Rothenburg, zu dem sein Landsitz gehörte, in den Nationalrath gewählt worden. Erst 1851 kam S. – durch seine Wahl in Hochdorf – auch in den Großen Rath von Luzern, bei der drittelweisen Erneuerung der Behörde. Beide Wahlhandlungen, von denen besonders die erste unter dem heftigsten Drucke des herrschenden Systems 1848 sich vollzogen hatte, konnten als erste Niederlagen der in der Leitung des Kantons stehenden radicalen Partei angesehen werden. Ueber seine Stellung in Bern äußerte sich S. 1860, wo er die Schrift: „Neun Jahre im Großen Rath des Kantons Luzern“ als Berichterstattung an seine Wähler herausgab, er habe bei seiner ersten Ankunft die Gemüther auf eine Weise gegen sich eingenommen vorgefunden, die in der ruhigen politischen Vergangenheit des Gewählten gar keine Begründung gehabt habe: „Ich fand mich glücklich, das Vae victis, das jeden Tag über diejenigen erschallte, die mich in jene erste Bundesverhandlung sendeten, zum großen Theile auf mein eigenes Haupt lenken zu können“. Immerhin erzwang er sich schon in diesen ersten Jahren Aufmerksamkeit, so durch seine Rede über die Frage der Auflösung der Militär-Capitulationen mit auswärtigen Regierungen, am 24. Mai 1849, wo er, gestützt auf einen historischen Rückblick, den auswärtigen Kriegsdienst in seiner Bedeutung für die Erhaltung und Erweiterung schweizerischen Kriegsruhms, für die Erhaltung und Vervollkommnung der Kriegsübung im Lande darstellte, oder im December danach, wo er für die Petitionen zu Gunsten des aus seiner Diöcese vertriebenen Bischofs Marilley von Freiburg-Lausanne eintrat; ebenso äußerte er sich selbstverständlich in der Angelegenheit der durch die Luzerner Regierung im Activbürgerrechte eingestellten Luzerner Kantonsangehörigen so, wie das der ihm stets mehr zuwachsenden Stellung eines Chefs der Luzerner Opposition entsprach. Einen in diesem Jahrzehnt, 1856, an ihn ergehenden Ruf des Grafen Leo Thun nach Oesterreich, zur Professur der deutschen Rechtsgeschichte und des deutschen Privatrechtes in Graz, lehnte S., trotz der für ihn persönlich äußerst unbefriedigenden Verhältnisse in Luzern, dennoch ab, „in der anererbten Vorstellung von den dem Vaterlande geschuldeten Pflichten“.

[596] Von 1861 an vertrat S. im Großen Rathe den Wahlkreis Sursee, der sich in seinem Hauptorte stets deutlicher als das active Centrum der conservativen Partei im Kanton herausstellte, und schon 1862 setzte die Bewegung behufs einer Revision der 1848er Verfassung ein, eingeleitet durch sechs nach einander erscheinende, von S. verfaßte „Ansprachen an das Luzerner Volk“, geschickt redigirte Flugschriften. Durch Ablösung einer unabhängigen Partei, der Willisauer liberalen Gruppe, von der herrschenden radicalen Regierungstendenz, zum Behufe einer Verbindung liberaler und conservativer Kräfte, wurde der Opposition weitere Ermuthigung dargeboten. Zwar siegte in der Abstimmung vom 31. October mit wenigen hundert Stimmen Mehr die durch die Regierung entgegengestellte Partialrevision der Verfassung, durch den Großen Rath, über die von S. gewünschte Totalrevision; aber die Regierungspartei selbst nahm nun sogleich die Partialrevision an die Hand, deren Ergebniß, die revidirte Verfassung, 1863 angenommen wurde, insbesondere auch die darin ausgesprochene Gesammterneuerung der Behörden statt der 1848 eingeführten Neuwahl je eines Drittels. Bei diesen Wahlen kam nunmehr S. als Vertreter der Minorität zu einem Sitze im Regierungsrathe, als einziges conservatives Mitglied. Freilich entsprach diese sogenannte Fusion keineswegs einer Versöhnung der Gegensätze, was S. im Jahre der abermaligen Wahlen, 1867, dem Volke in dem von ihm als Rechenschaft verfaßten „Neujahrsbüchlein für das Luzernervolk“ darzulegen sich bemühte, zumal zur Abwehr der gegen die eigene Person geschleuderten Vorwürfe, welche mit seiner Haltung in der Angelegenheit der Unternehmung der St. Gotthard-Bahn, sowie mit seiner gleichfalls ablehnenden Stellung gegenüber den Punkten einer Bundesrevision – 1865 – in Verbindung standen. Der zwischen dem damals auf der Höhe seines Ansehens stehenden Zürcher Alfred Escher und S. in der Bundesversammlung hervortretende Gegensatz, besonders in den materiellen Fragen der Eisenbahnpolitik, machte sich aber auch in den Luzerner Parteiverhältnissen geltend. In der wilden, leidenschaftlich erhitzten Wahlbewegung von 1867 wurde S. bei der Zusammensetzung des Regierungsrathes übergangen.

1869 trat eine Wendung ein, indem eine Vereinigung jüngerer Liberaler bei der angebahnten Partialrevision durch den Großen Rath verschiedene von S. schon länger befürwortete Abwandlungen demokratischer Färbung, das Finanzreferendum, andere Erleichterungen der Volksabstimmung, Abtretung der Lehrerwahlen an die Gemeinden, unterstützen half. 1871 vollends siegte in den Wahlen die conservative Partei, und als anerkanntes Haupt der jetzt zur Mehrheit gelangten Gesinnungsgenossen wurde S. in den Regierungsrath berufen, an dessen Spitze er 1872 als Schultheiß gelangte. In der gleichen Zeit stellte er sich aber auch wieder, als Verfechter des föderalistischen Standpunktes im Nationalrathe, in der Bundesversammlung bei der Berathung der ersten 1872 in der Abstimmung verworfenen Bundesrevision, in einer Reihe sehr gewichtiger Reden, in den Vordergrund, als Bekämpfer des von ihm beklagten „krankhaften Strebens nach Zerstörung der Elemente unseres eigenthümlichen specifischen Lebens“. Der Gedanke, den er in einer Rede über die politischen Rechte der Niedergelassenen aussprach: „Wenn einmal die Schweiz statt ihrer lebenskräftigen Gemeinden in lauter gleiche Vierecke mit der berühmten ortsanwesenden Bevölkerung eingetheilt ist, so habe ich keinen Begriff mehr davon, was eine solche Schweiz dann noch sein soll“ – kehrt variirt in allen diesen muthigen Kundgebungen politischer Ueberzeugung wieder, daß mit der Durchschneidung des Lebensfadens für die Kantone die geschichtliche Grundlage und damit der gesunde Boden der Eidgenossenschaft verlassen sei. Auch die Waffen des schärfsten Sarkasmus verschmähte er dabei nicht, so z. B. in dem Schluß einer Rede über die Cultusfreiheit, [597] am 7. December 1871, wo er vom Kreuz, dem gemeinsamen Symbol aller christlichen Confessionen, auf Fahnen und Sigill der Eidgenossen sprach: „Schämt Ihr Euch des Christenthums, so entfernt auch sein Zeichen von Fahnen und Siegel; ersetzet es durch eine Wurst, das Sinnbild unterschiedsloser Centralisation in ein rein äußerliches mechanisches Bindemittel!“ Denn mochte auch S. von Kundgebungen einer agitatorisch aggressiver auftretenden Richtung innerhalb des Katholicismus sich fern halten und deshalb zeitweise Angriffen aus „der jüngeren in Jesuitenschulen gebildeten Geistlichkeit“ ausgesetzt gewesen sein, so waren und blieben ihm Religion und Cultus derselben eine Herzenssache. Das erwies sich in den Debatten bei der zweiten Bundesrevision, die nun schon den Bewegungen wegen der altkatholischen Kirchenorganisation parallel gingen, 1873 und 1874. Dem Ergebnisse dieser Berathungen, der 1874 angenommenen neuen Bundesverfassung, versagte S. bis zu seinem Lebensende den Ausdruck seiner vollsten Abneigung nicht, und er nannte sie noch 1887 ein „constitutionelles Werk, das, wie kein anderes, unheilvolle Folgen für ein Volk nach sich gezogen und in kurzer Zeit zur Reife gebracht hat“. Dazu kam noch, daß wegen der Einführung der revidirten Bundesverfassung auch die kantonale Verfassung von Luzern einer theilweisen Revision unterzogen werden mußte: „Indem die Bundesgewalt und Bundesautorität sich im Gegensatz zu den Kantonen constituirte, reichte sie allen oppositionelltn Elementen in den letzteren die Hand und drückte, weil sie die höhere Gewalt war, natürlich die kantonale Autorität zur Unbedeutendheit herab“. Dagegen befestigte sich die Stellung der um S. sich schaarenden conservativen Mehrheit in den Wahlen des Kantons von 1875, und er selbst trat nun im Regierungsrath in die Besorgung des Justizdepartements über, das er von da an fortwährend beibehielt. In eidgenössischer und kantonaler Hinsicht zugleich war die Wahl der Stellung von Tragweite, die S. in einer für ihn selbstverständlichen Weise nahm, als im Zusammenhang mit dem von ihm auch publicistisch 1875 beleuchteten „Culturkampf“ das Bisthum Basel in seiner bisherigen Gestalt in Frage gesetzt wurde und Bischof Lachat auf dem Boden von Luzern Zuflucht fand, andererseits in der Behandlung der Subvention der Gotthardbahn seit der 1876 eingetretenen Krisis derselben. Freilich blieb S. selbst auch in der Luzerner Regierung mit seinem ablehnenden Votum in der zweiten Angelegenheit in Minderheit. Im übrigen aber verflossen diese letzten Jahre seit den Erneuerungen von 1883 und 1887 in geringerer Bewegung, als das vorangegangene Jahrzehnt.

Am Tage der Bestattung Segesser’s, am 3. Juli 1888, waren besonders die vom Vertreter des Bundesrathes gesprochenen Worte bemerkenswerth, da der Redner, Welti, in der Hauptsache stets politischer Gegner des Verstorbenen gewesen war. Die Charakteristik des Luzerner Politikers lautete hier sehr zutreffend: „Der Glaube an die Existenz seines engeren Vaterlandes wurde in ihm im Keime vernichtet. Der Geburtstag der neuen Eidgenossenschaft war für ihn, wie er glaubte, der Todestag des Kantons Luzern. Diesen Gram hat er durch sein ganzes Leben hin mit sich getragen. Aber mochte er auch 1847 in seinen Jugendidealen gebändigt und gezwungen sein, gebrochen war er nicht, so daß er in langem ehrlichem Kampfe weiter rang und stritt“. –

Segesser’s bleibende Bedeutung liegt aber in seiner zu reicher Entfaltung gelangten litterarischen Thätigkeit, welche theils auf dem historischen, insbesondere auch rechtsgeschichtlichen Gebiete, theils auf demjenigen der höheren Publicistik sich darlegte. Mit dem Jahre 1844 beginnt dieselbe.

Zu dem „Geschichtsfreund“, dem Organe des historischen Vereins der fünf Orte, welchem S. schon fast in dessen Anfängen 1843 beigetreten war, gab er in die zweite Lieferung von Bd. I., als „rechtshistorischen Versuch“, den Aufsatz [598] „Lucern unter Murbach“, in welchem der Ausgangspunkt seines später folgenden Hauptwerkes zu sehen ist. Doch die Ereignisse des Tages führten nach der Katastrophe von 1847 den jungen conservativen Politiker in die Gegenwart hinein, und durch die Vermittlung baslerischer Freunde in Basel gedruckt, erschien anonym 1848 die Schrift: „Beiträge zur Geschichte des inneren Krieges in der Schweiz im November 1847, von einem schweizerischen Milizofficier“ (Basel). Als S. nach mehr als dreißig Jahren das kleine Stück unverändert, nur mit Berichtigung thatsächlicher Irrthümer, in Bd. II der „Sammlung kleiner Schriften“ neu herausgab, bezeichnete er in der neugeschriebenen Einleitung diese, wie er annimmt, erste über den Sonderbundskrieg erschienene Publication als „ein Stimmungsbild mitten aus der Zeit“, als „den ersten Act, mit welchem die im Felde Unterlegenen, noch unter dem allgemeinen Halloh der Sieger, wiederum ihr Dasein beurkundeten“. Eben in dieser Frische und Unmittelbarkeit liegt der bleibende Werth der Veröffentlichung. Selbstverständlich verleugnet sich der subjective Standpunkt des Verfassers, welcher übrigens, in Anbetracht der Zeitumstände, merkwürdige Ruhe festzuhalten weiß, keinen Augenblick; aber die Art und Weise, wie die großen Fehler und Versäumnisse der eigenen Partei, „die nicht dem Volke zur Last fielen, das seine Pflicht in schönster und aufopferndster Weise gethan hatte“, offen beleuchtet werden, vermehrt das Vertrauen in die Zuverlässigkeit dieses so interessanten und außerdem trefflich geschriebenen Bekenntnisses. Von 1850 bis 1858 folgten sich dann die vier starken Bände der „Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Lucern“ (Lucern). Erweist sich dabei in den älteren Abtheilungen die Forschung, wie das übrigens für die Zeit der Entstehung des Werkes nicht anders erwartet werden konnte, noch vielfach, ähnlich wie in dem als Muster genannten Werke Bluntschli’s über Zürich, als zu sehr von jetzt überholten, auf Eichhorn zurückgehenden Constructionen abhängig, so sind dagegen die späteren Abschnitte, über Recht, Verfassung, Verwaltung der neueren Jahrhunderte, um so bemerkenswerther, wenn auch die breite Anlage des Ganzen die Grenzen mitunter überschreitet. Mit großer Sorgfalt geht S. neben der Entwicklung der regierenden, den Staat aufbauenden Stadt auch den Rechtsverhältnissen der einzelnen Gemeinden und Aemter nach, aus denen das Kantonalgebiet nach und nach erwuchs, und er suchte die schließliche Wandelung der politischen Begriffe durch eine allerdings zuletzt knapp zusammengezogene Fortsetzung bis auf das Jahr 1848 hinunter darzuthun. Wie er schon in den ersten Worten der Einleitung es aussprach, daß nach seiner Ueberzeugung vor dem Rechte die Religion als einer der „zwei Grundbegriffe“, „weil in ihnen auch alles wahrhaft menschliche Leben sich wesentlich bewegt und gestaltet“, „aller pragmatischen Behandlung der Geschichte als Unterlage dienen müsse“, so wandte der Rechtshistoriker in den zwei letzten Bänden dem Verhältnisse zwischen Kirche und Staat in Luzern, dem seit der Reformation als katholischer Vorort innerhalb der einen Abtheilung der Eidgenossenschaft voranstehenden Gemeinwesen, besonderes Augenmerk zu; die enge Verbindung der Staatsleitung mit den gegenreformatorischen Tendenzen vom 16. bis in das 17. Jahrhundert, hernach im 18. Jahrhundert die weit schärfere Betonung der staatlichen Ansprüche gegenüber Nuntius und Klerus durch die wenigstens in einigen Persönlichkeiten einem aufgeklärten Absolutismus entschieden sich zuneigende Regierung, diese eigenthümlichen Wandlungen, von welchen jene zweite Phase nach der deutlich durchklingenden Auffassung des Verfassers als eine Abwendung von Luzern’s ererbter gebotener Politik angesehen wird, treten in helles Licht, und besonders ist den Verhandlungen und Beschlüssen des Concils von Trient ein eingehender Abschnitt gewidmet. Als Ergänzungen zum Hauptwerke sind die Uebersicht über die Rechtsquellen von Luzern, in Bd. V [599] der Zeitschrift für schweizerisches Recht, dann die Ausgabe des alten Stadtrechtes von Luzern (1855) und die Abhandlung: Ueber das bürgerliche Gesetzbuch von 1812, in Bd. III der Zeitschrift der juristischen Gesellschaft des Kantons, anzusehen. Die Anerkennung für diese Leistungen des Rechtshistorikers war 1860 die Verleihung des Doctortitels bei der Feier des vierhundertjährigen Bestandes der Hochschule von Basel.

Andere wichtige Arbeiten liegen auf dem Felde der allgemeinen schweizerischen Geschichte. Als 1852 die Fortsetzung der schon 1839 mit der Herausgabe des Bd. I begonnenen Amtlichen Sammlung der älteren eidgenössischen Abschiede von den Bundesbehörden angeordnet wurde, übernahm S. die Bearbeitung des über die Jahre 1478 bis 1520 sich erstreckenden Bd. III, der aber wegen der großen Reichhaltigkeit des Materials in zwei Abtheilungen zerlegt werden mußte. Deren erste, bis 1499 reichend, erschien 1858, die zweite 1869. Allein auch Bd. II, über die Jahre 1421 bis 1477, war 1858 nach dem Tode von Gerold Meyer von Knonau (s. A. D. B. XXI, 619), der zuerst die Aufgabe angetreten hatte, an S. übergegangen; derselbe kam 1863 im Drucke heraus. Endlich aber war, da der früher durch Kopp (s. A. D. B. XVI, 686) veröffentlichte Bd. I weder in seiner äußeren Form, noch in der Vollständigkeit des Inhaltes dem 1851 für die folgenden Bände angenommenen erweiterten Programme mehr entsprach, S. die neue Bearbeitung dieser ersten Periode – von 1245 bis 1420 – überbunden worden, und bis 1874 war auch dieser Auftrag erfüllt. So ist die gesammte Zeit der jugendkräftigen Entwicklung, des Wachsthums und der auf der Höhe des Ansehens stehenden Geltung der schweizerischen Eidgenossenschaft, von den ersten Anfängen bis auf den Eintritt der confessionellen Trennung, durch den Fleiß Segesser’s in dem großen Quellenwerke vorgeführt. Dabei machte sich im Laufe der Arbeit eine förderliche Erweiterung der Auffassung des gewordenen Auftrages geltend. Noch für Bd. III hatte sich S. an das 1851 aufgestellte Programm gehalten und einzig das im eigentlichen Sinne des Wortes zu den Abschieden gehörende Material herangezogen. Doch – so sagt er selbst im „Vorworte“ zu diesem Bande – „die Abschiede dieser Zeit hatten nicht Verhandlungsprotocolle im neueren Sinne, sondern mehr nur Gedenkpunkte für die Abgeordneten zum Bericht an ihre Obrigkeit oder zur Instructionseinholung zu liefern im Auge“; so sind die wichtigsten Bündnisse und Verträge, da die Urkunden nicht als Theil des betreffenden Abschiedes, sondern als besondere Acte ausgefertigt und dann in die Orte, je nach Umständen zur Ratification oder einfach zur Besiegelung, gesendet wurden, selten erwähnt, geschweige denn im Wortlaute aufgenommen. Hatte also der Bearbeiter schon für Bd. III zu den erforderlichen Einschaltungen die Urkundenvorräthe der Kantonsarchive zu durchforschen, so setzte er sich vollends für Bd. II die weitere Aufgabe, die Verhandlungen, welche den Text der Sammlung ausmachen, durch noch vorliegende Correspondenzen, Gesandtschaftsberichte und ähnliche Acten, aus den Urkunden, den Rathsbüchern, den Missivenbüchern der kantonalen Archive, zu erläutern und zu ergänzen. Ganz besonders aber unterscheidet sich die neue Bearbeitung von Bd. I von der früheren durch die Beigabe eines Anhanges der „Regesten“ vom Jahre 1231 – Heinrich’s VII. Urkunde für Uri – an, behufs Beleuchtung „der Gestaltung der Bundesverhältnisse aller späteren Glieder des eidgenössischen Verbandes in ihrer voreidgenössischen Zeit“. Für das Verständniß, welches S. seinem Auftrage entgegenbrachte, ist insbesondere das sehr eingehende und vielseitig belehrende „Vorwort“ zu Bd. II, mit der Vorführung des Quellenstoffes und der Würdigung der behandelten ereignißreichen Periode, von Bedeutung. – Aber aus der Beschäftigung mit der Geschichte des 15. Jahrhunderts erwuchsen dem Bearbeiter der Abschiede noch weitere Arbeiten. [600] Vielleicht die abgerundetste, da sie einen geschlossenen Stoff darstellt, jedenfalls eine der verdienstlichsten Forschungen Segesser’s sind die „Beiträge zur Geschichte des Stanser Verkommnisses, zuerst veröffentlicht in Bd. I der „Geschichtsblätter aus der Schweiz“, 1854, an welcher in Luzern erscheinenden Zeitschrift S. sich mit dem Herausgeber Kopp betheiligte, später erweitert und umgearbeitet in Bd. II der „Sammlung kleiner Schriften“ wiederholt. Die Tragweite der gefährlichen Gegensätze, welche gleich nach Abschluß des Burgunderkrieges die siegreiche Eidgenossenschaft zu zersprengen drohten, der glückliche Austrag der Streitigkeiten durch den am 22. December 1481 zu Stans abgeschlossenen Vertrag, der Antheil, den der Unterwaldner Waldbruder Klaus von Flüe (s. A. D. B. VII, 137 u. 138) an dieser Aussöhnung hatte, besonders aber auch die fortgesetzte Bedeutung des Verkommnisses als staatsrechtliche Grundlage innerhalb der alten Eidgenossenschaft: alle diese Geschichtspunkte haben in dieser Abhandlung eine ausgezeichnete Würdigung gefunden. Scharfe Brandmarkung erfährt dabei die „klägliche Geschichtsmacherei“, wie sie in unwahrer Anschwärzung des Verkommnisses seit Friedrich Cäsar Laharpe[WS 1], der sich 1837 in alten Tagen noch in einem Geschichtskatechismus versuchte, vielfach in Berechnung auf weitere Kreise sich breit macht. Eine zweite Frucht der einschlägigen Studien war 1860 die separat erschienene Schrift: Die Beziehungen der Schweizer zu Matthias Corvinus, König von Ungarn, in den Jahren 1476 bis 1490, welche auch in Bd. II der späteren „Sammlung“ wiederkehrt. Eine andere Seite der Folgen der Niederwerfung Herzog Karl’s des Kühnen, die Werbung um die eidgenössische kriegerische Kraft für den fremden Kriegsdienst, schon aus beträchtlicher Entfernung, mit den daraus erwachsenden Erscheinungen des Pensionswesens, tritt hier zu Tage.

Bereits in seiner Luzerner Rechtsgeschichte hatte S. in der Würdigung der Jahrhunderte der Neuzeit „die allgemeinen Verhältnisse, innert welchen sich dieses besondere Staatsleben bewegte“ – „Der mächtige Gang gleichzeitiger Völkergeschichte ist das Medium, in welchem auch das kleinste staatliche Individuum seinen Entwicklungsproceß macht“ – in vollem Verständnisse der gegenseitigen Beziehungen nachdrücklich herangezogen. Der Luzerner Staatsmann blickte mit berechtigtem Stolze auf eine Zeit zurück, wo von seiner Stadt aus, trotz ihrer kaum 5 bis 6000 Einwohner – „Aber man darf nicht vergessen, daß zu jener Zeit die Großen kleiner und die Kleinen größer waren als heutzutage“ – ein nicht geringes Gewicht in die Wagschale der Entscheidungen im Wettkampfe der europäischen Staaten geworfen wurde. Da aber stand ihm in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts „der größte Mann, der je an der Spitze Luzerns und der katholischen Schweiz gestanden ist“, vor den Augen: Ludwig Pfyffer, „einer der berühmtesten Krieger und der bedeutendsten Politiker seiner Zeit“, und sicherlich war der Umstand, daß die „allgemeiner erkannte und bestimmter vorgezeichnete Aufgabe, die Selbständigkeit der katholischen Schweiz gegenüber der größeren Macht und der aggressiven Tendenz der protestantischen Kantone sicherzustellen“ für Pfyffer bestimmt sich einstellte, bei S. vorzüglich maßgebend, eben diese historische Persönlichkeit zum Gegenstande eines groß angelegten Werkes sich auszuwählen. So erwuchs das 1880 bis 1882 erschienene Buch: Ludwig Pfyffer und seine Zeit, ein Stück französischer und schweizerischer Geschichte im 16. Jahrhundert (Bd. I–III, Bern: s. A. D. B. XXV, 727 bis 737). So sehr nun der Werth dieser Arbeit in der Gegenüberstellung der allgemeinen und der specifisch örtlichen Verhältnisse liegt, wie z. B. in Bd. II, S. 10 ff, der Stato in Florenz, auf welchen sich die Medicäer zu ihrer Machtübung stützten, zum Verständniß der Beziehungen zwischen den politisch maßgebenden Luzerner Geschlechtern in Parallele gesetzt wird, so liegt doch anderentheils [601] in dem von Zeit zu Zeit nothwendigen Durcheinanderschieben von Ereignissen der großen und der kleinen Schaubühne der Dinge – Pfyffer tritt mitunter längere Zeit vom Boden der größeren Entscheidungen hinweg – eine Schwäche des Aufbaues des Gesammtwerkes. Unvernünftig wäre es, vorauszusetzen, daß der Geschichte schreibende Schultheiß von Luzern in der Beurtheilung der großen Gegensätze der geschilderten Zeit einen anderen Maßstab an die Dinge legte, als das bei jenem seinem Vorgänger im Amte der Fall gewesen war, bei dem Politiker, welcher aufhörte, sein ganzes Denken und Thun dem Königthum in Frankreich zu widmen, so bald dasselbe aufhörte, ein Vorkämpfer des Katholicismus zu sein. Schwerer fällt dagegen in das Gewicht, daß eine nachfolgende eindringlichere Forschung S. in einem Abschnitte, wo es sich um die richtige und billige Interpretation und Verwendung ganz bestimmter Quellenaussagen in einer enger begrenzten, zur schweizerischen Geschichte zählenden Angelegenheit handelte, einseitige Behandlung und daraus entspringende schiefe Beleuchtung von Thatsachen unleugbar nachzuweisen vermochte (W. Oechsli in der sehr bemerkenswerthen Abhandlung: Orte und Zugewandte, im Jahrbuch für schweizerische Geschichte, Bd. XIII, S. 363–389, 1888, gegen S., Bd. III, 1. Abtheilung, S. 190–217, in der Behandlung der Mühlhauser Unruhen).

Sehr einläßliche Forschungen zur eigenen Familiengeschichte, mit Urkundenregesten und Stammtafeln, ließ S. 1884 und 1885 (Bern), „als Manuscript gedruckt“, erscheinen: Die Segesser zu Mellingen, Aarau und Brugg 1250 bis 1550, hernach: Genealogie und Geschlechtshistorie der Segesser von Brunegg in der Schweiz und im deutschen Reiche. Aehnlich gehört der Familiengeschichte das aus dem Nachlasse herausgegebene Schriftchen: Werners von Meggen Heirathsgeschichte (Luzern, 1889) an. Dagegen waren in Bd. III und IV der „Sammlung kleiner Schriften“, 1879 und 1887 (Bern), Beiträge zur eigenen Lebensgeschichte. Jener brachte: Reden im schweizerischen Nationalrathe und staatsrechtliche Abhandlungen 1848–1878, eingeleitet durch einen „Rückblick als Vorwort“, in dem S. in äußerst freimüthiger, oft höchst pikanter Weise die Zusammensetzung und die Wirksamkeit des Nationalrathes in den bezeichneten ersten dreißig Jahren schilderte; die Reden selbst beweisen die geistreiche Art und Weise des stets fesselnden, auch dem Gegner Achtung abnöthigenden parlamentarischen Sprechers, welcher besonders auch die ihm inne wohnende reichhaltige geschichtliche Kunde stets geschickt zu verwerthen verstand. Bd. IV dagegen – Fünfundvierzig Jahre im Luzernischen Staatsdienst, Erinnerungen und Acten aus dem kantonalen Leben. 1841–1887, soll „gewissermaßen einen Rechenschaftsbericht“ enthalten, „als Material zur Geschichte einer immerhin nicht uninteressanten zeitgeschichtlichen Entwicklung auf einem kleinen der Vergessenheit entgegeneilenden Schauplatz“; eine größere Zahl von politischen Brochüren, welche Theile des Kampfes bildeten, ferner Reden, theils Voten, theils oratorische Vorbringungen bei der gewohnten Feier des Gedenktages der Sempacher Schlacht, finden sich eingeschaltet. Der am meisten allgemeine Beachtung verdienende erste Abschnitt, über die Zeit bis 1847 und 1851, kehrt mehrfach ähnlich, doch noch mehr als subjective Erzählung gestaltet, im ersten Theile der aus dem Nachlaß in den Katholischen Schweizer-Blättern, VI. Jahrgang (1890: Luzern) herausgegebenen „Erinnerungen“ wieder, welche bis 1867 reichen. Höchst anmuthig ist da der Abriß der Jugendgeschichte bis zum Abgang auf die Universität, vorzüglich die Darstellung des Lebens auf dem Familiengute, Schloß Buchen, und die Schilderung der Stadt Luzern vor deren Umwandlung in eine große europäische Reisestation.

Eine besondere Stärke Segesser’s lag aber endlich auf dem Boden der publicistischen Bethätigung. Zwar konnte sich S., so sehr er den Mangel eines [602] seinen Anforderungen nachkommenden conservativen Parteiorganes vermißte, nie zur eigentlichen Arbeit eines Zeitungs-Herausgebers entschließen. Aber er suchte, abgesehen von jenen politischen Schriften, den Ereignissen in seiner Weise zu folgen. Das geschah theils in äußerst anschaulich und charakteristisch entworfenen Lebensbildern, „Nekrologen von Zeitgenossen“ – zwölf derselben stehen in Bd. II der „Sammlung kleiner Schriften“ –, von denen mehrere nicht nur das Gelungenste darstellen, was aus Segesser’s stilgewandter Feder hervorging, sondern geradezu als Muster solcher kurzer biographischer Arbeiten gelten dürfen. Es sind überwiegend Luzerner, die zur Darstellung gelangen, daneben auch einige andere Männer der Urschweiz und der Berner gelehrte Rechtshistoriker Ed. von Wattenwyl (s. d. Art.), zugleich der einzige Nichtkatholik, dem die Ehre solcher Schilderung hier gegönnt ist. Auch hier finden sich oft ausgezeichnete kleine Bemerkungen eingestreut, welche tief in des Verfassers Gedanken blicken lassen, so wenn es bei der Würdigung des Schultheißen Rüttimann (s. A. D. B. XXX, 57–60) heißt: „In der Bürgerschaft von Luzern war noch stolzes Selbstgefühl vorhanden; im Sommer sah man nicht ungern die Engländer in ihren Vierspännern zum Adler fahren – aber Niemandem fiel ein, daß die Stadt um ihretwillen da sei“. Sehr interessant sind in dem Artikel über den 1850 verstorbenen General Ludwig von Sonnenberg die Episoden aus dem spanischen Krieg von 1809, einer militärischen Intervention im Kanton Tessin 1814, dem Freischaarenzug von 1845. In der Beurtheilung Constantin Siegwart’s – S. beginnt: „Es sieht fast aus wie Feigheit, wenn an diesem frischen Grabe kein conservativer Luzerner ein offenes Wort zu sprechen wagt“ – ist die Schilderung um so beachtenswerther, da S. in der Höhezeit der Geltung dieses Politikers dem „Formalisten“, der ihm zugleich in vielen Stücken als „moderner Centralist“ erschien, dem „Politischen Apostaten“ gegenüber sich kühl kritisch verhalten hatte. – Andere Zeitungsbeiträge Segesser’s sind Recensionen, von denen gleichfalls einige in Bd. II. wiederabgedruckt sind.

Ganz vorzüglich jedoch fallen für die Beurtheilung Segesser’s noch die in Bd. I vereinigten „Studien und Glossen zur Tagesgeschichte, 1859–75“ ins Gewicht, in welchen er den Ereignissen vom italienischen Kriege bis zum Culturkampfe – in acht successiven, zum Theil noch mit Nachträgen vermehrten Aufsätzen, die zuerst separat erschienen und nicht geringe Beachtung fanden – betrachtend nachging. Von denselben hatte der letzte, 1875 erschienene und auch in das Französische übersetzte, über den Culturkampf, seine eigene Geschichte gehabt, da S., der sich, obschon ganz auf dem Boden des Vaticanums – nach dessen Aufstellung – und der katholischen Orthodoxie stehend, darin eine gewisse Selbständigkeit des Urtheils gewahrt hatte, wegen der Schrift in die Gefahr gerieth, durch die Index-Congregation in Rom auf das Verzeichniß der verbotenen Bücher gesetzt zu werden. Zuerst hetzte ein schweizerisches Organ des extremen Clericalismus dagegen, daß er als ein Führer der schweizerischen Katholiken bezeichnet werde; dann erhob sich aus der französischen Uebertragung ein Sturm in der ultramontanen Presse in Belgien und Frankreich gegen den „liberal-katholischen, wo nicht ketzerischen“ Verfasser, und von dort aus geschah auch die Anschwärzung in Rom. Allein S. erklärte auf die Einladung, die übliche Submissionsformel zu unterzeichnen, daß er sich in litterarischen und politischen Dingen – und die Schrift habe keinerlei theologische oder lehramtliche Bedeutung – Niemandem zu unterwerfen habe, und so unterblieb auch die Setzung der Schrift auf den Index.

Die anderen Abhandlungen betreffen denn nun auch ganz überwiegend die politischen Wandelungen Europas von 1859 durch 1861, 1864, 1866, 1870 hin, mit einer entschiedenen Berücksichtigung der Union in dem Aufsatze: „Die [603] Monarchie und die Republik in Europa und Amerika“ (1866). Freilich fehlt es dabei nicht an nothwendig sich einstellenden Wiederholungen, besonders in den breiten Ausführungen über das Jahr 1861, die überhaupt am wenigsten beachtenswerth sind, wobei dann auch, wie es nicht anders sein konnte, bei den eintretenden Wandelungen gewisse Modificationen von vorher äußerst sicher aufgestellten Behauptungen sich ergeben. Doch sind zahlreiche Abschnitte auch in allen diesen Aufsätzen wieder Beweise für die geistreiche Auffassung, die geschmackvolle Schreibweise des Glossators der Zeitgeschichte. Freilich hat dabei der Leser, welcher Segesser’s Ausführungen folgen will, von vorne herein die eine Bedingung zu erfüllen, daß er sich mit ihm auf den Boden andächtiger Verehrung für die „demokratische Monarchie, welche, wie keine, dem Geiste der Zeit und den Bedürfnissen der Völker entspricht“, für das Kaiserthum Napoleon’s III. und dessen „große Gestalt“, begebe; denn von dieser Auffassung aus geschieht die gesammte Construction der Dinge von 1859 bis 70, gemäß der „individuellen Anschauung der Zeitgeschichte“ von Seite des Verfassers. S. sagte 1861 geradezu, „daß das französische Kaiserreich allein die Elemente der Zukunft in sich trägt, diese Macht allein dem Katholicismus eine politische Zukunft in Aussicht zu stellen hat, daß mit ihr die Kirche sich zu versöhnen hat, wenn sie auf breiter Grundlage ihre Culturmission erfüllen, heilend und beseligend in das mannichfache Verderben der Zeit eingreifen will“, und 1865 widmete er Napoleon’s Leben des Cäsar ganz so eine Studie, wie vorher eine solche der Encyclica des Papstes geschenkt worden war, mit den Worten: „Es liegt etwas Großartiges, für das Gefühl der menschlichen Solidarität Erhebendes in dieser Appellation der höchsten Gewalten, der einen an den Glauben, der anderen an die Intelligenz sprechenden, an das allgemeine Bewußtsein der gebildeten Welt; Beide verlangen von uns die Anerkennung der Wege der Vorsehung“. Ihm war die Expedition nach Mexiko „eine, wie sie anfänglich projectirt war, tiefe, in ihrem ganzen Wesen großartige Combination“, Napoleon III. auch noch 1870 der „tiefe ruhige Denker“. Aber von diesem Glanze fällt auch ein reicher Widerschein auf Napoleon I. zurück, dessen Prätorianerabenteuer von 1815 „ein unsterblicher Feldzug zur Vertheidigung seiner Krone und seines Landes, das letzte Vermächtniß an die Nation“ gewesen sein soll; die kecken Rechtfertigungslügen des Kaisers von 1812, von „dem ungewöhnlich früh sich einstellenden nordischen Winter“ und „der noch kein Beispiel in der Geschichte aufweisenden freiwilligen Aufopferung Moskaus“, haben gleichfalls gläubige Verwendung bei S. gefunden. Wenn nun freilich auf der einen Seite auch hier immer wieder viele Urtheile, so die zwar widerwillig gegebene Würdigung Garibaldi’s 1859 oder das ebenfalls damals über die englisch-österreichischen Beziehungen gebrauchte Bild, England habe von jeher an Oesterreich nur das Interesse genommen, „das ein Hauseigenthümer an seinem Blitzableiter nimmt“, durch das Treffende der Worte überraschen, so war dagegen S. ganz und gar nicht im Stande, einer großen Erscheinung der Zeit, der Entwicklung der deutschen Dinge, irgendwie gerecht zu werden. Es war allerdings für denjenigen, der noch 1861 „außer Zweifel“ setzte, „daß das aus dem Mittelalter herübergekommene Uebergewicht der germanischen Nationalität sein Ende erreicht hat“, der noch 1864 einzig Frankreich, England und Rußland als die auf die Weltverhältnisse entscheidendsten Einfluß übenden Staaten nannte, peinlich, mit sichtbarster Verdrossenheit nach und nach die Wendung in dieser Hinsicht verzeichnen zu müssen. So folgte S. dem Verlaufe der Ereignisse, von dem „wüsten Eroberungszug“, „der Beraubung des kleinen Dänemark“ 1864 zum „frevelhaften Angriff auf Oesterreich“ und vollends zum Kriege von 1870, wo „etwas Fremdartiges, Unedles über große Interessen der Civilisation den Sieg davon [604] getragen“, „die Gier nach dem Ruhm Alarich’s und Tamerlan’s“ triumphirt habe. Er klagte über dem gebrochenen Kaiserthrone, als über einem Wendepunkt der Geschichte, dem ähnlich, „wo die griechische Phalanx der römischen Legion erlag, die Anmuth und Mannichfaltigkeit der griechischen Cultur unterging“. Manches klingt hier schlechthin thöricht, so wenn S. findet, „daß die Erhebung des hohenzollernschen Prinzen auf den Thron von Spanien gleichbedeutend war mit der Einführung der preußischen Heeresorganisation in Spanien“, wie denn überhaupt der Glossator seine Feder in diesem Zusammenhang den damaligen chauvinistischen Rufen der Pariser Straßenmassen dienstbar machte, welche in der spanischen Candidatur Karl’s V. Reich wieder auflebend erkennen wollten. S. hätte eine ganz andere Gestaltung Deutschlands gewünscht als die 1871 begründete: – wie schon „der Rheinbund an sich eine ganz richtige Idee war“, so schwebte ihm „die Vergrößerung Baierns zu einer entsprechenden Macht in Deutschland vor, so daß es ein selbständiges Centrum für die süddeutschen katholischen Gebiete würde“ –; denn dies schien ihm „im Interesse einer katholischen Politik in Europa“ zu liegen, ganz ähnlich wie sich ihm zur Zeit des im Frieden von Villafranca geplanten italienischen Bundes Sitz und Stimme Frankreichs innerhalb des Bundes als den katholischen Interessen dienlich dargestellt hatte. Für Oesterreich hatte er den Vorschlag, „daß die deutsche Nationalität von den Slaven die frische Jugendkraft einer zukunftreichen Race anzunehmen und hinwieder jene mit der deutschen Geistescultur zu durchdringen bestimmt sei“, anstatt daß man, wie er 1875 jammert, „die Czechen und die Tiroler, die der Krone treuesten Völker, den Deutschen opfere“. Doch noch weitere Voraussagungen fehlen nicht, z. B. daß „in Rußland – es ist zunächst von der Religion die Rede – die individuelle Ueberzeugung nicht angetastet wird“. Vollends aber eines Mannes von dem sittlichen Range Segesser’s unwürdig war es, in Rücksicht auf Bismarck, den er mit Vorliebe als den Hausmeier des Merovingers immer wieder einführt, von dem Kissinger Attentat von 1874 als von einer „Farce“, einer „armseligsten Posse“ zu sprechen. S. kannte eben seit dem Krieg von 1870 in Europa nur „Begriffsverwirrung“; das System, das seine berechtigte Stellung im „Kampf der neuen demokratischen Monarchie gegen die alte Monarchie“ errungen hatte, ist ihm zerstört; das ihm in Napoleon III. so schön repräsentirte Gleichgewicht – allerdings ist ja das „große Wort, welches die Aufgabe der modernen Civilisation gegenüber der Barbarei des ewigen Kampfes enthält“, die stets vom Kaiser neu aufgebrachte Congreßidee, durch die „Armseligkeiten“ der Diplomatie nie zur That geworden – existirt nicht mehr.

Von diesen politischen Constructionen Segesser’s, dessen historische Deductionen da auch oft sehr gewaltsam zurecht gemacht sind, wendet man sich lieber zu den Ausführungen über die kirchlichen Fragen, den Erörterungen über das Verhältniß zwischen Kirche und Staat, in denen zwar der Kritiker seine Zugehörigkeit zur päpstlich-katholischen Kirche nirgends verleugnet, daneben aber eine Reihe ganz selbständiger Auffassungen vorbringt. Sehr verständnißreiche und vorurtheilslose Bemerkungen über Reformation und Protestantismus sind hier an vielen Stellen eingestreut – so: „Vorzüglich weil die Werkheiligkeit in dem Mißbrauch des Ablasses ihre Spitze erreicht hatte, wurde die katholische Lehre von der Rechtfertigung angegriffen“, oder: „Italien hat den heilsamen Proceß der Reformation nicht durchgemacht“ –; anderentheils ist dem Verfasser der Studie über den Culturkampf ohne Zweifel zuzugeben, daß dieser Angriff, wie er gegen die katholische Lehre und Kirchenorganisation ging, „in weiterem Sinne alle negativen Elemente gegen die christliche Cultur überhaupt in Action setzte“. Dabei aber hält S. auch mit seinem Urtheile nicht zurück, wo es gegen die Politik Pius’ IX. selbst tadelnd lautete. Er begriff z. B. nicht, daß der Papst [605] 1860 angesichts der syrischen Frage schwieg, daß demnach die Wirkung nicht eintrat, die zu hoffen war, „wenn der heilige Vater sich vom römischen Curialstyl emancipirt und der Welt gezeigt hätte, daß mitten in Trübsal und Beraubung seine Sorge für die Christen über der Sorge für das Kirchengut stehe“, und er mißbilligte es 1861, daß die Angelegenheit der Bedrohung des Kirchenstaates, „in Verwechslung von völkerrechtlichen und religiösen Gesichtspunkten – nach unserer Ansicht etwas zu früh und mehr als nöthig“ – auf das kirchliche Gebiet gezogen wurde; 1864 fand S. in der Studie über Encyclica und Syllabus, „daß in der Form dieser päpstlichen Kundgebung der Einfluß einer strengen, der Vergangenheit zugewendeten Schule und Lebensanschauung sichtbar wurde“. Ganz besonders jedoch ist der Muth der Ueberzeugung zu achten, mit welchem noch 1877 die Worte aus der 1869 zuerst gedruckten Abhandlung: „Am Vorabend des Conciliums“ wieder gebracht wurden. S. hatte dort auseinander gesetzt, daß schon zu Trient der Versuch gemacht worden sei, die Unfehlbarkeit des Papstes bei Entscheidungen ex cathedra zur allgemeinen Geltung zu bringen: „Aber er scheiterte zum Segen der Kirche“. Darauf fährt er fort: „Wir wünschen, daß die Lehren der Geschichte beherzigt werden, und daß das Concilium von 1869 nicht mit Stillschweigen über diese Theorie hinweggehe, sondern sie geradezu als der richtigen kirchlichen Auffassung widersprechend erkläre“.

S. nannte sich einmal „einen starken Nativisten von Haus aus“, und hierin lag seine Kraft. Dabei war er ein Charakter aristokratischen Zuschnitts, zurückhaltenden Wesens; doch er war durch die eigenthümliche Gestaltung der Dinge, indem er schon durch das Repräsentativsystem der Dreißiger Jahre sich in die Opposition gedrängt fühlte, dann wieder seit 1848, wo ihm „die Ausübung verfassungsmäßiger Souveränitätärechte des Volkes“ „durch eine mittelst fremder Gewalt eingesetzte Minoritätsregierung“ unterdrückt schien, in das demokratische Lager gerückt. Auch im Nationalrathe nahm er vielfach in seinen selbständigen Voten innerhalb der eigenen Partei eine eigenthümlich abgegrenzte Stellung ein.

Das Material zum Verständniß seines Lebens bot S. selbst in seinen mehrfach an Autobiographie anstreifenden Arbeiten (doch sei erwähnt, daß an Bd. IV der Sammlung kleiner Schriften auch die Gegenpartei gegen S. polemisirend anknüpfte: Glossen zu Segessers 45 Jahren im Luzerner Staatsdienst, Luzern 1887). Die zahlreichen Aeußerungen der Publicistik nach dem Tode verzeichnete der Geschichtsfreund XLIV, 331, und der Anzeiger für schweizerische Geschichte V, 396. Vgl. ferner die litterarische Würdigung im Geschichtsfreund, l. c., XXII, und A. Joneli[WS 2], Anton Philipp von Segesser als Historiker, eine in Anbetracht des Druckortes, einer streng wissenschaftlichen Zeitschrift (Beiträge zur vaterländischen Geschichte, von der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel 1890, XIII, 213–259), allzu subjectiv panegyrische Darlegung.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Frédéric-César de La Harpe (1754–1838), Schweizer Politiker der Helvetik, Mitbegründer des Kantons Waadt.
  2. Arnold Joneli-Riggenbach (1835-94)